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Wohin das fremde Kind wollte

»Mama, Herr Delmy ist der allergerechteste Mensch auf der ganzen Welt, das hab ich an mir selbst erfahren«, erklärte Lex mit lauter Stimme, als er am Sonntagmorgen seine Mutter allein in der Wohnstube vorfand. »Und noch an einem anderen hab ich es auch erfahren, bei dem Herrn Patrizier, dem Mäxlein. Dem hat Herr Delmy auch ein paar Wörtlein gesagt; wenn ich sie schon nicht verstehen konnte, so habe ich an seinem Gesicht gesehen, daß sie ihn würgten.«

»Siehst du nun, Lex, wie ungerecht du selbst gegen Herrn Delmy warst? Du solltest ihn recht um Verzeihung bitten dafür, wenigstens in deinem Herzen«, sagte die Mutter.

»Ja, das will ich schon tun, und ich will alles tun, was er nur von mir will«, versicherte Lex; »ich will mich gleich für ihn totschießen lassen.«

»Nein, nein, das will er nun jedenfalls nicht«, berichtigte die Mutter; »aber zeig ihm durch dein ganzes Betragen, wie gern du ihm Freude machen willst. Verstehst du, Lex, daß du ihm damit die größte Freude machst, wenn du selbst so bist, wie er dich zu sehen wünscht?«

»Ja, das versteh ich schon, und man kann es sehen«, bestätigte Lex. »Siehst du, Mama, wenn eines von uns etwas tut, was nicht recht ist, oder so, wie es Herr Delmy nicht gern sieht, dann fährt es ihm so übers Gesicht, wie wenn ihn eine Wespe gestochen hätte.«

»Da siehst du, Lex, es schmerzt ihn, wenn ihr tut oder seid, wie es nicht recht ist. So denk nun auch daran, daß du ihm kein solches Leid antust; denn das willst du ja nicht«, erinnerte die Mutter.

»Nein, sicher nicht, ich will auch dran denken«, versprach Lex und machte einen großen Knoten aus dem Zipfel seines Taschentuches; denn er war gewohnt, sich durch dieses Zeichen an die Dinge zu erinnern, die er nicht vergessen wollte.

Während dieses Gesprächs war Max auf dem oberen Boden hin- und hergegangen, mehrere Male an Herrn Delmys Zimmer vorbei, wo er immer einen Augenblick stillestand, als ob er eigentlich da hineingehen wollte; dann ging er wieder vorbei. Er hatte sichtlich einen Kampf in seinem Innern zu bestehen. Jetzt stand er wieder an der Tür. Einen Augenblick lauschte er – es war alles still drinnen. Jetzt klopfte er. »Herein!« rief es von innen. Max trat hinein. Herr Delmy kam ihm entgegen und schaute ihn ernsthaft an. Jetzt schien der Max in seinem Entschluß noch einmal wankend zu werden; so als stieg ihm auf einmal wieder sein Hochmütchen zu Kopf, biß er die Lippen zusammen und stand schweigend da.

»Komm, Max«, sagte Herr Delmy, indem er nach seinem Sofa ging, »setz dich hier neben mich; hast du mir etwas zu sagen, oder hast du etwas von mir wissen wollen?«

»Ja, wenn ich doch in Ihren Augen bin wie der Feldmauser-Michel, so werden Sie wohl nichts von mir wissen wollen«, sagte jetzt Max mit ziemlich trotziger Stimme; aber es zuckte ihm ganz unsicher um die Lippen herum.

»Max«, sagte Herr Delmy, indem er ihm liebevoll in die Augen schaute, »du bist nicht zu mir herausgekommen, um so zu mir zu sprechen; sag mir, was in deinem Herzen ist.«

Jetzt brach das Eis. Erst kamen ein paar Tränen und dann kamen in ganz verändertem Ton die Worte heraus: »Ja, Herr Delmy, wenn Sie nun gar kein Vertrauen mehr zu mir haben und denken, ich sei ein ganz gemeiner Mensch, und Sie glauben mir nie mehr und wollen nichts mehr von mir wissen, so habe ich gar keine Freude mehr und will lieber gleich fortgehen und gar nicht mehr da sein.«

»Mein lieber Max«, sagte Herr Delmy mit Freundlichkeit, indem er die Hand des Jungen in die seinige legte, »es ist mir lieb, zu sehen, daß es dir nicht gleichgültig ist, daß ich meine gute Meinung von dir verlieren könnte. Es hat mich sehr schmerzlich berührt, daß ich den Max, in dem ich glaubte, eine vornehme Natur gefunden zu haben, der alles Rohe und Gemeine zuwider sein müßte, in einer Weise schimpfen hörte, wie ich sie nur einem Feldmauser-Michel zutrauen konnte, dem armen Menschen, der ohne Zucht und Leitung aufgewachsen ist. Sieh, Max, nicht der ist ein vornehmer Mensch, der sich so nennt, oder der sich im Vornehmtun gefällt und auf die herabsieht, die nicht ebenso sind, sondern der, dem alles Schlechte und Unschöne, alles Rohe und Gemeine so in der Natur zuwider ist, daß er solches kaum an anderen ertragen kann, viel weniger aber je bei solchen Dingen selbst mitmachen könnte. Dir gefällt das Vornehme, und das Wohlgefallen ist immer schon der erste Schritt, etwas zu erreichen; aber in deinem Wesen muß sehr vieles anders werden, daß du erreichst, wonach du strebst. Daß es aber anders werden kann, das glaube ich, Max, und daß du dies Anderswerden allen Ernstes willst, das traue ich dir ganz zu und will dir auch dabei zur Seite stehen. Und nun wollen wir wieder gute Freunde sein und vergessen, was uns beide kränkte, aber nie vergessen, was in dieser Sache allein uns beide befriedigen kann; ist dir's so recht, Max?«

»O ja, gewiß«, sagte Max mit einem ganz anderen Gesicht, als er beim Eintritt gezeigt hatte, und wie er nun Arm in Arm mit Herrn Delmy die Treppe herunterkam, da mußte die Mutter, die eben unten stand, bei sich denken: »Wenn doch mein Junge immer ein solches Gesicht mit sich herumtragen würde! Es ist, als wäre eben ein erneuerndes Bad darüber gegangen.«

Herr Delmy suchte den Amtmann auf, den er, in stille Bewunderung versunken, vor seinem Aprikosenbaum stehend traf. »Sehen Sie nur den Wunderbaum an!« rief er dem Herzutretenden entgegen. »Diese Schosse! Dieser Trieb in dem Baum. Was wird das für Früchte geben!«

Herr Delmy half mit bewundern; nach einiger Zeit sagte er dann: »Ich suchte Sie auf, Herr Amtmann, um Sie zu fragen, bevor Sie weggehen, ob Sie etwas dagegen hätten, wenn ich nun auch einmal Ihr Krankenhaus besuchen würde; Elsa wird mich schon einführen.«

»Gewiß nicht, gewiß nicht, im Gegenteil, Herr Delmy«, entgegnete der Amtmann erfreut, »nur muß ich Ihnen sagen, Sie finden kaum, was Sie unter einem Krankenhaus verstehen; sagte mir doch noch diesen Morgen der Doktor, ihm fange die Sache an, leid zu werden, er habe nicht Zeit, wie verabredet, jeden Morgen mein Institut zu besuchen, das weniger ein Krankenhaus als eine Altfrauen- und Kleinkinderbewahranstalt sei. Es ist mein täglicher Ärger, soviel Zeit, Geld und Mühe an eine Sache gewendet zu haben, die gar kein Gedeihen hat.«

Herr Delmy meinte, der Herr Amtmann müsse sich nun daran freuen, daß sein Werk wenigstens den Verlassenen zugute komme; aber sein Gedanke fand keinen rechten Anklang.

»Das hätte ich billiger herstellen können«, erwiderte der Amtmann in aufgebrachtem Ton; denn wenn er auf diese verfehlte Unternehmung zu sprechen kam, so kam er immer wieder in Aufregung. »Nehmen Sie nur an, drei, vier große Zimmer stehen leer, zehn, zwölf Betten unbenutzt. Die eine Pflegerin sitzt da und strickt Strümpfe, wozu sie gar keine Zeit haben sollte, und die andere, der ich auch Arbeit versprochen habe, läuft mir das Haus um Beschäftigung ab, und dazu sagt mir der Doktor, er habe Massen von Kranken in allen Winkeln in und um Waldhausen. Ich mag nicht mehr daran denken«, schloß der Amtmann und lief nach dem Stalle, um nach den Pferden zu sehen; denn er wollte wegfahren.

Am Nachmittag ging Herr Delmy mit Elsa den Wiesenweg hinab zu dem schönen grünen Vorsprung am Hügel hinaus, wo das geräumige, gut eingerichtete Krankenhaus stand. Die Pflegerin kam den Ankommenden entgegen; denn sie hatte Zeit. Sie traten ein, und die Frau führte sie langsam durch die Zimmer. Im ersten lagen drei kleine Kinder, im zweiten drei alte Frauen, im dritten eine alte Frau und das kürzlich hergebrachte fremde Kind. Es war ganz still in allen Zimmern, und alt und jung schien so halb oder ganz zu schlafen. So gingen die Besuchenden leise durch, ohne sich aufzuhalten; im letzten Zimmer aber saß das kranke Kind aufrecht in seinem Bett, und aus seinem bleichen Gesicht schauten zwei große dunkle Augen den Eintretenden verwundert entgegen. Bis jetzt hatte das Kind noch nie die Augen recht aufgemacht; es lag nur immer da, wenn Elsa an sein Bett herantrat, hatte die Augen halb oder ganz geschlossen und regte sich nicht. Die Pflegerin sagte, es liege immer im Fieber, esse und trinke auch nichts und gebe auf nichts Antwort. Elsa freute sich sehr, das Kind nun einmal wach zu finden und mit ihm sprechen zu können; sie trat gleich an sein Bett heran.

Auf der anderen Seite in der Ecke lag die zweite Kranke, die alte Feldmauserin. Auch sie hatte beim Eintritt der beiden sich ein wenig aufgerichtet und einen scharfen Blick auf sie geworfen. Herr Delmy wandte sich gleich zu ihr.

»Wie geht es, gute Frau?« fragte er teilnehmend.

»Schlecht genug, sonst wär ich nicht da«, knurrte sie ihn an und kehrte sich augenblicklich gegen die Wand um.

»Wollen hoffen, daß es wieder besser kommt«, sagte Herr Delmy.

Die Alte gab keine Antwort und blieb abgewendet liegen, ohne Bewegung.

Herr Delmy trat zum Bette des Kindes heran. Elsa war schon tief im Gespräch mit ihm. Das Kind sprach ein etwas fremdartiges, aber ganz verständliches Deutsch. Seine Stimme hatte einen tiefen, melodischen Klang, und mit seiner schmalen Hand begleitete es seine Reden immerfort mit Bewegungen, so leicht und gewandt, daß man ihnen mit großem Wohlgefallen zusehen mußte. Das tat auch Elsa, sie wandte keinen Blick mehr von ihrer neuen Kranken ab. Diese hatte Elsa mitgeteilt, daß sie schon seit bald einem Jahre von zu Hause fort sei, daß sie viele Monate in Graubünden herumgekommen sei und darum so gut Deutsch könne.

Als Herr Delmy herzugetreten war und das Kind gegrüßt hatte, fragte er, wo es denn eigentlich zu Hause gewesen sei und ob seine Eltern noch lebten. Das Kind erzählte, es sei bei Neapel zu Hause, in Sorrent, da lebten seine Mutter und sein Bruder zusammen; den Vater habe es nie gekannt, der sei schon lange tot.

Herr Delmy mußte sich darüber verwundern, daß das Kind so weit herkam. Er fragte weiter, wie es denn gekommen sei, daß es von dort fort sei und so weit weg, und ob der Mann und die Frau, mit denen es gekommen war, seine Verwandten seien.

Das Kind erzählte weiter, was es erlebt hatte, so harmlos, als wäre gar nichts Besonderes dabei. Es wäre schon lange gern von Sorrent fortgegangen und habe schon immer bei der Mutter angehalten, sie solle es doch fortlassen; denn es wollte so gern nach Schlesien gehen.

»Nach Schlesien? Weißt du denn, wo Schlesien ist?« fragte Herr Delmy in größter Verwunderung.

Das Kind erwiderte: nein, das wisse es nicht; aber es habe lange einem Herrn gedient, der sei aus Schlesien gewesen und habe viele Monate lang in Sorrent gewohnt, und er sei anders gewesen, als alle anderen Leute, und darum habe es gern nach Schlesien gehen wollen und dort dienen, wo die Leute so seien.

»Du bist doch nicht etwa deiner Mutter fortgelaufen, Kind?« fragte Herr Delmy erschrocken.

»O nein«, versicherte das Kind, »aber die Mutter sagte zuletzt, ich solle nur gehen, sonst liefe ich ihr doch noch fort, und wenn ich einmal fortgelaufen sei, käme ich nur zu gern wieder heim.«

»Und mit wem gingst du denn fort?« fragte wieder Herr Delmy.

Das Kind fuhr fort zu erzählen: der alte Vetter der Mutter, der nur ein Bein habe und alle Jahre ins Römische und noch weiter gehe mit Korallen und Lavasteinen, habe ihm versprochen, es mitzunehmen, sobald die Mutter wolle, weil es ihm helfen könne; und wie nun die Mutter eingewilligt habe, sei es mit ihm gereist. In allen großen Ortschaften seien sie dann ein paar Tage geblieben, und es sei in die Häuser gegangen, um die Korallen und die Lavasachen zu verkaufen; denn es sei schneller herumgekommen, als der Vetter, und dann habe dieser auch gesagt, die Leute nähmen einem Kinde mehr ab als einem Manne. Dann seien sie wieder weitergefahren mit der Eisenbahn. Zuletzt, wo der Vetter gesagt habe, jetzt gehe es nicht mehr weiter, hätten sie bei einer Frau gewohnt, die der Vetter gut kannte; die hatte eben ihren Mann am Fieber verloren, und sie sagte, sie bleibe nicht mehr da, sie gehe nun wieder heim, wo sie her sei, und der Vetter solle mich bei ihr lassen, sie sei doch jetzt allein und habe keinen Mann und keine Kinder. Der Vetter habe dann gefragt, ob es mit der Frau gehen wolle, der Mutter wolle er schon sagen, daß es gut versorgt sei, und es habe gern gehen wollen, lieber als wieder umkehren; denn es habe gedacht, so komme es doch noch nach Schlesien. Dann sei es ein paar Tage nachher mit der Frau weiter gefahren, einen ganzen Tag lang, und dann seien sie hingekommen, wo die Frau wohnte.

Da habe nur noch ein Bruder von ihr in dem Häuschen gewohnt, das ganz allein unter den Bäumen stand. Alle Morgen sei dann die Frau in die Stadt hineingegangen, nach Lodi, und es mit ihr. Da hätten sie Früchte und Gemüse hineingetragen auf einen Marktplatz und da verkauft. Aber die Frau sei nicht recht mit ihm zufrieden gewesen und habe gesagt, es lache nie und sei nie fröhlich, wie es sein sollte, und es mache ihr das Herz ganz schwer und habe gefragt, ob es das Heimweh habe, ob es wieder heimwolle. Es habe aber nicht so das Heimweh gehabt, daß es gern heimgegangen wäre, sondern nur so, daß es gern fort wäre zu Leuten, die so waren, wie sein Herr; denn die Frau und der Bruder seien ganz anders gewesen, und es habe nur immerfort denken müssen, wenn es nur nach Schlesien gehen könnte, und es habe dann zuletzt der Frau gesagt, wohin es gern ginge. Aber sie habe nicht gewußt, wo das sei, und habe ihm versprochen, sie wolle den Beppo und seine Frau fragen, wenn sie einmal vom Reisen wiederkämen, und wenn es nicht so weit sei, so könne es einmal mit ihnen gehen, wenn es dann nachher auch lustig sein wolle und so, wie es ihr gefalle. Nach einiger Zeit seien dann der Beppo und seine Frau gekommen und er habe geantwortet, er wisse nicht mehr genau, wo Schlesien sei; aber er sei jedenfalls schon durchgekommen, und er wolle das Kind schon mitnehmen, wenn er wieder gehe, wenn es singen könne; es habe ihm ein Lied singen müssen, und dann sei es recht gewesen. Nach ziemlich langer Zeit sei er dann wiedergekommen und habe gesagt, nun könne es mit; wenn er dann seine Reise fertiggemacht, bringe er es wieder zurück. Es sei sehr froh gewesen und habe nur noch die Frau gefragt, ob sie nicht bös werde, wenn es dann in Schlesien wieder einen Herrn finde, wie der andere war, und dann bei ihm bleibe und nicht mehr komme. Sie habe aber nur gelacht und gesagt, es komme schon wieder zurück, es begehre niemand, ein so Junges in den Dienst zu nehmen. Dann sei es mit dem Beppo und seiner Frau fort; der Beppo habe eine Geige und die Frau eine Mandoline, und dann hätten sie alle drei gesungen. Aber sie seien immer noch nicht nach Schlesien gekommen; der Beppo habe eben immer gesagt, sie kämen schon noch hin; aber es sei lange schon so müde gewesen und habe immer denken müssen, wenn sie nur auch bald da wären, sonst könne es nicht mehr weiter. Und jetzt sei es so gekommen, schloß das Kind und richtete seine großen, dunklen Augen mit solcher Traurigkeit auf Herrn Delmy, daß es ihm das Herz bewegte.

Er schloß des Kindes Hand in die seinige und sagte in großer Freundlichkeit: »Mein liebes Kind, darüber mußt du nicht traurig sein; siehst du, Schlesien ist weit, weit weg von hier, und du hättest dort wohl gar nicht gefunden, was du suchst. Dann wärest du vielleicht ganz verlassen, so weit von deiner Heimat weg gewesen, daß du dir ganz verloren vorgekommen wärest und kaum den Weg nach Hause wiedergefunden hättest. Wer war denn dein Herr aus Schlesien?«

Das Kind nannte einen Namen und schaute gespannt auf Herrn Delmy, was er nun machen werde; denn er mußte ja seinen Herrn kennen, wenn er aus demselben Lande war, dessen war das Kind gewiß. Aber Herr Delmy schüttelte nur ein wenig den Kopf und sagte, von dem Namen wisse er schon; aber den Herrn habe er seines Wissens nie gesehen. Aber das Kind dachte wohl, wenn es ihn beschreibe, komme er Herrn Delmy schon wieder in den Sinn, und es gab gleich eine sehr lebendige Beschreibung seiner Erscheinung und fand so poetische Worte dazu, daß Herr Delmy lächeln mußte, obschon das Kind in großem Ernst fortredete und damit schloß: »Und es war, wie wenn es immer Festtag wäre, wo er war, und wenn er wegging, dann war als wäre nichts mehr da, und wenn er sprach, hätte man nur gern gewollt, daß man seine Stimme immer hören könnte, und zu allen Menschen war er gut, oh, so gut! Immer gut.«

»So sind nun nicht alle Leute in Schlesien«, sagte Herr Delmy hier, »und es ist besser, du kommst nicht dahin, mein liebes Kind; denn du könntest lange herumirren, ohne einen solchen Herrn zu finden. Sieh, das kann ich dir mit Sicherheit sagen; denn ich bin auch aus Schlesien!«

»Auch aus Schlesien!« rief das Kind in Erstaunen aus und schaute mit seinen großen Augen auf Herrn Delmy, als könne es nicht genug von ihm auf einmal in seine Blicke aufnehmen; seine Hand hatte es noch festgehalten und hielt sie jetzt immer fester, als käme ihm immer stärker das Gefühl, es sei in Sicherheit, wenn es sich daran festhalte.

Zum erstenmal war ein freudiger Strahl in die Augen des Kindes gekommen. Noch immer ruhten seine Blicke in Freude und Ehrfurcht auf Herrn Delmy; dann sagte es: »Ja, das kann ich auch gut glauben.« – Die Zeit war unterdessen dahingegangen für die Besuchenden; sie schickten sich an, das Zimmer zu verlassen. Elsa stand noch am Bette des Kindes. »Sag mir nun auch noch, wie du heißt«, sagte sie.

»Irene heiß ich«, war die Antwort.

»Wie alt bist du denn, Irene?« fragte Elsa weiter.

»Das weiß ich nicht recht, etwa elf Jahre, denk ich, und du?«

»Dann bin ich ein wenig älter als du, ich bin zwölf. Nun leb wohl, Irene, morgen will ich wiederkommen, soll ich?«

»O ja, komm wieder!« Und Irene hielt ihre Hand zum Abschied hin. Elsa ging noch zum Bette der alten Feldmausers-Frau hin; denn die Mutter hatte ihr gesagt, sie solle jedesmal nach ihr sehen, und beim Hereinkommen hatte sie's noch nicht getan. Sie trat zu der Alten heran; diese lag, ihr Gesicht gegen die Wand gekehrt, und rührte sich nicht. Elsa dachte, vielleicht schlafe sie, und sagte darum ganz leise: »Könnt Ihr ein wenig schlafen?«

Mit einer Stimme, die gar nicht von Schlaf zeugte, erwiderte die Frau: »Kein Gedanke, daß eins schlafen kann bei dem Geplärre, das man mit einem verlaufenen Musikantenkind macht.«

»Ich wünsche Euch gute Besserung«, sagte Elsa schüchtern und ging; denn sie fürchtete sich immer ein wenig vor der Alten.

Herr Delmy stand noch bei Irene. »Zunächst muß man nun an deine Mutter schreiben, damit sie weiß, was mit dir ist, Irene«, sagte er, noch einige Reden ergänzend, die er mit dieser gewechselt hatte; »kannst du schreiben?«

»Ja, ein wenig, aber nicht sehr gut«, war die Antwort.

»Kann deine Mutter lesen?«

»Nein, das kann sie nicht; aber sie bringt dann den Brief dem Pater Benedetto, der kann's schon.«

»Gut, und du bist sicher, daß deine Mutter meinen Brief unter der Anschrift erhält, die du mir gesagt hast?«

Irene war dessen ganz sicher; jedermann kenne ihr Häuschen in Sorrent, und dazu sei der, der die Briefe umhertrage, ein Freund ihres Bruders Pietro.

Nun nahmen Herr Delmy und Elsa entschieden Abschied für heute und wanderten wieder zusammen nach Hause. Hier harrte man schon längst mit Ungeduld und neugieriger Erwartung auf sie. Max begriff nicht, was den Herrn Delmy an einem solchen Ort so lange zurückhalten konnte, und Lex und Tilli stellten die kühnsten Vermutungen auf, was sich für die beiden auf dem Weg ins Krankenhaus alles ereignet haben könnte. Als sie nun eintraten und ihre Erlebnisse mitteilten, und auch Herr Delmy mit großer Teilnahme von der seltsamen Geschichte und dem ungewöhnlichen Wesen des fremden Kindes erzählte, machte die Sache auf alle Zuhörer einen großen Eindruck; aber auf jeden in einer anderen Weise. Die Mutter hatte ein herzliches Mitgefühl mit dem so zart und fein aussehenden Kinde, das nun wie ausgewurzelt im fremden Lande dastand und nach einem noch fremderen hinstrebte und sich nirgends mehr recht daheimfühlte.

Max mußte sich im stillen, mit einem kleinen Ärger verbunden, sehr verwundern, daß Herr Delmy mit solchem Interesse von einem ganz ungebildeten und geringen Persönchen sprechen konnte. Lex holte auf der Stelle seinen Schulatlas hervor, um genau zu verfolgen, woher das Kind gekommen war und wo es durchgereist sein mußte, und Tilli fing gleich an auszudenken, wie es auch etwas Ähnliches ausführen und so auf eine merkwürdige Weise ein wenig in der Welt herumfahren könnte. Den ganzen Abend lang drehten sich auch alle Gespräche und alle Gedanken um die Erscheinung dieser kranken Irene, und längst hatten Lex und Tilli beschlossen, auch sie wollten einen Besuch im Krankenhaus machen, um selbst das Nähere dieser anregenden Begebenheiten in Erfahrung zu bringen und mit dem fremdartigen Kind ein wenig Freundschaft zu schließen. Selbst Max beschloß im stillen ungefähr dasselbe, doch wollte er seinen Entschluß ein wenig einkleiden.


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