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Was in Waldhausen gedeihen sollte

Der Amtmann hatte drei große Unternehmungen vor, die ihm viel Zeit und Mühe kosteten und die ihm schon darum sehr am Herzen lagen und seine Gedanken lebhaft beschäftigten. Die erste war zwar nun ausgeführt; aber sie wollte nicht recht gedeihen. Diese war das schöne, geräumige Krankenhaus, das für Waldhausen längst ein dringendes Bedürfnis war, und das der Amtmann auf seinem eigenen Gute mit großen Beiträgen von seiner Seite hatte herstellen helfen. Nun es dastand und alle Vorteile einer guten Verpflegung bot, wollten die Kranken nicht hinein; denn in Waldhausen herrschte die Ansicht, aus einem öffentlichen Krankenhause käme keiner wieder heraus, ohne daß man ihm wenigstens ein Bein oder einen Arm abgenommen habe, nur damit der Doktor seine Kunst versuchen könne.

So lag mancher lieber in einem luftlosen Loch, ohne Pflege und rechte Hilfe, als daß er sich solchen Gefahren aussetzen wollte. Nur ein paar ganz alte Frauen, nach denen niemand mehr sehen wollte, wurden hingeschickt und ein paar kleine Kinder, die den Ihren daheim viel zu schaffen machten, und die befanden sich alle gut dabei.

Aber dem Amtmann war die Sache ärgerlich; denn er wollte, daß seine großen Anstrengungen in weiteren Kreisen nützen, und besonders, daß sie den vielen Kranken des Dorfes zugute kommen sollten; aber je lauter und eifriger er den Leuten zuredete, sie sollten doch Verstand annehmen und ihre Kranken die Wohltat eines solchen Hauses genießen lassen, desto weniger wollten diese hinein; denn sie dachten, der Amtmann stecke sicher mit dem Doktor unter einer Decke. Es half auch nichts, daß die Leute sehen konnten, wie die Elsa jeden Tag einmal nach dem Krankenhaus ging und den alten Frauen manchen guten Bissen in ihrem Körbchen brachte und sich zu ihnen hinsetzte und ihnen schöne Geschichten vorlas; die Leute dachten nur, das sei, um die Kranken anzulocken, und so kam doch niemand, als nur die Allerunwertesten und Verlassenen.

Bei dem Vater war die Elsa in der Achtung sehr hoch gestiegen, seit sie ihre Tätigkeit im Krankenhaus begonnen hatte; er hoffte auch immer, diese werde am ehesten die Leute eines Besseren belehren und die mühsam errichtete Sache zur Anerkennung bringen.

Je mehr nun diese unerfreuliche Erfahrung den Amtmann ärgerte und aufbrachte, desto eifriger verlegte er sich auf sein zweites Unternehmen, das ihm täglich mehr Befriedigung gewährte. Er hatte seinen Garten ganz neu angelegt und da eine Menge junger Obstbäume gepflanzt, die nun zum erstenmal in Blüte standen und eine herrliche Ernte verhießen. Am schönsten hatten die Aprikosen am sonnigen Spalier geblüht, seine besonderen Lieblinge, die er als ganz ausgezeichnete Frucht kannte und von fernher hatte kommen lassen. Eben war die Zeit der Blüte vorüber, und täglich konnte man sehen, wie die angesetzten Früchte einen kleinen Schritt weiter in ihrem Wachstum taten, den der Amtmann denn auch jeden Morgen mit größter Teilnahme untersuchte und verfolgte. Auch wurden nun zum erstenmal die neuen Beete alle besät und bepflanzt, und so lief der Amtmann mit seinem Gärtner Joseph oft den ganzen Morgen lang hin und her und wurde nicht müde, zu ordnen und zu befehlen, auch mit eigener Hand zu schaufeln und zu hacken, wo er es nötig fand.

Sein drittes Unternehmen war von anderer Art und wurde damit eingeleitet, daß der Amtmann in allen Zeitungsblättern nachsuchte, wo etwa ein junger Pfarrer auftauchte, oder wo ein älterer seine bisherige Stelle verließ. Zuweilen machte er dann seine Frau auf irgendeinen darauf bezüglichen Artikel aufmerksam und las ihn vor; aber gewöhnlich bemerkte die Frau Amtmann darauf: »Das ist nichts; ich glaube nicht, daß du auf diesem Wege finden wirst, was du suchst.«

Dann sagte der Amtmann: »Das wird sich zeigen.«

Was er suchte, war ein Pfarrer. Der Amtmann wünschte seinen Sohn Max noch einige Jahre zu Haus zu behalten, bevor er ihn zum Besuch der höheren Schule nach der Stadt schicken mußte. Seit einem Jahre hatte Max Unterricht im Latein von den Pfarrgehilfen erhalten; da diese aber einem häufigen Wechsel unterworfen waren, hatte er wohl mannigfache Lehrmethoden kennengelernt, aber wenig Latein im Kopf. Auch den jüngeren Geschwistern erteilten die Herren Hilfsprediger in mehreren Fächern Privatstunden; aber der wechselvolle Unterricht war für die Schüler, vornehmlich für das wenig lernbegierige Tilli, mehr kurzweilig als heilsam. Der alte Herr Pfarrer hatte nun dem Amtmann vor einiger Zeit vertraut, er sei gesonnen, Waldhausen kommenden Winter zu verlassen, und seither war der Vater beständig darauf bedacht, den rechten Mann zu finden, der ihm ebensosehr als Lehrer seiner Kinder, wie auch als Seelsorger der Gemeinde erwünscht sein könnte.

Nicht weniger eifrig als der Amtmann sah sich seine Frau nach einem geeigneten Geistlichen um, nur tat sie es nicht in den Blättern, sondern anderweitig. Dabei hatte sie noch ihre besonderen Wünsche im Herzen, für die Gemeinde wie für die Kinder, und sagte öfter nein als ja, wenn der Amtmann diesen oder jenen Namen vorschlug.

Herr Delmy hatte seinen Unterricht mit den Kindern begonnen, und allseitig herrschte große Befriedigung dabei. Den Max behandelte Herr Delmy ganz als jungen Herrn und mit der größten Höflichkeit und so, als verstände es sich von selbst, daß Max der fertige Kavalier und Edelmann sei, für den er von jeher gehalten sein wollte. Das gefiel dem Max überaus wohl und weckte einen neuen Eifer für sein Latein in ihm; denn er wollte nicht ungeschickt vor Herrn Delmy dastehen. Die drei Jüngeren hatten ihre Unterrichtsstunden gemeinsam, und Lex und Dilli mußten noch je des Morgens von acht bis zehn Uhr in der Schule zu Waldhausen sein, wo sie neben mehreren nützlichen Dingen auch allerhand andere lernten; denn da waren sehr viele Kinder von allen Orten beieinander. Das Tilli hatte sich aus diesem Kreise eine Freundin erwählt, gegen die die Mutter und der Vater sehr eingenommen waren; denn sie hatte das Aussehen einer kleinen Wilden. Auch der Gärtner Joseph teilte diese Abgeneigtheit und richtete gegen die kleine Wilde seine heftigsten Zornesausbrüche, die aber nie angehört wurden; denn wenn sie begannen, war das Kind schon über das frisch besäte Gartenbeet weggesprungen und nicht mehr zu sehen. Überhaupt war sozusagen ganz Waldhausen, vornehmlich alle Besitzenden und alle, die einen Besitz zu hüten hatten, in stetem Zorn und Ärger über dieses Wesen ohne Gesetz und Regel. Das war begreiflich; denn, waren von einem vielverheißenden Apfelbaum die schönen Früchte unreif herabgeschüttelt, war ein ganzer Strich junger Rüben im Feld ausgerissen, waren alle Ähren zerstampft worden, wo die schönen Kornblumen standen – immer und überall, wo etwas ausgerissen, zerbrochen, zerstampft, zerrüttet war, da hieß es: »Das hat das Gatti getan!« – »Das ist wieder das abscheuliche Gatti!« Manchmal war es auch das Gatti, das die Untat verübt hatte, manchmal auch nicht; aber es hatte einmal den Namen, und so mußte es für alles herhalten.

Das Gatti war wirklich ein verwildertes Kind. Sein Taufname war eigentlich Katharine; in der Gegend von Waldhausen war aber dieser Name durch einen nicht mehr nachzuweisenden Übergang zu »Gattung« geworden und trat bei den Kindern meistens als »Gatti« auf. Seine Mutter hatte das Kind so früh verloren, daß es sich ihrer gar nicht erinnerte. Seit seinem frühesten Gedenken lebte es bei einer alten Base, die nichts mehr hörte und fast nichts mehr sah, und die über das Gatti gar keine Gewalt hatte. Sein Vater war der Kesselflicker, der nie zu Haus war, sondern immer mit seinen Kesseln und Pfannen auf dem Rücken auf allen Wegen herumzog; und so tat denn auch das Gatti, zwar ohne Pfannen; aber immer lief es auf allen Straßen und Wegen umher und hatte im Sinn, etwas Ungeheuerliches auszuführen, oder hatte das soeben getan. Diese Freundin hatte sich das Tilli gewählt und hing mit großer Vorliebe an ihr, trotz der öfteren Mißbilligung dieses Wesens von seiten der Eltern, trotz des lauten Hohnes von seiten des Bruders Max, trotz der stillen Abneigung der Schwester Elsa gegen diese meistens in Fetzen und mit fliegenden Haaren umherhüpfende Freundin. Das alles machte das Tilli nicht wankend in seiner Zuneigung; denn die Freundin Gatti hatte zwei Eigenschaften, die für das Tilli eine ungewöhnliche Anziehungskraft besaßen.

Einmal hatte das Kind eine schöne klare Stimme und einen unerschöpflichen Vorrat von wundersamen und merkwürdigen Volksgesängen. Diese sang es willig und fröhlich jeden Augenblick, wo es ging und stand, einen nach dem anderen, solange das Tilli nur wollte. Dann führte Gatti täglich vor Tillis Augen Dinge aus, die dieser als der Gipfel alles Wünschbaren erschienen, die ihr selbst aber auszuführen nicht gestattet waren. So fand das Tilli eine große Befriedigung darin, wenn es wenigstens zusehen konnte, wie die ihm selbst untersagten Taten von der Freundin so vortrefflich ausgeführt wurden. Wie ein Eichhörnchen erkletterte das Gatti ohne Mühe die höchsten Kirschbäume und holte sich die roten Kirschen herunter, wiegte sich auch, hoch oben auf den Ästen sitzend, hin und her, wie ein Vogel; denn es kannte keine Furcht. Kamen die Freundinnen auf ihren Streifzügen an einen vollen, klaren Waldbach, gleich warf das Gatti seine Schuhe weg – Strümpfe hatte es keine –, schürzte sein Röcklein und stieg in den Bach hinein. Kam es dann wieder heraus, so hielt es mit jeder Hand den harten Schalenrücken eines erstaunlich zappelnden Krebses fest; denn im Fangen von allerlei Tieren war das Gatti besonders geschickt. Im Springen war es unerreichbar, und sprang es von noch so hohen Bäumen herunter, stets kam es auf seine Füße, wie eine kleine Katze, und rannte fröhlich davon, wo ein anderes von dem hohen Sprung her gewiß längere Zeit hätte hinken müssen, wenn es nicht gar das Bein gebrochen hätte.

Diese von Tillis Familie vielfach angefochtene Freundin fand sich alle Tage ganz unerschrocken wenigstens viermal beim Hause des Amtmanns ein, um nach Abrede Tilli zu einem Unternehmen abzuholen, oder auch um sich zur Ausfahrt einzufinden, die bei schönem Wetter fast täglich einmal von Max angeordnet wurde. Da hatte das Gatti als Postpferd mitzuwirken, als zweites stand Lex neben ihm an der Stange. Postillion war Max, der sich entweder auf den Bock setzte, oder mit der Peitsche treibend nebenher lief. Der Fahrgast war das Tilli, das ganz allein drinnen im Wagen saß und scheinbar das bequemste Los hatte. Im Anfang der Fahrt war es auch so, dann änderte es sich aber gegen das Ende hin. Max fuhr nämlich mit Vorliebe erst eine steile Anhöhe hinan, um so recht im Treiben und Peitschenknallen die beschwerlichen Postreisen durchzumachen und dann auf der anderen Seite die Postkutsche im hellen Galopp ins Tal hinabrollen zu lassen. Dabei ereignete sich dann gewöhnlich, daß die beiden Pferde den Wagen nicht mehr zu halten vermochten und nach rechts und links von der Stange wegliefen. Der Postillion rannte auf die Seite, und der Wagen schoß in bedrohlicher Schnelligkeit den Berg hinunter, warf irgendwo um, und das Tilli flog ins Gras hinaus. Wunderbarerweise stand es immer mit ungebrochenen Gliedern wieder auf, und die Postfahrt wurde meistens fortgesetzt. Immer wieder wurde auch Elsa eingeladen oder aufgefordert, als zweiter Fahrgast den Postwagen zu besteigen; aber sie wollte nichts davon wissen, wie schön es ihr auch Max darstellte und wie sehr auch Lex höhnte, sie fürchte sich vor allem, und es wäre viel besser für sie, wenn ihr ein Schneckenhaus auf den Rücken gewachsen wäre, daß sie gleich hineinkriechen könnte, wenn einer sie erschrecken wollte.

Wurde eine Postfahrt nach dem höchsten Punkte des Berges in Aussicht genommen, was an besonderen Tagen geschah, dann mußte Vorspann genommen werden; denn das war eine mühsame Fahrt.

Es war aber nicht schwer, diesen Vorspann zu finden; denn der stand immer irgendwo in der Nähe, des Dankes gewärtig, in der Gestalt eines ziemlich verwahrlost aussehenden Buben. Dieser mußte offenbar wenig zu tun haben; denn um die Abendzeit konnte er stundenlang um des Amtmanns Haus herumstehen, wo er mit Verlangen einem Rufe an die Postkutsche entgegensah. Das hatte seinen guten Grund: bei den Postfahrten erhielten nämlich die angestrengten Pferde gutes Futter auf den Stationen; denn den Futterkasten vor der Abreise zu füllen, vergaß man nie, der war immer fest mit Äpfeln, Brot, auch etwa Kuchen und Schokolade bepackt, je nach den Spenden der Mutter. Der stets zum Vorspann bereite Junge wurde der Feldmauser-Michel genannt, weil der Beruf seines Vaters war, den Bauern die Mäuse aus den Feldern zu fangen und zu vertilgen. Der Feldmauser-Michel war ein sehr vernachlässigter Bube, der etwas ganz Verstocktes in seinem Wesen hatte und tat, als ob er gar nicht reden könne, ein Bub, mit dem man durchaus keine Freundschaft schließen konnte. Da er aber immer bei der Hand war und nach der Anstellung trachtete, so ließ man ihm die Stelle als Vorspann. Diese anstrengenden Reisen waren sehr selten, und so kam die Gesellschaft des Amtshauses mit dem Feldmauser-Michel eigentlich wenig in Berührung.

Während diese Fahrten stattfanden, wanderte Elsa gewöhnlich mit ihrem Körbchen am Arm nach dem Krankenhaus hinunter. Wenn dann die alten Frauen sie gewahr wurden, da richteten sich alle vor Freuden in ihren Betten auf, und jede wollte gern zuerst die Elsa an ihrem Bett haben, und alle waren so froh und dankbar, wenn sie sich nun zu ihnen setzte und ihnen etwas erzählte. Wenn dann am Ende alle so herzlich baten, daß sie doch morgen wiederkomme, da war Elsa ganz glücklich und kam mit einem so frohen Gesicht nach Hause, als käme sie von einem Feste; denn daß sie die Macht hatte, den armen Alten eine frohe Stunde zu bereiten, die sonst so wenig Freude mehr hatten, das tat der Elsa so wohl, daß sie diese Gänge nach dem Krankenhause für gar keine andere Freude eingetauscht hätte.

Nur vor einer der alten Frauen fürchtete sich Elsa immer ein wenig; denn sie sagte fast nie etwas und schaute Elsa nur so von der Seite an, wenn sie kam, und nicht mit freundlichen Augen; oder sie kehrte sich gleich gegen die Wand um und tat, als sehe und höre sie nichts, auch wenn ihr Elsa beim Fortgehen noch die Hand bieten wollte. Das tat dem Kinde sehr leid, und oftmals klagte es der Mutter seinen Kummer; aber diese tröstete die Elsa darüber und sagte ihr, sie solle immer ganz gleich freundlich gegen die alte Frau sein, als merke sie ihre Unfreundlichkeit gar nicht, am Ende werde sie vielleicht doch auch noch freundlich und froh werden wie die anderen. Diese Frau war des Feldmausers-Michel Großmutter, die ein hartes Leben hinter sich hatte. Sie war immer als eine böse, alte Frau bekannt gewesen; aber wer sie lange gekannt hatte, der sagte, es sei ihr auch bös genug gegangen, und sie habe wenig gute Tage in ihrem Leben gehabt. Nun sei sie verbittert und denke wohl, der liebe Gott habe sie allein vergessen auf der Welt.

Elsa tat dann immer im Krankenhaus, wie ihr die Mutter sagte; aber die alte Feldmauserin blieb dieselbe und gab ihr kein gutes Wort, so daß Elsa oft betrübt von ihrer Seite aufstand, wo sie sich gesetzt hatte und traurig fortgegangen wäre, hätten nicht gleich die anderen drei oder vier Alten sie wieder gerufen und sie immer noch festhalten wollen und ihr gezeigt, wie lieb sie ihnen war und wie froh sie über ihr Kommen und ihr Bleiben waren.

In den Augen des Vaters stieg auch die Elsa jeden Tag ein wenig mehr, und zu öfteren Malen sagte er am Abend zur Mutter: »Die Elsa ist doch das einzige unserer Kinder, das nicht vom Boden aus umgeschaufelt werden muß, wenn noch etwas Gutes daraus werden soll. Herr Delmy wird noch seufzen über seiner Arbeit.« Dann antwortete die Mutter: »Gar so schrecklich sind sie denn doch nicht, und Herr Delmy ist ihnen gewachsen.«


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