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Sechstes Kapitel.
Jörli reist zweimal

Keiner, der die Frau am andern Morgen so frisch und rüstig umherwirtschaften sah, hätte gedacht, daß es dieselbe wäre, die am Abend so schmerzlich weinen konnte. Eben hatte sie Jörlis Ränzlein gepackt und zuletzt noch zwei Schinkenbrote und sechs hartgekochte Eier hineingesteckt, denn sie dachte, bis am Abend würde der Wanderer oft Hunger haben.

»Nun behüt' dich Gott, Jörli,« sagte sie jetzt, ihre Hand ausstreckend. »Komm du bald wieder zu uns zurück! Sag' deinem Großvater, jeden Monat würdest du ein solches Stück Geld für ihn hier verdienen, wie der Meister dir eins mitgegeben hat, so wird es dem Großvater recht sein, dich wieder ziehen zu lassen.«

Jörli hielt die Hand der Meisterin immer noch fest, obschon er ihr lebewohl gesagt und dann noch einmal die Hand gedrückt und hinzugesetzt hatte: »Ich danke euch viel hundertmal für alles Gute, das ihr mir gethan habt.«

Es war, als liege ihm noch etwas auf dem Herzen. »Was hast du, Jörli, möchtest du noch etwas? Sag's nur!« ermunterte freundlich die Frau.

»Darf ich nicht meine Mandoline wieder haben?« fragte er ein wenig schüchtern.

»Ach, die hab' ich ganz vergessen!« sagte die Meisterin, »aber die liegt ja gut oben im Schrank, bis du wieder kommst.«

Jörli zog nun seine Hand zurück und wollte gehen, aber in seinen Augen standen große Thränen.

»Nein, nein, wenn sie dir so lieb ist, mußt du sie haben,« sagte die Müllerin, schnell den Schrank öffnend, »und weißt du was, Jörli, wenn du wieder kommst, dann laß sie beim Großvater zurück, der Meister sieht sie nicht gern.«

Sie hatte unterdessen die alte Mandoline heruntergeholt und das Band losgewickelt, um sie dem Jörli umzuhängen.

»Gott im Himmel, das ist seine Mandoline!« schrie die Frau plötzlich so herzdurchdringend, daß Jörli sie voller Schrecken anstarrte. »Da steht sein Name, wie er ihn selbst eingekratzt hat, ich habe ihm noch zugeschaut. Woher kommt die Mandoline, Jörli?«

»Ich weiß es gewiß nicht,« entgegnete dieser immer erschrockener, »ich habe sie vom Großvater, und mein Vater hatte sie schon.«

»Wo lebte dein Vater? War er bei deinem Großvater? Du weißt vielleicht von allem nichts, so muß doch dein Großvater es wissen.«

Jörli hatte etwas sagen wollen von dem, was er wußte, aber es war so lange her, seit der Großvater ihm vom Vater erzählt hatte, und die Meisterin war so aufgeregt, wie er sie nie gesehen hatte, sie ließ ihn gar nicht recht zu Worte kommen. Jetzt war sie hinausgelaufen. Jörli nahm seine Mandoline. Was hatte die Meisterin da gelesen, das er nie gesehen hatte? – Richtig, da stand ein Name in der Ecke ganz fein eingekratzt. Jörli suchte ihn zu entziffern; endlich war es ihm gelungen, da stand: »Melchior Stauffer, Stauffermühle, Thunersee.« Also dem Müller selbst hatte die Mandoline gehört! Das war sein eigener Name, Jörli kannte ihn wohl, er stand ja auf allen Säcken mit großen schwarzen Buchstaben geschrieben. Vielleicht war sie ihm gestohlen worden, darum konnte er keine mehr ansehen. Nun wurde sie ihm gewiß vom Meister wieder genommen und nie mehr zurückgegeben, dachte er. Aengstlich lauschte er, ob der Müller mit der Frau hereinkomme.

Draußen hatte die Müllerin ungeduldig schon zweimal ihren Mann rufen lassen, denn vor allen Burschen drinnen in der Mühle wollte sie nicht mit ihm reden. Endlich kam er heraus.

»Laß auf der Stelle anspannen, Stauffer, ich muß fort,« rief ihm die Frau entgegen, »ich habe eine Spur von ihm, die erste seit bald vierzehn Jahren. Es ist seine alte Mandoline, die der Bube gebracht hat, ich habe den Namen darauf gesehen, den er vor meinen Augen eingekratzt hat. Der Alte muß wissen, woher er das Instrument hat; ich will zu ihm, gleich heute noch, der kann mich auf seine Spur führen!«

Der Müller schüttelte den Kopf: »Das wird wohl nichts sein,« sagte er trocken und wollte gleich umkehren, aber die Frau hielt ihn fest. »Das sag ich dir, Stauffer, wenn du nicht anspannen lässest, so geh' ich zu Fuß zu dem Alten hinauf, davon hält mich nichts ab.«

Die Frau hatte in aller Aufregung so bestimmt gesprochen, daß der Müller wußte, woran er war. Er zuckte mitleidig die Achseln und rief zum Stall hinüber: »Spann den Braunen ein!« In kurzer Zeit hatte die Frau sich bereit gemacht. Sie holte den immer noch ängstlich harrenden Jörli heraus, hieß ihn das Fuhrwerk besteigen, setzte sich neben ihn, und nun ging's fort. Jörli wußte nicht, wo es hinging und was alles zu bedeuten hatte. Die Meisterin war so mit ihren Gedanken beschäftigt, daß sie kein Wort sprach.

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Die Mandoline hatte sie dem Jörli gleich beim Einsteigen abgenommen. »Du könntest damit beim Fahren anstoßen,« hatte sie gesagt und das Instrument auf ihren Schoß genommen. Da hielt sie es sorglich fest, von Zeit zu Zeit wieder den eingekratzten Namen anblickend. Jetzt sah Jörli, daß sie schnell eine Thräne wegwischte, das hatte er noch nie bei ihr gesehen; es wurde ihm ganz ängstlich zu Mute. Erst nach langer Zeit wandte sich die Müllerin zu dem Buben und sagte in ihrem alten, freundlichen Ton: »Ja so, Jörli, du weißt ja nicht, wo's hingeht. Ich will mit dir zum Großvater. Du wirst nun wohl Hunger haben.«

Dann holte sie alles heraus, die Brotschnitten und die Eier, und was sie noch in dem Korb zu ihren Füßen eingesteckt hatte. »Nun, Jörli, nimm, was du magst, laß dir's wohl sein!« setzte sie ermunternd hinzu.

Jetzt fing es an dem Jörli recht behaglich zu werden. So bequem auf einem Wagen zu sitzen und von dem trabenden Braunen lustig durchs Land gezogen zu werden, das hatte er noch nie erlebt und wenn auch die Meisterin oft lange schwieg, so war doch jedes Wort, was sie hie und da sprach, ganz freundlich, er hatte keine ängstlichen Gedanken mehr über die unerwartete Begleitung. Da und dort erkannte er die Stellen wieder, wo er auf der Herreise hungrig am Wege gesessen, oder wo man ihn fortgeschickt, oder wo er müde und traurig dahingewandert war und allen Mut verloren hatte. Wenn nur der Großvater nicht schon weit weg auf solchen verlassenen Wegen umherwandern mußte! Der Gedanke beunruhigte den Jörli wieder und er war froh, daß man so schnell vorwärts kam.

Jetzt war das Gasthaus am Gsteig erreicht. Die Müllerin stieg aus. »Du kannst ausspannen,« wies sie ihren Burschen an, »dann wartest du hier, gegen Abend werden wir wiederkommen.« Dann ging sie gleich den Bergpfad hinan. »Ist es weit hinauf?« fragte sie den nachfolgenden Jörli.

»Etwa eine Stunde, oder ein wenig mehr,« meinte er, wußte es aber selbst nicht so recht. Schweigend stieg die Frau weiter und weiter. Länger als Jörli gemeint hatte, waren sie gewandert, als er plötzlich rief: »Dort, dort!« Da kam ein klarer Bach heruntergeschäumt; das war sein Bach, und dort oben stand das Häuschen. Jetzt fing Jörli zu laufen an. Oben trat der Großvater aus der Hütte, er mußte den Buben erblickt haben.

»Jörli, Jörli, kommst du noch! Das ist wie ein Wunder!« sagte der Alte, des Buben Hand drückend, »es war mir aber auch, als müßte ich dich noch sehen. Morgen muß ich fort, wohin, weiß ich nicht. Ich habe heute schon tapfer singen müssen, daß mir die rechte Zuversicht erhalten bleibt. Und nun kommst du mir noch gerade so wie ein Trostlied zum Schluß. Wer ist die Frau, die mit dir kommt?«

Die Müllerin war oben angekommen und streckte dem Alten ihre Hand hin. »Ihr seid gewiß Jörlis Großvater. Es freut mich, Euch zu sehen. Euer Bub ist die ganze Zeit bei uns gewesen, und er ist uns lieb geworden. Aber er wollte einmal wieder zu Euch und ich komme mit ihm, ich habe mit Euch zu reden.«

Der Alte wollte nun die Frau in die Stube führen, die Hausbesitzerin Lene sei auch drinnen; aber die Müllerin setzte sich auf die hölzerne Bank am Häuschen nieder und sagte, sie bleibe am liebsten hier draußen, sie wolle gern mit ihm allein verhandeln. Sie hatte dem Jörli die Mandoline abgenommen, die dieser den Berg hinauf getragen hatte und hielt sie nun wieder fest auf ihrem Schoß.

»Sagt mir jetzt vor allem eines,« fuhr die Müllerin fort, »wie seid Ihr oder wie ist Jörlis Vater zu dieser Mandoline gekommen?«

Der Alte schaute sie nachdenklich an, dann entgegnete er: »Davon weiß ich kein Wort zu sagen.«

»Dann such' ich weiter,« sagte die Frau entschlossen. »Wo ist Euer Sohn gestorben? Wo hat er gelebt?«

»Ja, das ist eine eigene Sache; eigentlich habe ich keinen Sohn gehabt,« antwortete langsam der Alte.

»Also war's der Schwiegersohn, der die Mandoline hatte, wenn sie Jörlis Vater gehörte, wie er mir sagte, – wo hat der gelebt? Wo kann ich ihm nachforschen?«

»Nein, nein, ich habe nie einen Schwiegersohn gehabt,« sagte der Mann gelassen.

Die Müllerin schaute ihn erwartungsvoll an, aber es kam keine weitere Erklärung heraus.

»Ich würde mich nicht in Eure Sachen mischen,« sagte jetzt die Frau ein wenig ungeduldig, »aber auf der Mandoline hier steht ein Name, der mich nahe angeht, und ich will nicht ruhen, bis ich weiß, woher das Instrument in Eure Hände gekommen ist, daß ich weiter darnach fragen kann.«

»Sag ihr doch recht, was du weißt, Großvater, du solltest nur wissen, wie gut sie immer mit mir war,« flüsterte Jörli dem Alten zu. Aber der sah aus als hörte er nichts. Er starrte auf die Mandoline, als sehe er das größte Wunder der Welt vor sich. Es war, als kehre er mit seinen Gedanken aus weiter Ferne zurück, als er endlich sagt: »So steht der Name auf dem Instrument geschrieben? Wer hätte das denken können? Und wir haben ihn so gesucht in allen Taschen, und auf jedem Kleidungsstück haben wir nachgeforscht, aber da waren nur Buchstaben eingenäht. Ja, wie haben sich die Mönche Mühe gegeben! Aber es war nichts zu finden. – So ist Euch der Name bekannt?«

Die Müllerin nickte: »Weiter, weiter! Was wißt Ihr weiter?« fragte sie drängend.

»Ja, Frau, wenn es so ist, dann muß ich Euch alles erzählen, wie es war,« sagte der Alte. »So soll der Jörli auch hören, wie's mit ihm ist, er weiß nichts davon. Es sind jetzt acht Jahre, aber es war frühe im Jahr, noch waren die hohen Bergpässe ganz im Schnee. Ich hatte zwei Herren über den großen Bernhard nach Aosta hinüber geführt und machte mich den andern Tag wieder auf den Weg, zurück über den Berg. Es war rauhes Wetter und der Himmel dunkelgrau. Ich sagte zu mir: »Lauf, daß du auf die Höhe kommst, ehe es recht losgeht.« So lief ich zu und etwa nach einer Stunde komme ich unterhalb vom Gipfel einem nach, der trägt ein Büblein auf dem Rücken und keucht schwer. Ich sage: »Guter Freund, ihr habt's nicht leicht, setzt den Buben ein wenig auf meinen Rücken, es kommt Unwetter, wir müssen eilen.« Er erwiderte, er habe es schon lange mit Angst bemerkt, und dankbar nahm er es an, daß ich den Buben tragen wollte. Es kam immer schwärzer, schon kamen die dicken Flocken herunter. Ich sagte: »Mut! Mut!« denn ich sah, daß mir der junge Mann fast nicht nachkam. Er war wirklich noch jung, aber er war krank, das konnte ich sehen. Zuletzt zog ich ihn mit allen Kräften weiter, denn das Unwetter wurde bös. Wir kamen hinauf, und die guten Mönche im Hospiz nahmen uns gleich in die Wärme, zum hellen Kaminfeuer heran, und das that wohl. Aber das Büblein war wie zusammengefroren und der Vater so erschöpft, daß die Mönche die Beiden gleich in ein warmes Bett brachten und alles für sie thaten. Und einer von den barmherzigen Mönchen blieb auch die ganze Nacht an dem Bett und gab dem Kranken von Zeit zu Zeit etwas Stärkendes ein. In der Nacht nun wollte er auch einmal reden, er hatte noch kein Wort gesagt. Der Mönch konnte ihn kaum verstehen, aber das verstand er, daß der Reisende zu seinen Eltern heimkehren und ihnen sein Büblein bringen wollte. Er flehte nur noch, daß man sie benachrichtige und wollte seinen Namen sagen, aber konnte nicht mehr reden, nur noch auf seine Sachen deuten, dann fiel er zurück und war tot; die Mönche sagten, ein Herzschlag habe ihn getroffen. Am Morgen lag das Büblein gesund und mit roten Backen neben dem toten Vater. Wir durchsuchten alles nach dem Namen, fanden aber keinen, nur Buchstaben auf einem Zeug. Die Mönche meinten, eine Brieftasche oder ein Papier müßte irgendwo zum Vorschein kommen, aber sie suchten umsonst. Jetzt kam der gute alte Prior zu mir heraus und sagte, ich müßte das Büblein mit zu Thal nehmen, denn hier oben könne es nicht bleiben. Ich sollte es drunten einer mitleidigen Familie übergeben. Dann gab er mir ein Stück Geld, das sollte für des Bübleins Unterhalt sein. Hier oben wollten sie den Toten ausstellen und ausschreiben, daß er daliege, da würden die Seinigen, die ihn vermißten, kommen und man werde mir Bericht thun, daß ich sage, wo das Büblein zu finden sei. So nahm ich es denn wieder auf meinen Rücken und ging thalabwärts mit ihm. Das Büblein plauderte jetzt so artig und erzählte mir, es heiße Jörli, sonst wußte es keinen Namen. Von Zeit zu Zeit fragte es verlangend: »Wo ist der Vater?« Und ich sagte: »Er kommt bald,« um es zu beschwichtigen. Aber mir kam das Wasser dabei in die Augen und es überkam mich ein großes Mitleid für das arme Waislein. Es wurde mir bald so lieb, daß ich zu mir sagte: »Das Büblein giebst du nicht weg, du behältst es bei dir, bis die Verwandten kommen.« Es kam nie ein Bericht vom Hospiz aus, und als ich zwei Jahre später selber wieder oben war, da hörte ich, daß nie ein Mensch nach dem fremden Toten gefragt habe, und der Herr Prior war zufrieden, daß ich das Büblein behalten hatte. Mit dem Ränzlein hatte der Reisende noch die Mandoline auf dem Rücken getragen, die gehörte ja nun dem Büblein, ich hatte sie mitgenommen. Aber wer hätte denken können, daß der Name auf der Mandoline stand!«

Der Müllerin waren schon lange die heißen Thränen die Wangen herabgerollt. »Jörli, Jörli, komm zu mir her,« rief sie in großer Bewegung aus, »komm, ich bin deine Großmutter, du gehörst uns! Jetzt weiß ich's, warum der Jörli mich so oft anschauen konnte, daß es mir das Herz im Tiefsten bewegte. Ja, Jörli, ich kenne dich wohl, du siehst mich ja an, wie mein Melchior, Jörli, dein Vater war unser Sohn, er war unser Melchior, mein Melchior war's!«

Die Frau war so tief bewegt, daß sich auch der Alte darüber die Augen wischen mußte. Jörli stand in sprachlosem Erstaunen da. Er lehnte sich aber ganz zutraulich an die liebevolle Großmutter und sah immer vergnügter aus. Nun sich diese ein wenig gefaßt hatte, wandte sie sich wieder an den Bergführer.

»Wir sind Euch viel Dank schuldig,« sagte sie, ihm die Hand bietend, »will's Gott, können wir noch etwas von unsrer Schuld abtragen. Nun sagt mir's aber auch, wenn Ihr noch etwas von meinem Sohn wissen solltet, wäre es auch nur ein Wort.«

Der Alte besann sich. Er meinte, bei dem Unwetter und der Müdigkeit seines Begleiters sei ihnen das Reden vergangen. Doch eines kam ihm noch in den Sinn. Als er das Büblein auf seinen Rücken genommen, habe er den Vater gefragt: »Wo ist die Mutter?« Da habe sein Begleiter rückwärts nach Italien hinab gewiesen und gesagt: »Tot und begraben unten in ihrer Heimat.« – »Jetzt weiß ich noch etwas,« setzte der Mann hinzu, »droben ist noch ein Tuch, das wollte der Jörli nicht mitnehmen, es war ihm immer zu warm gewesen, aber es ist noch schön, so habe ich gesagt, man muß es gut aufbewahren.«

Der Alte ging hinein und brachte eine graue Halsschleife mit roten Streifen. Die Müllerin kannte sie wohl. Es war die Schleife, die sie ihrem Sohn zum letzten Weihnachtsfest, das er in der Heimat zugebracht, gestrickt hatte. Sie sah ihn vor sich, wie fröhlich lachend er seine Schleife umgeschlungen hatte. Ihre Thränen fielen darauf. Sie konnte nicht sprechen.

»Der hatte seine Mutter nicht vergessen, der ihre Arbeit so sehr in Ehren hielt,« sagte teilnehmend der Alte.

»Nun sollt Ihr von Jörlis Vater auch noch etwas hören,« sagte nach einiger Zeit die Müllerin, »gewiß wundert es Euch, wie alles so gekommen sei, und Ihr verdient, daß ich es Euch erzähle. Unser Melchior war ein aufgeweckter Junge, geschickt und tüchtig zu allem. Mein Mann hatte seinen Stolz in den Buben gesetzt, er sollte weit und breit im Lande der angesehenste Müller werden. Da hatten wir einen Neubau an der Mühle zu machen und unter den Maurern war ein Italiener, der sang wie ein Vogel und hatte diese Mandoline mitgebracht. Unser Melchior war etwa siebzehn Jahre alt damals. Er war nun immer mit dem Italiener zusammen – Marlo hieß er – und die beiden sangen und spielten zusammen so schön, es war eine Freude zuzuhören. Marlo war ein braver und anständiger Bursche, wir konnten nichts dagegen haben, daß die beiden in jeder freien Minute zusammen bei ihrer Musik waren. In kurzer Zeit hatte ihm unser Melchior das Spiel abgelernt, ja, bald machte er's viel besser als sein Meister, das sagte Marlo selbst. Aber nun bekam er solche Lust zur Musik, daß sie ihm über alles ging. Marlo kam dann fort, aber die Mandoline blieb da, Melchior hatte sie dem Burschen abgekauft. Mein Mann war nicht zufrieden, daß so oft am Tage Musik gemacht werden sollte, und es ist wahr, unser Melchior mußte immer vom Musikmachen fort in die Mühle geholt werden. Da fing er an zu treiben, daß er in die Fremde komme, und wir dachten, das Reisen und neue Kenntnisse in seinem Fach könnten ihm gut thun. So verließ er uns. Er schrieb uns getreulich wo er war, aber von seinen Beschäftigungen schrieb er nichts. Nach zwei Jahren schrieb ihm mein Mann, nun solle er heimkommen. Da antwortete Melchior, er könne noch nicht kommen, er wolle aber die Wahrheit sagen, er habe die ganze Zeit nur Musik getrieben, aber viel gelernt, das wolle er nun verwerten; einmal komme er dann schon wieder heim. Mein Mann sagte gleich: »Der kommt nicht wieder!« und ward vor Schmerz und Leid und Zorn so angegriffen, daß er in eine schwere Krankheit fiel. Ich sagte immer: »Er kommt doch einmal wieder!« und die Hoffnung hielt mich aufrecht. Melchior schrieb noch dann und wann, bis vor nun bald vierzehn Jahren; da kam noch ein Brief, er sei nach Italien gegangen und gedenke dort zu bleiben. Es war der letzte. Er hat sich wohl bald nachher dort unten verheiratet, aber ich habe doch nicht Unrecht gehabt, unser Melchior wollte wieder heimkommen und uns sein Büblein bringen.

Aber jetzt müssen wir gehen und den Jörli seinem Großvater bringen, mich hält's nicht länger hier. Und Ihr kommt mit, Ihr seid der zweite Großvater, Ihr bleibt beim Jörli und bei uns.«

Der Jörli schrie auf vor Freuden: »Großvater, nun weißt du, wohin. Nun mußt du nicht auf die Straße hinaus!« Und in seiner Freude umschlang er die Großmutter und rief einmal ums andere: »Danke tausend, tausendmal!« und vor Freude fand er keine andern Worte, als nur immer wieder: »Für den Großvater! Für den Großvater!«

Diesen hatte das unerwartete Wort der Müllerin so überwältigt, daß er es gar nicht zu glauben wagte. Eine bleibende Heimat sollte er haben, aller Sorgen auf einmal los sein und dazu für immer mit seinem Jörli zusammenbleiben, der nun in ein so gutes Haus gehörte, das war viel mehr als er je hätte erbitten dürfen. Er stand da, als wüßte er nicht, ob er recht gehört habe. Aber Jörli war seiner Sache sicher. Er stürzte in die wohlbekannte Kammer des Großvaters hinauf, nahm die wenigen Kleidungsstücke, die da hingen und lagen, rollte immer eines über des andere, und band einen Strick um alles. Dann warf er das Bündel auf seine Schulter und kam damit heruntergerannt.

»So ist's recht, Jörli,« sagte die Großmutter befriedigt, »nun gehen wir.«

Jetzt sah der Alte, daß es ernst war. Er lief ins Haus hinein, um der Lene noch die Hand zu schütteln, dann zog er aus. In seines Herzens Freude lief er wie ein Junger den Berg hinab, und ehe sie sich's versahen, waren die drei schon beim Wirtshaus der Gsteig angelangt. »Nun rasch eingespannt,« gebot die Müllerin, »und dann laß den Braunen laufen, was er kann, mich treibt's heim.« –

In der Stauffer-Mühle war das Nachtessen vorbei; die Burschen waren weggegangen, der Müller hatte sich einsam an sein Tischchen gesetzt. Es war ihm nicht behaglich; er stand wieder auf und ging hin und her. Jetzt hörte er Wagenräder. Er stand still. »Was? Nein, nein, das ist sie sicher nicht!« sagte er für sich. »Die giebt nicht nach, und wenn sie acht Tage lang im Lande herumfahren muß, bis sie etwas erfährt.« Der Wagen kam näher, er hielt an. Der Müller ging hinaus. »Stauffer, komm her!« rief ihm die Frau entgegen, »komm, nimm den Buben aus dem Wagen, er gehört uns, er gehört dem Melchior!«

Der Müller kam stumm heran, hob den Buben aus dem Wagen heraus und führte ihn zum Laternenlicht.

»Bist du's, Jörli, so bist du's?« Dann nahm er ihn bei der Hand und führte ihn in die Stube hinein. Hier beim hellen Licht schaute er den Buben erst durchdringend an, so, als wollte er jeden Zug erforschen und darauf verweilen; er sagte aber kein Wort. Die Müllerin war nun auch eingetreten und hinter ihr her der Bergführer Fretz.

»Stauffer, du mußt nicht zweifeln,« sagte die Frau, zu dem schweigenden Manne tretend; »ich habe Beweise, er gehört so sicher zu uns, wie unser Melchior zu uns gehörte.«

»Frau, ich zweifle keinen Augenblick daran,« sagte der Müller in so hellem Ton, wie er lange nicht geredet hatte; »wenn mir einer gekommen wäre und hätte gesagt: Das ist Eures Melchiors Sohn! und hätte keinen einzigen Beweis dafür gehabt, so hätte ich's doch geglaubt. In jeder Bewegung ist er der Melchior und jedes Ding nimmt er akkurat in die Hand und dreht und wendet es gerade so wie der Melchior, daß ich oft erschrocken bin und gedacht habe, es ist etwas, wie man's von Doppelgängern erzählt. So bist du mein Enkel, Jörli,« fuhr der Müller, des Buben Hand ergreifend, fort, »und bist du gern wieder in die Mühle zurückgekommen und zum Großvater?«

»Ja, ja, so gern,« antwortete Jörli mit fröhlichen Augen, »und auch so gern zur Großmutter!«

»So ist's recht!« sagte der Müller kräftig in des Knaben Hand einschlagend. »Komm her, Großmutter, jetzt wollen wir uns zusammensetzen und uns freuen. Sie sollen ein Mahl rüsten draußen, und alle sich hier setzen, damit dann beim fröhlichen Mahle alles der Ordnung nach erzählt werde, wie es sich begeben hat. Der Jörli muß wissen, daß er bei seinen Großeltern eingezogen ist.«

Jetzt zog die Müllerin den Bergführer heran, der ganz still in einer Ecke gestanden und sagte: »Da ist noch einer, der sich mit uns freuen muß. Das ist Jörlis zweiter Großvater, der uns den Buben erzogen hat und dem wir nie genug dafür danken können.«

Der Müller schüttelte fest des Alten Hand.

Die Erzählung übernahm diesmal die Müllerin, sie wußte ja nun alles, was sich ereignet hatte und der Bergführer kam nicht zu kurz bei der Schilderung dessen, was er erst für den Melchior und dann für sein Büblein gethan hatte.

Nachdem sie die Nacht auf dem St. Bernhard geschildert hatte, trat eine Stille ein, die Frau konnte nicht weiter sprechen. Der Müller ging hinaus. Als er wieder hereinkam, drückte er erst schweigend die Hand des Bergführers, dann setzte er sich neben Jörli nieder, klopfte ihm ein paarmal auf die Schulter und sagte: »Jetzt wollen wir fröhlich sein, Jörli, daß du da bist, wo du hingehörst. Was willst du nun werden? Was möchtest du am liebsten werden? Sag's frei heraus!«

»Ein Müller,« war unverzüglich die Antwort, »und am liebsten einer in einer schönen Mühle, wie die Eure ist, Großvater!«

Der Müller lachte laut auf, und daß sein ganzes Herz in ihm lachte, das konnte man ihm ansehen.

»Jetzt seh' mir mal einer den an! Der weiß, was recht ist! Der hat seine Augen nicht umsonst im Kopf!« rief er aus, und die dichten Falten auf seiner Stirn waren alle verschwunden. »Jörli, morgen zeig' ich dir, wie man mit dem Braunen fährt und nachher mit den vier Schimmeln. Ich will es bald sehen, wie der junge Stauffer-Müller mit seinen Rossen durchs Land fährt. Komm, stoß' an, mein Bub! Auf die Stauffer-Mühle und den jungen Müller darin!«

Die Müllerin mußte nur immer wieder ihren Mann anschauen – er war wie verwandelt. Um zwanzig Jahre hatte er sich seit gestern verjüngt. Dann schaute sie wieder auf ihren Jörli, und ihre Augen hatten einen Ausdruck, den der Jörli wohl verstand. Alle Augenblicke nahm er sie bei der Hand und sagte freudestrahlend: »Großmutter, nun bin ich bei Euch daheim.«

Das Gesicht des alten Bergführers leuchtete die ganze Zeit wie eine helle Sonne. Jetzt legte er seine Hände ineinander und sagte: »Wenn ich nun ein Loblied mit dem Jörli singen dürfte, so hätte ich gar nichts mehr zu wünschen. Ich möchte gern meinem Gott im Himmel sagen, wie voll mein Herz von Lob und Dank ist, und im Singen kann ich es am besten ausdrücken.«

Jörli schaute erschrocken seinen Großvater an, er wußte ja, daß dieser die Musik nicht leiden mochte. Aber der Müller nickte ihm freundlich zu: »Nur zu! Nur gesungen! Wenn mein junger Müller den Tag über rüstig bei seiner Sache ist, so mag er jeden Abend seiner Großmutter Loblieder vorsingen, so viel er will.«

Nun stimmte der Bergführer mit seinem kräftigen Baß an und Jörli fiel mit hell klingender Stimme ein. Da gab die Großmutter leise die Mandoline in Jörlis Hände, denn sie liebte die sanften Töne des Saitenspiels, sie brachten ihr die Erinnerung an vergangene frohe Tage ins Herz. Der Müller hörte behaglich zu. Als die Schlußworte gesungen wurden:

Singen sollen sie all und loben,
Die noch hier, und die schon droben
Froh bei dir im Himmel sind –

da ging die Müllerin leise hinaus. Sie stieg nach dem Boden hinauf und beugte sich aus dem offenen Fenster. Der Mondschein lag hell auf der weißen Straße bis weit hinunter. »Nun kann ich nicht mehr nach ihm ausschauen, ob er heimkehre,« sagte sie die Straße überschauend, auf der sie jeden Abend ihren Sohn gesucht hatte. »Jetzt weiß ich, daß er nicht mehr kommt. Ach, mein Herr und Gott, wenn er nur bei dir im Himmel ist, dann will ich nicht mehr klagen.« Sie mußte aber doch noch reichliche Thränen wegwischen. Sie that es sorgsam, denn zu den Fröhlichen unten wollte sie mit fröhlichem Antlitz zurückkommen.

Am andern Morgen, als alle Hausgenossen beim Frühstück versammelt waren, sprach der Müller mit lauter Stimme: »Ich habe euch heute eine Mitteilung zu machen. Dieser Junge hier ist mein Enkel, ihr habt ihm fortan alle als dem Sohn des Hauses zu begegnen. Mein Sohn ist auf seiner Reise nach der Heimat plötzlich gestorben, und dieser wackere Mann hat den unbekannten kleinen Buben aufgenommen und in Gottesfurcht und Ehrbarkeit so erzogen, daß er dem Hause wohl ansteht, wohin er gehört. Diesen Mann habt ihr als den zweiten Großvater meines Enkels zu achten und zu ehren.«

Die Müllerburschen ließen alle die Köpfe hängen, als sie aus dem Hause traten, denn jeder dachte, noch heute werde er fortgejagt werden, denn Jörli werde seinem Großvater wohl sagen, wie er behandelt worden sei. Die größte Angst hatte der lange Kaspar. Jörli trat gleich nachher etwas zaghaft in die Mühle ein, sein Großvater hatte ihm einen Auftrag für die Leute gegeben, und er dachte bei sich, vielleicht seien sie nun noch erbitterter gegen ihn, weil er es nun besser habe als sie alle. Aber als er eintrat, fand er zu seiner Verwunderung die Burschen alle völlig umgewandelt. Jeder wollte der Freundlichste sein, jeder wollte etwas ganz Besonderes für ihn thun, um ihn zu versöhnen. Der lange Kaspar that geradezu so, als wäre es ein Glück für ihn, wenn der Jörli ihm nur ein Wort gönnen wollte. Diese Veränderung war für den Jörli eine unverhoffte Freude und nahm ihm mit einem Mal die ganze Sorge vom Herzen, die noch darauf gelegen; denn er hatte sich vor der Unfreundlichkeit aller Burschen sehr gefürchtet. Nun war er in der Freude seines Herzens so freundlich gegen sie alle, als wäre ihm nie das kleinste Leid von ihnen widerfahren. Das rührte die Burschen nun wieder so sehr, daß sie wirklich in wahrer Herzlichkeit ihn umringten und jeder ihm die Hand geben und ihn beglückwünschen wollte zum ersten Eintritt in die Mühle als Meisterssohn. Als er dann wieder draußen war, sagte der Hauptbursche zu den andern: »An dem haben wir so viel Unrecht gethan und er trägt uns doch gar nichts nach. Da muß etwas geschehen.« Den ganzen Tag über sann er nach so tief, wie er in seinem ganzen Leben noch nie nachgesonnen hatte; endlich hatte er gefunden, was geschehen sollte. Am Abend führte er die andern alle hinter die Mühle zu einer Uebung, und dann unter die Fenster der Wohnstube, wo die vier Familienglieder noch beisammen saßen. Plötzlich erscholl ein lauter Gesang zum Fenster empor:

Willkommen, junger Müllerssohn
In deiner Stauffer-Mühle!
Das Handwerk kennst du tüchtig schon,
Greifst besser an als viele.
Drum rufen wir ein Hoch dir zu,
Du wirst ein rechter Meister du!

Der Meister hatte gleich das Fenster geöffnet, rief sie nun alle herein, und in seiner Freude holte er einen so guten Trunk für sie, wie sie noch keinen erhalten hatten, seit sie in seinem Hause waren. –

In der Stauffer-Mühle ist die Fröhlichkeit wieder eingekehrt. Jeden Abend schallen die Loblieder durch den Hof und lieblich tönt das Saitenspiel dazwischen. Kein Tag vergeht, da der Müller nicht einmal seine Frau in die Mühle herüberholt. »Den mußt du an seiner Arbeit sehen,« drängt er jedesmal aufs neue, denn er kann nie genug dem Jörli zuschauen, wie er so flink wie ein Eichhörnchen von einer Arbeit zur andern übergeht und jede mit derselben Gewandtheit anfaßt und ausführt. Die Großmutter stimmt mit strahlender Freude in die Lobsprüche des Großvaters ein.

Geht sie an den schöngefüllten weißen Säcken vorüber, dann versäumt sie nie, ihrem Manne in Erinnerung zu bringen: »Du weißt, Stauffer, was du mir versprochen hast: Sobald du ein paar Tage frei bist, machen wir die Reise nach dem St. Bernhard hinauf. Wir haben den guten Mönchen so viel zu danken, wir sind tief in ihrer Schuld. Einige von diesen vollen Säcken reisen mit, und noch anderes dazu.«

Ist der Müller einmal wieder allein mit seiner Frau, so sagt er ihr immer wieder: »Du weißt nicht, wie's jetzt in der Mühle geht! Es ist, als hätten sich seit Jörlis Einkehr alle Burschen zum Guten verändert und schauten mich ganz anders an als vorher. Mir ist das Leben wieder lieb. Ich meine manchmal am Abend, ich habe noch nie etwas gehört, das einem so wohl macht, wie euer Lobgesang.«

»Ja, Stauffer, ich weiß schon,« sagt dann die Frau, »wer keinen Groll mehr im Herzen hat, sieht anders zum Himmel auf und blickt die Menschen anders an als vorher. Wenn auch unser Melchior nicht mehr zu uns kommen konnte, wie er wollte, so hat er uns einen Segen ins Haus geschickt, der uns mit dem Leid der vergangenen Tage wohl aussöhnen und uns wieder froh machen kann.«

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