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Zweites Kapitel.
Jörli sucht Arbeit

Es war ein heller Sommermorgen, als Jörli zur Reise gerüstet vor der Hütte stand. Ein altes Lederränzchen, das der Großvater auf vielen Bergfahrten mitgetragen hatte, hing ihm am Rücken und barg sein zweites Gewändlein, sein zweites Hemd und ein paar Strümpfe; gute Schuhe hatte ihm der Großvater vor kurzer Zeit heimgebracht, wohl schon im Gedanken an die bevorstehende Wanderung. Jörli hatte sie an den Füßen, an der Seite hing ihm die Mandoline.

»So geh und bleib brav, der Großvater hat's um dich verdient,« sagte die alte Lene, die zum Abschied auch vor die Hütte getreten war.

»Leb wohl, Jörli,« sagte der Großvater, die Hand des Buben festhaltend; »hab Gott vor Augen und wenn's dir bös gehen will, so sing ein schönes Lied, daß dir das rechte Vertrauen wieder ins Herz kommt. Nur das Gottvertrauen nie verlieren, nur es mit allen Kräften festhalten, dann geht's gut.«

Jörli gab dem Großvater noch einmal die Hand, dann zog er aus. Daß es ihm nun so den Hals heraufstieg, als wollten die Thränen kommen, das sollte der Großvater nicht sehen.

Schon war Jörli weit den Berg hinunter, es ging schnell über den glatten Weideboden hinab dem Thale zu. Die Sonne schien lieblich und die Vögel pfiffen fröhlich von den Zweigen. Dem Jörli wurde das Herz wieder leicht. Noch war es früh am Tage, denn gleich nach Sonnenaufgang war Jörli ausgezogen. Jetzt wanderte er von Gsteig der großen Straße zu, die nach Interlaken hineinführt. Eine gute Weile war er gewandert, als die großen, hohen Gasthäuser von Interlaken zum Vorschein kamen. Ganze Scharen geputzter Menschen spazierten durch die Baumallee hin, andere saßen auf den Bänken unter den schattigen Nußbäumen. Nun wurde der Jörli fröhlich und dachte: »Wo so viele Menschen sind, da giebt's Arbeit genug, mehr als ich verrichten kann.« Gleich beim ersten Gasthaus trat er ein und fragte den Kellner, der ein großes Brett mit hohen Schichten von Tellern über den Gang trug: »Kann ich hier Arbeit finden? Ich könnte Euch gleich tragen helfen.«

Der Kellner schaute zurück. »Mach, daß du fortkommst und dich nicht mehr sehen lässest, wir brauchen keine Vagabunden!« rief er drohend, und sein Blick war noch drohender als die Worte. Jörli lief erschrocken hinaus. Nach wenigen Schritten kam ein noch viel längeres Gebäude mit hohen Fenstern, es war auch ein Gasthof. Unter der breiten Eingangsthür stand ein ungeheuer dicker Mann mit beiden Händen in den Taschen und schaute mit großer Ruhe, wie der erschrockene Jörli heranschoß. Dieser dachte: Das ist gewiß der Herr Wirt selbst, der wird nicht so böse sein. Er trat herzu. »Kann ich hier Arbeit haben? Ich will gewiß alles thun, wie es sein muß,« sagte er ermutigt durch die unentwegte Ruhe des Angeredeten. Dieser schaute den Buben schweigend von oben bis unten und dann wieder von unten bis oben an, dann schüttelte er den Kopf. Endlich sagte er: »Hier giebt's keine Arbeit für unreife Buben und Musikantenvolk.« Jörli blieb noch ein wenig stehen; der Wirt hatte so langsam geredet, vielleicht hatte er sich noch nicht ganz fertig besonnen, vielleicht würde er noch etwas sagen; aber es kam nichts mehr. Jetzt zog der Mann ganz sachte die eine Hand aus der Tasche und wies mit seinem dicken Daumen die Straße hinaus, was deutlich hieß: »Weiter gehen!« Jörli ging. Am nächsten Hause lag ein Garten. Kaum hatte Jörli diesen betreten, als eine Frau abwehrend aus dem Fenster rief: »Nichts! Nichts! Keine Musik machen!«

»Ich möchte um Arbeit fragen, nicht Musik machen,« entgegnete Jörli.

»Hier ist keine Arbeit für dich, mach die Gartenthür zu!« Damit schloß die Frau ihr Fenster.

Dem Jörli fing der Mut zu sinken an. Wenn hier, wo so viel zu thun sein mußte, keine Arbeit für ihn zu finden war, wo konnte es denn sein? sagte er sich mit Zagen. Aber es waren ja noch viele Häuser da, große und kleine, er wollte weiter fragen, gleich das nächste Haus konnte ja das rechte sein. Es war nicht so, er wurde abgewiesen. Jörli wanderte weiter. Die ganze lange Straße von Haus zu Haus bat er um Arbeit, überall wurde er fortgeschickt. Nun kam er von den Häusern weg ins Land hinaus.

Er wollte es nun auf den Bauernhöfen versuchen, da mußte doch mitten im Sommer genug zu thun sein. Dort das alte Haus mit dem großen Dach, das mitten in der Wiese stand, sah so heimatlich aus, er ging hinüber. Die Bäuerin kochte an dem breiten Herd, die Küchenthür stand weit offen, ein ganz einladender Geruch von Gebackenem kam ihm entgegen.

»Könnt Ihr mir Arbeit geben?« fragte Jörli in die Küche hinein. Die Frau hielt in jedem Arm eine Pfanne und lief eilig hin und her. Sie warf schnell einen Blick auf den Frager.

»Komm du im Herbst, wenn Apfel und Birnen aufzulesen sind, jetzt giebt's nichts zu thun für solche, wie du bist!« rief sie ihm zu und wirtschaftete eilig weiter. Jörli zog den guten Geruch noch einmal ein und ging. Seit fünf Uhr morgens, da er sein Schüsselchen Milch und seine Kartoffeln bekommen, hatte er nichts mehr gehabt und war immer auf den Füßen gewesen, und nun war es Mittag. Er schaute noch einmal zurück. Die Bäuerin hatte keine Zeit, an anderes zu denken, als daran, daß ihre Arbeiter auf das Essen warteten; sie sah nicht, wie der Bube zurückschaute. Er ging weiter, betteln wollte er nicht, das hatte ihm der Großvater als etwas Schandbares dargestellt für Leute, die arbeiten können, und das konnte er ja. Jörli wanderte wieder zu. Da und dort in einiger Entfernung vom Wege waren wohl kleinere Häuser zu sehen, aber wo wenig Land war, da war gewiß auch wenig Arbeit, dachte er und ging weiter, bis er wieder ein großes Bauerngut erblickte, wo eben zwei ungeheure Stiere an einen mächtigen Leiterwagen angespannt wurden. »Die sollen wohl das Heu heimholen, da muß es Arbeit geben,« sagte sich Jörli und schritt rüstig dem Hause zu. Er konnte wohl sehen, daß der feste Mann, der den Knechten Befehle gab, der Bauer selbst war, und wandte sich gleich an diesen.

»Kann ich mit auf die Arbeit gehen? Ich kann gut heuen, ich habe dem Großvater immer geholfen, wenn er das Heu aufschüttelte,« sagte Jörli zuversichtlich.

»Schon recht, schon recht, die Art von Arbeitern kennt man,« entgegnete der Bauer und warf dabei einen verächtlichen Blick auf die Mandoline. Er fuhr fort, mit den Knechten zu reden und zeigte deutlich, daß er mit dem Buben nichts weiter zu thun haben wollte. Sehr niedergeschlagen ging Jörli seine Straße weiter. Er fragte doch noch wieder um Arbeit, aber immer zaghafter, denn immer gab's dieselbe Antwort, und auf den großen Bauerngütern, wo er am allerehesten anzukommen hoffte, schickte man ihn mit den kürzesten Worten weg. Nun ging es schon gegen Sonnenuntergang; immer noch wanderte er weiter und weiter. Müdigkeit und Hunger fingen an, dem Jörli sehr peinlich zu werden, und zuletzt würde er zu müde sein, um weiter zu gehen und müßte am Wege niedersitzen und vor Hunger sterben. Bei dieser Vorstellung fuhr ihm der Schrecken so in die Glieder, daß er nicht mehr weiter konnte und am Rande des Weges niedersitzen mußte. Jetzt dachte er an den Großvater, wie der nun oben bei der Hütte auf der Bank saß und gewiß daran dachte, wie es ihm nun wohl mit seinem Suchen nach Arbeit ergehe. Nun kam Jörli in den Sinn, daß jetzt gewiß für ihn der Augenblick gekommen sei, da er ein Lob- und Danklied singen müsse, wie ihm der Großvater erklärt hatte, daß man thun müsse. Er wollte gleich anfangen, aber das war nun gar nicht so leicht, wie der Großvater es von sich erzählt hatte. Jörli konnte gar nicht anstimmen, die Töne wollten nicht aus dem Halse herauskommen. Nun nahm er seine Mandoline zur Hand, die mußte ihm helfen. Da fiel ihm ein, wie mancher verächtliche Blick heute auf seine liebe, alte Mandoline gefallen war und tröstend sagte er: »Du bist mir doch lieb, wenn sie dich schon verachten, dich lasse ich gewiß nie zurück, wenn sie mich auch überall um deinetwillen fortjagen.« Nun griff er in die Saiten, aber so traurig hatten sie noch gar nie geklungen. Er wollte nun entschieden ein Lied anstimmen, dann würden sie vielleicht wieder fröhlicher tönen, aber plötzlich mußte er so jämmerlich aufschluchzen über die Klänge seiner Mandoline und alle Erinnerungen an das Leben beim Großvater, die dabei in ihm aufstiegen, daß kein Ton des Gesanges mehr herauskam und er nur sein eigenes Schluchzen hörte. Das war aber nun gar nicht, wie der Großvater es gemacht hatte, und doch lag Jörli ja nicht in einer Gletscherspalte, sondern hatte den schönen blauen Himmel über seinem Kopf und den festen Erdboden unter seinen Füßen. Jörli wollte doch nicht so undankbar sein; er raffte sich zusammen und stimmte laut eines der Loblieder an, die der Großvater ihn gelehrt, und sang alle Verse durch. Seine Mandoline klang auch immer frischer und fröhlicher, und beim letzten Vers sang sie am lautesten mit:

»Dir dank' ich, daß du gnädig bist,
Und hilfst in jeder Not,
Und daß kein Mensch verlassen ist,
Der schreit zu seinem Gott.«

Als Jörli die letzten Worte gesungen hatte, da stieg die Freudigkeit wieder auf in seinem Herzen; nun wußte er auf einmal wieder, woher ihm in seiner Verlassenheit Hilfe kommen würde. Da legte er die Mandoline weg, faltete seine Hände, schaute zum Himmel auf und betete recht von Herzen: »Ach, lieber Gott, ich schreie auch zu dir, du willst mich gewiß nicht verlassen, da ich nun so allein bin.«

Jetzt stand er ganz mutig auf, hing die Mandoline um und wanderte zuversichtlich seine Straße weiter. Von Zeit zu Zeit schaute er vertrauensvoll zu dem lichten Abendhimmel auf und sang laut und fröhlich:

»Und daß kein Mensch verlassen ist,
Der schreit zu seinem Gott.«

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