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Drittes Kapitel.
Eine Thür thut sich auf

Nicht weit von der Stelle, wo Jörli schluchzend auf dem Boden gesessen hatte, rauschte ein voller Wasserbach von der Höhe zu dem nahen Thunersee nieder. Von alten, blätterreichen Nußbäumen beschattet, stand mit festen Mauern und hohem Dachgiebel eine Mühle an dem rauschenden Wasser. Da drehte sich das große Rad unablässig fort und fort, und immer wieder wurden große Säcke voll Korn hereingetragen und als weißes schönes Mehl in neue Säcke gepackt und endlich hoch über einander aufgeschichtet, aufgetürmt auf den großen Wagen gelegt, den dann die vier festen Schimmel zum Hof hinauszogen. Wo es so zuging, da mußte ein fröhliches Leben in Haus und Hof walten, dachte jeder, der dem Hause nahe kam; aber es war nicht so in der Stauffer-Mühle. Der Müller ging schweigend durch seine Räume, vom Hause in den Hof, vom Hof in den Stall, vom Stall in die Mühle. Er sprach kein Wort, nur daß er da und dort einen Knecht anbrummte: »Wird's bald?« oder einen Müllerburschen im Vorbeigehen anfuhr: »Mach's besser.« Der Müller verstand sein Gewerbe vorzüglich und ging allem nach, aber er sah nie aus, als ob seine schöne Besitzung und das ganze blühende Gewerbe ihm Freude machten; er sah aus, als nage ein verborgenes Leid an ihm. Die Müllerin war auch nicht mehr die fröhliche Frau, die sie vor Jahren gewesen, da die jungen Leute nirgends so gern zusammenkamen, wie in der Stauffer-Mühle, weil die Müllerin immer eine neue Freude für sie bereit hatte, und sie in allen Ehren so vergnügt waren wie nirgends sonst. Der einzige Sohn des Hauses, dem die Mutter so gern diese Feste bereitete, war als der froheste und der gescheiteste Bursche von allen in der ganzen Gegend anerkannt. Nicht einer würde so wie er zu der schönen Stauffer-Mühle passen, so dachten sie alle. »Du hättest nur sehen sollen, wie es hier in der Mühle vor sechzehn Jahren war, da ging es anders zu mit Fest- und Freudentagen,« sagte oft die alte Magd zu der jungen, die kürzlich zu ihrer Hilfe angestellt worden war. So hatte sie auch eben wieder gesagt, als die beiden den Hof mit ihren Besen rein gemacht hatten, und sich anschickten, ins Haus einzutreten. In diesem Augenblick kam der Müller mit gesenktem Kopf und düsterem Blick über den Hof gegangen. »Ja, das war ein anderes Leben damals,« fuhr die Magd fort, als er im Stall verschwunden war. »Da war der junge Sohn noch da, ein so schöner Bursche und so brav und so freundlich, jedermann mußte ihn gern haben. Und wie hatten der Müller und die Müllerin erst Freude an ihm – da waren die beiden ganz anders als jetzt! Da hättest du sehen sollen, wie die Müllerin mit ihrem Buben lachen konnte, und wie stolz der Müller seinem Sohn nachschaute, wenn er auf den bepackten Wagen sprang und mit einem Anstand und einer Sicherheit dort oben saß wie kein anderer und dann mit den vier Schimmeln davonfuhr, es war eine Freude, ihm nachzuschauen.«

»Und dann ist er gestorben?« fragte das junge Mädchen.

»Er ging in die Fremde, um das Müllerhandwerk noch besser lernen zu können und kam nie mehr wieder,« erzählte die andere. »Er ist natürlich tot, sie haben nie ein Wort darüber gesprochen, weder der Müller noch die Müllerin; sie könnten nicht vor Schmerz und Leid.«

»Es nimmt mich nur eines wunder,« sagte das junge Mädchen wieder, »warum die Müllerin jeden Abend nach Sonnenuntergang auf den Boden hinaufgeht und dort aus dem offenen Fenster schaut – so, als sähe sie etwas Besonderes. Einmal stand ich unten und sah sie, wie sie den Laden aufmachte und sich weit hinausbog, aber ich konnte nicht sehen, was sie suchte.«

Eben hörten die Mägde, wie die Müllerin wieder die Treppen hinaufstieg. »Hörst du sie?« fragte die Junge schnell.

»Was sie sucht, weiß ich nicht, es geht uns auch nichts an. Geh du jetzt und hol dein Wasser herein, daß alles in Ordnung ist, wann sie herunterkommt,« gab die Alte zurück und ging schnell in die Küche.

Die Müllerin konnte oben aus dem Fenster weit die Straße übersehen, die sich wie ein weißes Band an dem dunkeln Waldrande hinzog. Sie bog sich weit über die Brüstung hinaus, um nach beiden Seiten hin die Straße so weit als möglich zu überblicken. Eine gute Weile schaute sie den Wald entlang, dann gegen den See hin. Jetzt trat sie zurück und wollte zuschließen. Aber plötzlich bog sie sich nocheinmal hinaus und spähte nach der weißen Straße hin. »Nein, es ist nichts, es ist zu klein, er kommt noch nicht,« sagte sie für sich. Schnell wischte sie eine Thräne weg, dann schloß sie den Laden. Was die Müllerin erblickt und zu klein erfunden hatte, war der Jörli, der die Straße daher kam. Jetzt stand er still und spitzte die Ohren.

»Das ist eine Mühle,« sagte er voller Freuden, wenn ich doch das Rad noch genau sehen könnte, ehe es dunkel wird.

Er bog von der Straße ab und lief der Mühle zu. Er brauchte nicht in den Hof einzutreten, draußen am Bach konnte er so herrlich sehen, wie das schöne große Rad mit seinen gewaltigen Schaufeln die Bachwellen peitschte. Jörli stand ganz versunken in den Anblick. Seit er zu denken begonnen, war es sein höchster Wunsch gewesen, einmal ein rechtes Mühlrad laufen zu sehen, denn der Großvater hatte ihm gezeigt, wie man Räderchen aus Holz macht, die der Bach betreiben konnte und ihm gesagt, so würden die Mühlen getrieben, nur mit Riesenrädern. Jetzt sah Jörli staunend das Riesenrad. Wenn er doch nur einen einzigen Blick in die Mühle hineinthun dürfte, um zu sehen, wie da drinnen das Korn zermahlen wurde, wie das alles zusammenhing und ineinandergriff, bis alle nötigen Werkzeuge aus den groben Körnern das weiße, feine Mehl gemacht hatten, das war nun sein einziger Wunsch, der so mächtig wurde, daß er alles andere darüber vergaß. Der Müller hatte den Buben herlaufen gesehen und gedacht, es sei ein Bettelbube. Nun er hinter der Mühle verschwunden war, ging er ihm nach, um zu sehen, was der hergelaufene Bube da hinten treibe. Jörli aber war so tief versunken in den Anblick des Mühlrades, daß er gar nicht bemerkte, daß jemand nahe an ihn herantrat. Dem Müller gefiel diese Bewunderung. »Was hast du hier auszudenken?« fragte er plötzlich den Buben.

Jörli fuhr zusammen. Ein wenig erschrocken antwortete er: »So gern einmal sehen, wie es zugeht, daß da drinnen das Korn von dem Rad ausgemahlen wird.«

»So, wo gehörst du hin?« fragte der Müller nicht unfreundlich und ging dem Hof zu. Jörli folgte ihm. Er hatte sich nun besonnen, warum er eigentlich auf dem Wege sei. Drinnen im Hof stand der Müller still und schaute den Buben forschend an.

»Ich hätte gern Arbeit, vielleicht könnte ich auch in der Mühle etwas arbeiten,« sagte Jörli.

Jetzt fiel des Müllers Auge auf die Mandoline. Auf einmal rief er in ganz verändertem Ton:

»So, bist du einer von denen? Mach, daß du fortkommst, und laß dich nicht mehr bei mir sehen!«

Jörli war so überrascht und erschrocken über den zornigen Ton, daß er unbeweglich stehen blieb.

»Hast du mich verstanden oder muß ich nachhelfen?« rief der Müller in höchstem Zorn, »Sultan jag ihn!«

Der große Hund, der schon lange geknurrt hatte, sprang mit furchtbarem Bellen auf den Buben los. Mit einem Schrei schoß Jörli zum Hof hinaus. Die Müllerin war eben aus dem Hause getreten und da sie des Mannes zornige Worte noch vernommen und den Schrei des Buben gehört hatte, kam sie herzugelaufen.

»Du wirst dich doch nicht an einem Kinde versündigen wollen, Stauffer?« sagte sie lebhaft. »Was hat dir denn der Bube gethan?«

»Von dem dreimal verwünschten Musikantenvolk ist er!« schrie der Müller und lief aufgeregt dem Stalle zu. Die Frau ging gegen die Landstraße hinaus, ob sie den Buben noch irgendwo sehe. Da ging er nicht weit vor ihr her, langsam und müde. Der Schreck war ihm noch zu der Müdigkeit in die Füße gefahren. Die Frau rief ihn freundlich Zurück. Jörli stand zögernd still.

»Komm nur, komm, du brauchst dich nicht zu fürchten, ich nehme dich mit mir ins Haus hinein!« rief sie ihm zu. Er kehrte langsam zurück. »Bist du müde?« fragte die Müllerin teilnehmend. »Woher kommst du?«

»Vom Berg über Gsteig,« antwortete er, »am Morgen um fünf Uhr bin ich von daheim fort.«

»Aber nicht immerzu gegangen,« sagte die Müllerin.

»Doch, gewiß,« versicherte Jörli, »nur einmal habe ich mich am Weg ein wenig niedergesetzt,« fügte er hinzu, denn es kam ihm in den Sinn, wie er geweint und dann gesungen hatte.

»Wohl um dein Mittagessen zu halten, denk ich,« sagte die Müllerin.

»Nein, ich hatte nichts zu essen,« entgegnete Jörli.

»Was, vom Morgen an nichts bis jetzt? Wie kannst du nur noch auf deinen Füßen stehen?« rief die Frau aus. »Komm schnell mit mir herein!«

Sie gingen nun über den Hof. Der böse Sultan kam wütend herangesprungen, aber seine Herrin rief ihm gebieterisch zu: »Ich rat' dir's nicht! Gleich halt dich still, Sultan!« Da kroch der Hund in sein Häuschen und gab keinen Laut mehr von sich. – Nun traten sie in die große Stube ein, da sah es sehr wohnlich aus. Ein langer Tisch war sauber gedeckt für alle Müllerburschen, und obenan für den Meister und die Meisterin. Sie führte aber den Jörli zu einem kleinen Tisch, setzte sich zu ihm und sagte freundlich: »Die andern kommen noch nicht, aber du mußt gleich essen.«

Die Magd brachte jetzt herein, was die Meisterin befohlen hatte, und diese füllte dem Jörli von dem schönen, dicken Milchbrei einen ganzen Teller voll, und während er sich's nun schmecken ließ, strich sie ein schönes, weißes Butterbrot und legte eine hellrote Schinkenschnitte darauf. Nun machte sie Licht, denn es war dunkel geworden. »Ich muß doch einmal sehen, wie du aussiehst,« sagte sie und betrachtete den Jörli lange und genau. Es mußte etwas an ihm sein, das ihr gefiel, sie schaute ihn immer von neuem an, sagte jedoch nichts. Aber die Blicke, die sie auf den Jörli richtete, waren so freundlich, daß es ihm ganz wohl wurde und er behaglich sein gutes Abendessen einnahm.

»Du siehst so ordentlich aus, als hätte dich heute morgen die Mutter angezogen,« begann die Müllerin jetzt, »und doch bist du so ein fahrendes Musikäntlein, das auf die Berge geht und dort den Fremden etwas vorspielt und dann auf dem Stroh liegen kann und am Morgen wieder fort muß.«

»Nein, das bin ich nicht,« sagte Jörli, »mein Großvater ist der Bergführer Fretz, und bei ihm habe ich immer gewohnt. Er hat heute morgen gesagt, ich solle das gute Zeug anziehen und das andere ins Ränzlein stecken, sonst stelle mich niemand zur Arbeit an.«

»Wo mußt du denn hin? Wo sollst du arbeiten,« wollte die Müllerin weiter wissen.

Nun erst hörte sie, daß Jörli nicht wußte, wo er hin sollte, noch wo er Arbeit fände, daß er nicht einmal einen Ort wußte, wo er heute schlafen könnte. Auf der Müllerin Frage, warum er denn so früh schon vom Großvater fort müsse, erzählte er ihr, daß dieser nicht mehr Berge besteigen könne, daß er nichts mehr besitze, und daß die alte Lene Verwandte ins Häuschen nehme und der Vater da nicht mehr Platz habe.

»Warum trägst du denn dieses Musikinstrument mit dir herum?« wollte die Müllerin noch weiter wissen.

»Nur weil es mir lieb ist,« erklärte er ihr, »und weil ich noch besser die Lieder singen kann, die mich der Großvater gelehrt hat, wenn sie mitsingt.«

»So, so! Was für Lieder hat dich denn der Großvater gelehrt?« forschte die Müllerin.

Jörli hatte fertig gespeist und war umso guten Mutes und so voller Dank, daß er mit größter Freude gleich anstimmte: »Mein Herze geht in Sprünge und kann nicht traurig sein!« und seine Mandoline klang so hell dazu, wie seit lange nicht.

»Dein Großvater hat dich Gutes singen gelehrt,« sagte die Müllerin, die dem wohlthuenden Gesang von Vers zu Vers mit wachsender Freude zugehört hatte. »Du hast eine Stimme, die ich gern höre, du mußt mir noch mehr singen. Aber komm, gieb mir die Mandoline, die muß da hinauf.« Schnell ergriff die Frau das Instrument und steckte es weit oben in einen Schrank hinein. Sie hatte den Müller kommen gehört.

»Bekomm' ich sie nie mehr?« fragte Jörli mit einem traurigen Blick nach dem Schrank.

»Doch, aber jetzt nicht gleich, ich meine es gut mit dir,« sagte die Frau schnell.

Das fühlte Jörli und war gleich wieder wohlgemut. Jetzt trat der Müller ein. Seine Augen schauten blitzend auf den Buben, dann auf seine Frau.

»Du bist im Irrtum, Stauffer,« sagte sie ruhig, »der Bube ist gar kein fahrender Musikant, sein Großvater ist Bergführer im Oberland. Ersucht Arbeit und hat noch kein Nachtquartier, das soll er bei uns haben; wir haben noch keine braven Leute fortgeschickt, und zu denen gehört der Junge und sein Großvater.«

Der Müller sagte nichts. Er sah schweigend zu, wie seine Frau den Buben bei der Hand nahm und hinausführte. Oben im Hause war eine geräumige Kammer, ein schönes Bett stand darin. »Da schlaf du nun gut,« sagte die Frau freundlich. »Wie heißest du denn? – So, Jörli? So schlaf wohl, morgen wollen wir sehen, wo du etwa hin könntest.« Sie gab dem Buben die Hand und schaute ihm dabei so freundlich in die Augen, daß es ihm war, als wäre er daheim.

Als die Müllerin wieder herunterkam, war die Zeit des Abendessens gekommen. Als nach demselben die Leute sich alle wieder entfernt hatten, setzte sich die Frau zu ihrem Manne an den kleinen Tisch hin, wie es jeden Abend geschah. Sie legte ihm sein Pfeifchen und den Tabak hin, schenkte ihm ein apartes Gläschen ein, und als alles gemütlich geordnet war, sagte sie: »So, nun wollen wir über den Buben reden. Hast du nicht gesehen, welch nettes, gutes Gesicht er hat – und wie er einen ansieht, so wie – ich kann nicht sagen, wie.«

»Warum schleppt er das Instrument mit sich herum?« fragte der Müller in scharfem Ton.

»Aber, Stauffer, bist du nicht auch ein Bub gewesen? Weißt du nicht, wie sie's alle machen?« erwiderte die Frau. »Ein jeder schleppt etwas mit sich herum, der eine eine alte Pistole, der andere ein Rasiermesser und der dritte Bleikugeln, die ihm alle Taschen herunterreißen. Jeder hat so etwas, das er nicht hergiebt und wäre es nur ein Stück Schuhmacherharz, mit dem er alles verklebt. Besinn' dich nur, ist's nicht so?«

Der Müller nickte, die Schilderung paßte auf seine Erinnerungen aus der Jugendzeit.

»Siehst du, so ist's,« fuhr die Frau fort, »dieser Bub hat nun das alte Instrument erwischt und als er nun von daheim fort mußte, hat er es nicht zurücklassen wollen, das ist alles. Es ist ja hart genug und zum Erbarmen, daß ein so junger Bub schon unter Fremde muß und sein Brot suchen und vielleicht herumgestoßen wird. Und – kurz und gut, Stauffer, daß ich's nur grad heraussage, ich möchte den Buben hier behalten. Es giebt allerhand Arbeit bei uns in Haus und Hof, und stellt er sich so gut an, wie er aussieht, so wirst du ihn bald genug in der Mühle haben wollen.«

»So einen hergelaufenen Buben, von dem du kein Wort weißt, stellst du gleich ein, das wird gut gehen!« erwiderte der Müller, aber der Ton, mit dem er redete, war nicht mehr zornig, nun er wußte, daß er es nicht mit einem fahrenden Musikanten zu thun hatte, dachte er wieder daran, mit welcher Aufmerksamkeit der Bube vor dem Mühlrad gestanden – das hatte des Müllers Gesinnung gemildert. Die Frau bemerkte im Augenblick den veränderten Ton und wußte, daß sie es ohne weitern Kampf gewonnen hatte. Das erfreute sie so, daß etwas von ihrer alten frohen Laune in ihr aufstieg, und sie ihrem Manne heute so viel aus den vergangenen und den gegenwärtigen Tagen zu erzählen wußte, daß die alte Wanduhr zehn schlug, ehe er sich's versah, und er voller Verwunderung aufstand.

»Seit manchem Jahr hab' ich nie mehr gemeint, es sei neun Uhr, wenn's Zehn schlug,« sagte er, und die Müllerin dachte noch beim Einschlafen: »Jeden Abend möchte ich noch ein solches Lied singen hören, wie der Jörli gesungen hat.« Wie lange hatte sie kein Lied mehr singen gehört, noch weniger selbst eins gesungen.


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