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Erstes Kapitel.
Es wird ein Entschluß gefaßt

Hoch über dem kleinen Weiler Gsteig, am schmalen Bergpfad, der zur Schynigen Platte hinaufführt, steht eine einsame Hütte. Ein klarer Bergbach, der vom hohen Gipfel herunterkommt, läßt allezeit sein fröhliches Rauschen um die Hütte ertönen. Auf der schmalen Holzbank neben der Thür saß am hellen Sommerabend der alte Lukas und schaute zu, wie der Vollmond hinter dem Berge drüben heraufstieg und nach und nach alle Höhen und Tiefen mit Licht übergoß. Lukas war der weit und breit bekannte Bergführer, der freilich schon seit mehreren Jahren die großen Bergwege jüngern Führern überlassen mußte und nur noch leichtere ohne Lasttragen übernahm.

»Komm hieher, Jörli, ich muß mit dir reden,« rief Lukas jetzt dem Buben zu, der drüben am Bach auf den Knieen eine schwere Arbeit zu verrichten schien.

»Gleich, gleich, Großvater,« rief er zurück, und rutschte auf seinen Knieen hin und her, seine Arbeit beschleunigend. Nach einer kleinen Weile erhob er sich und kam herangerannt. Trotz der Abendkühle waren seine Wangen glühend, und die großen Augen funkelten wie blaue Flammen im Mondschein.

»Großvater, das Rad will nicht gehen; wenn ich nur einmal sehen könnte, wie's an einer Mühle gemacht wird,« sagte Jörli, seine hellen Haare aus dem heißen Gesicht streichend.

»Komm, setz dich neben mich, da wirst du schön abkühlen, komm! Ich muß mit dir reden,« wiederholte der Großvater. Jörli setzte sich zu ihm. »Sieh, Jörli, wie schön der Mond dort droben steht! So stand er gerade und schaute auf uns herab, als ich dich vor bald acht Jahren auf meinem Rücken hierher brachte, da dein Vater tot war. Ich denke gern an den Abend zurück, da du bei mir einzogst! Nun muß ich dir etwas sagen, Jörli, etwas, das ich nicht gern sage, denn es thut mir und dir wehe. Da wollen wir vorher noch ein Loblied miteinander singen.«

»Kann ich noch die Mandoline holen, Großvater?« fragte Jörli. »Du weißt schon, es tönt viel schöner, wenn sie mitmacht.«

»So hol sie, und komm gleich wieder,« mahnte der Großvater.

Der Junge gehorchte; in wenig Minuten saß er wieder auf der Bank. Die Mandoline war ein Instrument, das in dieser Gegend unbekannt war, sie mußte aus einem andern Lande hergekommen sein. Der Junge fingerte ganz geschickt, aber ein wenig willkürlich auf den Saiten herum. Jetzt stimmte der Großvater mit seiner tiefen, noch recht kräftigen Stimme ein Lied an, mit hellem Glockenton fiel Jörli ein und ließ die Saiten seiner Mandoline ganz richtig mitklingen. So sangen die beiden:

Mein Herze geht in Sprüngen,
Und kann nicht traurig sein,
Ist voller Freud' und Singen,
Sieht lauter Sonnenschein! –

»Warum singen wir denn ein solches Freudenlied, Großvater?« unterbrach Jörli hier den Gesang, »wenn du mir doch gleich etwas sagen mußt, das uns beiden weh thut?«

»Eben darum,« entgegnete der Großvater. »Ein Lob- und Danklied bringt einem wieder Freude und Zuversicht ins Herz, wenn sie verloren gehen wollen. Und siehst du, Gott Lob und Dank zu singen, ist in allen Lagen gut, davon kann ich etwas Besonderes erzählen, und Ursache dazu hat ein jeder. Jetzt wollen wir weiter singen.«

Das geschah. Sobald aber das Lied zu Ende war, sagte Jörli schnell: »Großvater, erzähl jetzt das Besondere, das du weißt, daß Lob- und Danklieder in allen Lagen gut sind. Erzählen hör' ich am liebsten.«

»Ich wollte von etwas anderem reden,« erwiderte der Alte, »aber wenn du's so gern hören willst, so will ich's erzählen.«

Es war so, als ob der Alte selbst nicht ungern noch das zu sagen hinausschob, was er eigentlich im Sinne hatte. »Es werden nun etwa neun Jahre her sein,« fuhr er fort, »ein Jahr, bevor ich dich mit heimbrachte, war's, da kam ich von einer Bergfahrt zurück und wanderte unbesorgt über den Rhonegletscher, ich hatte ja den Weg schon so manchmal gemacht. Es war aber am Tag vorher ein frischer Schnee gefallen, da muß man immer sonderlich aufpassen. Krach – da lieg ich unten in einer Spalte – so tief, daß ich unmöglich mehr mit eigener Kraft heraufkomme. Was nun? Ich thue einen Ruf nach dem andern, ob ich etwa gehört werden könnte. Aber was ist so ein Ruf, der verhallt gleich wieder. Ich thue noch einen und noch einen – umsonst, alles umsonst. Da denk ich: du singst, das tönt laut und zusammenhängend, und kommt jemand in die Nähe und sieht nichts Lebendiges, so schaut er doch nach, woher das Singen kommt. So fang ich an und was ich eben zu singen gewohnt war, kommt heraus. Ich singe also laut:

Nun danket alle Gott
Mit Herzen, Mund und Händen,
Der große Dinge thut
An uns und allen Enden,
Der uns von Mutterleib
Und Kindesbeinen an
Unzählig viel zu gut,
Und noch jetzund gethan.

Auf diese Worte hin kommt mir eine Zuversicht zu meinem Gott ins Herz, daß ich gleich noch einmal von vorn anfange und dasselbe singe, noch viel lauter als vorher; denn zuerst war mir die Stimme doch ein wenig eingeklemmt gewesen, nun ertönte sie voller Mut und Zuversicht. Jetzt höre ich Stimmen über mir, näher und näher, und nun kommt ein Seil herunter, und jemand ruft mir zu: »Macht das Seil fest unter den Armen!« Ich rufe hinauf: »Ich weiß wohl, wie man's macht, zieht an!« Nur wenige kräftige Züge, und ich bin oben. Da ruft mir einer der beiden zu – es waren Führer, die ich wohl kannte: »Hat's dich vor Schrecken überworfen, Lukas, daß du mit aller Macht Lob- und Danklieder singst da unten, wenn du am letzten bist?«

»Nein,« sag ich, »ich bin ganz bei Verstand, und jetzt sing ich gleich noch einmal, und mein Lebenlang will ich Lob- und Danklieder singen in allen Lagen, denn das Lied hat mir die freudige Zuversicht ins Herz gebracht, daß ich so laut und kräftig singen konnte, daß ihr mich hörtet, und das hat mich errettet.« Und dann fing ich noch einmal zu singen an, und sie sangen mit, und nun kannst du denken, wie es mir aus dem Herzen schmetterte, jetzt, da ich wieder unter dem blauen Himmel auf festem Boden dahinwanderte. Und jetzt ist mir in der Erinnerung an die große Errettung auch die rechte Zuversicht zu unserem Vater im Himmel wiedergekommen, nun will ich dir sagen, was du wissen mußt. Siehst du, Jörli, als ich dich mit mir heimbrachte, da konnte ich noch auf die Berge steigen und mein Stücklein Geld verdienen. Die alte Lene, der das Häuschen gehört, schaute derweilen nach dir, daß dich der Bach nicht etwa einmal mitnehme, denn du warst immer am Bach und wolltest nicht davon weg.«

»Ich machte Mühlräder, aber ich kann sie jetzt noch nicht recht machen,« unterbrach Jörli den Alten.

»Schon gut, aber hör mir nun zu,« fuhr dieser fort; »dann nach einigen Jahren konnte ich nur noch kleine Wege machen, die großen waren mir zu mühsam und seit dem letzten Jahr komme ich auch da nicht mehr recht vorwärts. Das wenige, was ich erspart hatte, ist auch zu Ende, wir mußten doch in den Tagen, da ich nichts verdiente, auch leben. Unterdessen ist die alte Lene auch immer älter geworden, und heute hat sie mir gesagt, sie könne nicht mehr allein fortkommen, sie habe im Sinn, den jungen Vetter von Gsteig mit seiner Frau hier heraufkommen zu lassen, was die beiden gern wollen. Dann haben wir keinen Platz mehr im Haus und müssen fort. Siehst du, Jörli, wäre ich noch bei Kräften, so wär mir so etwas keine Sorge, aber wer wird mich noch zur Arbeit anstellen? Ich kann nicht einmal versprechen, daß ich sie recht thun könnte. Ich hatte gehofft, ich könnte hier der Lene bei ihren zwei Geißen und dem Stücklein Land, das sie hat, helfen, und dafür könnten wir bei ihr bleiben, bis du dann dir selber helfen könntest. Mit mir wird es ja doch nicht lange mehr dauern.«

»O, das kann ich gewiß jetzt schon! Sieh nur, Großvater, ich bin ja fast so groß wie du,« sagte Jörli, sich so hoch wie möglich streckend. »Ich kann schon für dich und mich arbeiten. Gleich morgen früh geh ich und suche Arbeit, und bis ich etwas verdient habe und es dir bringen kann, muß dich die alte Lene hier behalten, ich will es ihr dann schon bezahlen. Ich will sicher so arbeiten, daß ich etwas mit heimbringe, das sollst du schon sehen, Großvater!«

Die freudige Sicherheit des Buben erleichterte das Herz des Großvaters. »So ist's recht,« sagte er, »nur immer zuversichtlich, nur das Vertrauen nie verlieren, daß der liebe Gott hilft, wenn's Zeit ist, aber auch das Beten darum nicht vergessen, hörst du, Jörli? Klein bist du auch nicht mehr, das ist wahr, du wirst nun bald zwölf Jahre alt sein, du mochtest so im vierten stehen, als ich dich mit heimbrachte. So zieh du aus, eine zeitlang wird mich die Lene ja noch behalten, und findest du keine Arbeit, dann komm wieder heim, dann will ich mit dir gehen. Sehen mich die Leute dann herumschleichen, wie ich jetzt schon thun muß, so geben sie dir schon aus Mitleid etwas zu thun.«

»Giebst du mir auch die Mandoline mit?« fragte Jörli angelegentlich.

»Sie ist dein; willst du sie mithaben, so nimm sie,« entgegnete der Großvater. »Du mußt nur bedenken, daß es eine Last für dich ist, sie immer mitzutragen; es könnte dich reuen, daß du sie mitgeschleppt hast.«

»O nein, nie, das weiß ich bestimmt!« versicherte Jörli, »aber wenn ich sie nicht hätte, so könnte ich es fast nicht aushalten, so weit von dir und der Mandoline weg zu sein.«

»So nimm sie nur, nimm sie nur,« wiederholte der Großvater bereitwillig. Es kam ihm selbst so vor, als könnte es ein Trost für den Buben sein, so ein Stück aus der Heimat mit in der Fremde zu haben. »Es ist freilich ein sonderbares Instrument,« setzte der Großvater hinzu, die alte Mandoline betrachtend, die der Jörli wieder zur Hand genommen hatte und die jetzt unter seinen Fingern leise, wehmütige Töne von sich gab. »Wie du sie zu solchem Klingen bringst, kann ich nicht begreifen,« sagte der Alte wieder, »es muß dir angeboren sein, ich habe dir das nicht zeigen können. Aber wenn ich dir vorsang, als du noch ein kleines Büblein von kaum sechs Jahren warst, da suchtest du die richtigen Töne auf dem Instrument und sangst und spieltest dazu, und von Jahr zu Jahr konntest du's immer besser, es war mir zum Verwundern.«

»Die Mandoline ist mir aber auch lieb, Großvater, nach dir das Liebste auf der Welt,« versicherte Jörli.

Der goldene Mond hatte unterdessen eine weite Strecke am Himmel zurückgelegt; es mußte später sein, als man sonst gewohnt war, zur Ruhe zu gehen.

Jetzt stand der Großvater auf: »So komm, Jörli, nicht gleich morgen, übermorgen kannst du ausziehen. Es wird leer werden da oben, wenn du fort bist.«

»Dann mußt du nur singen, Großvater, dann freust du dich wieder,« sagte Jörli, indem er hinter dem Alten her in die Hütte eintrat.


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