Carl Spitteler
Gedichte
Carl Spitteler

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Der Polyp

        Mir war, ich triebe durch den Ozean,
Allein, in einem schlecht gebauten Kahn.
Da schwamm von Osten wimmelnd übers Meer
Ein tausendfüßiger Polyp daher.

Und jeder seiner Füße, seiner Tasten
Trug ein Gesicht, mit Augen, die mich haßten.
»Ihr Mörder«, schrie ich, »wars euch nicht genug,
Daß euer Lästerzahn mir Wunden schlug,
Die täglich bluten, unaufhörlich schwären?
Soll die Verfolgung übers Weltmeer währen?«

Umsonst. Schon wälzt er sich ins Boot. Im Nu
Das Ruder schwingend, schlug ich blindlings zu.

Da zitterte das fürchterliche Tier,
Als wie zum Tode wund und ließ von mir.
Schnellfüßig floh es übers Meer zurück.
Die losen Glieder fielen Stück um Stück.
Der Mantel starb. Und aus dem eklen Leib
Erhob sich unversehns ein blühend Weib,
Umstrahlt von wundersamem Farbenglanz.
Sie lächelte und drehte sich zum Tanz.
Die Arme waagrecht wie am Kreuz gehalten,
Schlug sie ihr Kleid in prächtigen Flügelfalten.
Je ferner, desto holder ihre Mienen
Und desto wonniger die Serpentinen.

Mit meinen Blicken folgt ich unverwandt
Dem Zauberspiel, von süßem Schreck gebannt.
Und als es endlich meinem Aug entschwand
– »Triumph« dacht ich zu rufen siegbewußt –,
Da quoll ein Seufzer tief mir aus der Brust.

 


 


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