Carl Spitteler
Gedichte
Carl Spitteler

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Der Traum vom Lieben Gott

        Mir träumt, ich schlummert unterm Weidenbusch
Am Bachesufer, auf der Himmelswiese,
Und mit dem Wasser käm ein schöner Mann
Im Boot dahergefahren. Längs der Fahrt
Bog er die Büsche auseinander, spähte
In das Versteck und reichte links und rechts
Geschenke, welche er dem Boot enthob.

Wo er vorbeizog, scholl ein Dankesschluchzen.
Und aus den Wellen sangs wie Orgelstimme:
»Kleingläubige Zweifler, habt ihrs nicht gespürt?
Ihr mußtet leiden, daß ihr lernet wünschen.
Ihr mußtet wünschen, daß ich euchs gewähre.
Was jeder ihm verschwiegnen Seelengrund
Ersehnt, die Träume, die dem eignen Herzen
Er nicht verriet, ich habe sie gebucht.
Nehmt hin, ich kenne jedes Menschenherz!
Nehmt hin, ich kenne jeder Seele Sehnsucht!«

Allmählich kam er auch zu mir. Neugierig
Schärft ich den Blick, denn keines Wunsches war
Ich mir geständig. Da entstieg dem Nachen
Ein strahlend Frauenbild, vertraulich winkend,
Eilt auf mich zu und lachte mir ins Auge:
»Kleingläubiger Zweifler, hast dus nicht gespürt?«
Dann nahm sie meine Hand und führte mich
Durch blumige Triften nach den blauen Bergen.
Viel Fenster lugten auf den Weg, dahinter
Gesichter, deren Grüße uns vermählten.
Wir aber zogen miteinander weiter
Und immer weiter über Berg und Tal,
Ohne Verdruß und ohne Müdigkeit,
Bis wir verschwanden in gottinniger Ferne.

 


 


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