Heinrich Spiero
Raabe
Heinrich Spiero

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10. Kapitel

Meisterschaft

Bei den Leuten aus dem Walde lag der Endpunkt wesentlich höher als der Ausgangspunkt; sie waren Raabes erster großer Roman aus der Gegenwart und er hatte sie bewußt zum Weltbilde ausgestaltet. Man erkennt diese neue Einstellung gegenüber den überall noch tastenden, gleichgerichteten Versuchen im Frühling sehr deutlich durch zwei Vergleiche. Im Frühling steht Raabe sichtlich ganz inmitten des Volks der kleinen Gasse, innerhalb dessen die Geschichte beginnt, und so fremd wie Klärchen Aldeck selbst fühlt er sich in dem Raum und der Umwelt des Ministers; so wenig wie dieser in runder Charakteristik heraustritt, so wenig wird seine Lebenssphäre deutlich. In den Leuten aus dem Walde ist das alles ganz anders. Hier gehn wir nicht, wie selbst in der Chronik, immer nur gastweise in andere Häuser, um wieder in das Zimmer der Sperlingsgasse zurückzukehren, sondern wir werden auf einer Fülle von Schauplätzen gleichmäßig heimisch, und Raabe führt uns ebenso sicher durch die Polizeischreibstube und den Salon des Bankiers, wie in die Werkstatt des Tischlers und das Empfangszimmer der Künstlerin. Aber noch ein zweites verschärft den Gegensatz: der Versuch, neben deutscher auch italienische Umwelt zu erfassen war im Frühling nicht geglückt, die römischen Vorgänge wirken erlesen und nicht erlebt. In den Leuten aus dem Walde aber sind auch die amerikanischen Begebnisse im Goldgräberbereich, auf dem Stromdampfer, in der 123 Großstadt, in der Prärie, in der neuen Zeltstadt mit lebendiger Eindringlichkeit gezeichnet. Der neue realistische Stil war nun auch für den Roman gewonnen. Dazu gehörte die bewußte Zurückdrängung romantischer Schweifereien und tendenziöser Einflechtungen; sie waren im weiteren Aufstieg immer mehr eingeengt worden. Schärfe der Beobachtung, Treue bis ins Kleine, Fülle des Lebens und der Anschauung traten gebietend hervor. Dabei war freilich diese Schreibart realistisch und nicht naturalistisch; Lebenstreue, nicht Lebensabschrift war Raabes Ziel wie das vieler seiner Zeitgenossen – wieder ist an Otto Ludwig und Gustav Freytag zu erinnern. Beide vermieden gleich Raabe häufig eine allzu genaue Verörtlichung und bedienten sich der Mundart so wenig wie er. Diese schlägt bei Raabe überhaupt nur an wenigen Stellen seines ganzen Lebenswerks durch (am kräftigsten zweimal bei Schilderungen, die nicht seiner engeren Heimat gelten), der Akzent aber bleibt norddeutsch-niedersächsisch. Der Vergleich mit Freytag zeigt neben der Verwandtschaft zugleich einen wesentlichen Unterschied. Daß der um fünfzehn Jahre ältere Freytag schon runder und reifer schuf, als Raabe erst begann, ist selbstverständlich; die Abweichungen liegen in der Ausbildung ihres realistischen Stils. Beide streben zur Fülle des Lebens, und beide sind in gewissem Sinne bürgerlich gebundene Naturen; beide sind durchaus Humoristen und beide durchaus deutsch und ganz und gar von nationaler Mitempfindung bewegt – ich habe darüber schon vorher gesprochen. Aber der Realismus Gustav Freytags ist doch vielfach äußerlich. Auch Raabe spielt gelegentlich nur – wir sehen das in der Schilderung der Wienandschen Gesellschaft oder im Tagebuch des Fräuleins Aurelie Pogge der Leute aus dem Walde. Indessen: Raabe tut das nur so lange, wie es sich nicht um große Dinge und wirkliche Entscheidungen 124 handelt, im Grunde nur da, wo er – und das geschieht in allen seinen Jugendwerken oft – persönlich mitspricht. Gustav Freytag spielt auch sonst gern, und es ist nicht zu leugnen, daß dieser Zug gerade Soll und Haben einen Reiz mehr gibt; aber freilich: durch dies bewußte Spielen verschließt sich dieser Dichter, der der Macht der Phantasie ungern starken Einfluß gewährte, die letzten Tiefen, er läßt uns nicht zu ihnen hinuntersteigen. Wir wissen, daß es Gustav Freytag um seine Menschen und seine Vorwürfe ernst ist; aber er bleibt uns manchmal dadurch etwas schuldig, daß seine Laune auch da noch den Gestalten ein Zöpfchen oder ein Schwänzchen anhängt, wo wir nur gesammelten Ernst zu finden erwarten. Und wir fühlen dann, daß dieser Scherz einen inneren Mangel verdeckt – daß der letzte Schritt in die Tiefe nicht gewagt wird, weil die letzte dichterische Kraft fehlt. Schon der Realismus der Leute aus dem Walde ist ein gut Stück innerlicher als der Freytags, und wenn wir nun zum Vergleich mit dem größten Vorrealisten, Gotthelf, und mit Otto Ludwig kommen, so müssen wir sagen: Gotthelfs Stil und Art sind bei weitem naturalistischer, sowohl in der mundartlichen Färbung wie in der wahllosen Abschilderung, die nichts auslassen will. Die Tendenz wird stark und gelegentlich auch unkünstlerisch betont. Der Mann Gotthelf ist mächtiger als der junge Raabe, packt uns viel härter an; aber der Künstler Raabe gelangt schon auf dieser Stufe seiner Entwicklung zu feinerer Abwandlung, zu höherer Aussicht. Und Otto Ludwig gegenüber erscheint Raabe nicht treuer in der Lebensdarstellung – darin sind die beiden sich völlig gleich –, jedoch freier in der Fassung des Lebensbildes, das bei Otto Ludwig in einer gewissen Knappheit umgrenzt bleibt, durch die alles Weitere und Breitere mit der Abkürzung des Dramatikers bewußt ausgeschlossen wird. 125

Nun ist Abkürzung, Weglassen ja nicht nur für den Dramatiker notwendig, ein Ästhetiker hat kurzab einmal gesagt: »Stil ist Weglassen des Überflüssigen.« Das mag zu weit gehn. Aber ich setze dafür: Weglassen des Überflüssigen ist der unerläßliche Weg zum Stil. Wir sahen, wie auch in den Leuten aus dem Walde bei Raabe noch viel im künstlerischen Sinn Überflüssiges steckte, wie sich das erst allmählich im Laufe der Dichtung selbst änderte; und wenn wir nun die 1865 beendeten Drei Federn aufschlagen, so erkennen wir wie mit einem Schlage: wir sind mit dem Dichter auf ganz neuen Boden getreten, er hat die Meisterschaft erreicht, er hat seinen großen Stil gefunden. Nichts mehr von der gelegentlichen Läßlichkeit der früheren Werke, kein Hineinsprechen des Erzählers.

Die Handlung ist um vieles einfacher als die aller früheren raabischen Romandichtungen; es fehlt jede falsch romanhafte Verwicklung, es fehlt jedes Abgleiten zu breiten Schilderungen; es ist alles auf den engsten Punkt zusammengezogen oder, wie man wohl besser sagt, ins Enge gebracht und dabei die verschiedene Art der drei das Buch schreibenden Federn von innen her vortrefflich charakterisiert.

Wie schon manches vordem, beginnt auch dies Buch mit drei Kindern dreier Häuser, die in einer Gasse zusammen aufwachsen; das Mädchen nimmt nicht den tatkräftigen, sondern den träumerischen der beiden Jungen zum Manne und legt, da sie früh stirbt, den eben gebornen Sohn und den hilflos zurückbleibenden Gatten dem andern Jugendgefährten ans Herz. Der versucht eine gefährliche und gewaltsame Erziehung: durch Härte, Nüchternheit und Bitterkeit will der Notar August Hahnenberg seinen Patensohn August Sonntag zu einem lebensfähigeren Menschen heranbilden, als Vater Sonntag einer gewesen ist. Der Junge macht sich frei, als ein blinder Musiker Einfluß auf 126 ihn gewinnt, und er kommt erst durch seine junge Frau zu dem Paten zurück. Und das geht so zu: neben diesem, der kein höheres Ziel hat als innere und äußere Unabhängigkeit von Menschen, der nichts an sich herankommen lassen will, steht seine Ergänzung, der Agent Pinnemann. Er hat ähnliche Grundsätze, aber ohne jede Herbheit; er will auch nur für sich, aber für seinen Genuß leben; sein Ehrgeiz und Wunsch sind es, nicht nur, wie Hahnenberg, die Menschen zu übersehen, sondern sie für sein Vergnügen und seinen Gewinn auszunutzen; ihm dient alles in der Welt nur zum Grinsen und zum Spott; sein einziger Grundsatz ist der, keinen zu haben. Er könnte der gefährlichste Lehrmeister für August Sonntag werden, wenn nicht Hahnenbergs Vertrauen zu dem Kern von des Jungen Natur berechtigt wäre, und wenn nicht eben der blinde Friedrich Winkler im rechten Augenblick einträte. Pinnemann verschwindet eines schönen Tages mit Winklers leichtsinniger Schwester und einem Teil des Hahnenbergschen Vermögens. August Sonntag jagt ihm nach, bringt aber nur die Schwester zurück, und während er fort ist, geht die tapfere junge Frau zu Hahnenberg und sagt ihm einmal Bescheid. Jeder hat von seinem Punkte her recht gehabt; denn August Sonntag hätte das Leben nicht bezwungen, wenn nicht zu dem Erbteil väterlicher Weichheit und Liebesfähigkeit der Zuschuß Hahnenbergscher Härte und Verschlossenheit gekommen wäre – aber Sonntag wäre in die düstere Absonderung, die eisige Fremdheit des Paten versunken, wenn nicht der Blinde, dessen Rolle ganz ähnlich der der blinden Eugenie im Frühling ist, als Dritter hinzugetreten wäre, wenn nicht die sonnige Natur der jungen Frau den besten Gewinn seines Lebens bildete. Und so kommt es zum Schluß nicht zu einer gartenlaubenhaften Versöhnung, sondern die Naturen bekennen sich, daß sie sich oft mißverstanden, daß sie sich im 127 entscheidenden Augenblick doch wiedergefunden haben. Jeder macht Abstriche an der eignen Einseitigkeit, und so ergibt das Miteinander wieder einen vollen Dreiklang menschlichen Lebens, das die Untertöne kennt, ohne die dieses Sein nichts wert ist, während dem Pinnemann und seinesgleichen nur die alles dreist überschreienden Gassenhauerlaute der Alltäglichkeit vertraut sind.

Jeder erzählt selbst: Hahnenberg in einem knappen Stil, der um jedes Wort mit sich handelt, in der Art eines Mannes, der das Leben ganz überwunden zu haben glaubt; Mathilde Sonntag, geborene Frühling, etwas plauderhaft, liebenswürdig, douce, mais sauvage, wie der Wappenspruch ihres Fingerbuts lautet, gelegentlich recht aufgebracht und ungerecht, aber nie boshaft und immer geradezu; August Sonntag endlich mit jener reizvollen Gebärde deutsch-idealistischen Gelehrtentums, das unter Umständen in einem Ballsaal seine Tänzerin und sich auf den Boden setzt, aber niemals versagt, wenn es wirklich darauf ankommt, das schließlich frei durchgeht und ohne Überheblichkeit, wenn auch vielleicht nicht immer in der besten äußern Form, den Sieg gewinnt.

Das ganze Buch enthält nur eine, auf den ersten Blick vielleicht unnötig erscheinende Einflechtung: die Schilderung der Elbfahrt August Sonntags hinter dem entflohenen Pinnemann und Winklers Schwester her, ein kleines Meisterstück für sich. Da hat August einen freundlichen Reisegefährten gefunden, der sich ihm in Hamburg als Kriminalinspektor zu erkennen gibt und ihm am andern Morgen bei der Dampferfahrt elbabwärts die Honneurs der Gegend macht.

»Sehen Sie, das nennt man Altona, welches über dem Tor mein Lebensmotto hat: nobis bene, nemini male. Interessant! was? – da oben, das ist Rainvilles Gartenrestauration – dahinter liegt Klopstock begraben – wissen 128 Sie, schauerliche Erinnerungen: Zu Ottensen an der Mauer, grauser Davoust, Friedrich Rückert – Väter, Mütter, Kinder, Onkel, Tanten, Schwestern und Brüder – ein einzig Grab – Achtzehnhundertunddreizehn; ich bitte Sie, was für Geld diese hamburger Kaufleute haben müssen! Sehen Sie diese Villen, diese Gärten! Und hier haben Sie die Idylle, beachten Sie diese lieblichen kleinen Häuschen am Strom, vor jedem ein Boot, lauter alte, abgetakelte Schiffskapitäne. – Das liebt das Wasser, aber nicht im Rum – brr, es ist doch ziemlich kalt; was sagen Sie zu einem Kognak in der Kajüte, hm? Vor Blankenese kommen wir wieder auf Deck.

In ähnlicher Weise ging das den ganzen Wasserweg weiter. Inspektor Taube wußte alles, kannte alles und kommentierte alles. Er kommentierte mir Stade und Glückstadt, die hannoversche und die preußische Politik in betreff Schleswig-Holsteins, und summte dazu: Schleswig-Holstein, meerumschlungen, dem dänischen Kriegsschiff mit dem Dannebrog vor Glückstadt unter die Nase. Er kommentierte auch die Poesie des großen Stromes, welcher zum Meere wird, die aufschnellenden Tummler, die Seevögel, den Wind, und bei Sankt Margarethen den an Bord steigenden Lotsen, der ebenfalls ein alter guter Bekannter von ihm zu sein schien.«

Aber diese scheinbare Abschweifung ist nur ein ungemein feiner künstlerischer Zug. Raabe muß in seinem Stil bleiben und gestattet sich diesmal gar keine Überflüssigkeiten, keine bloßen Gefühlsschilderungen, sondern läßt alles aus dem knappen, persönlichen Bekenntnis der Schreiber herauswachsen. In zitternder Spannung, mit bebender Seele ist August Sonntag abgereist, während die Frau, ein Kind unter dem Herzen, in gleicher Unruhe zurückbleibt. Und wir wissen alle, daß, wenn solche Erregung lange angespannt wird, wir für hundert kleine 129 Eindrücke auf unsern mitschwingenden Nervenbau doppelt empfänglich sind – das Kleinste prägt sich gerade in solchen Stunden äußerst scharf ein, und es gibt gar kein besseres Mittel, uns die fieberhafte Ruhelosigkeit Augusts darzustellen, als die genaue Schilderung seiner Fahrt mit Taube, dem Kriminalinspektor, auf der August der stumme Zuhörer des scheinbar ganz harmlos schwatzenden Beamten ist. Im Augenblick hat er ihn vielleicht verwünscht, aber behalten hat er alles, was jener gesagt hat. Um nicht den ganzen Menschen zu sprengen, bedurfte der innere Aufruhr dieser ungewollten Ablenkung auf Gleichgültiges.

Sei stark, kühn, gewandt und mitleidlos – die alte Chirurgenregel hat sich Hahnenberg auf einen reinen Bogen geschrieben, als ihm das Kind der verstorbenen Jugendgeliebten zur Miterziehung anvertraut ward. Das Leben erschien ihm als das Tuch, »voll reiner und unreiner Tiere, welches dem fastenden, hungernden Apostel vom Himmel herabschwebte, und ich vernahm dieselbe Stimme, welche zu Peter, dem Menschenfischer, auf dem Dache zu Joppe sprach: Schlachte und iß!« Wenn Hahnenbergs Lehre den Sieg gewönne, so wären die Drei Federn ein Buch des schärfsten Pessimismus; aber nicht die Anschauung des verbitternden Hagestolzen und nicht Pinnemann, seine lebensechte Karikatur, der Epikuräer vom Hinterhaus, siegen, sondern Mathilde Sonntag überwindet den Paten; und wie der im Traum die Philosophie des »Ich bin ich« für eine Narrheit erklärt hat, so legt er die Feder aus der Hand, nicht als ein behaglicher Großpapa, sondern als der Mann, der zum Schluß in das lichtleere Gemach des Blinden eingetreten ist, der wohl um die höheren Mächte weiß und der den großen Ekel überwunden hat. Und wenn er, der Anno 1829 zum erstenmal die Feder ansetzt, am Schluß, im Jahre 1862, wünscht, daß Augusts und Mathildens Kinder 1892 ihre Federn stumpf schreiben sollen, 130 so denkt er ihnen alles andere zu als Lebensekel und Menschenhaß.

Nach einem Gemälde (1892) von Prof. Hans Fechner
Im Besitze der Familie Raabe

Der Pate Hahnenberg hätte unter dem Einfluß Pinnemanns etwas Ähnliches werden können, wie es Hippus, der verkommene Rechtsanwalt in Freytags Soll und Haben, geworden ist; auch ihn hätte der Schüler übermeistern können, wie Veitel Itzig jenen: daß diese Rolle der Überwindung nicht dem Schurken, sondern der reinen Frau zufällt, spricht deutlicher als alles andere gegen eine pessimistische Ausdeutung dieses ersten raabischen Meisterromans.

Und mit der gleichen Kadenz wie der endliche Ausklang der Drei Federn, lautet der Leitsatz des Hungerpastors, des ersten, um die Weihnacht 1863 beendeten stuttgarter Werks: »Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da« – es ist das Wort der Antigone. Der große Hunger dieses Buchs ist nicht der Hunger nach Besitz und äußerm Glück, sondern der echte, wahre Hunger nach dem Licht, nach Erkenntnis, nach Vollendung des Herzens. Von Hans Unwirrsch, dem Sohne des versonnenen Schusters, heißt es: »Er gehörte nun einmal zu jenen glücklich-unglücklichen Naturen, die jeden Widerspruch, der ihnen entgegentritt, auflösen müssen, die nichts mit einem Apage beiseite schieben können. Er hatte eben jenen Hunger nach dem Maß und Gleichmaß aller Dinge, den so wenig Menschen begreifen und welcher so schwer zu befriedigen ist und vollständig nur durch den Tod befriedigt wird.« Ihm, dem Sohn der Kröppelgasse, wird wiederum ein Gegenbild gegeben: Moses Freudenstein, der Sohn des jüdischen Trödlers, der Mann, dessen Hunger auf andere Dinge gerichtet ist: auf Glanz des Wissens, auf äußere Ehre, auf Wohlleben, auf Spiel mit Menschen. Als Geheimer Hofrat, aber bürgerlich tot im furchtbarsten Sinne des Wortes, endet er, ein Spitzel der preußischen Regierung gegen verbannte Freiheitskämpfer im Auslande – Hans 131 Unwirrsch endet in der Hungerpfarre zu Grunzenow, unter kleinem, armem Volk, doch ein innerlich freier und froher Mann. Der lichtblaue Schleier, von dem schon in den Leuten aus dem Walde als der Gabe der Einsamkeit die Rede ist, hat sich niedergesenkt:

Auf alle Höhen,
Da wollt' ich steigen,
Zu allen Tiefen
Mich niederneigen.
Das Nah und Ferne
Wollt' ich erkünden,
Geheimste Wunder
Wollt' ich ergründen.
Gewaltig Sehnen,
Unendlich Schweifen,
Im ew'gen Streben
Ein Nieergreifen –
    Das war mein Leben.

Nun ist's geschehen; –
Aus allen Räumen
Hab' ich gewonnen
Ein holdes Träumen.
Nun sind umschlossen
Im engsten Ringe,
Im stillsten Herzen
Weltweite Dinge.
Lichtblauer Schleier
Sank nieder leise;
In Liebesweben,
Goldzauberkreise –
    Ist nun mein Leben.

Um vieles weiter als in den Drei Federn ist hier der Rahmen gespannt. Die Zeitfärbung ist bewußt und echt – es ist, wie in früheren Werken, das Spätalter deutscher Kleinstaaterei, die Epoche des Deutschen Bundes, in der wir leben. Das greisende Geschlecht hat in den Freiheitskriegen mitgefochten und ist dann durch den Gang der Dinge enttäuscht worden; das jüngere kann die Flügel nicht regen, muß im Herzen Ersatz für den mangelnden Atemraum im Vaterlande suchen. Und auch die örtliche Einstellung ist klar: insbesondere Berlin taucht sichtbar wieder empor, wenn der Leutnant Götz den jungen Kandidaten zur großen Stadt führt und Hans auf das dumpfe Rollen und Summen lauscht, das aus unendlicher Tiefe zu seinen Füßen zu kommen scheint. »Er blickte schnell zur Seite. Die Idee war ihm gekommen, sein Gefährte habe ihn verlassen, sei in die Erde gesunken, und er – Hans Unwirrsch – stehe allein dem drohenden Untier da unten 132 gegenüber. Es war das Gefühl, welches die gefangenen Sklaven hatten, wenn das dunkle Tor hinter ihnen zugefallen war und der unentrinnbare Kreis der Arena mit seinem zerstampften Sande, seinen Blutlachen, seinem Gebrüll, Hohngelächter und Geheul sich vor ihnen dehnte. Es war eine große Beruhigung, als er statt eines hunderttausendstimmigen: Recipe ferrum! doch noch die ehrliche Stimme seines Begleiters neben sich vernahm.«

Neben Berlin taucht das kleine Neustadt, in dem die beiden Jungen erwachsen, auf, dann die Universitätsstadt, verschiedene mitteldeutsche Gutshöfe, auf denen Hans als Hauslehrer Dienst tut, und schließlich Grunzenow an der Ostsee, der Wohnsitz des Obersten von Bullau und des ausgedienten Leutnants Götz.

Wohl ist die Komposition nicht so geschlossen wie die der Drei Federn, die Charakteristik manchmal zu direkt, die Erzählung im einzelnen, so bei Hansens Zimmersuche in Berlin, zu breit; dennoch ist im Gange der Handlung nichts zufällige Episode, denn alles tritt in erzieherische Einwirkung auf Unwirrsch: die beiden genial gezeichneten humoristischen Gestalten des Oheims Grünebaum und der Base Schlotterbeck, mit denen Raabe hier, ganz deutsch, ebenbürtig neben Dickens tritt. Dazu die opferbereite, schlichte Mutter Unwirrsch und die tragische Erscheinung des Lehrers Silberlöffel, die ergreifendste Volksschullehrergestalt Wilhelm Raabes. Die beiden Brüder Götz, der bedauernswerte, wie ein Automat aufschnellende und zusammenfallende Geheime Rat, und der lebensuntüchtige, aber liebevolle Leutnant; die Frau des Geheimrats, die in äußerer Frömmigkeit und in Standesdünkel vereiste, die am wenigsten herausgekommene Nebenfigur, mit ihrem Sohn Aimé, zu dem Eduard von Villefort in Dumas' lebenslänglich geliebtem Grafen von Monte Christo das deutliche Patenbild ist – wohl der einzige 133 solche Fall in Raabes ganzer Dichtung. Auch die Neuntöter im Grünen Baum zu Berlin mit ihrer unbesorgten und bis an die Grenze der Möglichkeit gehenden Ausgelassenheit, die doch wieder in der rechten Stunde tiefernst wird, braucht Hans Unwirrsch; und wenn am Schluß noch Ehrn Josias Tillenius, der alte Pastor von Grunzenow, zu ihm tritt, der Lehrer der Menschenliebe, so fühlen wir die künstlerisch klare, menschlich volle Entwicklungsgeschichte vom Knaben zum Manne. Der beiden Basen Kleophea und Fränzchen Götz bedarf er freilich erst recht, des schillernden, in seiner Schönheit und scheinbaren Äußerlichkeit tief unglücklichen Mädchens, und der schlichten, so viel verstehenden Braut, denen beiden die arme Henriette Trublet als Gegenbild beigegeben worden ist: sie zeigt, was aus Fränzchen Götz ohne ihr inneres Licht in dem großen Paris hätte werden können, und sie deutet vorher schon an, was aus Kleophea in den Händen des Moses Freudenstein werden muß. Und an diesem seinem Gegenbilde, über das er sich in seiner deutschen Dumpfheit so spät klar wird, an Moses Freudenstein erzieht sich Hans Unwirrsch vor allem endlich zu wirklicher innerer Freiheit und Lebensüberschau. Die beiden Kleinstadtkinder stehen genau so nebeneinander wie Anton Wohlfahrt und Veitel Itzig in Freytags Soll und Haben; auch sie wandern gemeinsam zu Fuß in die größere Stadt, auch sie finden sich immer wieder, bei den beiden Juden tritt flüchtig der Rachetrieb für erlittene Demütigung auf, beide sind wurzellos geworden, und wie Veitel Itzig das Geschick der Rothsattel unbewußt gerade Anton Wohlfahrt auf die Schultern packt, so belädt Moses Freudenstein-Theophile Stein den Hungerpastor (so tauft er ihn selbst) mit einem nicht kleinen Teil des Geschicks der Familie Götz.

Hans Unwirrsch ist keine aktive Natur, wenn man darunter Menschen versteht, die das Leben, wo immer es 134 sich bietet, anpacken und meistern. Die ihm eigene Aktivität beruht auf zwei Dingen: in der Kindheit auf dem Hunger nach der Helle, der zunächst ein Hunger nach Bildung wird. Aber auf diese Lernjahre fällt der Lichtschein durch die Schusterkugel des ohne Stillung seines Hungers verstorbenen Vaters, eines sehnsüchtigen Nachfahren seiner Zunftgenossen Jakob Böhme und Hans Sachs, des ersten vor allem. In diesem Lichte, das auch noch die Studierstube des Pastors im Fischerdörfchen durchscheint, liegt Hans Unwirrschs ganze Lebensarbeit. Die Aktivität des erwachsenen Hans aber ist im Grunde mehr eine, wenn man so sagen darf, reaktive als eine wirkliche, selbsteingreifende. Dazu, zur eignen tatkräftigen Handlung, bedarf er immer erst des inneren oder äußeren Anrufs. Der Jüngling und Mann, um dessen Geburt die mystischen Menschheitsträume des Schusters von Görlitz waren, geht rein durch unsaubere Umgebung und hat von jenem Lichte so viel, daß ihn Unreine, wie die Geheimrätin Götz, instinktiv abwehren, wenn sie ihn nicht, wie Moses Freudenstein, zu unreinen Zwecken umstricken und benutzen wollen. Reine Menschen aber, wie der arme Leutnant Götz, oder Hansens berliner Brotherr, der im Hochmutsnetz seiner frömmelnden Frau verstrickte Geheimrat, vor allem aber Fränzchen, Hansens spätere Lebensgefährtin, fühlen sofort diese Unberührtheit als eine hilfreiche Macht; und Zwielichtcharaktere, wie Kleophea Götz, in der sich nun der oft umworbene Frauentypus dieser Art bei Raabe zum zweitenmal vollendet, werden zwischen Abwehr und Neigung hin und her gerissen; das gilt noch für Kleopheas schwächer gezeichnete Schicksalsschwester, die kleine Putzmacherin Henriette Trublet.

Das Licht aus der Schusterkugel ist auch stärker als das von den Universitätsprofessoren auf die Katheder gestellte. Die akademische Gelehrsamkeit gibt Hans gar nichts; eine 135 leise Abneigung gegen zünftige Theologie klang schon in der Chronik vor, sie wird im Hungerpastor zu einer gewissen bittern Verächtlichkeit. Die drei Lehrer der praktischen Theologie (der theoretischen entläuft der Student schon nach dem ersten Halbjahr) sind weder Gottesstreiter noch Jugendführer und handhaben nicht das Schwert des Geistes, sondern die Elle des Beckmessers. So wird Hans, wie sein Vorgänger in Grunzenow, der alte Tillenius, und wie auch spätere Raabische Pastorengestalten, ein gänzlich undogmatischer und unsystematischer Pfarrer; ja, es bleibt bei ihm wie bei den andern die Frage offen, ob er wohl das innere Rüstzeug besitze, um aus wirklichem Verhältnis zum Christentum heraus einmal zweifelnde Seelen aufs neue im Glauben an den auferstandenen Erlöser zu verankern. Mit Recht hat Rudolf Hermes betont, daß die Lebensweisheit der Leute aus dem Walde mehr stoisch (sustine et abstine!) als christlich war. Im Hungerpastor aber, mit dem uns so christlich mahnenden Leitwort des Sophokles, tritt nun doch, trotz Hansens blassem Christentum, erlösendes Mitleiden so stark ins Bild und erhält durch den Abschluß so stark christliche Färbung, daß Hans Unwirrsch von dieser Seite her doch wieder ganz seinem Glauben und dem erwählten Berufe zuzurechnen ist. Er ist Pastor geworden, mehr, weil ein armer Junge zu seiner Zeit »natürlich« auf nichts anderes studierte. Er kehrt sogar in schwerer Stunde ausdrücklich erst wieder zum Gebet zurück. Aber wir verlassen ihn nun doch im gewissen Vertrauen auf gewonnene Herzensfestigkeit, und, wie er selbst, so macht der Dichter den Weg nach Bethlehem noch einmal. Wieder tönt das Werk nicht in Pessimismus und nicht in ruchlosen, oberflächlichen Optimismus aus. Schon durch die humoristische Anlage, die alle Spielarten von der etwas gewaltsamen Komik der Neuntöter bis zur leise lächelnden Feinheit des alten Pastors Tillenius 136 erschöpft, wird das unmöglich, und auf verschlungenen Wegen gelangen wir schließlich zum Weihnachtsfest in Grunzenow. Von den sechsunddreißig Kapiteln führen uns die ersten zwölf bis zu Hansens Probepredigt und dem Tode der Mutter, bis zum Abschied von der Jugend. Am Ende des zweiten Teils ist durch die Entführung Kleopheas das Unglück über das Götzsche Haus hereingebrochen, Hans wieder heimatlos, aber durch die nun bewußte und erwiderte Liebe zu Fränzchen in ein neues Stufenjahr seines Lebens getreten. Die drei letzten Kapitel des Ganzen aber bringen wie drei Glockenschläge das Weihnachtsfest, das Hungerpastorlied, den Tod Kleopheas in Frieden. Und jedesmal am Schluß der drei Lebensabschnitte scheint das Licht durch die Glaskugel, und es wird nur einmal, eben beim Weihnachtsfeste, von einem andern Lichte überstrahlt. Der Höhepunkt der Dichtung ist dies Weihnachtsfest, das Fest der Menschheit in dem Dorf am Meer, da im Dunkel des Morgens beim Schein der mitgebrachten Laternen in der kleinen Kirche Tillenius seine Gemeinde mit dem Gruß der Engel grüßt, »über welchen kein andrer in der Welt geht«: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen! Herrlich, wie der Seelsorger, der für jeden in seiner Predigt das rechte Wort weiß, dann von den Weihnachtsbäumen der Hütten plötzlich unter den Schatten des Baumes der Weltgeschichte tritt, »durch dessen Gezweig der Stern der Verkündung auf die Krippe zu Bethlehem niederleuchtete«. Er erzählt, daß die Erde wüst und leer war trotz aller Pracht des römischen Reichs, und fährt dann fort zu sprechen, wieder mit dem Engelsgruß: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen! Es war, als ob das Wort den Bann, der auf dem Volk von Grunzenow lag, löste, wie einst die Fesseln der ganzen Menschheit. 137

Über der Hütte zu Bethlehem stand der Stern der Erlösung; der Heiland war in die Welt des Hungers geboren worden; der Schmerzenssohn der Menschheit, der Sohn Gottes, der die Sünde seiner Mutter auf sich nehmen sollte, war erschienen, und vom Felde kamen die armen Hirten, denen die Könige und Weisen erst später folgten, hergelaufen, um das Kind in der Krippe zu begrüßen, dieses Kind, das nun noch mit in die Register der Bevölkerung des römischen Reiches, die der Kaiser Augustus anfertigen ließ, aufgenommen werden konnte. Nun war die Zeit erfüllt und das Reich Gottes erschienen. Die hungrige Menschheit aber reckte die Hände auf nach dem ›Brot, das vom Himmel kommt und der Welt das Leben gibt‹. Der Himmel, der so finster und leer gewesen war, öffnete sich über den Kindern der Erde: alle Völker sahen das große Licht – die Menschheit riß die Krone von dem gedemütigten Haupt und warf den Purpurmantel von den Schultern. Sie schämte sich ihrer blutenden Wunden, ihrer gefesselten, zerschlagenen Glieder nicht mehr –, sie kniete und horchte. Wahrheit! jauchzte es vom Aufgang; Freiheit! jauchzte es vom Niedergang, – Liebe! sangen die Engel um die Hütte, in welcher die Erbtochter des Stammes David und Joseph, der Zimmermann von Nazareth, den Hirten das Kind zeigten, das in der Nacht geboren worden war. Ehrn Josias Tillenius aber zeigte es jetzt den Kindern seines Dorfes; denn das Weihnachtsfest ist das Fest des Kindes, welchem die erhabenen Ostern fremd bleiben, bis es über den ersten wahren Schmerz nachdenken mußte. In die Weihnachtsworte aber, die der alte Prediger zu den Kindern sprach, dämmerte der neue Tag. Es wurde Dämmerung vor den Fenstern der kleinen Kirche, und das Licht der Lampen und Wachskerzen erbleichte vor dem rosigen Schimmer, der den Winterhimmel überzog. Wieder erklang die Orgel, 138 die Gemeinde von Grunzenow sang den Schlußvers des Weihnachtsliedes, die Kirche war zu Ende.«

So darf man sagen, daß der Hungerpastor, nicht durch den Titel, sondern durch die innere Erleuchtung, durch die schließliche Erhöhung, die letzte Steigerung ein christliches Buch geworden ist. Zeigten die Drei Federn deutlich ins Symbolische, eröffnete sich hinter ihnen über die verhältnismäßig einfachen Geschicke der Blick in die tiefsten Fügungen und Erschließungen menschlicher Herzen, so tut sich am Ausgang des Hungerpastors über Grunzenow weg der Blick auf die ganze Menschheit auf, und wir müssen empfinden, daß wir in der Tat weltweite Dinge geschaut und verstehen gelernt haben, indem wir Hans Unwirrsch aus der Kröppelgasse bis unter die Weihnachtstanne und vor den Traualtar des abgelegenen Dorfes begleiteten.

Wir sind Wilhelm Raabe aber noch einen andern Weg entlang gefolgt, nämlich den Pfad Moses Freudensteins. Er stammt, wie die Geschwister Rosenstein des Frühlings, aus einem jüdischen Trödelkeller, aber er hat sich nicht wie jene in Dumpfheit und Enge ein hilfsbereites Herz bewahrt. Als der Vater ihm das ersparte Vermögen weist, überkommt ihn sein Hunger, die auri sacra fames, und bleibt als Irrlicht über seinem Leben, wie die Glaskugel als Leuchtturm über dem des Schulfreunds. Diesem Scheine läuft er nach, und er führt ihn über wissenschaftliche und gesellschaftliche Erfolge zwar bis zum Geheimrat, aber auch zum Schergen und Spürhund, Treitschke würde sagen: Schweißhund der Reaktion. Den jüdischen Glauben hat er mit seinem Namen abgelegt und zum Schein den christlichen angenommen. In Wahrheit ist er, mit einem jener Zeit noch unbekannten Wort, ein Nihilist; nichts ist ihm heilig, weil ihm im Grunde nichts eigen ist, nicht Heimat, nicht Familie, nicht Vaterland, nicht Ehre, nicht Weltanschauung, nicht das nach Lagarde Realste 139 von allem, Religion. In funkelnden Facetten spiegelt sich an seiner Gestalt der Geist unsicherer Übergangsjahre, nur blendend, nicht wärmend; von Heine, den er zitiert, hat er wohl das Räuspern und Spucken gelernt, die grelle Bedenkenlosigkeit im Persönlichen und die Unfähigkeit, einen guten Witz für sich zu behalten, aber den echten Schmerz des sterbenden Dichters und den dämonischen Reiz seiner besten Verse, ja selbst die Fechterstreiche seiner Polemik trauen wir dem Doktor Theophile Stein nicht zu. Er war für Raabe ein Renegatentyp, nicht – trotz vielen jüdischen Zügen – der Typ des Juden, den der Dichter in so vielfachen Abschattierungen gestaltet hat, und nicht die Vertretung der Juden überhaupt, die nach Wilhelm Brandes' Wort und Raabes eignem Zeugnis für ihn »ein unlösliches Stück unseres Volkes und Schützlinge seiner Muse« waren.

Man hat Moses Freudenstein die Ehre erwiesen, ihn für ein künstlerisches Abbild Ferdinand Lassalles zu halten, und sogar Lassalles bester Biograph hat das behauptet. Schon ein Blick auf die Entstehungszeit des Hungerpastors hätte das sehr zweifelhaft machen müssen, denn als Raabe im November 1862 die Feder dazu ansetzte, war Lassalle noch keine so im Vordergrunde stehende Persönlichkeit, seine große Zeit begann erst damals. Zudem aber besteht zwischen Lassalle und Freudenstein neben dem gemeinsamen Judentum die einzige Ähnlichkeit eines starken Hangs zu weiblicher Schönheit. Wer aber etwa in dem Verhältnis von Lassalle zu Helene von Dönniges ein Seitenstück zu dem zwischen Theophile und Kleophea sehen wollte, ginge wieder fehl, denn die Lassallische Tragödie ereignete sich erst ein Jahr nach dem Abschluß des Hungerpastors, als dieser schon gedruckt vorlag. Im übrigen verbindet den gemeinen Streber Freudenstein nichts mit dem hochfliegenden Idealisten, den käuflichen Mann der 140 Überzeugung gegen bar nichts mit dem, der die letzten Jahre seines Lebens an den leidenschaftlichen Kampf für einen sozialer Rechte und bürgerlicher Gleichberechtigung entbehrenden Stand einsetzte, obwohl er auf andern Wegen zu ganz anderer Geltung gelangt wäre. Und vor allem: Raabe wußte sich mit Lassalle völlig eins in der nationaldeutschen Tendenz, die Lassalles Drama Franz von Sickingen durchströmte; er erkannte in Lassalles politischem Auftreten die von Bismarck hervorgehobene »ausgesprochen nationale« Gesinnung. Es war auch Raabe und dessen Freunden aus dem Herzen geredet, wenn Lassalle im Französisch-Österreichischen Kriege den Einsatz preußischer Macht zur Einigung der deutschen Stämme ohne Österreich unter einer freiheitlichen preußischen Regierung forderte. Überdies hat zwar Raabe die Grundgedanken des (nach Lassalle in die soziale Bewegung geschweißten) Kommunismus als natur- und geschichtswidrig abgewiesen, aber die Durchsäuerung unseres Lebens mit der sozialen Frage, den immer wachen Gedanken an die Macht der geballten Fäuste unter uns als etwas in seiner Gewissensaufrüttelung recht Segensreiches empfunden. Raabe hat denn auch die Berufung auf dies angebliche Modell schroff verneint. Wenn er überhaupt den Freudenstein im Angesicht einer bestimmten Person geschaffen habe, dann sei es Joel Jacoby gewesen, ein heute verschollener Konvertit, der von der preußischen Demagogenverfolgung eifrig benutzt ward, dessen Berichte sogar vom Könige wohlgefällig gelesen wurden und der schließlich zwar nicht als Geheimer Hofrat, aber doch als Kanzleirat an der Spitze des preußischen Zentralamts für Presseangelegenheiten endete. Durch die zum Teil nach diesem Bilde geschaffene Gestalt Freudensteins erreichte Raabe eine stärkere politische Einstellung, und es war im Fortgang von der Chronik bis hierher nur natürlich, 141 daß er Hans Unwirrschs dunkles Gegenbild der preußischen Reaktion an die Rockschöße hing.

Der Pfad, den Raabe führen will, ist freilich mit Hans und Theophile nicht zu Ende: »Es war ein langer und mühseliger Weg von der Hungerpfarre zu Grunzenow an der Ostsee über Abu Telfan im Tumurkielande und im Schatten des Mondgebirges, bis in dieses Siechenhaus zu Krodebeck am Fuße des alten germanischen Zauberberges!« so heißt es am Schlusse des Schüdderumps, und diese Worte verbinden den Hungerpastor, Abu Telfan und das Buch, in dem sie stehn, zu einer zusammenhängenden Kette – wie man wohl gesagt hat, zu einer Trilogie, deren Vorspiel die Drei Federn wären. Daß Raabe einmal im Lauf der Erzählung des Schüdderumps auf eine Stelle des Hungerpastors ausdrücklich hindeutet, beweist dafür freilich nichts; auch im Hungerpastor wird einmal an die Leute aus dem Walde erinnert. Wesentlich ist allein der von Raabe selbst eben durch jenen Schlußsatz hervorgehobene innere Zusammenhang der drei großen Werke seiner stuttgarter Zeit.

Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge erzählt die Geschichte von Leonhard Hagebucher, dem Sohne des zur Ruhe gesetzten Steuerinspektors Hagebucher aus dem Dorfe Bumsdorf, drei Büchsenschüsse von der Stadt Nippenburg, in einem kleinen Staate des Deutschen Bundes. Aber der Dichter beginnt nicht wie im Hungerpastor mit der Geburt seiner Hauptgestalt, sondern er stellt uns in einer ganz knappen, meisterlichen Einführung Leonhard Hagebucher vor, wie er, verwildert, aschanti-, kaffern- oder mandigohaft, von einem Lloyddampfer in Triest abgesetzt wird und dann seine Reise nach dem heimatlichen Bumsdorf antritt. Er ist einst – und das erfahren wir in allmählicher Aufhellung während der ersten Familiengespräche – als Student der Theologie vom 142 gewohnten Pfade abgewichen, nach Ägypten gekommen, hat dort im Jahre 1847 bei den Untersuchungen über die Schaffung eines Suezkanals mitgewirkt, ist dann mit einem Elfenbeinhändler nilaufwärts gegangen und schließlich von den Bagaranegern gefangengenommen worden. Als Sklave hat er zu Abu Telfan im Tumurkielande gelebt und kehrt, durch einen holländischen Tierhändler befreit, jetzt, zu Anfang der sechziger Jahre, als ein dem europäischen Wesen Fremdgewordener nach Hause zurück.

Was trifft Leonhard Hagenbucher daheim? Mutter und Schwester, die ihn beglückt und gerührt aufnehmen, einen sehr pedantischen Vater, der den Sohn schließlich aus dem Hause wirft, als alle märchenhaften Erwartungen der nippenburger Bürgerschaft an dem zunächst für kleindeutsche Verhältnisse Unbrauchbaren zuschanden werden, und die ganze liebe Familie im weitesten Sinne. Er trifft aber auch den Vetter Wassertreter, den alten Burschenschafter vom Wartburgfest, dem die Metternichsche Demagogenriecherei das gerade Leben gebrochen hat und den etwas zuviel Alkohol und ein genügendes Maß von Goethekenntnis und einsamer satirischer Lebensweisheit über Wasser gehalten haben. Leonhard trifft die schöne Nikola von Einstein, die einst jenen Tierhändler geliebt hat, der eigentlich ein davongelaufener Offizier aus demselben Lande ist. Leonhard erlebt es und wirkt zum Heile mit, als über die auf mütterliches Drängen geschlossene Ehe Nikolas mit einem hohen Hofbeamten das Unglück hereinbricht, und er geleitet Nikola in die Katzenmühle zu Frau Claudine, unserer lieben Frau von der Geduld, der Mutter jenes Befreiers, zu der schließlich die Schritte aller hinführen, die das Leben draußen besiegt hat, die das Leben draußen überwunden haben.

Noch zwei Gestalten treten wesenhaft in Leonhards neues deutsches Leben hinein: der ehemalige Leutnant 143 der Strafkompagnie Kind und der halbverdrehte Täubrich, Schneider und Tafeldecker wie Raabes berliner Wirt, Täubrich-Pascha benamst, seit er, ohne etwas von sich zu wissen, von Hand zu Hand aus dem Jordantal in seine Heimat zurückgeschickt worden ist.

Neben diesen scharf herausgestellten Hauptträgern der Handlung steht noch eine Fülle von andern: der Junker von Bumsdorf mit seinem Sohn, der Major Wildberg mit seiner Frau, der Professor der semitischen Sprachen Reihenschlager mit seiner Tochter, einem Mädchen »mit Augen, die etwas von einem Hausmärchen am Winterabend und von einem Lied beim Heumachen im sonnigen Monat Juni an sich hatten«, und mancher mehr. Das Hauptlicht ruht doch auf jenen, die mit dem Leben im tieferen Sinne zu tun haben und jeder in seiner Art damit zurechtkommen müssen. Täubrich Pascha stellt dar, was aus Leonhard Hagenbucher bei einer weniger gesunden Anlage geworden wäre und noch werden könnte, wenn er nicht im rechten Augenblick den Vetter Wassertreter und die Frau Claudine als Berater und Stützen auf seinem neuen Wege fände. Und allen andern ist es im Grunde ebenso gegangen wie ihm: sie waren in Sklaverei, in der Sklaverei ihrer Ehrbegriffe oder ihrer Sinne oder ihrer Familie oder ihres Rachegefühls, und Sieger bleiben nur die, die dann zur lieben Frau von der Geduld hingehn und dort das Leben überwinden lernen. Der Leutnant Kind hat eine alte Rechnung mit dem Gatten Nikolas abzumachen; er läßt sich die Rache nicht aus der Faust schlagen, und es ist eine großartig dramatische Szene, wie an der Hand des halbblöden Schneiders Täubrich-Pascha, der doch gelegentlich ein so feines Herz zeigt, der Leutnant in der verjährten Uniform in die seidene Gesellschaft des Polizeidirektors tritt, dem Herrn von Glimmern die Hand auf die Schulter legt und ihn in wenigen Augenblicken 144 vernichtet. Nikola von Glimmern aber nimmt keinen andern Arm als den Täubrichs, und mit ihm schreitet sie durch die erstarrten, fassungslosen Räte, Offiziere, Hofdamen des Herzogtums über das spiegelnde Parkett hinaus in die Nacht. Es liegt in dieser Zuspitzung des Vorgangs etwas, das sich für immer einprägt – es liegt darin zugleich ein Stück schwebenden Humors, jenes Humors, der nicht mit dem Leben spielt, sondern die Gegensätze gebraucht, um an ihnen die immer wieder hervortretende Gegensätzlichkeit unseres Lebens zu zeigen. Und auch über das alles hinaus gehn dann stets aufs neue die Schritte zur einsamen Katzenmühle, zu unserer lieben Frau von der Geduld.

»Wenn ihr wüßtet, was ich weiß, sagt Mahomed, so würdet ihr viel weinen und wenig lachen!«, steht als Leitwort auf Abu Telfan, und als es Täubrich-Pascha einmal nachspricht, sagt ihm Leonhard Hagebucher: »Kennen Sie das arabische Wort auch? Was geht das Sie an? Die andern alle, die mit List oder Gewalt den ägyptischen Proteus, das Leben, zu überwältigen und zu ihrem Willen zu zwingen suchen, und mit ihm ringen müssen bis an den Tod, die mögen das Wort sprechen, Sie aber sollen's gefälligst bleiben lassen.« Denn dem Täubrich ist in seinem Narrenwahn ein Stück Vergessenheit für das Leiden der Welt gewährt. Die in der Katzenmühle aber, die Mutter jenes inzwischen gefallenen Befreiers aus dem Tumurkielande, und Nikola, die dieser einst liebte, sie weinen nicht mehr, »sie sitzen still, und still ist es um sie her, sie verlangen nicht mehr«. Und vor ihrem Schicksal darf man das Wort des islamitischen Propheten aussagen. Aber darf man es in dem Sinne der Verzweiflung und der Hoffnungslosigkeit? Nimmermehr. Gewiß: »Wir breiten unsere Mäntel auf dem Wege aus, aber der Weg selbst führt nichtsdestoweniger nach Golgatha.« So 145 Leonhard Hagebucher. Was aber ist da Golgatha: der Tod oder der Sieg? Leonhard sagt, als er der Frau Claudine den so lange verloren gewesenen Sohn wiedergebracht hat: »Wahrlich, es ist nicht allein der Helden und Könige Sache, zu rufen: Sonne stehe still und leuchte der Vollendung unserer Siege! Auch der Schwächste, der Ärmste, der Geringste kann den glanzvollen Stern über seinem Haupte und Herzen festhalten, bis alles vollbracht ist, und die Frau Claudine konnte es. Jetzt, wo die Nacht um uns dunkler denn je zuvor ist, kommen wir zu ihr und bitten um ein Fünklein Licht; – wie können wir gerettet werden, wenn nicht ihr Mut zu unserm Mut, ihr Glück zu unserm Glück wird: wenn wir uns nicht zu ihr auf das Feld stellen und in dem milden Scheine ihrer Sonne ihre Götter anrufen.« Und Claudine: »Wir sind wenige gegen eine Million, wir verteidigen ein kleines Reich gegen eine ganze wilde Welt; aber wir glauben an den Sieg, und mehr ist nicht nötig, um ihn zu gewinnen.« Der Sieg aber gehört denen, die frei durchgehn durch den Schmutz und das Leid und die Unrast dieser Welt, denen, die sie in einem feinen Herzen überwinden.

So kann nun freilich der viel berufene Pessimismus Raabes nicht mehr derart gedeutet werden, als ob er an die Nichtigkeit des Menschen und an die Nichtigkeit des Lebens glaubte und glauben lehrte. So wenig hier wie in andern Werken der sündhaft liebenswürdige Optimismus kleiner Seelen seinen Platz findet, so stark tritt Raabe, wie es später einmal, im Schüdderump, heißt, »für das Leben ein«. Hagebucher sagt in einem Vortrag vor den Bürgern der Hauptstadt folgendes: »Es ist etwas Gewaltiges um den Gegensatz der Welt, und die zweiundneunzigste Nacht der arabischen Märchen weiß davon zu berichten. Wenn der König von Serendib auf seinem weißen Elefanten ausreitet, so ruft der vor ihm sitzende Hofmarschall von 146 Zeit zu Zeit mit lauter Stimme: Dies ist der große Monarch, der mächtige und furchtbare Sultan von Indien, welcher größer ist, als der große Salomo und der große Maharadschah waren! – Worauf der hinter Seiner Majestät hockende erste Kammerherr ruft: Dieser so große und mächtige Monarch muß sterben, muß sterben, muß sterben! – Und der Chor des Volkes antwortet: Gelobt sei der, der da lebt und nie stirbt! – Meine hochverehrten Herrschaften, es ist niemand auf Erden, wes Standes und Geschlechts er auch sein möge, den diese drei Rufe nicht fort und fort auf seinem Wege von der Wiege bis zum Grabe umtönen. Wohl dem, der seines Menschentums Kraft, Macht und Herrlichkeit kennt und fühlt durch alle Adern und Fibern des Leibes und der Seele! Wohl dem, der stark genug ist, sich nicht zu überheben, und ruhig genug, um zu jeder Stunde dem Nichts in die leeren Augenhöhlen blicken zu können! Wohl dem vor allen, dem jener letzte Ruf überall und immer der erste ist, welchem der ungeheure Lobgesang der Schöpfung an keiner Stelle und zu keiner Stunde ein sinnloses oder gar widerliches Rauschen ist, und der aus jeder Not und jeder Verdunkelung die Hand aufrecken kann mit dem Schrei: Ich lebe, denn das Ganze lebt über mir und um mich! –«

Das ist das realistische Bekenntnis zum Leben, von dem, wie man wohl sagen darf, Raabe und sein Geschlecht überhaupt gelebt haben; es ist jenes Bekenntnis zum Leben. durch das diese Generation fähig ward, das deutsche Volk durch alle Kleinheit und Kleinlichkeit der Einheit entgegenzuführen. Auch der größte praktische Vertreter dieses Realismus, Otto von Bismarck, weiß wohl Bescheid um das Leiden des Lebens und kennt den Weg nach Golgatha und schreibt oft und oft seiner Johanna darüber. Aber dieser Held lehnt darum das Leben selbst niemals ab und gibt ihm die besten Kräfte, weil er weiß, daß das Ganze 147 über ihm und um ihn lebt; und das gleiche Bewußtsein von des Lebens Fülle, an der wir nicht verzweifeln dürfen, steckt auch in diesem Werk des Dichters, der – das wollen wir doch einmal deutlich unterstreichen – seit der kleinen Verirrten jener Jugendnovelle keinen seiner Helden durch Selbstmord aus der Welt gehn läßt.

Und wie nahe läge es doch, gerade auch für Leonhard Hagebucher, für Nikola von Einstein, für den Sohn der Frau Claudine, ein Ende zu machen! Aber sie bleiben und versuchen, jeder in seiner Art, frei durchzugehn. Die Rede vor dem hohen Adel und verehrungswürdigen Publiko der Residenz steht genau in der Mitte des Abu Telfan und ist sicherlich mit vollem Bewußtsein an diese Stelle gerückt. Auch Abu Telfan und der Schüdderump haben je sechsunddreißig Kapitel, und je zwölf runden sich zu einem vollen Bilde – die Rede steht im achtzehnten. Leonhard Hagebucher ist aus der Sklaverei bei der Häuptlingsfrau Kulla Gulla zurückgekehrt – rasch aber wird er der Gefahr inne, in Deutschland in die gleiche, wenn nicht in schlimmere Knechtschaft zu verfallen: in die Verknechtung der Engstirnigkeit, der Mattherzigkeit, der Gewöhnlichkeit, mit einem Worte: des Philistertums. Wir haben keine deutsche Romandichtung, die das Philisterium so mit Rutenstreichen geißelte, wie diese, die unter allen raabischen Hauptwerken die stärkste Zeitfärbung hat. Hier ist aus der Fülle heraus eine Anschauung des deutschen Lebens in den verkrüppelten Verhältnissen des alten Deutschen Bundes vor 1866 gegeben. Unübertrefflich die Zusammenkunft der kleinstädtischen Familie mit ihrem »geistigen Haupt«, der Base Schnödler, nach der Rückkehr Hagebuchers zur Entscheidung über dessen künftige Geschicke. Und meisterlich wiederum im Anfang des zweiten Teils, also im dreizehnten Kapitel, der Abriß deutscher Kleinfürstengeschichte, von dem Nebel, Sumpf und 148 Urwald der ältesten Zeit her über die Reformation, den Absolutismus und die Französische Revolution bis in die kleisterne Herrlichkeit einer absterbenden Dynastie, die, wie Raabes angestammtes Herrscherhaus, ihre Landeskinder um bares Gold als Soldaten übers Meer verkauft. Man merkt in Raabe den Parteigänger der Freiheit und der Größe, man empfindet zwischen den Zeilen den Hohn und den Zorn. Und dennoch liegt in der Geißelung des Philister- und Dynastentums noch etwas anderes als die heiße Giftigkeit Heinrich Heines, des »semitischen Hellenen«, den Raabe in den »Kämpferreihen des neunzehnten Jahrhunderts nicht missen« mochte und an den der Stil dieser Stelle mehr als einmal erinnert; auch mit Herweghs beschwingter Zeitopposition und gar mit der späteren Bohemien-Komödie des Fin de siècle hat diese Aussprache nichts gemein: es steckt doch dahinter und darin jene raabische Liebe, die aus dem Gefühl der Zugehörigkeit entspringt. Was Raabe hier aus heißem Herzen zu sagen weiß, steht mehr auf jenem Blatt, auf das einst, auch im Zorn über die »Landesväter«, die ihre Untertanen nach Amerika verschacherten, Friedrich Schiller das große Bild von Kabale und Liebe zusammenfügte; es ist aus derselben heißen Empfindung von Haß und Liebe geboren, die Heinrich von Treitschkes unvergeßliche Flugschrift über die deutschen Mittelstaaten diktiert hat. Wie Raabe trotz allem zum deutschen Philisterium steht, das erfahren wir erst ganz aus der allgemach berühmt gewordenen Stelle gegen den Schluß hin:

»Ist das nicht ein wunderliches Ding im deutschen Land, daß überall die Katzenmühle liegen kann und liegt, und Nippenburg rund umher sein Wesen hat, und nie die eine ohne die andere gedacht werden kann? Ist das nicht ein wunderlich Ding, daß der Mann aus dem Tumurkielande, der Mann vom Mondgebirge nie ohne den Onkel und die 149 Tante Schnödler in die Erscheinung tritt? Wohin wir blicken, zieht stets und überall der germanische Genius ein Drittel seiner Kraft aus dem Philistertum, und wird von dem alten Riesen, dem Gedanken, mit welchem er ringt, in den Lüften schwebend erdrückt, wenn es ihm nicht gelingt, zur rechten Zeit wieder den Boden, aus dem er erwuchs, zu berühren. Da wandeln die Sonntagskinder anderer Völker, wie sie heißen mögen: Shakespeare, Milton, Byron; Dante, Ariost, Tasso; Rabelais, Corneille, Molière; sie säen nicht, sie spinnen nicht und sind doch herrlicher gekleidet als Salomo in aller seiner Pracht: in dem Lande aber zwischen den Vogesen und der Weichsel herrscht ein ewiger Werkeltag, dampft es immerfort wie frischgepflügter Acker und trägt jeder Blitz, der aus den fruchtbaren Schwaden aufwärts schlägt, einen Erdgeruch an sich, welchen die Götter uns endlich, endlich gesegnen mögen. Sie säen und sie spinnen alle, die hohen Männer, welche uns durch die Zeiten voraufschreiten, sie kommen alle aus Nippenburg, wie sie Namen haben: Luther, Goethe, Jean Paul, und sie schämen sich ihres Herkommens auch keineswegs, zeigen gern ein behagliches Verständnis für die Werkstatt, die Schreibstube und die Ratsstube; und selbst Friedrich von Schiller, der doch von allen unsern geistigen Heroen vielleicht am schroffsten mit Nippenburg und Bumsdorf brach, fühlt doch von Zeit zu Zeit das herzliche Bedürfnis, sich von einem frühern Kanzlei- und Stammverwandten grüßen und mit einem biedern ›Weischt‹ an alte natürlich-vertrauliche Verhältnisse erinnern zu lassen.«

Wilhelm Raabe selbst gehört nach Ausmaß und Art durchaus in diese Reihe.

Wie fein er in Abu Telfan die Zeitstimmung treffen wollte und traf, dafür gibt es noch einen kleinen Beleg: als der Major Wildberg dem vor Ungeduld fiebernden 150 Hagebucher von den Erlebnissen jenes Abends beim Polizeidirektor erzählt, da heißt es:

»Trotz seiner Aufregung oder vielleicht noch mehr infolge seiner Aufregung fiel es dem Mann aus dem Tumurkielande als eine Merkwürdigkeit auf, wie wortreich und wie weitschichtig und weitschweifig in ihren Berichten der fünfzigjährige Friede alle diese jüngeren und älteren Kriegsleute des deutschen Bundes gemacht hatte.«

So könnte man, wiederum ohne Zwang und ganz nach dem Lauf unserer literarischen Entwicklung, auch diesen raabischen Roman mit einem von Gustav Freytag zusammenhalten, nämlich mit der unter engen kleinfürstlichen Verhältnissen spielenden Verlorenen Handschrift. Aber abgesehen davon, daß Abu Telfan dieses Werk an Lebensfülle und Künstlertum bei weitem übertrifft – Raabes Dichtung wirkt doch auch viel typischer. Diesen Eindruck des Gemeingültigen hatte ja Gustav Freytag in Soll und Haben durchaus erreicht: die Verlorene Handschrift erscheint, vollends uns Heutigen, mehr wie ein Spezialfall, bei dem wir nicht mehr das Gefühl haben: das geht uns alle an. In dem nur drei Jahre jüngeren Abu Telfan weicht es nie – er geht uns noch heute alle an, weil er im deutschen und im menschlichen Sinne so sehr viel tiefer und weiter greift. Er hat freilich einen Bruder unter den großen Romanen, den man sich zunächst nicht träumen lassen würde: Dumas' Grafen von Monte Christo. Die schon hervorgehobene lebenslängliche Liebe Raabes für den großen französischen Erzähler hat hier ihren deutlichsten Niederschlag gefunden. Wie im Grafen von Monte Christo Edmond Dantès nach mehr als zehnjähriger Haft aus dem Kerker des Schlosses If unter die Menschen zurückkehrt, so kommt Leonhard Hagebucher aus der langen Gefangenschaft bei den Schwarzen wieder in die deutsche Heimat. Wie Edmond Dantès, nun 151 der Graf von Monte Christo, alte Verbrechen rächen will und rächt, so hat der Leutnant Kind auf den Augenblick gewartet, da die harte Faust den Sünder niederstrecken wird; und sie streckt ihn nieder. Wie Monte Christo den Hauptschuldigen auf der Höhe äußeren Glücks und verheiratet mit der Geliebten eines andern trifft, so findet der Leutnant Kind den einstigen Leutnant von Glimmern als Exzellenz an der Seite der unglücklichen Nikola wieder, die einst den durch Glimmern vertriebenen und geschändeten Sohn der Frau Claudine so geliebt hat, wie die Gattin Ferdinand Mondegos den von diesem verratenen Edmond Dantès. Nur freilich ist das alles bei Raabe ganz anders geworden als bei Dumas. »Wir halten es«, sagt Raabe, »weder für eine Kunst, noch für einen Genuß und am allerwenigsten für unsern Beruf, das Protokoll bei einer Kriminalgerichtssitzung zu führen« – ein Gefühl, dessen wir uns bei Dumas nicht immer entschlagen können. Der Graf von Monte Christo kehrt als ein Nabob von fabelhaftem Vermögen zurück und erringt Sieg auf Sieg über die einstigen Verräter – Leonhard, Kind und Viktor Fehleysen treten arm, wie sie gingen, wieder ein, und der gewonnene Sieg ist schließlich doch ein anderer noch als der, den Edmond Dantès erlangt – bei dem Franzosen, der vielleicht der größte Unterhaltungsschriftsteller der Weltliteratur war, haben wir eine in ihrer Art genial aufgebaute, spannende Erzählung mit einer Fülle äußeren Lebens – bei Raabe fehlt dieses äußere Leben nirgends, aber der Sinn und die Bedeutung seines Werkes liegen in anderer Höhe.

In Abu Telfan gipfelt spät der Einfluß des Philosophen, den Raabe vor andern einst in Magdeburg heißhungrig genoß, Ludwig Feuerbachs. Der hier so inbrünstig, ja dithyrambisch verkündete Preis des Lebens ist feuerbachsches Gut, wie es feuerbachisch gedacht ist, wenn die 152 Wahrheit auch bei Raabe »nie mit Dekorationen auf die Welt gekommen, nie im Glanze eines Thrones unter Pauken und Trompeten, sondern stets im Dunkel der Verborgenheit unter Tränen und Seufzen geboren worden ist«. Aber schon kreuzt sich Feuerbachs Ideengehalt mit dem Arthur Schopenhauers, der gerade gegen das Ende der sechziger Jahre emporstieg; »der Weltoptimismus fängt an ein Loch zu kriegen«, schreibt bald danach Jakob Burckhardt einem Freunde und meint damit den auch von Raabe immer wieder abgewehrten Oberflächenoptimismus des Zeitalters. Schon in den Leuten aus dem Walde spricht Ulex einmal von Schopenhauer, aber erst nach deren Abschluß, während der Schöpfung von Abu Telfan hat Raabe begonnen, sich mit Schopenhauer näher vertraut zu machen, und erst der Schüdderump, das dritte Werk der von Grunzenow über Abu Telfan nach Krodebeck führenden Trilogie zeigt die Auseinandersetzung mit dem Philosophen des Pessimismus.

Abu Telfan geht sofort ganz sachlich in die Mitte der Dinge – der Schüdderump zeigt gleich im Anfang deutlich über die realistische Darstellung hinaus das Streben zur großen Symbolisierung des Lebens. In einem hellen, lustigen norddeutschen Städtchen findet der Dichter auf der Durchreise als einzige wirkliche Merkwürdigkeit einen Schüdderump aus dem Jahre 1615, einen zweirädrigen Karren, auf dem man einst die Pestleichen zur Grube fuhr. Der Totengräber, dessen Herkunft aus dem Hamlet wohl mit Absicht deutlich gemacht wird – Raabe liebt die Yorik-Szene überhaupt – erklärt dem Beschauer kichernd die Vorrichtung. Und dann erst setzt die Erzählung ein. In Abu Telfan konnte man an jeden deutschen Kleinstaat denken – die Handlung des Schüdderumps wird ausdrücklich an den Harz verlegt, nach Dorf und Hof Krodebeck im Nordharz, und die Natur und das Leben dieses von 153 der Sage geschmückten, von der Dichtung oft besungenen deutschen Mittelgebirges spielen ihre Rolle mit – insbesondere die Holzwarenhändlerin Jane Wahrwolf bringt mit ihrem schweren Packen immer wieder so etwas wie den Geruch des Gebirges und ein Stück vom Kleinleben des Bergvolks ins Tal herunter. Sie ist eine von den sechs Alten, die mit den zwei Jungen zusammen im Grunde das ganze Buch füllen. Sie, ein absonderlicher, einsamer, hart geprüfter Mensch, nimmt sich mit Hanna Allmann, der jahrzehntelangen Bewohnerin des Armen- und Siechenhauses, mit der Frau vom Lauenhofe und deren beiden seltsamen Hausgenossen der kleinen Antonie an, die als Kind einer verlorenen Mutter und Enkelin eines fortgelaufenen Großvaters eines Tages der Gemeinde Krodebeck, nicht zu ihrer Freude, wieder in den Schoß fällt. Nach Hannas Tode kommt Antonie auf den Herrenhof und wird der Sonnenschein des Hauses derer von Lauen. Sie wächst allen ans Herz, und gerade, da auf der Höhe eines Erntefestes die Unentbehrlichkeit ihres holden Wesens, ihrer schönen Gestalt, ihres reinen Herzens allen so recht bewußt wird, gerade da zieht mit dem Haarrauch der herbstlichen Landschaft die Kunde einher, daß der Großvater es vom Bartscherer auf allerlei Wegen bis zum österreichischen Armeelieferanten und Edlen gebracht hat. Und der Held kommt nun, sein Kind zu holen. Die Weltläufigkeit des einstigen Bartkratzers überrumpelt alle, er nimmt seine Enkelin, die seinen Zwecken trefflich dienen kann, mit hinweg, und niemand hält sie, obwohl jeder im stillen das Gefühl von der Ruchlosigkeit des neuen Ritters hat.

Nach Jahren besucht der junge Hennig von Lauen, der Spielgefährte Antoniens, sie in Wien und findet eine rührende Gestalt, einen Menschen, der sich im Kampfe gegen die Gemeinheit seiner Umgebung bewahrt, aber 154 zugleich körperlich aufgerieben hat und nun einem bittern Ende entgegengeht. Aber diesem Ende wird dann jede Bitterkeit genommen. Denn während der junge, ganz durchschnittsmäßige, rasche, ein wenig jungenhundehafte Hennig ihr nicht helfen und ihr den Abschied nicht zum Siege machen kann, gelingt das dem Ritter von Glaubigern. Zwei Alte haben auf dem Lauenhofe mit Jane Wahrwolf und Hennigs Mutter über Antonie gewacht. Die eine, das stark verschrobene Fräulein Adelaide Klotilde Paula von Saint Trouin, eine Dame aus dem ältesten französischen Adel, hat die kleine Antonie zuerst als ein Spielzeug betrachtet, ihr dann aber alles, was sie konnte und kannte, gegeben. Der andere aber ist der Ritter Karl Eustachius von Glaubigern, der bei Leipzig mitgefochten hat, 1815 verwundet worden und dann auch auf dem Lauenhofe geblieben ist, der Trost und die Stütze der Gutsfrau, der Erzieher Hennigs. Auch ihm ist mit Antonie einst das Licht seiner alten Tage genommen worden, er ist kümmerlich und hinfällig; aber als er aus dem Bericht Hennigs ersieht, was man dem Kinde getan, richtet der Fünfundsiebzigjährige sich noch einmal hoch auf; und nun reist er, der seit Jahrzehnten den Hof nicht verlassen hat, nach Wien, und da er in das Zimmer an den Laimgruben zu Mariahilf tritt, verblaßt das Lächeln auf den Zügen des Edlen, und Antonie fällt in die Knie, und sie weiß sich in Sicherheit, und ihr kann nichts mehr geschehen. In dieser Sicherheit stirbt sie, und ihr leuchtendes Bild geht noch dann und wann über die morsche Wand des Siechenhauses zu Krodebeck, wo die drei Uralten, Klotilde Paula von Saint Trouin, der Ritter von Glaubigern und Jane Wahrwolf, die sich der hohen Dame gegenüber zum Vieh rechnet und sich eine Ehre daraus macht, in einer Reihe auf der Bank vor den kahlen Mauern sitzen.

Immer wieder rattert und rüttert der Schüdderump 155 durch das Buch. Man hört das dumpfe Poltern in der Ferne, das Schüttern des schwarzen Wagens, »dessen Fuhrmann so schläfrig-duster mit dem Kopfe nickt, und dessen Begleiter, die Leidenschaften, mit Zähneknirschen und Hohnlachen die eisernen Stangen und Haken schwingen«. Ich sage, man hört ihn immer wieder, gerade deshalb, weil Raabe von dem Kunstmittel der Anamnese, der Rückerinnerung, der Rückdeutung, nur einen ganz bescheidenen Gebrauch macht. Selten nur – man kann die Stellen zählen – kehrt das Wort vom Schüdderump wieder – immer aber fällt uns der Klang des gespenstischen Karrens ins Ohr, bis, genau nach Raabes sonstiger Kunst des feinsten Aufbaus, am Ende des zweiten, zum Vorklang des dritten Buches, im dreiundzwanzigsten Kapitel, der volle Ton von dem Dichter noch einmal bedeutungsvoll angeschlagen wird:

»Wir haben wohl den Schüdderump gänzlich vergessen? Das Leben ging uns so leicht und weich ein, die Tage gingen wie auf samtnen Schuhen vorüber: weshalb auch sollten wir in der guten Stunde selbstquälerisch das aufsuchen, was seinerzeit ohne Einladung nahen und sich nicht abhalten lassen wird? Wir waren gesund und wohlauf; ja, wir konnten lachen, ohne zu wissen, warum; warum sollten wir freiwillig das dunkle Bild im Winkel aufstöbern, welches uns sehr ernst stimmt, ohne daß wir behaupten können, wir wüßten nicht weshalb?

Horch, was war das? Vielleicht traf das Rad des widerwärtigen Karrens auf einen Stein im Wege, und so wurde die schauerliche Last ein wenig zusammengerüttelt, und den Ton vernahmen wir mitten im fröhlichen Behagen des Daseins, im Kreise der Freunde, einsam am warmen Ofen in der Winternacht, auf der Höhe des Gelags, unter den Kränzen der Hochzeitsfeier, im Theater, am Wirtshaustisch oder im tiefen, traumlosen Schlaf. Das ist's! 156 und man fährt mit der Hand an die Stirn: soviel Lichter um uns her angezündet sein mögen, so hell die Sonne scheinen mag, auf einmal wissen wir wieder, daß wir aus dem Dunkeln kommen und in das Dunkle gehen, und daß auf Erden kein größeres Wunder ist, als daß wir dieses je für den kürzesten Moment vergessen konnten.

Da denken wir mit Schauern derer, welche gestern starben, und derer, die in tausend Jahren sterben werden, und vielleicht denken wir auch an ein uns fremdes, gleichgültiges, unbekanntes Kind, das wir einst zufällig unter den Blumen seines Sarges erblickten, und sehen ernst genug gerad aus und begreifen augenblicklich kaum noch, wie der dicke Gevatter uns gegenüber so herzlich über den alten Witz seines hagern Nachbars lachen kann; bis dasselbe Wunder auch uns von neuem widerfährt, und das Messer- und Gabelgeklirr des Lebens auch uns von neuem betäubt und obendrein uns recht vergnügt stimmt.«

Dieser Akkord wird in dem Augenblick angeschlagen, da der Edle Häußler von Haußenbleib auf dem Lauenhofe eintrifft, um sein Enkelkind zu holen.

Äußerlich geht Antonie zugrunde, und, wie Theophile Stein als Geheimer Rat, bleibt der Edle im Schmucke seiner Orden und seines Adelstitels, im Genuß seiner Millionen zurück, ein wohlhabender Bürger des genußfrohen Wien, dessen Atmosphäre Raabe so fein schildert, daß man sich an einzelne Darstellungen seines wiener Altersgenossen Ferdinand von Saar gemahnt fühlt. »Das ist das Schrecknis in der Welt, schlimmer als der Tod, daß die Kanaille Herr ist und Herr bleibt«, sagt zu seinem Schüler Hennig der Ritter von Glaubigern. Gegenüber den Menschen, die alles kaufen und alles verkaufen, ist er freilich wehrlos. Und dennoch spricht Antonie Häußler, da der Junker Hennig von Lauen über ihr Schicksal jammert: »Und ich bin eine große Dame – eine sehr 157 große Dame durch den Ritter von Glaubigern geworden, ganz ohne daß du es gemerkt hast, mein armer Hennig, und ich trage auch meinen Harnisch, und ich bin so wehrlos wie der Ritter von Glaubigern und so stark und unüberwindlich wie er.« »Sie sah«, heißt es weiter, »prächtig aus in ihrem Stolz«; und da ihr Tag sich zu Ende neigt, vernehmen wir, sie habe still in ihrem Bettchen gelegen, still und regungslos und »fürchtete sich nicht« – auf höherer Stufe kehrt Else von der Tannes Sterben wieder. Gewiß, nur Leute wie der Edle von Haußenbleib haben das Recht, »ihr Leben nach ihrem Willen einzurichten und mit den Nachteilen die überwiegenden Vorteile herauszuziehen« – der Sieg bleibt doch den andern. Der Mantel ist wieder einmal ausgebreitet nach Golgatha hin, der Mantel des greisen Ritters, der einst die deutschen Befreiungskriege mitgefochten hat und der in wenigen und schlichten Worten selbst der biedern und ganz nüchternen Frau von Lauen das Beste im Leben und zum Leben zu geben weiß. Auch Antonie geht schließlich frei durch, und die Schurkerei um sie herum kann ihr gar nichts anhaben – der Tod ist verschlungen in den Sieg.

Mit grauenhafter Klarheit zeigt hier Raabe den Sieg der Kanaille in der Welt. Schopenhauers Lehre kommt zu ihrem pessimistischen Schluß, weil der Mensch aus dem Willen lebt und dieser Wille niemals zum Glücke führen kann. Darum setzt er gegen den Willen das Leiden, das alle Schmerzen der Menschheit, selbst ohne Begehren, auf sich nimmt. Das ist der Fall von Antonie Häußler. Sie widerstrebt nicht dem Übel – sondern läßt ihren Willen fallen und stirbt – wie eine Königin. Im Kampf mit dem ungeheuren Widerspruch der Welt wird hier nicht wie am Schlusse des Faust das Evangelium sozialer Arbeit für eine befreite Menschheit gefunden, sondern, die hier den letzten Augenblick als höchsten genießt, überwindet 158 die Welt lediglich in dem Bewußtsein eines höheren Rechts, frei durchgehend durch die irdische Gemeinheit um sie her. Will man aber den letzten Sinn aus dieser in die letzten Tiefen führenden, ebenso innerlich glaubhaften wie hochgestimmten Raabischen Dichtung herauslesen, so darf man nie vergessen, daß er sie durch das zurückweisende Schlußwort mit dem Hungerpastor und Abu Telfan zu dem Endstück eines langen, mühseligen Weges stempelt. Er hatte die Trilogie nicht von Beginn als solche geplant – wenn ihm allgemach die drei Werke eins geworden waren, so sind wir verpflichtet, diesem Fingerzeig zu folgen; und wenn wir das tun, finden wir in dem mit besonderem Nachdruck eingeleiteten mittelsten Kapitel des Mittelwerks Abu Telfan jenen Anruf an das Leben, in dem nichts von der Düsternis des Untergrundes verschwiegen und doch der äußere Zwang zum Dasein zum inneren Gesetz erhoben wird. Man muß bei Raabe immer sehr genau auf diesen mit dem inneren Rhythmus übereinstimmenden äußeren Rhythmus seiner Meisterwerke achten, dann entdeckt man hier, daß Leonhard Hagebuchers Rede genau mitten inne steht zwischen der Mahnung: »Gib deine Waffen weiter, Hans Unwirrsch!« und dem Erscheinen des Schüdderumps als Symbol. Von Feuerbach war Raabes philosophische Entwicklung ausgegangen, zu Hegel hatte er sich mit seinem ganzen Geschlecht in der Zeit seiner dichterischen Erstlinge bekannt, aber dessen Lehre von der Vernunft des Bestehenden, von der Wirkung des Vernünftigen bedurfte bei ihm der Ergänzung durch Schopenhauers entgegengesetzten, in Tiefe und Düster führenden Ideengang. Selbst inzwischen zum Meister geworden, empfand er die Philosophie nicht als Gegenstand und nicht als Ausgangspunkt seiner Dichtung – er war Künstler; aber er verschmolz die Weltanschauungen seines Jahrhunderts zum Bilde eines in dauernden 159 Gestalten aufgesproßten Lebens – auch da ein frei durchgehender.

In den Drei Federn überwand der Sonnenschein warmer Liebe die zuerst gewollte und dann schon fast zur Natur gewordene Selbstbefriedigung und Herzensabwendung; im Hungerpastor siegen die Waffen dessen, der an das Licht und seinen blauen Schleier glaubte, und hart am Rande der wilden See und bei den einfachsten Menschen baut er ein arbeitsames, einfaches Glück auf; in Abu Telfan tragen einsame Herzen Schmerz und Liebe in die Katzenmühle zu der, die die Welt überwunden hat, und wissen doch, daß man für das Leben eintreten muß, und daß wir alle in einer großen Kette stehn, die mehr ist als jeder einzelne. Und im Schüdderump hebt sich aus dem Druck und der Niedertracht des Gemeinen die ringende Seele, die das Beste auf dieser Welt trotz dieser Welt gelernt hat, und geht frei und unberührt aus dem zerbrochenen Leibe zum Himmel ein. Nicht der Pessimismus, sondern jene Weltanschauung, die mit glanzlosem Idealismus die Menschheit weiter führt, die sie das Leben erst wirklich leben lehrt – sie spricht aus dieser Reihe von Meisterwerken, die Raabe auf der Höhe seines Lebens abschloß und deren letzte Gestalten er seinem Volk bescherte, als dieses das erstickende Gewand des Tumurkielandes von sich streifte, und durch den Staatsmann, der an die Fülle des Lebens wie an den Schmerz des Lebens glaubte, endlich zu der von Raabe und seinem Geschlecht so heiß herbeigesehnten Einheit und Stärke geführt ward. Und zu dieser schicksalträchtigen Zeitwende deutschen Lebens kehrte Raabe aus dem Süden des Vaterlandes in den vertrauten Norden zurück. 160

 


 


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