Heinrich Spiero
Raabe
Heinrich Spiero

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Wilhelm Raabes Leben ist äußerlich so einfach verlaufen wie das weniger deutscher Dichter; es bietet weder überraschende Höhepunkte noch einen jähen Tiefsturz. Als eine schlichte Gestalt ist er, ohne persönliches Aufsehn zu erregen, von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bis in das erste Jahrzehnt des zwanzigsten geschritten, die letzten vierzig Jahre ohne den Umkreis seiner engeren Heimat mehr als nur gelegentlich zu verlassen. Dennoch ist sein Leben nicht ohne innere Kämpfe bis zum endgültigen Durchbruch des gewissen Berufs verlaufen, und überdies hat auch Raabe, wie Goethe, Schiller, Hebbel, seinen Prozeß mit dem deutschen Volke führen müssen. Das deutsche Volk hat ihn in allen Instanzen verloren; es gewann dabei freilich Unermeßliches, einen Dichter, der lange Zeit scheinbar ganz am Rande des deutschen Lebens stand und erst in späten Jahren auch äußerlich für die besten in den Mittelpunkt rückte; in Wahrheit war Raabe innerlich diesem Mittelpunkte immer ganz nahe. Geboren ein Jahr vor Goethes Tode, gestorben vier Jahre vor Ausbruch der Weltrevolution, hat er als Jüngling das Jahr 1848, als Mann die Gründung des Nationalvereins und das Erstehen des Bismarckischen Reichs, beim Eintritt ins Greisenalter Bismarcks Abgang und was danach kam – alles das als eigensten Besitz – erlebt. Die Erinnerungen der Menschen, die über seiner Kindheit wachten, reichten über die Freiheitskriege und 2 Napoleon bis zu Friedrich dem Großen zurück – er hat auch sie wie etwas Eigenes in seinem Wesen bewahrt. Und schon die Gedanken des jungen Dichters gingen, wie die des alten, weit hinaus in die Zukunft Deutschlands und der Welt.

Und diese Welt sah er mit den Augen des humanistisch gebildeten, human gesinnten, an den Klassikern erwachsenen Deutschen. Ohne Vorurteil, aber mit dem Bewußtsein eines unvergänglichen Erbes blickte er in die mechanisierte Spätzeit seiner Tage, voller Vertrauen auf der Menschheit bleibenden Kern, über dem lenkend Sterne wirken, voll Sorge um das Deutschtum, dessen Sinnbild er je mehr und mehr wurde, je treueres Abbild davon seine Dichtung barg.

Aus niedersächsischer Heimat war er geworden. Aus dieser seinem Wesen tief eingeprägten Stammeszugehörigkeit drang er früh ins große deutsche Leben vor und fühlte sich schon in der Zeit der Sehnsucht nach deutscher Einheit und im Kampfe um sie immer als Sohn des ganzen Vaterlandes. Gerade weil er als braunschweiger Landeskind die Unsal und Schande deutscher Kleinfürstengeschichte kannte, ohne den Ruhm einzelner der großen Welfen zu schmälern, ward und blieb er ein Deutscher über alle inneren Grenzen hinaus.

Er wuchs mit seinem Werke, das ganz zu vollenden, ihm, wie wenigen Künstlern, ein trotz allem gnadenvolles Geschick gewährte. Ihm nachzuwachsen ist deutsche Aufgabe, sie bleibt auch jedem künftigen Geschlecht, doppelt in einer Zeit neuer äußerer Bedrängnis und inneren Haders. Er ist beiden entrückt, aber seine Persönlichkeit, immer klarer hervortretend, immer weiter wirkend, kämpft mit uns. Nicht ruhsames Behagen, sondern tiefe, leidenschaftlich gefühlte Verantwortlichkeit strömt aus seinen Schöpfungen. Das Wort der Antigone »Nicht 3 mit zu hassen, mit zu lieben bin ich da« steht wegweisend auf einem seiner Werke. Sein Lebensgang und seine Dichtung, beide zur Harmonie vollendet, wachsen aus dieser tröstenden Liebesfülle, die auf Gottes Wunderwagen immer wieder durch den Raabe wohlbekannten gnadenlosen Wald der Welt einherfährt. Jedem, der in seinen Bannkreis tritt, von dieser höchsten Gabe mitzuteilen, war Raabes Gottesgeschenk; es war die Begnadung des künstlerischen Genius, der, über die bloße Wirkung des reinen Talents hinaus, die Welt überwindet und das Zeitalter bezwingt. Der Alternde im Abendglanz empfand: Mein Volk kommt mir nach; dem Toten, ewig Lebendigen hält es die Treue. 4

 


 


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