Heinrich Spiero
Raabe
Heinrich Spiero

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9. Kapitel

Novellendichtung

Die ersten beiden Novellenbände hatten Raabe in fruchtbarem Aufstieg von der ungleich gegliederten Form zum geschlossenen Ringe gezeigt; sie erwiesen auch seine immer stärker werdende Befreiung von literarischen Vorbildern. Niemals seit den magdeburger Jahren war seine Bildung rein genäschig gewesen, sondern immer hatte er lesend und sammelnd bewußt an sich weitergearbeitet und sich das Fremde zum eignen Besitze gemacht. Mit der künstlerischen Reife erhöhte sich sein Standpunkt gegenüber dem gewonnenen und von einem zähen Gedächtnis treu festgehaltenen Gut. Er wird immer kritischer und anspruchsvoller. Mit beinahe ungerechter Schärfe wendet er sich von Andersen, dem Paten der Weihnachtsgeister, ab und zu dem Märchenerzähler des Rokoko, Karl August Musäus, hinüber; in eine rühmende Besprechung von Auerbachs Deutschem Volkskalender auf 1859 mischen sich am Schlusse doch einige Vorbehalte. Wohl nutzt Raabe Dichter und Dichterwort auch künftighin leitmotivisch aus, wie er die Leute aus dem Walde auf ein eignes Wort ausrichtete, wohl gibt es noch für spätere Werke geschichtliche und literarische Quellen – aber das Verhältnis des Dichters zu ihnen ist wesentlich anders als in den Jugendwerken, sie sind jetzt nur Rohstoff, Sprungbrett für die mit eignem Herrscherrechte schaltende Phantasie.

Dieser höheren inneren Freiheit entspricht, wie der 110 Zettel dem Einschlag, die unfehlbare Sicherheit äußerer Komposition. Die beiden Bände Halb Mähr, halb mehr und Verworrenes Leben bestanden im Grunde aus lauter Einzelheiten, die in dem ersten Werk durch ein paar Verschen am Anfang, am Ende und in der Mitte notdürftig zusammengehalten waren. Raabe hatte also selbst das Gefühl, er dürfe auch solche, an Umfang schmälere Dichtungen nicht lose bündeln, sondern müsse sie fest ineinander gliedern. Für solche Kunst stand ihm, wie jedem Geschlechte seit der Renaissance, das große Beispiel des Boccaccio zur Verfügung, dessen Technik der Rahmenerzählung immer wieder auflebt; Gottfried Keller war einen verwandten Weg gegangen, indem er seine Seldwyler durch eine Einleitung ausdrücklich als zusammengehörig zu erkennen gab. Raabe erreichte einen ähnlich schlüssigen Aufbau der beiden in den stuttgarter Jahren geschöpften Novellenbände mit noch einfacheren Mitteln. Er sah von der Verbindung durch gemeinsames Rahmenwerk und eröffnende Einführung völlig ab, schaltete aber seine Erzählungen nach innerem Gesetz so nebeneinander, daß statt zweier, zufällig mitsammen gedruckter Novellensammlungen zwei Novellenkreise ans Licht kamen.

In den 1865 erschienenen, seit 1860 entstandenen Fernen Stimmen eröffnet die Schwarze Galeere den Reigen, ein mächtiges, in ganz starken Strichen in Schwarz und Weiß gehaltenes Bild. Alle die Übertreibungen und Übersteigerungen vom Heiligen Born und aus Unseres Herrgotts Kanzlei sind getilgt. Die Düsternis der Sturmnächte auf der flandrischen Schelde vor Antwerpen und der Wechsel von beklemmendem Kriegsdruck und kreischendem Kampfausbruch in den Gassen der Stadt und auf den Planken der Schiffe treten in beschwingter Zeichnung kraftvoll hervor. Aus dem knappen Rahmen schreiten die Gestalten, immer wie von Fackellicht getroffen, so weit heraus, daß 111 wir sie in ihrem Tun und Leiden während der kurzen, schicksalsschweren Vorgänge wohl begreifen: die beiden Seeoffiziere, der bis zur Frivolität und zum Verbrechen leichtsinnige und der von Verliebtheit und dem Vorgefühl nahen Todes verzehrte, ihnen gegenüber der durch die namenlosen Qualen des spanischen Jochs zu loderndem Freiheitsdrang entzündete und dabei von einer leidenschaftlichen Jugendneigung getragene Führer der schwarzen Galeere, des Schiffs der Wassergeusen. Neben den Männern kommt das Mädchen, dessen Zukunft hier mit dem Schicksal der Heere verflochten wird, nicht voll zur Geltung; aber wie wird alles umher, das Meer und der Strom, der Trommelwirbel der spanischen Wache und das heiße Kampfgeschrei der Geusen, das wirre Leben der Tavernen und der Kriegsrat der spanischen Führer, vor allem die belebte Luft und das schwarze Wasser, die grauen Mauern und die Giebelhäuser ringsum mit sicherer Hand in das Erlebnis hineingezogen! Wie ganz von selbst steigert sich das alles in atemraubendem Fortgang, bis aus Siegesjubel, Rachedurst und Freiheitshoffnung immer und immer wieder als Erlösungsschrei, gleich im Sturme wehenden Flaggen, das trutzig ergreifende Vaterlandslied von Wilhelmus von Nassauen über die Schelde ins Land schallt. Eine ganz besondere Feinheit ist das Auftreten eines alten, schlecht belohnten spanischen Hauptmanns am Beginn und am Schluß; in seiner versehrten Seele spiegelt sich die Hoffnungslosigkeit des spanischen Beginnens, der im Kampfe Sterbende erkennt deutlicher als die trotz allem noch auf Sieg rechnenden jüngeren Kameraden das letzte Schicksal des immer neue Menschenopfer schlingenden Krieges.

Unmittelbar hinter dies im Feuerschein lodernde Stück setzte Raabe eine zarte, ganz der Erinnerung geweihte Grabrede jenes Aaron Burckhart, dem er den Stoff zum 112 Studenten von Wittenberg dankt. Aus der spröden Vorlage schuf er ein ergreifendes Gedächtnismal für den treu festgehaltenen Georg Rollenhagen, durchsetzte es mit dessen eignen Versen und lateinischer Schulweisheit und gab der ernsten Szene unvergeßlich heitern Ausklang durch des Leichenredners Töchterlein. Das hat in seinem Schürzchen Blüten und Grün aller Art zum Grabe getragen und zupft den Vater nun am schwarzen Chorrock. Er, der eben noch regungslos in schmerzlichen Gedanken stand, hebt das blondgelockte Kind auf den Arm und sagt: »Schütt aus dein Schürzlein – gib ihm deine Blumen, denn er hat uns auch manche Blüte vom Lebensbaum gebrochen und sie uns dargeboten in güldener Schale.« So wird das Dichtergrab von Kinderhand mit bunten, duftenden Frühlingskindern bedeckt.

Die dritte Erzählung, Das letzte Recht, ist ebenso sicher vorgetragen wie die erste, aber bei weitem nicht so stark innerlich belebt. Auch hier ruft eine ferne Stimme aus verschütteter Vergangenheit; altes Anrecht des Scharfrichters auf alles, was sein Schwert im Kreise um einen Selbstmörder umzirkt, wird symbolisch zu dem letzten Recht, das jeden Menschen und jedem Dinge in dieser Welt einmal gegeben wird, erhöht. Aber das alte Schwertrecht ist schlecht Recht und der Erwerb dauert nicht. Die gewonnene Burg begräbt den Gewinner samt den Schätzen, und nun tönt durch die wirre Welt, durch das verworrene Leben das Lied der rührenden Mädchengestalt dieser Erzählung:

Tritt vor aus deiner Kammer
Und trage deinen Schmerz,
Trage des Weltlaufs Jammer
Der Ewigkeit ans Herz.

Das Ewige ist stille,
Laut die Vergänglichkeit;
Schweigend geht Gottes Wille
Über den Erdenstreit. 113

Lange hallt es nach:

Wenn hinter dir versunken,
Was Ohr und Auge bannt,
Dann hält die Seele trunken
Das Firmament umspannt.

Die letzte Stimme aber aus der Vergangenheit klingt näher her, ihr Schall ist nicht durch Jahrhunderte übertönt, er wirkt noch lebendig als eine mitschwingende Lebensmacht im Herzen des Erzählers – und stammt doch in Wahrheit aus noch viel weiterer Ferne. Mit feinster künstlerischer Berechnung hat Raabe an das Ende der Fernen Stimmen die Holunderblüte gesetzt; sie ist nicht nur das Gegenstück zu dem von wilden Vorgängen belebten Letzten Recht, sondern auch, in gerechter Verteilung des Schwergewichts, zu dem die Sammlung einleitenden, dramatisch gespannten Begebnis der Schwarzen Galeere. Ein alternder Arzt, durch den Tod eines schönen, lebensvollen jungen Mädchens mehr als sonst auf seinen Berufswegen vom Schauer der Vergänglichkeit berührt, einen Holunderkranz der Toten vor Augen, erzählt eine Erinnerung »aus dem Hause des Lebens«. Wieder wird eine eigne Dichtung Raabes zum Leitmotiv:

Des Menschen Hand ist eine Kinderhand,
Sein Herz ein Kinderherz im heft'gen Trachten.
Greif zu und halt! . . . Da liegt der bunte Tand;
Und klagen müssen nun, die eben lachten.

Als Student ist der Arzt, wie Raabe, in Prag gewesen, hat, wie er, den berühmten alten Judenfriedhof gesucht und ist von einer kaum erwachsenen, reizvoll knospenden Jüdin zum Begumenhause geführt worden; dann hat er selbst zu dem feuchtmodrigen Orte gefunden, der so viele »arg geplagte, gemißhandelte, verachtete, angstgeschlagene Generationen lebendiger Wesen verschlungen hat« und den jüdische Frömmigkeit doch das Haus des Lebens nennt. 114 Hier, während ihn der Zauber des Ortes umfängt, trifft er in den Zweigen eines Holunderbuschs Jemima, die junge Führerin, wieder, und dem reichen, bis dahin unbesorgten, lebensgierigen Studenten erwächst aus dem immer wiederholten Zusammensein mit ihr zu Beth-Chaim neben dem Steingrabe des hohen Rabbi Löw ein die ganze Seele füllendes Erlebnis. Jemima erzählt ihm einmal von der Letzten, die hier beerdigt ward und der das Herz um einen Christen gesprungen sein soll, wie Jemima ihr Herz in der Brust angstvoll zuckend dem Tode zuspringen fühlt. »Gedenke der Holunderblüte«, ruft sie ihm an diesem Tage zu und entschwindet. Der uralte Friedhofspförtner aber, Jemimas um viele Geschlechtsreihen älterer, noch in den Mauern des Ghettos erwachsener und reif gewordener Vetter, heißt den jungen Menschen Prag verlassen. Alles in ihm wehrt sich, und doch geht er, flieht aus der Sturmnacht über Kirchhof und Stadt, wie nur in halber Bewußtheit, hinweg bis nach Berlin, verbringt den Winter, immer noch im Halbdämmer, zum erstenmal bei ernstem Studium, und als er im Frühling erwacht, in einem Vergnügungsgarten vor dem Schönhauser Tor, da deutet der Dichter seinen Zustand mit dem gemalen Wort: »Als ich mich schreckhaft emporgerichtet hatte, sah ich, daß niemand da war.« Er reist, reist der Holunderblüte nach gen Prag. Totenstill ist es in der Judenstadt, totenstill im Hause des Lebens, die Fliederbüsche prangen in Blüte, Jemima ist tot, ist mit Segen für ihn auf den Lippen gestorben, und er, für das ganze Leben überschattet, fühlt eine Mitschuld an ihrem Tode; immerdar bleibt ihm die Holunderblüte die Blume des Todes und des Gerichts.

Zum zweitenmal hatte Raabe, und diesmal viel tiefer und bezeichnender als im Frühling, dichterisch an jüdisches Schicksal gerührt und Wege eingeschlagen, die vor und 115 neben ihm Hebbel und Grillparzer, Annette von Droste und Ferdinand von Saar, Otto Ludwig und Karl Gutzkow gingen. Uralte Schicksalsmacht hatte er beschworen, auf den Weg weltgeschichtlichen Leidens gedeutet und die ganze Romantik jüdischer Vorzeit, die nirgends in Mittel-Europa schwermütiger spricht als in Prag, aus eignem Nacherleben gestaltet. Neben dem weisen, menschenkundigen Friedhofswärter, der es mit Jemima so gut meint, wie mit dem jungen deutschen Studenten, hatte er in dem Schicksal jener zuletzt Bestatteten auch Härte und Stolz jüdischer Volkheit und in Jemimas Vater den Schachergeist der Ghettoniederung gezeichnet. Die Hauptgestalt und das eigentliche Motiv gibt doch Jemima selbst, die sich dem Erzähler für immer mit der Holunderblüte verknüpft, ein Geschöpf zwischen Kindheit und Weibtum, zwischen Leben und Tod, mit krankem Herzen und darum mit immer nur scheu geäußerter, nie laut bekannter, innerlich verblutender und den jungen Menschen neben ihr tief bannender Liebe. Wunderbar, wie das alte Prag als Hintergrund mit hineingezeichnet ist! Am wunderbarsten doch die unentrinnbare Stimmungsgewalt dieser Meisternovelle. Der Erzähler steht dem Grabe näher als der eignen Jugend, aber indem er sich noch einmal Bericht und Rechenschaft gibt, zieht es ihn unausweichlich wieder in denselben Fluß. Kein Alter, das sich objektiviert, sondern ein menschliches Herz, das im Wiedererleben der eignen Geschichte alle Süßigkeit und allen Jammer noch einmal spürt und über allen äußeren Erfolg hin immer noch vom einstigen Gewinn und Verlust zehrt unter der Holunderblüte im Hause des Lebens.

Die zweite, bei weitem umfangreichere stuttgarter Novellensammlung, der zwischen 1863 und 1866 entstandene, als Buch 1869 gedruckte Regenbogen vereinigt, seiner Aufschrift gemäß, sieben Erzählungen. Wieder stehn 116 schwere geschichtliche Erlebnisse am Anfang. Die Hämelschen Kinder, in der wüsten und unbeherrschten Zeit des Interregnums zu Lust und Tanz ausgezogen, büßen übermütigen Taumel durch blutigen Tod im feindlichen Hinterhalt. Sehr fein wird die blutige Katastrophe vorbereitet, indem der wendische Pfeifer vordem schon einmal in heißem Rachegefühl für erlittenen Schimpf beim Maienfest wahnsinnige Lust in das toll gewordene Volk bringt und die stolzen Bürgersöhne und Töchter tief beschämt. Die hundertfach erzählte Sage vom Rattenfänger von Hameln hat Raabe hier tief ausgedeutet, das Märchenhafte in geschichtliche Einstellung entrückt, sie psychologisch fest unterbaut und überall vermenschlicht.

In viel ruhigerem Zeitmaß trägt Raabe eine zweite Geschichte vor, das Los der zarten Else von der Tanne zu Walrode im Elend. Wir stehn mitten im Dreißigjährigen Kriege. Ein verarmter und beraubter magdeburgischer Gelehrter hat sich mit Else, dem einzigen Kind, in dem armen Dorf des Pfarrers Friedemann Leutenbacher ein Holzhaus gebaut, und lebt dort seinen Studien. Die verschüchterten, durch die namenlose Not der langen Kriegsjahre in Aberglauben und Hexenangst gescheuchten Dörfler aber halten den Fremden für einen Zauberer, die Tochter, der das Herz des jungen Pfarrers gehört, für eine Hexe. Als sie vom ersten Abendmahl aus der Kirche zurückkehrt, trifft sie ein geschleuderter Stein. Von Johannis bis Weihnachten siecht sie dahin, dann geht sie in Frieden heim. An der Welt ist sie gestorben, sie, die in das freudenleere Sein Friedemann Leutenbachers die erste Gewißheit eines reineren, helleren, blühenden Lebens gebracht hatte. Das ihr zugelaufene Reh hat sie gezähmt, die Wut verstörter Menschen hat sie nicht dämpfen können; aber sie stirbt in dem Bewußtsein, daß die Liebe Gottes über allem ist, und der Toten noch 117 gelingt es, dem Prediger, der im tiefen Schnee des Rückwegs von ihrer Leiche zusammensinkt, den Tod zur Befreiung zu machen; »die Pforte war aufgerissen«, seine Seele in die ewige Ruhe zu führen.

Die dritte Farbe des Regenbogens nimmt ihren wunderlichen Schimmer aus der krausen, durch eigne wunderliche Erlebnisse geweckten Laune ihres Malers. Die Geschichte von den keltischen Knochen, der Erinnerung an Hallstadt abgelauscht, ist ein überlegenes Spiel absichtlich übertreibenden Witzes, und nicht umsonst wird hier der wiener Prater mit zum Gevatter des Schwanks von den beiden Tröpfen geladen, die bei den Ausgrabungen aus der Urzeit Knochen und Bronzen stehlen wollen. Die Mittel- und Mittlergestalt zwischen beiden, ein Auch-Dichter, dient als eine Art Chorus der übermütigen Erzählung. Der wirkliche Dichter trägt die Erlebnisse als Ich-Erzähler vor und hat sich in dem »Dichter« sehr geschickt eine Ableitung geschaffen. Er selbst kann sich als vergnügter Beobachter, der freilich fälschlich der Mitschuld geziehen wird, im Hintergrunde halten und durch den andern das Übrige besorgen lassen.

Unmittelbar hinter diese, in durchweichendem Strichregen spielende Geschichte setzt Raabe die historische Erzählung Sankt Thomas mit ihrer sengenden Sonne. Auf der westindischen Insel brütet das heiße Gestirn und rast die Madorka, die Pest, rast der Krieg zwischen Spaniern und Holländern; mitten in diesem Kampfe geht das Liebespaar, die Nichte des spanischen Statthalters und der Neffe des holländischen Admirals, zugrunde. Mit derselben Eindringlichkeit, womit in Else von der Tanne die deutsche Winterstimmung von Elendsdorf und verschneitem Kahlwald gezeichnet ist, hat Raabe hier die gleißende Glut der Tropen aufgefangen und sie als schicksalbestimmende Macht mit verwendet. 118

Dann aber kommt eine Novelle, die man, ohne sie herabzusetzen, ebensogut ein Kunststück wie ein Kunstwerk nennen kann, Die Gänse von Bützow. Hier lehrt der Vergleich mit der von Wilhelm Brandes aufgefundenen Quelle, einer Sammlung merkwürdiger Rechtssprüche der Hallischen Juristen-Fakultät aus dem Jahre 1796, wie frei Raabe jetzt seinem Vorwurf gegenübersteht. Aus dem trocknen Gutachten über einen in dem mecklenburgischen Städtchen entstandenen Aufruhr gestaltet er ein barockes Pandämonium. Das kleine Seitenstück zur Französischen Revolution spielt sich um 1794 ab und wurzelt in dem Verbot der hohen Obrigkeit, die Gänse auch künftig auf den Straßen frei umherlaufen zu lassen. Dieser Eingriff in althergebrachte Gerechtsame führt zu einem völligen Aufstand, die Heeresmacht aus Schwerin muß schließlich eingreifen, und die Liebesgeschicke der beiden eigentlichen Aufrührer enden gerade dadurch sehr gegen ihren Wunsch, denn das Zweierlei Tuch siegt, der einquartierte Leutnant führt die von den beiden andern umworbene Braut heim.

Das alles erzählt nun aber Raabe nicht selbst, sondern er läßt es durch den quieszierten Rektor J. W. Eyring vortragen, einen Mann, nicht nur beschlagen in den antiken Schriftstellern, deren Zitate er zum Teil aus dem Urtext belegt, sondern auch in der französischen, englischen und nicht zuletzt der deutschen Literatur seiner Zeit ganz daheim, immer voll von Vergleichen und Anspielungen, ein amüsierter und amüsanter Beobachter, dessen reinste Freude manchmal die Schadenfreude ist, ein Geschichtsschreiber seiner Stadt aus eignem Recht und mit eignem Stil; das Charakterbild, wie es sich aus dieser Erzählung entwickelt, überhöht alle die deutschen Kleinstädter um ihn herum, und so erhält das bunte Bild einen festen, von ihm nicht abtrennbaren, in eigne Farben getauchten Rahmen. 119 Der drastische Humor der Novelle gewinnt durch die hochgelahrte Färbung des Ganzen eine völlig glaubhafte geschichtliche Einstellung; überdies trägt sie in der Darstellung des Volkslebens einen ausgesprochen niederdeutschen Zug. Allerdings wird gerade an dieser Raabischen Erzählung nur der klassisch gebildete Leser die volle Freude haben.

Wie ganz anders auch Raabes Humor spielen kann, zeigt dann, und sicher wieder in bewußter Gegenstellung, die Geschichte Gedelöcke, die er aus einem beim Trödler erworbenen Heftchen des achtzehnten Jahrhunderts schöpfte. Dieser als Alchymist geltende Kurator und Freund Ludwig Holbergs Jens Pedersen Gedelöcke kommt zum Sterben, und er, der als zum Judentum neigender Freigeist verschrien ist, spielt dabei seiner Ehefrau und dem Geistlichen den letzten Streich. Als Gedelöcke mit dem Gefühl »als ob ihm ein eiskalter Teller auf den Magen gedrücket werde« abgeschieden ist, läßt er seinen Leichnam durch drei Freunde entführen, und die bestatten den Unbußfertigen auf dem Garnisonkirchhof. Aber ihm ist keine Ruhe beschert, nach höherem Befehl wird er auf dem Judenfriedhof, und, als auch die Juden die Leiche nicht behalten wollen, schließlich auf freiem Felde eingescharrt. Der Humor von dieser Geschichte ist, daß dieser Gedelöcke, freilich nicht in einem hohen Sinne, frei durchgeht und noch über den Tod hinaus denen, die ihn in seiner borstigen Selbständigkeit bedrängt und geärgert haben, Schabernack auf Schabernack spielt. Was mit seinem Leichnam wird, ist ihm im Grunde gleich, und indem er auf das freie Feld in ungeweihte Erde kommt, hat er schließlich wieder einmal sein Stück durchgesetzt.

Die tiefste Schwermut und das hellste Licht, gelehrter Schalksinn und in wirrer Zeit geborene Verzweiflung, Spuren großer Geschichte und Spritzer ihrer Verengung 120 in kleiner Welt, Tropensonne und nordischer Schnee, Übermut und todbereite Liebe, das alles war im Spektrum des Regenbogens aufgefangen worden. An den Schluß setzt Raabe ein Werk, randvoll vom Nachhall immer noch nicht verebbter Schmerzen, ein Seitenstück zu der die Fernen Stimmen krönenden Holunderblüte. Auch die Novelle Im Siegeskranze wird von einem alten Menschen erzählt, die Großmutter berichtet sie der Enkelin etwa in dem Tone, wie bei Chamisso in Frauenliebe und Leben die Großmutter der Großtochter von vergangenem Glück und vergangenen Schmerzen sagt. Sie spricht von der jahrelangen Verstörung ihrer Schwester. Die war mit einem Marwitzschen Reiteroffizier verlobt, der wie Schill tat und wie Schills Gefährten endete. Sie hat einem deutschen Schuft in französischer Uniform seinen Verrat herrlich und schrecklich zugleich ins Gesicht geschrien, dann aber, nach der Erschießung des Geliebten, ist sie verwirrten Sinnes geblieben. Und nur einmal, eben vor ihrem Tode, als die Sieger von 1813 zurückkehrten, ist es Licht in ihr geworden. In den Ton des eignen schweren Erlebnisses, das die Greisin wiedergibt, mischt sich dabei der Nachklang aus den schweren Schicksalstagen der Nation.

Raabe hatte mit den geschichtlichen Erzählungen dieses Bandes wieder gezeigt, wie tief er nun in den Sinn aller Geschichte eingedrungen war; Paul Heyse erkannte, daß ihm die »künstlichen, auf die Masse berechneten Effekte fehlen, die sentimentalen oder tendenziösen Schlaglichter und die großen Namen der landläufigen geschichtsfälschenden ›historischen Romane‹«. Aber Raabe hatte auch über dieses Eine hinaus in der Novelle und in dem, was der Engländer so bezeichnend die kurze Geschichte nennt, die Meisterschaft errungen. Zwei Bücher, wie die Fernen Stimmen und das reicher gegliederte und noch sinnvoller 121 zusammengeschlossene Werk vom Regenbogen waren dafür vollgültiges Zeugnis. Man kann diesem letzten aus unserer ganzen neueren Dichtung nur weniges zur Seite stellen. Heyses Buch der Freundschaft und seine Troubadournovellen sind doch absichtlich mehr auf einen Ton oder ein Motiv gestimmt, und das gleiche gilt von Saars Schicksalen. Rudolf Lindau hat in seinen Reisegefährten einmal ähnlich eine Kette in der Führung verschiedener, untereinander gleich meisterlicher Geschichten zusammengeschmiedet, aber auch die waren auf ein engeres Gebiet und verwandte Innenstimmung beschränkt. Der Regenbogen steht selbst neben solchen großen Seitenstücken, auch neben Marie von Ebner-Eschenbachs landschaftlich eingegrenzten Dorf- und Schloßgeschichten, in seiner den Dichter von allen Seiten zeigenden, so viele Schicksale und Tonarten umgreifenden Bedeutung für sich allein. Was in den wolfenbüttler Novellen Ansatz war, hatte sich hier voll entfaltet.

Allein wie herrlich, diesem Sturm ersprießend,
Wölbt sich des bunten Bogens Wechseldauer,
Bald rein gezeichnet, bald in Luft zerfließend,
Umher verbreitend duftig kühle Schauer.
Der spiegelt ab das menschliche Bestreben.
Ihm sinne nach, und du begreifst genauer:
Am farbigen Abglanz haben wir das Leben,

Jetzt kam es darauf an, auch im Roman über die hohe Stufe der Leute aus dem Walde hinaus mit gleicher Stimmungsgewalt und Menschenkunde die volle Meisterschaft zu erklimmen. 122

 


 


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