August Sperl
Richiza
August Sperl

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Vierundzwanzigstes Kapitel

Schon kam König Winter aus fernen Landen gezogen. Und er schickte vor sich her Frau Stille in Wald und Flur, daß sie ihm das Lager rüste mit ihrem Knechte, dem Schweigen.

Sachte fielen die Blätter; gelb und kahl stand der Weinstock an den Hängen des Schloßberges.

Aber noch waren sonnige Tage im Lande der Franken: zwischen den blinkenden Buchenstämmen dufteten die letzten Steinpilze, träge Falter taumelten auf den Waldblößen, Herdenglocken klangen zum Schlosse empor, tiefrote Hagebutten leuchteten an den Büschen der Hohlwege, und mit goldenen Blättern war die Erde unter der Grafenlinde besät. Die weißen Fäden des Herbstes funkelten reifbedeckt im Lichte des Morgens und blinkten taunaß in den Strahlen der sinkenden Sonne. Noch waren sonnige Tage im Lande der Franken.

Kirchweih stand vor der Türe, und von früh bis Nacht klangen die Dreschflegel in den Tennen zu Castell, von früh bis Nacht klapperte die Mühle am Fuße des Berges; denn die Leute brauchten 296 Mehl zum Feste, viel weißes, feines Mehl zum Feste der Kirchweih.

Die Mädchen hatten es notwendig mit der Nadel; denn sie wollten tanzen, ja tanzen.

Der einäugige Pfeiferhans übte allabendlich mit den andern, die des Pfeifens kundig waren und die Geige zu streichen wußten, und verheißungsvolle Töne drangen aus den Ladenritzen seiner Hütte droben am Berghange hinter dem Pfarrhofe hervor.

Die alte Gräfin im hochragenden Schlosse nahm sich wenig Zeit zur Ruhe. Von früh bis Abend war sie hinter den Mägden her und kehrte das Unterste zu oberst.

Auch die Esel durften nicht feiern. Schrittweise, mit gesenkten Köpfen und hängenden Ohren schleppten sie die vollen Weinfässer zwischen die Wälle und Palisaden herein, durchs finstere Tor in den engen Burghof.

Weit offen standen die Fensterläden; der Herbstwind strich durch alle Kemenaten und Kammern, und die alten Mauern klangen wider vom Kreischen der Besen, vom Knirschen der Bürsten.

Über Holzgestellen hingen die schweren Teppiche, Knechte droschen mit Haselstecken darauf, daß der Staub in Wolken davonflog.

Von früh bis Abend war die alte Frau hinter den Leuten her, und getreulich half ihr die Jungfrau Richiza.

297 Doch diese war nicht mit ganzem Herzen bei der Arbeit des Tages. Zuweilen ertappte die Patin ihre Tochter, wie sie mit gefalteten Händen an einem offenen Fenster stand und traumverloren gen Westen in die Ferne sah – des Morgens über die Strohdächer des Dorfes, die blinkweiße Straße entlang, über gelbe Weingärten, über graue Stoppelfelder, hinein ins weite, weite Land, hinüber zum glitzernden Mainstrome, hinaus in den blaugrauen Dunst, der die Grenze zwischen Himmel und Erde verwischte; des Abends über die schweigende, vielfarbige Pracht der Wälder hinaus gen Osten, wo die weißen Wölklein schwammen im grünlichen Äther, rosig überhaucht vom Widerschein der sinkenden Sonne. Und die alte Frau schüttelte schweigend das Haupt, wenn Richiza erschrocken das liebliche Antlitz nach ihr wandte und hastig eine Träne von der Wange wischte. Aber ihre alte Stimme klang sanft, wenn sie mit der Jungfrau sprach, die seit einigen Wochen so schmale Wänglein hatte und so große, leuchtende Augen und stiller wurde von Tag zu Tag, stille wie die schweigende Erde im Lichte der kraftlosen Sonne.


Die Woche neigte sich dem Ende zu, die Dielen glänzten in untadeliger Reinheit, die Wasseresel hatten wieder ruhige Zeit. Aber vom großen Backofen draußen vor dem Schloßtore stieg der blaue Rauch empor und zog in blauen Schwaden 298 hinüber zur gelben Linde. Und in der geräumigen Küche kneteten die Mägde schwatzend und kichernd den Teig.

Die Muhme stand mit Jungfrau Richiza in der Leinwandkammer, und Kunne, die Gürtelmagd, hob kostbare Wandteppiche aus den Truhen.

Sie war uralt geworden, die alte Kunne von damals; aber sie stand noch fest auf den kurzen Beinchen, wie vorzeiten, und kein Zittern der runzeligen Hand verriet die Zahl der Jahre, die sie auf dem gekrümmten Buckel in den Winter hineintrug. Nur die Augen wollten nicht mehr mittun; sie waren stumpf geworden vom Sonnenlichte der Jahrzehnte und rot vom Herdrauch der Winter, die sie geschaut hatten. Und sie hatte das Gedächtnis verloren im Laufe der Zeit – das Gedächtnis für die Dinge des Tages. Dünn und krächzend klang ihre Stimme, wenn sie von alten Geschichten erzählte. Sie war mürrisch geworden, sie konnte nur wenig mehr schlafen des Nachts, und ihre Mitmägde gingen ihr gern aus dem Wege.

Sie war auch heute unzufrieden und wußte selbst nicht recht warum. Und murrend sprach sie: »Lasset doch die Wandbehänge in den Truhen, Frau Gräfin. Kommt ja doch niemand zum Fest ins Schloß.«

»Der und jener hat sich angesagt, und wir müssen uns rüsten, Kunne,« antwortete die Gräfin, streifte mit einem sorglichen Blicke das bleiche Gesicht ihres Patenkindes und wandte sich dem Fenster zu.

299 »Herr Friedel kommt ja doch nie mehr!« sagte die Magd plötzlich ganz laut.

Da legte sich die Hand Richizas auf ihre Schulter.

»Was wollt Ihr, Jungfrau?« murmelte die Alte und trat ärgerlich zurück.

»Kunne –!« raunte Richiza und sah ängstlich zur Muhme hinüber, die vorn am Fenster die Stickerei eines Wandbehanges mit prüfenden Augen besah.

»Jung-Friedel kommt nie mehr,« wiederholte die Alte störrisch und bückte sich über eine offene Truhe.

»Aber Kunne!« raunte Richiza.

»Nie mehr,« behauptete die Alte. »Sie haben's verscherzt, der Graf und –«

»Richiza!« rief die Gräfin. Da ging die Jungfrau hinüber ans Fenster. »Hilf mir!« befahl die Muhme. Und die beiden Frauen legten den kostbaren Wandteppich über das Holzgestell. Die Magd aber setzte sich murrend auf einen Holzschemel neben ihre Truhe und begann vor sich hin zu raunen.

»Da sind mir nun die Motten hineingekommen,« sagte die Gräfin ärgerlich und legte den Zeigefinger auf eine schadhafte Stelle des Kunstwerkes.

»Vorzeiten war's anders,« brummte die alte Magd im Selbstgespräch auf ihrem Schemel. »Vorzeiten war doch noch Kirchweih! Aber heutzutag wissen sie ja gar nimmer, was Kirchweih ist, die Leut in Castell.«

300 »Der Schaden ist nicht groß; ich will ihn bessern.« sagte Richiza und prüfte die Stickerei.

»Es ist, als ob die Mäuse das Herz zerfressen hätten,« klagte die Gräfin.

Ein großes, rührsames Bild war in den Teppich gestickt: Unter den Blüten eines weitästigen Apfelbaumes saß eine Maid, und vor ihr kniete auf blumigem Grunde ein edler Herr in reichem Gewande. Er bot ihr sein flammendes Herz, als wäre es das hölzerne Vorbild einer Gedächtniskirche; sie aber neigte sich herab, als wäre sie eine Heilige, und lächelte blöde. Hinter den beiden ragte eine vieltürmige Burg zum blauen Himmel empor, und zwischen ihnen lehnten, eng aneinander geschmiegt, zwei Wappenschilde – ein schwarzer, schleichender Panther im gelben Felde zur Rechten, eine weiße Lilie im blauen Felde zur Linken.

»Die Motten haben's zerfressen,« klagte die Gräfin und strich über das schadhafte Herz des edeln Ritters.

»Die Motten–!« wiederholte Richiza.

»Ja, vorzeiten,« raunte die alte Kunne, »da haben wir Kirchweih gefeiert, wir und die sieben Jungherren. Heisa, das war was! Aber so kommt's nimmer; denn die Blumen haben ihren Duft und der Himmel hat seine Bläue verloren. Alles ist anders geworden in Castell.«

»Alles ist anders geworden,« murmelte die Gräfin und strich liebkosend über die weiße Lilie 301 im blauen Schilde. Richiza stand auf, trat zu der Alten und raunte eindringlich auf sie herab. Die schüttelte zuerst störrisch den Kopf; dann aber besann sie sich und ging murmelnd aus der Tür.

»Ach, wenn ich das noch erleben dürfte!« seufzte die Gräfin.

»Es wird bald geschehen sein, Frau Patin,« meinte Richiza, entnahm der Tasche ihres Kleides ein Päckchen, entfaltete es und zog aus dem vielfarbigen Seidengewirr einen gelben Faden.

Wehmütig schüttelte die Gräfin das Haupt. »Du weißt wohl, was ich meine, Richiza!«

»Ich soll den Schaden bessern, Frau Patin – nicht wahr?« sagte die Jungfrau mit trübem Lächeln und zog die Seide durchs Nadelöhr. »Die Motten sind in die Flamme geflogen, und es ist anders gekommen als gewöhnlich – diesmal haben die Motten die Flamme gefressen.«

»O Kind, du weißt wohl, was ich meine!« sagte die Patin, legte die Hände auf ihre Schultern und blickte ihr wehmütig in die Augen.

»Daß ich den Schaden bessern soll?« rief die Jungfrau lächelnd und entschlüpfte behende ihrer Umarmung.

»Richiza!« zürnte die Patin und wandte sich ab.

»Frau Patin!« schmeichelte die Jungfrau, zog den schweren Wandbehang von der Stange, setzte sich auf einen Schemel, rückte die schadhafte Stelle 302 zurecht und begann zu sticken: »Ich weiß es ja und kann doch nicht.«

»Magst nicht,« zürnte die Gräfin.

»Kann nicht, Frau Patin,« beharrte Richiza.

»Und warum denn? Im Frühjahr noch hast du nicht viel dagegen gewußt –«

»Gewußt?« rief die Jungfrau. »Ach Gott, im Frühjahr ist's auch noch in weiter Ferne gestanden, Frau Patin.«

»Und was hast du jetzt dagegen?« fragte die Herrin.

Richiza schwieg und wandte das blutrote Antlitz zur Seite. »Es ist zum Lachen,« rief sie plötzlich; »seht nur, das Herz des edeln Herrn ist zur Hälfte zerfressen, und den schäbigen Rest reicht er seiner Holden dar! Kann man sich wundern, wenn sie ihn verschmäht?«

»Aber sie mag ja – sieh nur!« sagte die Patin.

Nachlässig strich die Jungfrau über das Bild der gestickten Dame: »Das blöde Weibsbild da? Kann sein, Frau Patin.«

»Die Motten sind darein gekommen,« entschuldigte die Herrin.

»Die Motten, Frau Patin, die Motten, jawohl,« wiederholte Richiza mit Nachdruck. Sie schob den Teppich zurück, daß er zu Boden glitt, sprang empor, faltete die Hände und machte ein klägliches Gesicht. »Jawohl, Frau Patin, so ist's. Genau so wie auf dem Teppich da« – sie stieß mit dem Fuße an das 303 Kunstwerk – »so ist's auch im Leben.« Sie lachte leise auf und begann sich hin und her zu wiegen, als schritte sie im Reigen unter der blühenden Linde. »Hört, Frau Patin, ich will Euch sagen, was ich über die Mannsleute denke, und dann sagt Ihr mir, ob mich der Herrgott im Himmel für einen« – sie stockte und trat mit der Fußspitze auf den schmachtenden Ritter – »ob mich der Herrgott für so einen geschaffen hat! – – Den Trimberg, meint Ihr, weiß wohl.« Sie drehte sich langsam um sich selber.

»Aber Richiza!« klagte die Gräfin.

»Also den Trimberg,« wiederholte die Jungfrau und ging im Tanzschritt rund um das Gemach. »Der Trimberg wird alt sein – fünfunddreißig Jahre, Frau Patin?«

»Vierunddreißig,« berichtigte die Gräfin mit Nachdruck.

»Vierunddreißig und achtundzwanzig – das paßte wohl zusammen,« sagte Richiza mit feierlicher Betonung. »Aber da sind's nun wohl sechzehn, siebzehn Jahre, seit er landauf, landab reitet mit seinem brennenden Herzen, und allgemach sind seine Haare dünn geworden, und seines Herzens Flammen – Frau Patin, ich muß lachen« – sie trat noch einmal unhöfisch auf den gestickten Herrn – »die Motten sind drüber gekommen, Frau Patin. Und jetzt reitet er müde und matt heraus nach Castell und hält mir mit freundlichem Grinsen sein ausgebranntes Lämplein entgegen. Ich aber« – sie 304 stampfte zornig – »ich soll ihm das warme Herz hingeben, soll ihm zu eigen werden mit Leib und Seele« – sie schüttelte sich und ihre Augen funkelten – »Frau Patin, das wäre ein ungleiches Spiel!«

»Kind, Kind!« Die Herrin rang die Hände. »Hat man je schon gehört, daß eine Jungfrau so spricht? Was kümmert dich das Vergangene? Wer fragt nach dem, was hinter ihm liegt? Vorüber ist vorüber.«

»Jawohl, Frau Patin, wer fragt danach?« sagte Richiza. Dann bückte sie sich, breitete den Teppich aus, ging nachdenklich rund um das Bild und sagte leise, als spräche sie zu sich selbst: »Sind aber nicht Vergangenheit und Zukunft unlöslich ineinander gewoben?«

Kopfschüttelnd ging die Gräfin aus dem Gemache.

Richiza lauschte auf die verhallenden Schritte. Dann schob sie den Riegel vor, warf sich über Fräulein und Junker und weinte bitterlich.


Es war am Nachmittage vor dem Feste.

Drunten im Dorfe liefen die Weiber und holten auf großen Blechen die Kirchweihkuchen vom Bäcker. Herbstnebel bedeckten die Landschaft, und kopfschüttelnd befragten sich die Leute über das Wetter. Sachte fiel das gelbe Laub von der mächtigen Dorflinde draußen am Bächlein, und abseits von ihr 305 hatte fahrendes Volk seine Karren zusammengeschoben. Schwarzhaarige Kinder schlichen im Dorfe von Haus zu Haus und bettelten – und sie bettelten nicht vergebens im Nebel des Herbsttages. Bärentreiber zogen durch die Gassen, und Meister Braun tanzte zu den Klängen des Dudelsackes und brummte seine uralte Melodie darein. Mancher Heller, manch weißes Kirchweihbrot flog in die Mütze der Treiber.

Allerlei Gäste kamen noch immer einher auf nebligen Straßen von Abend und Mitternacht, Lahme und Blinde und Bucklige, fahrendes Volk, das sich zu Festzeiten in den Dörfern versammelt, wie Krähen auf neugepflügtem Felde. Eine Kunst wußte auch der Dümmste von ihnen: jeder hatte die Hand hohlmachen gelernt. Aber auch Bauersleute zogen einzeln oder in Gesellschaft zu Fuß und zu Roß von nah und fern heran – die einen von der Sehnsucht in die alte Heimat getrieben, die andern gelockt vom Dufte der dampfenden Töpfe. Denn jetzt waren die Tage im Jahre, wo Junker Überfluß auch in die Hütte des ärmsten Knechtes mit Jauchzen seine Brocken streute, wo kein Magen knurren mußte im Dorfhag.


Aus der Tiefe der mittägigen Wälder kam ein junger Geselle zugeritten. Die Lederkappe saß ihm keck auf dem Ohr, die grausilberne Adlerfeder stach kühn hinaus in die Luft, ein blauer Mantel hing 306 lose über seinen Schultern, vorn auf der Brust von einer kunstvollen Spange gehalten, und bauschte sich über dem Rücken; ein breites Schwert baumelte zu seiner Linken vom Sattel hernieder. Schrittweise kam der müde Braune aus dem Nebel; Bauch und Beine waren ihm grau vom Schmutze der Straße. Schrittweise kam er ans Palisadentor und stampfte den kotigen Burgweg entlang, an der Grafenlinde vorüber, zum Schloßtor hinan.

Der Torwart trat heraus und fragte nach des Reiters Begehr.

»Warmes Essen, kühlen Trunk, weiches Lager!« rief der Junker, sprang aus dem Sattel und warf dem Alten nachlässig die Zügel zu.

»Glaub's wohl,« sagte dieser und zog verwundert die Augenbrauen in die Höhe. »Aber da ist keine Herberge.«

»Weiß ich, Alter, weiß ich,« raunte der Junker, trat nahe herzu, klopfte ihn auf die Schulter und lachte ihm so freundlich ins Gesicht, daß der bärbeißige Geselle schmunzelnd murmelte: »Ei, wenn Ihr's wißt, Herr, dann –«

»– dann hättet Ihr um ein Haus weiter gehen sollen – – nicht?« ergänzte der Fremde zutraulich. »Laßt mit Euch reden, Alter. Ihr habt wohl zur Kirchweihzeit für einen fahrenden Junker einen Stuhl am Tisch, einen Stand im Stall und ein Bett in der Kammer?«

»Das ganze Schloß ist voll,« brummte der Torwart.

307 »Desto lustiger!« meinte der Junker.

»Da sind drei Grafen von Henneberg mit ihren Gräfinnen – da sind zwei Herren zu Limpurg, macht zusammen zwanzig Rosse, da ist der lustige Herr von Trimberg – und sie sagen, der muß da sein – –«

»Muß da sein? Warum?« erkundigte sich der Junker.

»Warum? Darum!« antwortete der Alte und lachte gar listig.

»Ei, du bist grob!« Der Junker schlug ihn auf die Schulter.

»Grob wie 'n Torhüter,« schmunzelte der Alte.

Aus der Tiefe des Hohlweges klang Trommelschlag, Gequieke von Pfeifen und Tuten von Hörnern; aus dem Nebel tauchten verschwommene Gestalten empor. Das müde Pferd des Junkers spitzte die Ohren; doch es besann sich und blieb mit hängendem Kopfe stehen. Trommler und Pfeifer zogen vorüber, dann kam einer im Narrenkleide, und hinter ihm trollten junge Kerle mit Spaten über den Schultern – sie zogen alle vorüber und verschwanden auf dem Burgweg zwischen den Planken im Nebel.

»Was wollen die?« fragte der Fremde.

Der Alte lachte. »Jetzt wird die Kirchweih ausgegraben,« raunte er geheimnisvoll.

»Die Kirchweih?« fragte der Junker.

Aus der Tiefe des Hohlweges quoll eine 308 Kinderschar. Unschlüssig blieben die vordersten stehen. Etliche Beherzte lösten sich von den andern und liefen hinter den Pfeifern und Trommlern hinein in den Nebel. Nach kurzer Zeit aber flohen sie mit gellendem Geschrei zurück, und hinter ihnen rannte der im Narrenkleide und ließ unbarmherzig die Pritsche auf ihren Rücken tanzen. Kreischend fegten die Kleinen hinunter ins Tal. Mit großen Sätzen sprang der Narr zwischen die Planken zurück, und im tropfenden Nebel verklang fern zwischen den Bäumen des Waldes das Quieken der Pfeifen, das Rasseln der Trommeln.

»So will's der Brauch,« erklärte der Torwart. »Am dritten Tag wird sie vergraben im Wald, und keiner weiß den Ort als nur die Sieben mit den Spaten; am Abend vor dem neuen Fest gräbt man sie wieder aus. So will's der Brauch seit alten Zeiten in Castell.«

»Bei euch ist gut sein,« sagte der Junker, griff in die Tasche, klimperte mit seinem Gelde und zwinkerte mit seinen Augen. Das Gesicht des Torwarts hellte sich auf, und er fuhr fort: »Wir haben einen Ochsen und drei Kälber, wir haben fünfzig Gäns' und Enten, wir haben acht Säue geschlachtet – und niemand weiß, ob uns der Vorrat reicht.«

»Er reicht,« rief der Junker und zog ein Geldstück aus der Tasche, drückte es in die große Hand des Wächters und ging voran ins Tor. Schmunzelnd 309 und murrend folgte der Alte und führte das müde Rößlein am Zügel.


Der Kämmerling wies den Fremden die Freitreppe empor und öffnete ihm die Türe zum Gemache des Grafen. Der bot auch ihm den Willkommgruß wie allen Gästen und sagte in höfischem Tone leichthin, wie es die Sitte gebot: »Bringt mir Glück in mein Haus!«

Da sah ihm der Fremde voll ins Angesicht und sprach mit starkem Nachdruck: »Das gebe Gott, gnädiger Herr!«

Mit einem verwunderten Blick streifte der Verkrüppelte über ihn hin. Dann aber winkte er dem Kämmerer, daß er ihm sein Schlafgemach zeige.

*

Gegen Abend brach die Sonne durch den Nebel und vergoldete das herbstliche Land mit ihren letzten Strahlen.

Der Fremde war den Schloßberg hinabgestiegen und stolzierte durch die Gassen des Dorfes. Nun kam er hinaus zur Kirche, ging über den Friedhof zwischen den festlich geschmückten Gräbern hin, sah die Türe offen stehen und trat in den dumpfigen Raum.

Er netzte die Hand im geweihten Wasser, beugte das Knie und schlug das Kreuz. Dann schritt er langsam gegen den Hauptaltar.

310 Hinter ihm, durch die offene Türe, fielen die Strahlen der sinkenden Sonne auf die fünf Grabplatten, die vor dem Chore nebeneinander in den Fußboden eingelassen waren und die fünf Grüfte der Helden vom Cyriakustage bedeckten.

Aufmerksam besah der Fremde die tiefen Linien der fünf eingeritzten quadrierten Wappenschilde und las murmelnd die fünf Randschriften, die mit hochgezogenen Buchstaben fünf Namen und fünfmal das gleiche Jahr, den gleichen Tag verkündigten.

Freundlich lag der Glanz der sinkenden Sonne auf Wappen und Schrift; nachdenklich stand der Fremde davor.

Da erklangen draußen auf dem Kirchhofe jugendliche Stimmen. Lange Schatten fielen über die Grabsteine und stiegen zum Hochaltar empor. Schritte knirschten über das Pflaster.

Bescheiden trat der Fremde zwischen die Betschemel und gab zwei Mägden Raum, die einen großen Korb mit Fichtengewinden vorübertrugen, verstohlen nach dem schmucken Junker blickten, ihren Korb wortlos niedersetzten und die fünf Grabplatten zu schmücken begannen.


Wiederum fiel vom Eingang her ein Schatten über das Pflaster, und aus dem goldigen Lichte des Abends trat eine hohe Frau in den düsteren Raum.

Sie trug ein Körblein, kam langsam zwischen 311 den Säulen geschritten, trat zu den Mägden und besah genau, was sie getan hatten. Dann sagte sie freundlich: »Ihr könnt nun gehen.«

Eilig trippelten die Mägde mit ihrem leeren Korb hinaus; die Dame aber wandte sich nach der Evangelienseite hin.

Mit gekreuzten Armen stand der Fremde und ließ sie nicht aus den Augen. Als sie nun an ihm vorüberkam, beugte er das Knie zum Gruße.

Mit freundlichem Nicken dankte sie, trat ins Seitenschiff und stellte ihr Körblein zu Boden. Leise zog sich der fremde Mann zum Eingang zurück. Dort aber blieb er im Schatten stehen und beobachtete sie unverwandt aus der Ferne.

Sie stand mit gefalteten Händen vor einer kleinen Tafel, die zwischen uralten Gedenksteinen an der Mauer hing, und die scharfen Augen des Fremden lasen auf dem gelben, schwarzgeränderten Holze in lateinischer Sprache die Bitte: »O heilige Jungfrau Maria, wache über den Erdenwegen dessen, den du kennst, führ ihn heim ins Vaterland und bring endlich ihn und uns hinaus ans himmlische Tor.«

Nun öffnete sich die kleine Sakristeitür zur Rechten des Hochaltars, und ein gebückter Greis kam unter dem Rundbogen heraus, ging mit leisen Schritten quer durch das Schiff und trat hinter das Weib.

»Ich hab' mir's gedacht, Gräfin Richiza,« sagte er mit zitternder Stimme und streckte ihr die Hand entgegen.

312 Sie wandte sich, griff nach der Hand des Priesters, sank tief herab und drückte einen Kuß auf ihre Runzeln. »Es ist ein guter Brauch, andächtiger Herr,« antwortete ihre tiefe, klare Stimme.

»Ein frommer Brauch, der die Toten ehrt und die Lebenden erbaut,« sagte der Priester.

Unverwandt beobachtete der Fremde aus der Ferne die beiden, und es entging ihm kein Wort.

»Wohl den Frommen, die da sterben in ihrer Jugend; sie sind dem Bösen entrafft und harren der Urständ,« sagte der Greis und trat vor die geschmückten Grabsteine am Eingang des Chores.

»Wir aber welken im Gram um die Verlorenen,« gab ihm das Weib zurück.

»Welken, Gräfin Richiza?« lächelte der Priester. »Vergebt einem alten Manne, aber –«

»Ach, Jungfrau,« seufzte Richiza, »bring endlich ihn und uns hinauf ans himmlische Tor!«

»Endlich, zuletzt –!« sagte der alte Herr freundlich. »Aber jetzt noch nicht – noch lange nicht, liebes Kind.«

»Und warum nicht, andächtiger Herr?« meinte Gräfin Richiza, bückte sich und hob ein Rosengewind aus ihrem Körbchen. »Ein Monat um den andern verrinnt. Es sind vierzehn Jahre, seit wir vom Schloßturme nach der fliehenden Staubwolke gespäht haben –«

»Vierzehn Jahre,« sagte der Priester und trat näher. »Und dennoch – endlich zuletzt; denn es 313 ist noch nicht aller Tage Abend gekommen, mein liebes Kind.«

»Wie habt Ihr doch vorhin gesagt, Andächtiger?« fragte Richiza. »Wohl den Frommen, die da sterben in ihrer Jugend, es ist ihnen viel Herzeleid erspart.« Und sie begann die Weihetafel mit Rosen zu schmücken.

Ein Junge kam im Abendsonnenscheine zwischen den Gräbern zur Kirchtüre heran. Leise ging der Fremde hinaus und verhandelte raunend mit ihm.

Da schlich der Knabe die Stiege zur Orgel hinauf, die gleich einem Schwalbenneste in der Höhe des Chores hing. Auf leisen Sohlen folgte ihm der fremde Mann.

Polternd, knarrend und pfeifend bewegten sich die Bälge. Zornig trat der Priester mitten in die Kirche und rief drohende Worte hinauf. Aber der Bälgetreter ließ sich nicht irremachen, und aus der Dunkelheit kam der Fremde, setzte sich auf das Bänkchen und begann mit kunstvollen Händen die Tasten zu schlagen. Die Faust des Priesters sank herab; sein Haupt neigte sich; seine Hände falteten sich. Leise Töne fluteten durch den dämmerigen Raum; und der Fremde begann zu singen:

Erbarm dich, Gott, erbarme
und leg mir deine Plagen
in meinen jungen Tagen
auf meine starken Arme. 314

Wenn meine Knie wanken
in meinen späten Jahren,
wend ab Leid und Gefahren –
ich aber will dir's danken.

Doch bitt' ich ganz im stillen,
ich hab' nichts vorzuschreiben.
Laß mich dein Kind nur bleiben,
führ mich nach deinem Willen!

Langsam war auch Richiza in das Mittelschiff gekommen und stand nun neben dem Priester, und die sinkende Sonne warf ihr rotes Licht gleichermaßen auf das runzelige Antlitz des Greises wie auf das jugendschöne Gesichtlein der Gräfin.

Flüsternd neigte sich der Priester zu ihr: 's ist ein Fahrender, ich hab' ihn wohl bemerkt. Aber ich lass' mir sogar einen Fahrenden in meiner Kirche gefallen, wenn er solch frommes Lied zu singen weiß.«

Richiza nickte und sah mit großen Augen zur Orgel hinauf. Und als die letzten Töne des Spieles verklangen, sagte sie nachdenklich: »'s ist ein ritterlicher Mann, Andächtiger. Und mir dünkt, als hätt' er unser Gespräch belauscht. – Aber die Sonne geht nieder, wir haben Gäste und ich muß nach Hause.«

Damit begab sie sich zurück an die Mauer und nahm ihr Körbchen vom Boden.


Gräfin Richiza kam die Kirchenstufen herab, 315 hinter ihr schritt der Priester, und draußen zwischen den Gräbern wartete der Fremde.

Höfisch kam er heran, beugte das Knie und sprach: »Herrin, vergebt mir die Kühnheit!«

Richiza neigte lächelnd das Haupt und antwortete: »Ich habe nichts zu vergeben. Das Spiel war schön und fromm das Lied.«

»So hat Euch das Lied gefallen?« fragte der Fremde und erhob sich.

»Es ist eines frommen Mannes Lied,« sagte der Greis.

»Und wer hat's gesetzt?« fragte die Gräfin.

»Er hat's ja selbst gesagt,« wandte sich der Fremde lächelnd an den Greis, »einer, der fromm sein möchte.«

»Kommt zu uns und helft uns das Fest feiern!« sprach Richiza.

»Ich bin des Grafen Gast,« antwortete der Fremde und verneigte sich; »aber nicht alle Lieder klingen gut im Saale – etliche gehören in die Kirche, etliche in den Wald, etliche in die Dämmerung, etliche unter die blinkenden Sterne.«

»Da habt Ihr recht,« sagte die Gräfin leichthin, neigte das Haupt zum Gruße und schritt neben dem Priester dem Ausgange zu. »'s ist ein ritterlicher Mann, Andächtiger,« raunte sie vor dem Kirchhof zum zweitenmal.

»Ihr könnt recht haben,« antwortete der Priester, bot ihr die Hand zum Abschied und wandte sich 316 seinem Hofe zu. Die Gräfin aber ging mit raschen Schritten die Dorfgasse entlang und stieg den Hüpfauf zum Schloß empor.


In der dämmerigen Kirche stand der Fremde und las zum zweitenmal die schwarze Schrift der Weihetafel. Ein Lächeln ging über sein Antlitz, als er dem Ausgange zuschritt und vor sich hinmurmelte: »Was tut der Lebendige bei den Toten?«


Als Richiza durch die Seitenpforte neben dem Küchenbau den Schloßhof betrat, führten die Knechte sechs reichgezäumte Rosse in den Stall. Droben auf der Freitreppe aber stand die Gräfin-Mutter, bot einem vornehmen Herrn den Willkomm und schritt ihm voran in den Palas.

Unter der Küchentür gaffte eine Magd zum Palas empor. Fragend wandte sich die Gräfin Richiza zu ihr. Und mit dummdreistem Lächeln gab die Magd zur Antwort: »Der Herr von Trimberg, Eure Gnaden.«

Eine tiefe Röte überzog das schöne Antlitz der Gräfin, und mit hastigen Schritten ging sie quer über den Hof in die Kemenate der Frauen.

*

Es pochte heftig an Richizas Türe, und der kleine Kunz kam über die Schwelle.

»Muhme –!« Mit geballten Händen stand er da und rang nach Luft.

317 »Aber Kunz – wie sind deine Haare verwirrt! Komm her, laß dich kämmen!«

»Muhme –! Nun weiß ich, Muhme, wer's gewesen ist!«

»Aber was willst du denn, Kunz?«

»O Muhme, nun weiß ich, wer uns am Cyriakustage in Würzburg geschmäht hat –!«

»Wer, Kunz?«

»Vorhin ist er eingeritten. An seiner Stimme hab' ich ihn erkannt. Der Herr von Trimberg ist's gewesen.«

Ein frohes Lächeln glitt über ihr Antlitz.

»Aber Muhme –?« fragte er vorwurfsvoll und kam näher.

»Weißt du's auch ganz gewiß, Kunz?«

»Ganz und gewiß, Muhme. Aber sag, warum hast du gelacht? Weißt du was, Muhme? Jetzt geh' ich zum Vater –!«

»Setze dich, Kunz, und laß uns miteinander reden.«

Sie setzte sich auf einen Stuhl, und gehorsam kauerte sich der Knabe auf einen Schemel zu ihren Füßen.

»Kunz, was regiert auf Erden?«

Er besann sich: »Die Kraft, Muhme.«

Richiza nickte. »Die Kraft. Was aber regiert über die Kraft?«

Er besann sich lange. »Die Kraft ist eben die Kraft, Muhme, und die Kraft ist's, die auf Erden regiert.«

318 »Dann müßte einst dein Leibroß Gaugraf im Walde werden, Kunz.«

Betroffen sah er zu Boden. »Die Klugheit, Muhme, die Klugheit.«

»Recht so, Kunz. Und die Kraft gebietet dir –«

Er unterbrach sie heftig: »Ich soll zum Vater laufen, daß er – den Trimberg aus seinen Toren jagt.«

»Recht so, Kunz. Dann aber kommt die Klugheit und spricht leise: Geh nicht zum Vater; denn – der Fremdling wohnt als Gast in unserm Frieden –«

»Als Gast in unserm Frieden, Muhme.« Nachdenklich blickte der Knabe in die Ecke.

»Darum laß ihn essen, Kunz, und laß ihn trinken und – gib ihn mir!«

»Dir?« Der Knabe sah verwundert zu ihr auf.

Richiza hatte sich erhoben und stand mit abgewandtem Gesicht da: »Er soll nie mehr nach Castell reiten, Kunz.«

»Muhme!« Er sah sie mit leuchtenden Augen an. »Wenn du so sprichst, dann wird er nie mehr nach Castell reiten.«

»Aber Kunz, bin ich denn so böse?«

»Du – Muhme – –?« Er warf sich auf den Teppich und umschlang ihre Knie.

»Nun also, Kunz?« sagte sie, bückte sich und machte sich frei.

Er sprang empor und stand mit gefalteten 319 Händen vor ihr. »O Muhme, warum bin ich noch kein Mann?«

»Geh, Kunz!« mahnte sie freundlich und wandte sich ab.

»Sterben möcht' ich für dich!« rief er, warf sich abermals zu Boden, umschlang ihre Knie und schluchzte laut auf.

»Kunz!« Erschrocken und ärgerlich schob sie ihn zur Türe. »Geh, Kunz, geh!«

»Aber ich geh' doch schon,« schluchzte er und stampfte hinaus.


Abend war's, und im großen Saale speiste die Herrschaft mit ihren Gästen.

Gräfin Richiza hatte den Gruß des Trimbergers mit unbewegtem Antlitz erwidert. Mit unbewegtem Antlitz saß sie auf der Bühne an seiner Seite und hörte auf seine Reden.

Unten am Tische saß der Knabe und streifte von Zeit zu Zeit die beiden mit finsterem Blicke.

Im Saale aßen und tranken die andern und sprachen murmelnd miteinander. Immer wieder suchten Richizas Augen den fremden Sänger an der langen Tafel drunten im Saale. Aber sie suchten vergeblich.

So blieben die Frauen und das Kind, bis man die großen Weinkrüge zum Gelage herbeischleppte.


Als Richiza ihr Gemach betrat, brannte eine 320 Kerze auf ihrem Tische, und vor dieser lag ein Streifen gelben Pergaments. Sie bückte sich und las die zierlich geschriebenen Worte: »Manche Lieder jedoch klingen am besten nächtlicherweile im Walde.«

Sie besann sich. Dann trat sie ans Fenster und schob den Laden zurück.

Lauwarm war die herbstliche Luft. Schweigend ragte der Grübertwald zu den flimmernden Sternen empor.

Sie wartete lange Zeit, und es war ihr, als müsse sie warten.


Leise Saitenklänge kamen von der Bergeshalde herüber.

Stärker wurde das liebliche Spiel, und nun setzte eine klare Männerstimme zum Gesange ein:

Viele Augen sind's gewesen,
waren nur auf mich gericht',
alles hab' ich drin gelesen,
doch die Liebe war es nicht.

Zorn und Gram und Mißverstehen
und ein wortlos Strafgericht –
alles, alles mußt' ich sehen,
nur die Liebe war es nicht.

Aber eine kam gegangen,
brachte mir ein blaues Band,
drückte ihre heißen Wangen
fest in meine kalte Hand – 321

Hob die schweren Augenlider,
sprach so gut mit mir, so lind,
schenkte mir die Hoffnung wieder – –
und es war doch nur ein Kind.

Kind, o Kind, sei hochgepriesen;
denn in jener bösen Nacht,
als die andern mich verließen,
hast du's wieder gutgemacht.

Reiseglück und Heimatsegen,
alles, Kind, verdank' ich dir,
und auf meinen rauhen Wegen
ging dein Bild, o Kind, mit mir.

An dem Bande, deinem blauen,
hältst du mich, du liebes Kind,
und ich will dem Bande trauen,
daß ich mich nach Hause find'.

Richiza hatte sich weit hinausgebeugt und lauschte mit verhaltenem Atem den verklingenden Akkorden des Rotaspieles. Dann ging sie an den Tisch und löschte das Licht aus.

Nur noch das ewige Licht glühte in seiner brennroten Ampel aus der Ecke hervor.

Nach einer Weile begann der Fremde im Walde drüben das zweite Lied:

Sie hatten sich verbunden,
sie machten meinen Namen
in allen Landen schlecht;
ich stand mit vielen Wunden,
ich wollte fast erlahmen,
trotz meinem guten Recht. 322

Ich saß in dunkler Kammer
und würgte meine Zähren –
da trat ein Wort an mich:
was wär' es doch ein Jammer,
wenn alle für dich wären,
Gott aber wider dich?

Das fiel mit hellem Scheine
aus weiter Himmelsferne
in mein verzagtes Herz:
bleibt mir nur treu der Eine,
ich laß die andern gerne
und wend' mich heimatwärts

und acht' es gleich dem Winde,
was sie auch mögen sagen –
wer kann mir Böses tun?
Gleich einem müden Kinde
darf ich's Gottvater klagen
und darf in seinem Frieden ruhn.

Richiza stand mit gefalteten Händen im Fenster, Tränen tropften auf den Samt ihres Festkleides hernieder.

Lange mußte sie warten. Dann endlich kam das dritte Lied zu ihr empor:

Daß mich der Vater verstoßen,
ich kann es wahrhaftig verstehen –
wär' ich der Vater gewesen,
dann wäre das Gleich geschehen.

Doch daß es die Mutter den andern,
die eigene Mutter geglaubt,
hat mir aus meinem Herzen
die letzte Hoffnung geraubt.

323 Nun ging Richiza zurück ins Gemach, ließ die rote Ampel mit dem ewigen Licht an ihrem Kettlein herab, löste sie, trug sie zum Fenster und hielt sie hinaus in die Nacht.

Rotaspiel antwortete ihr von der Berghalde herüber.

*

Des andern Morgens forschte Richiza nach dem ritterlichen Sänger. Doch niemand hatte ihn gesehen; unberührt stand sein Lager im Kämmerlein.


Der Gottesdienst in der Dorfkirche war längst vorüber, die Pferdesänften hatten den Grafen und seine Mutter wieder zu Berge getragen.

Jetzt saßen sie mit etlichen ihrer Gäste auf der Freitreppe des Palasses; Kopf an Kopf standen die andern im Laubengange, und alles wartete auf den Einzug der Bauern.

Schrille Musik erklang aus der Tiefe.

Das Gewölbe des Torweges hallte wider vom Gerassel der Trommeln.

Ein langer Zug festlich gekleideter Knaben bog in den Schloßhof, und zwischen den grauen Mauern erklang wie alle Jahre ihr eintöniger Gesang: »Heil euch – Heil!«

Sie schritten rund um den Hof und versammelten sich vor der Freitreppe, sangen fort und fort ihren gellenden, seltsam rührenden Gruß und begannen die Früchte des Herbstes an den Stufen 324 niederzulegen: schwere, goldgelbe Garben, rotbackige Äpfel, braune, großmächtige Rüben und in zierlich geflochtenen Körbchen dunkelrote Trauben, vom Honerthügel gepflückt.

Die Gräfin-Mutter hatte sich in ihren Stuhl zurückgelehnt, wischte verstohlen über ihre Augen und streichelte die Hand des Enkels, der zwischen ihr und dem Vater stand. Und sie raunte: »Nun hab' ich's fünfundvierzigmal gehört und kann mir doch nicht helfen; wenn sie die Früchte herzutragen und ihren alten Gruß so rührend singen, dann brennen mich die Augen.«

»Eine schöne Sitte,« sprach der hagere Herr von Trimberg, der neben Richiza im Laubengange lehnte.

Richiza schwieg.

Paarweise kamen die Männer des Gaues in den Schloßhof und stellten sich in Reihen unter dem Palas auf. Die Trommeln rasselten, die Pfeifen quiekten, und nun schlugen die Männer an ihre Wehren und schrien, wie vorher die Knaben: »Heil euch, Heil!« Aber es war nichts Rührendes in ihrem rauhen Geschrei, und trocken blieben die Augen der Gräfin-Mutter.

Da waren betagte Leute, die gebückt vor ihrer Herrschaft standen wie einst schon vor dem alten, blinden Grafen. Da waren junge Männer, die frank und frei zum Grafen und seiner Mutter emporsahen. Einer hatte den Schädel in einen uralten Eisenkübel gesteckt, ein andrer trug eine zerhauene 325 Lederkappe, der prangte in einem neuen Beratzhauser Eisenhut; der trug den frischbemalten Schild von Castell auf dem Rücken, der hatte den Schild mit seinem eignen Wappen geziert.

Ein weißhaariger Mann trat vor die andern, die Musik verstummte, er nahm den Eisenhut vom Schädel, kratzte höfisch mit dem linken Fuß und begann: »Liebwerte Herrschaft, gnädiger Graf und Herr und alle beisammen. Wir Bauern vom ganzen Gau sind 'kommen wie alle Jahr zur Herbstzeit nach altem Brauch und – und tun euch grüßen alle beisammen und jedes für sich. Wir Bauern halten fest zur Herrschaft in Freud und Leid, darauf kann sich die Herrschaft, ja, die Herrschaft kann sich darauf verlass' –« Er kratzte wieder höfisch mit dem Fuß und wiederholte: »Sie kann sich darauf, ja wohl, sie kann sich verlass'.« Dann aber wandte er sich hilfesuchend zurück, mitleidig fiel einer mit Heilruf in seine Rede, und brausend erscholl der Ruf der Bauernschaft: »Heil euch, Heil!«

Mühsam erhob sich der Graf und antwortete der Rede des Schultheißen.

Droben aber neben Richiza lachte der Trimberger und raunte: »Die haben auch gerade zur rechten Zeit geschrien!«

»Und er hat's doch so gut gemeint mit dem Haus Castell, der alte Mann!« sagte Richiza bedauernd.

»Gut gemeint mit dem Maul, das Geschmeiß, das –!« raunte der Gast.

326 Da wandte Richiza das schöne Antlitz und sah ihm fest in die Augen. »So gut wie Ihr, Herr von Trimberg, am Cyriakustage zu Würzburg –?«

Der Trimberger wurde dunkelrot, und stotternd fragte er: »Ich – wie meint Ihr das?«

»Aufrichtig, lieber Herr, mit Mund und Herz,« antwortete sie und wandte sich zum Gehen. »Soll ich den kleinen Kunz als Zeugen holen?« fragte sie über die Schulter zurück.

Er sagte kein Wort mehr; und pfeifend und quiekend fiel drunten die Musik ein.

Den Gang herunter kam ein junger, wehrhafter Bauer und machte seinen Kratzfuß vor der Gräfin Richiza. Die nickte freundlich, ging vor ihm die Freitreppe hinab in den Hof und bot ihm die Linke zum Reigentanze.


Finster blickte der unglückliche Freier in das Gewühle der Tanzenden. Gegen Abend schon ritt er mit seinen Knechten zu Tale.

*

Um die Mitternacht stand Richiza wieder im Fenster ihres hellerleuchteten Gemaches und wartete.

Da erklang endlich wieder das leise Rotaspiel im Grübert, und der geheimnisvolle Sänger begann:

Ich hatte die Ehre verloren,
ich wagte mich nimmer nach Haus –
da gab ich dem Pferde die Sporen
und ritt in die Lande hinaus. 327

Ich kam in die dumpfigen Städte,
ich wurde des Königs Genoß,
ich trug die klirrende Kette
als Knecht im reisigen Troß.

Ich hielt ihn vor allen verborgen,
den Namen, den adligen Stand,
ich lebte nur immer in Sorgen,
daß ich die Verlorene fand.

Und ich sah sie endlich im weiten,
im glühenden Abendrot,
und es gab ein grimmiges Reiten,
ein Reiten auf Leben und Tod.

Es wehte von ragenden Kliffen
zu Tale ihr flattern Gewand,
mir war, als hätt' ich's ergriffen
und – ballte die leere Hand.

Sie tanzte im Scheine der Sterne,
sie glitt in den Morgen hinein,
sie rief mich in sonnige Ferne
allüberall hinter sich drein.

Dann war sie wieder entschwunden –
doch endlich im blinkenden Feld,
da hab' ich die Ehre gefunden,
da hab' ich die Ehre gestellt.

Und als am Himmelsrande
der letzte Stern erblich,
da lag ein Mann im Sande,
der wußte nichts von sich.

Aus einer tiefen Wunde
rann ihm sein rotes Blut –
und er lag doch zur Stunde
gebettet lind und gut. 328

Er war der Not entronnen,
er war befreit vom Bann,
er hatte die Ehre gewonnen,
er war ein geretteter Mann.

Richiza hatte sich weit hinausgelehnt. Da kam aus dem kleinen Fenster links unten ein Lockenkopf, ein Antlitz wandte sich nach oben, und der kleine Kunz fragte mit verhaltener Stimme: »Muhme – wer singt denn so schön?«

Wiederum setzte das Saitenspiel ein, und wieder begann der Sänger im Grübert:

Ich kann es nie vergessen,
wo meine Wiege stand,
seit ich mit Leid muß essen
das Brot im fremden Land.

Sie haben mich vertrieben
an jenem bösen Tag –
ich muß sie dennoch lieben,
solang ich leben mag.

Die alten Glocken klingen
von fern, ich hör' es kaum,
und Heimatlieder singen
mich leis in Schlaf und Traum.

Ich war im Zorn geschieden
und ritt landauf, landab
und finde keinen Frieden,
bis ich die wieder hab' –

Bis ich dich wieder schaue,
wo meine Wiege stand,
du immergrüne Aue,
du liebes Frankenland!

329 Der Knabe Kunz bekam keine Antwort auf seine Frage.

Noch einmal sang der Fremde aus der Tiefe des Waldes. Dann ward es ganz stille unter den Bäumen. Richiza schloß den Laden, löschte das Licht aus und warf sich auf ihr Bett. Und lachend und weinend wiederholte sie in die Kissen hinein die letzte Mahnung des Fremden:

Halt fest im Herzen verschlossen,
was dir mein Bote gesagt,
und warte unverdrossen,
bis daß der Morgen tagt!


In der Frühe forschte sie wohl eifrig nach dem fremden Manne. Der aber war auf seinem Klepper vor Tau und Tag aus den Toren geritten.

 


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