Sophokles
Elektra
Sophokles

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierter Auftritt

(Orest und Pylades kommen, eine Urne tragend)

Orest: Ihr Frauen! sagt, hat man uns recht beschieden,
und sind wir auf dem rechten Weg, wohin wir streben?

Eine der Frauen: Was suchst du, Fremder, und was wünscht du hier?

Orest: Ich forsche lange schon, wo Aigisthos wohnt.

Eine der Frauen: Dann bist du hier am rechten Ort,
und der dich herwies ohne Tadel.

Orest: Wer von euch wohl kündigt drinnen an,
daß ich, so wie gewünscht, gekommen bin?

Eine der Frauen: Diese hier, denn die Nächstverwandte muß die Botin sein.

Orest: So gehe, Mädchen, und melde drinnen, daß ein
Mann aus Phokis den Aigisthos sucht!

Elektra: O wehe mir! Ihr bring doch für die Kunde,
die wir gehört, nicht greifbaren Beweis?

Orest: Ich weiß von deiner Kunde nichts! – Doch mir befahl
der alte Strophios, zu berichten von Orest.

Elektra: Was ist es, Fremder? Furcht beschleicht mich!

Orest: In diesem engen Aschekrug überbringen wir,
wie du hier siehst, des Toten kleinen Rest!

Elektra: O ich Elende! So steht mir hier vor Augen
die Summe meines Leids!

Orest: Wenn du das Unheil des Orest beklagst, so wisse,
daß dies Gefäß hier seinen Leib bedeckt!

Elektra: Gib her, o Fremder, bei den Göttern, wenn dies
Gefäß ihn birgt! – , daß ich's mit Händen fasse
und mich und meinen ganzen Stamm
beweine und beklage mit dieser Asche!

Orest: Wer sie auch sein mag, gebt es ihr! Denn sie
bittet darum nicht in feindlicher Gesinnung,
sondern als Freundin oder Blutsverwandte.

(Elektra wird die Urne gereicht)

Elektra: O Angedenken an den liebsten mir der Menschen,
einzig geblieben mir vom Leben des Orest!
Wie fern den Hoffnungen, mit denen ich
dich ausgesandt, empfang ich dich zurück!
Jetzt halt ich dich als leeres Nichts in Händen,
und hab dich doch, o Jüngling, blühend ausgesandt!
Ach, wär ich damals selbst entflohn dem Leben nur,
eh' ich ins fremde Land dich hab geschickt,
nachdem ich dich mit diesen beiden Händen
gestohlen und gerettet hatte vor dem Mord,
durch den du selbst an jenem Tag tot niederfallen
und dir vom väterlichen Grab
den gleichen Teil erlosen solltest!
Nun bist du fern der Heimat, ausgejagt in fremdes Land,
als Flüchtling elend umgekommen, der schwesterlichen Huld beraubt,
und nicht mit eignen Händen hab ich Arme dich
mit Waschungen gesalbt und aufgenommen
aus der hell entfachten Feuerglut,
wie es der Brauch, als arme Last!
Ein kleines Häuflein kommst du her, in engem Raum!
O weh mir Armen, über die vergebne Pflege jener Zeit,
die ich so oft auf dich mit süßer Mühe hab gewandt!
Denn nie hast du so sehr der Mutter angehört wie mir
und keiner nährte dich denn ich,
und ›Schwester‹ riefst du immer mich vor allen an.
An einem Tag ist dies hinweggewichen, da du starbst!
Dem Wirbelsturme gleich, der alles rafft hinweg,
bist du enteilt. Enteilt der Vater auch! Und ich starb selber dir,
weil dich entriß der Tod, und unsre Feinde lachen
und vor Freude rast die Rabenmutter, vor der verborgen
du mir heimlich Kunde gabst,
daß du ihr einst als Rächer zu erscheinen kämst!
Doch dies hat nun der böse Daimon,
der deine wie der meine, hinweggenommen,
der dich so mir wiedergab: statt der liebsten
Gestalt Asche nur und leere Schatten!
Weh mir!
Ach, ärmster Leib! – weh, weh!
Auf düstern Pfaden fortgesandt, o Liebster,
wie verdirbst du mich!
Ja, du verdirbst mich, brüderliches Haupt!
So schließe mich doch mit hinein in dieses enge Haus,
mich Nichts, in dieses Nichts,
auf daß ich drunten mit dir künftig wohne,
denn auch solange du hier oben weiltest,
da teilt ich alles stets mit dir
und sehne mich, daß ich, gestorben,
nicht fern von dir im Grabe weil,
denn nur die Toten selbst sind ohne Leid!

Chor: Von einem Sterblichen stammst du, Elektra!
Bedenke es! und sterblich war Orest!
Drum klage nicht zu sehr!
Uns allen steht dies auch bevor!

Orest: (der Elektra während ihrer Rede erkannt hat)
Weh mir! was sage ich? Wie ratlos ist mein Wort!
Bezähmen kann ich meine Zunge länger nicht!

Elektra: Welcher Schmerz hat dich erfaßt? was sprichst du so?

Orest: Ist dies Elektras herrliche Gestalt?

Elektra: Sie ist's! und trostlos steht's um sie!

Orest: Ach, wie unselig ergriff dich das Geschick!

Elektra: Du klagest, Fremder, doch nicht um mich?

Orest: O herrlicher Leib! so unwürdig und gottlos zerstört!

Elektra: Sprichst du so bitter, Fremder, von keiner anderen als mir?

Orest: Weh deiner kummervoll und ehelos verlebten Zeit!

Elektra: Was blickst du, Fremder, mich so seufzend an?

Orest: Ich ahnte nichts von meiner Not!

Elektra: Wie lehrten meine Worte dich's?

Orest: Gezeichnet seh ich dich von vielen Leiden!

Elektra: Und siehst doch wenig nur von meinen Übeln!

Orest: Wär's möglich, noch ärgere zu schaun als die?

Elektra: Da ich zusammen mit den Mördern leb –

Orest: Wessen Mördern? Worauf deutest du?

Elektra: Des Vaters! – Und gezwungen dien ich ihnen!

Orest: Welcher Mensch unterwirft dich solchem Zwang?

Elektra: Mutter heißt sie! doch gleicht sie einer Mutter nicht!

Orest: Wodurch? Mit Händen, Mangel und jeder Not?

Elektra: Mit Händen, Mangel und jeder Not!

Orest: Und niemand, der helfen und es hindern könnte?

Elektra: Nein, denn der einzge der mir war, den brachtest du als Asche heim!

Orest: Ach, Unglückselige, wie beklag ich dich!

Elektra: Als einziger von allen Menschen erbarmst du dich!

Orest: Weil ich als einziger am gleichen Übel leide!

Elektra: So bist du doch nicht etwa unseren Geschlechts, uns blutsverwandt?

Orest: (auf den Chor deutend)
Ich würd es sagen, wären diese wohlgesinnt.

Elektra: Sie sind's! du redest vor Vertrauten!

Orest: So stell beiseit den Aschekrug und hör es an!

Elektra: Nein, bei den Göttern, Fremder! tu mir dies nicht an!

Orest: Folg meinem Wort, und fehlen wirst du nicht!

Elektra: Nein! bei deiner Wange! nimm mir nicht mein Teuerstes!

Orest: Laß es, sage ich!

Elektra: Weh mir Unglückseliger,
um dich, Orest! man beraubt mich deines Grabs!

Orest: Nicht solche Klage! du sprichst nicht recht!

Elektra: Wie, klag ich um den toten Bruder nicht zu recht?

Orest: Es ziemt dir nicht, derart von ihm zu reden!

Elektra: So unwürdig bin ich des Toten?

Orest: Nicht unwürdig, doch trifft's dich nicht!
(er ergreift die Urne, die sie noch festhält)

Elektra: Wenn doch Orests Leib in meinen Händen ruht!

Orest: Nicht des Orests! nur zum Schein so hergerichtet!

Elektra: (überläßt ihm die Urne)
Wo aber dann ist das Grab des Unglückseligen?

Orest: Nirgends! denn wer lebt, der braucht kein Grab!

Elektra: Was sagst du, Jüngling?

Orest: Ich lüge nicht!

Elektra: So lebt der Mann?

Orest: Wenn Leben ist in mir!

Elektra: Du? – du bist es?

Orest: Betrachte hier des Vaters Siegel, und sieh, ob ich die Wahrheit sprach!

Elektra: O liebstes Licht!

Orest: Ja, gewiß das liebste mir!

Elektra: O Stimme! So kamst du denn?

Orest: Hör sie von andern nicht!

Elektra: Hält meine Hand dich wirklich fest?

Orest: Wie sie mich künftig immer halten soll!

Elektra: O liebste Fraun, ihr Bürgerinnen!
Seht hier Orest, der erst durch schlaue List
verstarb, und listig sich gerettet hat!

Chor: Wir sehn es, Kind! und Tränenflut entschleicht
bei solcher Fügung unsrem Aug'!

Elektra: O teurer Sproß!
Sproß des mir liebsten Stammes!
Du kamst, du fandest, sahst, die du ersehntest!

Orest: Ich kam! doch schweige still und warte!

Elektra: Warum?

Orest: Besser, du schweigst, damit uns drinnen niemand hört!

Elektra: O nein! bei Artemis, der Unbezwungenen!
Niemals will ich zittern
vor der unnützen Last
der Weiber dieses Hauses!

Orest: Bedenke, daß auch in Weibern Ares lebt!
Du weißt es gut, da du es selbst erfahren!

Elektra: (aufschluchzend)
O wehe, o Götter, wehe!
Du erregst unverhüllt unser
nimmer zu tilgendes,
nimmer zu lassendes Leid!

Orest: Ich weiß! doch erst wenn die Gegenwart
es rät, ist dieser Dinge zu gedenken!

Elektra: Oh, jede Zeit gilt mir
als gegenwärtge Zeit,
mit Recht dies auszusagen;
den kaum bekam ich frei den Mund!

Orest: Das sag ich auch! Drum wahre ihn dir so!

Elektra: Wodurch?

Orest: Wo nicht die Zeit ist, meide lange Reden!

Elektra: Wer wollte wohl, da du erschienst,
die Worte gegen Schweigen tauschen,
da ich dich unverhofft gesehen hab!

Orest: Du sahst mich, weil mich Götter trieben herzueilen!

Elektra: So weist du mich auf noch höhere Gunst,
wenn dich ein Gott hierhergeführt in unser Haus!
Dein Daimon sandte dich!

Orest: Zwar will ich dir die Freude nicht verwehren,
doch fürchte ich, sie überwältigt dich zu sehr!

Elektra: Oh, da du nach langer Zeit
den liebsten Weg gewürdigt hast,
mir zu erscheinen:
Nicht, weil du mich so mühbeladen siehst ...

Orest: Was soll ich nicht tun?

Elektra: Nicht beraube mich der Wonne deines Angesichts,
daß ich es misse!

Orest: Ich zürnte selbst, wenn andere dies täten!

Elektra: So gönnst du mir's?

Orest: Wie sollt ich nicht!

Elektra: Ihr Lieben! eben vernahm ich die Stimme,
auf die ich nicht mehr hoffen durfte.
Verhalten hatt' ich meine Klage,
lautlos und ohne Jammerschrei,
als ich Arme vernahm, daß du gestorben seist!
Jetzt aber halt ich dich!
Du zeigst mir dein teures Angesicht,
das ich auch in der Not niemals vergäße!

Orest: Spare dir den Überfluß der Worte
und sprich mir weder davon,
wie verderbt die Mutter ist,
noch wie Aigisth das Erbgut
unsres väterlichen Stamms erschöpft,
verpraßt oder sinnlos zerstreut!
Denn über jedes Zeitmaß hinaus
ginge diese Rede dir!
Nur was mir jetzt dienlich ist,
das nenne mir: wie wir, sei's offen,
sei's im Verborgenen, das Lachen
unserer Feinde auf diesem Wege hemmen,
doch so, daß dich die Mutter nicht erkennt
an deinem strahlenden Gesicht, sobald
wir zwei das Haus betreten.
Nein, wehklage weiter, als sei das Unheil
nicht nur zum Schein verkündet worden,
dann wirst du dich künftig freuen
und ungehemmt lachen können!

Elektra: Ja, Bruder, so wie dir's beliebt,
so will ich's tun! Da ich die Freuden
von dir empfangen und nicht selbst errungen habe,
so wollt ich nicht, dich auch im kleinsten nur betrübend,
eignen großen Vorteil finden.
So diente ich wahrhaftig auch nicht recht
dem Daimon, der uns jetzt zur Seite steht.
Wie es hier steht, das weißt du selbst,
da du gehört hast, daß Aigisthos nicht
im Haus, die Mutter aber drinnen ist.
Fürchte nicht, daß sie mich jemals
freudig lachen sehen wird, denn tief
eingesogen füllt mich uralter Haß,
und dann, da ich nun dich gesehen habe,
so werd ich niemals enden, vor Freude
Tränen zu weinen. Denn wie sollt ich damit
enden, da ich dich auf diesem einen Weg
tot wie lebendig hab gesehn!
Unvorstellbares tatest du mir, daß,
träte der Vater lebend vor mich hin,
ich's nicht mehr für ein Blendwerk hielt,
sondern darauf vertraute, ich sähe ihn!
Da du mir endlich nun auf solchem Weg
gekommen bist, geh du voran, und lenk's
nach deinem Sinn! Wär ich allein geblieben,
so hätt' ich eines nicht verfehlt:
mich ruhmvoll selbst zu retten
oder edel in den Tod zu gehen.

Orest: Schweige, ich bitte dich! denn ich hör
durchs Tor von drinnen jemand kommen!

Elektra: (mit verstellter Stimme)
Tritt ein, Fremder,
zumal du bringst, was keiner wohl im Haus
abweisen noch freudig empfangen wird!

Der Alte: O ihr allergrößten sinnberaubten Toren!
Sorgt ihr euch denn gar nicht mehr um euer Leben?
Oder ist euch kein Verstand mehr eingeboren,
daß ihr, nicht nahe dem größten Unheil, nein,
mitten drinnen steht, es nicht bemerkt?
Hätt' ich indessen nicht die ganze Zeit
an diesem Tor gewacht, ihr wärt mit euren Plänen
früher im Haus gewesen als mit euren Leibern!
Drum hab ich meine Vorsicht schirmend vorgestellt!
Reißt euch los von euren langen Reden
und diesem nicht zu sättigendem Lustgeschrei!
Kommt, tretet ein! denn Zaudern ist von Übel
bei solchen Dingen und sich loszureißen an der Zeit!

Orest: Wie soll es weitergehn, wenn ich nun drinnen bin?

Der Alte: Gut! Denn vorgesorgt ist, daß keiner dich erkennt!

Orest: So hast du meinen Tod gemeldet?

Der Alte: Verlaß dich drauf: ein Mann des Hades bist du hier!

Orest: Erfreut sie diese Botschaft? Was sagen sie?

Der Alte: Das sag ich dir nach dem Werk! Doch jetzt
beglückt sie alles, auch das, was nicht beglückt!

Elektra: Wer ist das, Bruder? Bei den Göttern, sprich!

Orest: Errätst du's nicht?

Elektra: Ich entsinne mich seiner nicht!

Orest: Weißt du nicht, wem du mich einst in Händen gabst?

Elektra: Wem? Was meinst du?

Orest: Ihm, dessen Hand mich heimlich,
dank deiner Vorsicht,
in das Land der Phoker trug!

Elektra: So wär er der, den ich allein aus vielen
treu erfand bei unsres Vaters Mord?

Orest: Er ist es! Keiner Frage braucht es mehr!

Elektra: O liebstes Licht! O einziger Erretter
des Hauses Agamemnons! Du hier?
Bist du es wirklich, der ihn und mich
gerettet hat aus vieler Not?
O ihr teuren Hände und der süße
Dienst deiner treuen Füße!
Warum verbargst du dich, längst hier,
und hast mir nicht entdeckt, nein,
hast mit Worten mich vernichtet,
der Taten süßeste, die du für mich gehabt?
Heil dir, Vater! denn einen Vater meine ich
in dir zu sehn! Dir alles Heil!
Und wisse, daß ich dich von allen Menschen
am meisten gehaßt hab wie geliebt an einem Tag!

Der Alte: Laß es genug sein! Denn was indes geschah,
da werden noch viele Nächte umlaufen
und grad so viele Tage, um dir dies, Elektra,
genauest kundzutun.
Euch beiden aber, die ihr hier steht, euch sage ich:
Jetzt ist die Zeit zu handeln! Jetzt ist Klytaimnestra
noch allein, von keinem Mann bewacht! Säumt ihr,
bedenkt, daß ihr mit andren und Geschickteren
in größrer Zahl zu kämpfen haben werdet!

Orest: Keiner langen Reden mehr bedarf dies Werk,
nein, eilends gilt's ins Haus zu gehen, sobald
wir noch verehrt der Götter heil'gen Sitz,
den unsrer vordren Tore Raum in sich umschließt!

(Sie beten mit erhobenen Händen stumm am Tor und gehen ins Haus. Elektra tritt zum Altar des Apollon.)

Elektra: O Herr Apollon! Hör die beiden gnädig an,
und mich, die ich so oft schon vor dich
hingetreten bin, so wenig ich auch hatte,
mit nimmermüd erhobner Hand. Auch jetzt,
o Lykischer Apoll, bitte, knie und flehe ich
mit dem, was ich vermag zu geben:
sei hold gesinnt, ein Helfer uns bei diesem Plan
und zeige allen Menschen, wie Götter
verletzte heilge Scheu erwidern!
(Auch Elektra geht in Haus)

Chor: Seht, wie blutschnaubend sich Ares heranbewegt!
Die Schwelle dieses Hauses überschritten jene schon,
die aufspüren alle bösen Freveltaten,
die Hunde, denen nichts entrinnt:
die schrecklichen Erinnyen!
daß meiner Seele Traumgebild verharrend
länger nicht im Leeren schwebt.

Herangeführt in die Gemächer,
so wird mit list'gem Fuß
der Unterird'schen Rächer schon
zum altgepriesnen Vatersitz
mit blutgetränktem Mord in seiner Hand,
geführt von Hermes, Maias Sohn,
in Nacht den Trug verhüllend,
nun länger nicht mehr harrend,
bis grad ins Ziel hinein!


 << zurück weiter >>