Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Opfer

In den nächsten Wochen besuchte die Gesellschaft alle Märkte und Rummelplätze, die sich in gerader Linie auf dem Wege nach Berlin befanden.

Die Ausweispapiere auf den Namen der Familie Delitzsch wurden überall von der Polizei und den Gendarmen anerkannt, und die Verbrecher begannen sich tatsächlich so geborgen zu fühlen, daß sie ihre frühere Lebensfreude wiederbekamen und, wenn es die Umstände zuließen, auch in Saus und Braus das gestohlene Geld vergeudeten.

Solange sie vor ihrer Bude standen und ihr Scheingeschäft betrieben, gaben sie sich als harmlose und unbemittelte Leute aus, denn die Einnahmen waren in der Tat derartige, daß eine Familie von vier Köpfen nur ein sehr notdürftiges Leben hätte fristen können. Diese Artistengesellschaft aber war auf den Gang des Geschäfts nicht angewiesen, sie hatte reichlich zuzusetzen und konnte sich jeden erdenklichen Luxus gestatten. Und von dieser Wohlhabenheit wurde ausgiebig Gebrauch gemacht.

Der alte Herr Delitzsch hätte jetzt seinen Wanderwagen nicht mehr wiedererkannt. Das bisherige Mobilar wurde verkauft und durch neues ersetzt. In jeder größeren Stadt wurden Einkäufe gemacht und Handwerker herangezogen. Vor allem aber lag es Willem daran, die großen Summen, die er noch mit sich führte, feuer- und diebessicher zu verbergen. Er kaufte für diesen Zweck eine Anzahl Einmauerschränke, die er in den doppelten Fußboden einließ und geschickt verdeckte. In einem thüringischen Ort wurde das kleine Wägelchen, das die Reise bis hierher mitgemacht hatte, verkauft, das Pferdchen aber als dritter Vorspann verwendet.

Zwischen ihren vier hölzernen Wänden führten die Verbrecher natürlich ein Schlemmerleben, sie hatten Wein und Spirituosen in Menge, rauchten die besten Zigarren und Zigaretten und zahlten jeden Preis für rationierte Lebensmittel. Kamen sie in eine größere Stadt, dann schlossen sie ihren Wagen zu und besuchten als »feine Herrschaften« Theater und Bars, denn die zu einem solchen Auftreten erforderliche Kleidung hatten sie sich längst beschafft.

Das Doppelleben fiel niemand auf, auch nicht den Kollegen vom Rummelplatz, denn man wußte nicht, welche Riesengeschäfte der Nachbar mit seiner Spezialitätenbude auf den vorigen Märkten gemacht hatte. Und etwas Glück gehört eben zu den wichtigsten Lebensbedingungen des fahrenden Volks. Heute viel, morgen garnichts. Und deshalb neidete der eine nicht das Glück des anderen. Was der Zufall gestern dem Kollegen in den Schoß warf, das könnte morgen oder übermorgen ebensogut in seine Kasse fließen.

Und eines Morgens in aller Frühe zogen die Gäule mit hängendem Kopf den Wanderwagen und seine Insassen durch die Charlottenburger Chaussee über Moabit nach dem Gesundbrunnen, wo auf einem großen Rummelplatz Aufstellung genommen werden sollte.

Der schwarze Karl, der heute Kutscherdienst hatte, sah stark verändert aus. Seine dichte Mähne war dem Scherenmesser zum Opfer gefallen, und ein buschiger tiefdunkler Schnurrbart bedeckte seine Lippen. Die frühere gelbe Gesichtsfarbe hatte sich durch den Aufenthalt in frischer Luft stark gebräunt, und durch die körperliche Betätigung als Ringkämpfer war seine sonst schlanke Gestalt breiter und massiger geworden. Gleichgültig, mit der dampfenden Pfeife im Munde, saß er auf dem schmalen Kutscherbock und machte den Eindruck, als ob er in seinem ganzen Leben keinen anderen Beruf gehabt und kein Wässerchen hätte trüben können.

An Ort und Stelle angelangt, wurde gefrühstückt, und zwar auf einer Art Veranda, die als Verlängerung des Wagens angebaut war und mit ihren rot-weißen Vorhängen einen schmucken Eindruck machte.

Hier saß die Gesellschaft in der durchsonnten Morgenluft des beginnenden Sommers an einem weiß gedeckten Tisch, auf dem eine mächtige Kaffeekanne inmitten einer Galerie reich beladener Teller dampfte.

Willem war noch im Nachtgewand. Feines Hemd mit rot gestrickter Borde, aber die Ärmel hochgekrempelt, so daß die nackten Arme ihre häßlichen Tätowierungen zeigten. Die Brust war geöffnet, und der Hemdkragen hing an beiden Seiten auf die Schultern herab, was der ganzen Erscheinung trotz der äußerlich eleganten Aufmachung etwas Rowdyartiges verlieh. Sein Gesicht hatte zwar immer noch den blassen Schimmer, aber es war voller geworden. Neben ihm saß Lucy und spielte die Hausfrau. Sie trug ein feines Spitzennegligé und ein dazu passendes Häubchen auf dem Kopf. In wirren Strähnen hingen die unfrisierten Haare um die Stirn. Zur Schonung des kostbaren Nachtkleides hatte sie eine schmutzige und geflickte blaurot gestreifte Küchenschürze umgebunden. Irma war in ihrer Toilette schon etwas weiter vorangeschritten und mit einem blauseidenen, mit schwarzem Spitzenvolant geschmückten Unterrock und einer mit rosafarbenen Bändern durchzogenen Untertaille angetan. Damit die frisierten Haare nicht in Unordnung geraten, hatte sie sich einen grünen golddurchwirkten Schleier um den Kopf gebunden. Karl war soeben mit der Fütterung seiner Pferde fertig geworden und näherte sich der Tischgesellschaft. Mit einem kurzen Gruß nahm er Platz und warf seine schmutzige Mütze auf das weiße Tischtuch.

Sei es nun, daß der heimatliche Boden gewisse Erinnerungen aufkommen ließ und das Gefühl der Sicherheit verdrängte oder daß die Nachtruhe keine gute war, die Gesellschaft befand sich jedenfalls in denkbar schlechtester Laune. Niemand sprach ein Wort.

Als das Frühstück fast beendet war, glaubte die geschwätzige Lucy durch einen Witz die gedrückte Stimmung heben zu können und sagte mit absichtlicher Trockenheit: »Det hätte ick doch nie jeträumt, det ick in Berlin uff 'm Balkon von meine eijene Willa frühstücken könnte.« Willem blieb ihr die Antwort nicht schuldig und erwiderte ebenso gleichgültig: »Deshalb brauchste dir nich jleich inzubilden, det de 'ne Millioneese bist, vorläufig sieht det man bloß so aus, als ob de in'n Karnickelstall von 'ne Laubenkolonie wohnst.«

Karl und Irma schwiegen.

Am Vormittag gingen die beiden Männer in die Stadt und machten Besorgungen, suchten auch verschiedene ihnen bekannte Kneipen in der Nähe des Weddings auf, fanden aber vieles verändert. Ihr Stammlokal wollten sie vorläufig noch nicht besuchen, weil sie fürchteten, dort erkannt zu werden, wie sie sich überhaupt vornahmen, die Gegend der Friedrichstadt zu meiden, weil es immerhin möglich sein könnte, dort einem der zahlreichen Kriminalbeamten in die Arme zu laufen, die sich ihrer Bilder im Verbrecheralbum vielleicht erinnerten.

Kurz vor der Vorstellung kam ein Schutzmann in die Bude und ließ sich die Papiere aushändigen, die er am nächsten Tage zurückbringen wollte. Willem stutzte einen Augenblick, verbarg aber geschickt seine innere Unruhe. Als der Beamte fortgegangen war, schimpfte und fluchte er über die »verdammte Bierokratie« in Berlin.

Der Rummel begann und Lucy schrie ihre Anpreisungen wie immer den halbwüchsigen Burschen und Mädchen zu, die sich vor ihrem »Theater« angesammelt hatten. Die Wirkung war aber diesmal eine ganz andere als in der Provinz. Die radaulustige Menge verhöhnte die Ausruferin, machte Zwischenrufe wie: »Schwindel« – »Mumpitz« – »die is ja doof« usw., und als Willem heraustrat und energisch zur Ruhe mahnte, wurde er mit Ausdrücken wie »Aujust« – »Lattenfritze« – »Poosbacke« und ähnlichen beworfen. Wenn Karl und Irma nicht zur Besonnenheit geraten hätten, wäre es zu einer heillosen Schlägerei gekommen.

Noch schlimmer verlief die erste Vorstellung. Die aufgeweckten Berliner ließen sich nicht zu Narren machen, sie verlangten für ihre fünfzig Pfennig eine artistische Arbeit und brüllten: »Schwindel!«, »Mumpitz!«, »Haut ihm!« bei jeder Nummer. Irmona, die Schlangenbeschwörerin, wurde ausgepfiffen und mußte sich zurückziehen, »Isedor mit de Stahlmuskeln« wurde verulkt und mit Ausdrücken belegt, wie »jelber Affe!«, »Isidor mit de Pappjewichte!«, »Schlappschwanz« usw. Kaum hatte der Ringkampf begonnen, da hieß es: »Falle!« – »Betrug!« – »Polizei!«

Unter fortgesetztem Schreien und Pfeifen leerte sich die Bude, und es sah beinahe so aus, als ob der gereizte Pöbel das ganze Brettergerüst stürmen wollte.

Willem zog sofort die Vorhänge zu und begab sich mit seinen Leuten in den Wagen.

Alle empfanden die schwerwiegende Bedeutung des heutigen Reinfalls. Schweigend und in Nachdenken versunken saßen sie hinter verschlossenen Türen in dem nur von der untergehenden Sonne beleuchteten Zimmer und kamen sich vor wie wilde Tiere, die in einen Käfig hineingepeitscht wurden.

Willem unterbrach zuerst die Stille und sprach mit heiserer Stimme, denn das Schreien hatte ihn angestrengt: »Kinder, die Sache ist man, ihr seht, de Berliner Jungs sind keene dämlichen Bauern nich. Wir hab'n 'ne falsche Rechnung uffjemacht, un et sieht so aus, als ob di Sache schief jeht. Uff eure künstlerischen Kräfte kann ick mir nich verlassen, ihr seid zu doof for det intellijente Publikum! Ick muß mein Projramm also ändern. Weg mit de Irmona und mit Isedorn! Willem is nich uff n Kopp jefallen. Ick bin 'n jeborner Zirkusdirektor und werde den Leuten zeijen, wat 'ne Harke is. Außerdem is det meiner nich würdich, det ick mir hier wie 'n tanzender Hammel als Ringkämpfer mit Karln produziere. Morjen werde ick mir informieren und neuet Personal ansteill'n, kostet wat et kost!«

Der so böse angefangene Abend endete mit einem gemeinschaftlichen Bummel in der Brunnenstraße, wo bei Wein, Bier und Schnaps alle Ärgernisse vergessen wurden.

Am nächsten Morgen erschien der Schutzmann wieder und ersuchte »Herrn Delitzsch« nach dem benachbarten Polizeirevier zu kommen.

Willem sah den Beamten fragend an und vermochte nur die Worte: »Nanu, wat is denn?« herauszubringen. Die Beine waren ihm schwer wie Blei, als er den Weg zur Wache antrat. Karl drückte sich in eine Ecke des Wagens und warf der Irma einen vielsagenden Blick zu. Lucy kleidete sich rasch an und folgte unauffällig ihrem Geliebten.

Nach einer halben Stunde vergeblichen Wartens kam der Sistierte endlich aus der Wache heraus. Lucy hatte sich schon mit dem Gedanken abgefunden, daß man ihn festgenommen habe, und Pläne geschmiedet, wie sie sich selbst rasch in Sicherheit bringen könnte. Umso größer war die Freude des Wiedersehens. Willem grinste wie immer, wenn er einer Gefahr entgangen war, und sagte höhnisch: »So'n Quatsch, allerhand Fragen hab'n se mir vorjelejt von wejen meine Steiern und mein'n bisherigen Aufenthalt un so. Wenn die Blase det Arbeeten jelernt hätt wie icke und sich so quälen müßt' wie unsereens, denn würden se nich sonne uffjeräumten Köppe hab'n, een'n mit so'n Quatsch zu belästijen. Is man jut, det ick de Prüfung bestanden hab', die Kanaken hätt'n mer sonst injelocht. Aber Willem is helle. Nu jeh man nach Hause, Lucy, und tröste de Hinterbliebenen, ick will mir jetzt mal nach jeeignete Kräfte for mein'n Zirkus umseh'n!«

Während das Mädchen leichten Herzens davoneilte, um die frohe Botschaft dem anderen Paare mitzuteilen, ging Willem nach der Invalidenstraße, wo ein Agent für »Spezialitäten« wohnte.

Karl und Irma hatten sich inzwischen schon auf das Schlimmste vorbereitet und die notwendigsten Kleidungsstücke zusammengepackt, um zu »teilachen«. Willems Kaltblütigkeit und Geschicklichkeit rettete wieder einmal die ganze Gesellschaft, die denn auch in dem anschließenden Zechgelage zur Begießung des »Sieges über die Polente« die Intelligenz ihres Führers gebührend pries.

Am Nachmittag stand eine kleine Volksmenge vor dem Wanderwagen der Firma Delitzsch. Männlein und Weiblein in den verschiedensten Altersstufen und Erscheinungen, »Spezialitäten«, die ihre Kunst dem Herrn Direktor anboten. Dieser »Herr Direktor« aber verstand wohl mit Brecheisen und Dietrichen umzugehen, aber von den Erfordernissen einer Varietébühne hatte er nicht die geringste Ahnung. So entschied er denn nach eigenem Geschmack und engagierte einen Zauberkünstler und eine Kraftdame, die beide in der Zeit von sechs bis zehn Uhr abends aufzutreten hatten. Der Zauberkünstler war ein kleines unscheinbares Männchen mit ergrautem Haar und faltenreichem Gesicht, er sah aus, wie ein ehemaliger Schmierenschauspieler und war während des Tages gegen geringes Entgelt als Bureaudiener beschäftigt.

Die Kraftdame stellte so ungefähr das Gegenteil dar. Alles an ihr war groß, dick und massig, besonders die Form des Busens, und dieser Eigenart verdankte sie ihre »Spezialität«, denn sie war imstande, auf diesen Körperteilen erhebliche Gewichte zu tragen und von einem Tablett ein reichliches Abendessen zu sich zu nehmen, ohne in der Atmung behindert zu sein. Diese »Nummer«, die zweifellos dem Geschmack der Rummelbesucher des nördlichen Berlin entsprach, wurde als »Wanda, die Riesendame« angekündigt und ein Dekorationsmaler bekam den Auftrag, das Bild der Heldin und ihre Leistungen an der Front der Schaubude zu verewigen.

Wanda hatte erst allmählich ihre Kraft und Fülle erworben. Im jugendlichen Alter kam sie als Kellnerin in eine Kneipe mit roter Laterne, wo sie animierend wirkte und sich bald der heimlichen Prostitution ergab. Das träge Leben und die ungeheuren Mengen Bier, die sie täglich durch die Kehle goß, schwemmten den Körper auf und verliehen ihr nach allen Seiten eine beispiellose Rundung, die schließlich nicht mehr »animierend« wirkte, so daß sie den Kellnerberuf mit dem eines Straßenmädchens vertauschen mußte.

Durch eine zufällige Spielerei entdeckte sie die Tragfähigkeit ihrer weiblichen Attribute und zugleich ihr Talent als »Varietékünstlerin« .

Seitdem ging sie am Tage auf den Männerfang aus und zeigte sich, wenn sie Engagement fand, des Abends als Riesendame in einer Schaubude der zahlreichen Rummelplätze Groß-Berlins.

Der Zufall wollte es, daß Wanda in demselben Hause wohnte, wie die Trippeljule und die Buttermamsell. Und da die Berufsgenossinnen des Lasters stets zusammenhalten und Leid und Freude miteinander teilen, wenn nicht gerade Liebe und Eifersucht die Harmonie zerstören, so hatte die Riesendame nichts Eiligeres zu tun, als den beiden Freundinnen mitzuteilen, daß sie das Glück gehabt habe, bei dem »Herrn Direktor Delitzsch« auf dem Rummelplatz des Gesundbrunnens ein gutes Engagement zu finden. Und die beiden Mädchen wiederum hielten es für selbstverständlich, die Kunst ihrer Freundin Wanda zu bewundern und faßten den Entschluß, am kommenden Sonntag den Rummelplatz und die Spezialitätenbude zu besuchen.

Als die beiden inmitten einer kleinen Volksansammlung vor dem bunt bemalten Schaugerüst standen und das primitive Bild der Riesendame mit den schwarzen Gewichten auf der Brust begafften, stieß die Trippeljule plötzlich ihre Freundin, die Buttermamsell, mit dem Ellenbogen an und flüsterte ihr im Tone höchster Überraschung zu: »Du, Menschenskind, ick weeß nich, die Sache kommt mer komisch vor, ick laß mer totschlagen, wenn det Luder an de Kasse, die mit det hellblaue Phantasiekostüm nich de Lucy von dunnemals is!«

»Siehste, Jule«, gab die Buttermamsell zurück, »det wollt' ick dir jerade ooch sagen, zum verwechseln ähnlich, und verschwunden is se ooch. Der Sache müssen wir uff'n Jrund jehen und …«

Das Mädchen kam nicht dazu, den Satz zu beenden, denn im selben Augenblick traten Willem, Karl und Irma aus der Bude und begannen ihre Anreißerarbeit. Die beiden Freundinnen hielten sich fest, um nicht vor Erstaunen umzusinken und starrten angesichts dieser Überraschung eine ganze Weile mit geöffnetem Munde und entsetzten Augen auf das Bild, das sich ihnen darbot.

»Menschenskind«, unterbrach die Trippeljule endlich das Schweigen der Verblüffung, »haste Worte, de janze Mischpoche uff de Bretter? Siehste, det kommt allens von dem Jriff, den der Käse-Willem jemacht hat, und unsereens denkt, de beeden Kerls hätten dabei ins Jras jebissen. Weeste noch, wie de Lucy un de Irma, de beeden Schicksen, sich hatten, als wer ihnen unsere Meinung jeijten? Beinahe hätt' de Irma dir noch verbimst. Weeste, ick mach' mer'n Jeck und sprech de Bande an. Det macht Laune, wenn se de Oogen uffreißen und merken, det se entlarvt sind!«

»Am meisten wundert mir«, erwiderte die Buttermamsell etwas nachdenklich und gedehnt, »wie sich der Karl verändert hat, und ick muß jestehen, det er mir heute noch besser jefällt als damals, er hat wat eijenartich her-herotischet an sich und ick fühle mir zu dem Mann hinjezogen, als ob er mir verhypnotisiert und behext hätte. Wejen dem Karl kam ja ooch der janze Klamauk mit de Irma, dem ollen Drachen. Ick bin ja ooch dafür, det wir die Bande ansprechen, aber den Direktor müß'n wer verulken, den nennen wer ›Käse-Delitzsch‹!«

Die Trippeljule lachte laut auf. »Det laß man lieber, weeßte?« sagte sie beschwichtigend, »mit sonne reichen Leute darf man's nich verderben, man weeß nich, wie man se jebrauchen kann. Ick bin für'n vornehmen Ton, komm', wir jehen rin!«

Lucy traute ihren Augen kaum, als sie plötzlich die beiden ehemaligen Freundinnen vor sich sah, machte aber gute Miene zum bösen Zufallsspiel und unterhielt sich mit ihnen in ihrer freundlichen Art. Inzwischen kamen auch die anderen hinzu und begrüßten die beiden Mädchen; nur Irma war kalt wie Eis, denn sie hatte den Auftritt in Lucys Wohnung nicht vergessen und erinnerte sich auch noch genau der drohenden Worte der Buttermamsell: »Den Karl kriejste doch nich mehr, dafür laß mir sorjen, entweder kommt er zu mir oder er jeht ins Zuchthaus!« Die Vorsicht aber gebot ihr, in diesem wichtigen Augenblick der unerwarteten Wiedererkennung zu schweigen und jede Aufwallung zu unterdrücken.

Die beiden Männer waren ebenfalls bestürzt, ihr Inkognito gelüftet zu sehen, und ein unbehagliches Gefühl beschlich sie in dem Bewußtsein, daß die beiden vor ihnen stehenden Mädchen in die Geheimnisse ihrer Vergangenheit eingeweiht waren. Dabei ahnten sie noch nicht, daß Lucy und Irma aus der Schule geplaudert hatten. Ferner erinnerten sie sich mit Wehmut der beiden Verräter, der Geliebten jener Mädchen, die kurz nach der Landung mit einem Teil des Raubes und dem Flugzeug davongeflogen waren.

Willem, der sofort seine Kaltblütigkeit wiedergewann, hielt es für das Zweckmäßigste, die Trippeljule und die Buttermamsell an sich zu fesseln, um sie nicht aus den Augen zu verlieren und in der Hoffnung, den Aufenthalt des Soldatenrat und des Major durch geschicktes Ausfragen der beiden Dirnen zu ermitteln. Er tat daher sehr freundlich und lud sie ein, nach Geschäftsschluß in seinem Wagen das Wiedersehen bei einem Glase Wein zu feiern …

Die Mädchen verbrachten den ganzen Abend in der Bude und folgten dann der Einladung.

Es ging sehr förmlich und eintönig zu. Die Unterhaltung ergab sehr bald, daß der Soldatenrat und der Major seit jener Zeit sich nicht mehr blicken ließen. Und wenn sie den Weg nach Berlin zurückgefunden hätten, dann wären sie schon der Wohnungsfrage wegen bei ihren früheren Geliebten zuerst eingekehrt.

Umso lebhafter aber wurde die Unterhaltung, als die beiden Mädchen mit dem Versprechen, den alten Freundinnen jeden Abend Gesellschaft zu leisten, Abschied genommen hatten. Denn jetzt konnten die Verbrecher unter sich ihren Gefühlen freien Lauf lassen.

Willem machte mit der Hand eine bezeichnende Bewegung, als der peinliche Besuch außer Sehweite war und sagte ironisch: »Ick dachte, der Affe soll mir lausen, als ick die ekelhaften Weiber an de Kasse sah. Kinder, ick sage euch bloß, die Sache is mulmich. Hoffentlich wissen die Frauenzimmer nich, weshalb wir jetürmt sind!«

Lucy und Irma sahen sich verständnisvoll an, als ob sie einander fragen wollten, wer denn zuerst von ihnen den damaligen Auftritt erzählen sollte. Schließlich aber entschloß sich Irma dazu, weil ihres Karls wegen der Streit ein so böses Ende genommen hatte, und sie begann:

»Du hast janz recht, Willem, wenn du dir vor die Frauensleute in acht nimmt. Als ihr beede in Basel im Krankenhaus lagt und de Zeitungen so ville über euch schrieben, kamen ooch die beiden Meechens zu Lucy, wo ick jrade dabei war, und schimpften über so 'ne dämlichen Kerls, die mit'm Fluchzeugt teilachen und sich denn fassen lassen. Un wir hab'n euch dann verteidicht, weil wir uff unsre Männer so 'ne Ausdrücke wie »Hornvieh« und »Feichlinge« nich sitzen lassen wollten, un ick hätt' se beide ordentlich verbimst, wenn se nich davonjerannt wär'n. Un die eene, die Buttermamsell, die uff Karl 'n Kieker hat, drohte mir am Ende mit de Worte: wenn se Karln nich kriejt, denn kommt er in't Zuchthaus. Habt'r Töne?! Die müßt' ma gleich kalt machen, det Luder!«

Willems Gesicht wurde bei dieser Erzählung immer länger, er biß sich die Lippen wund und knirschte mit den Zähnen. »Nu seh ick, wie allens kommt«, stöhnte er, »die Sache jeht schief! Jebt mer doch, 'n Rat, wat wer mach'n, Kinder! Ihr verdammten Weiber, mit eure zapplichen Schnuten, ihr habt uns alle rujeniert. Ick feif doch druff, wat solche Strichmeechens über mein'n erhab'nen Charakter sagen! Nun reißt man jetzt de Zähne auseinander und sprecht wat, ick bin fertich mit meine Kenntnisse, zum Deibel ooch!« Und seine Faust hieb krachend auf den Tisch, daß die halb gefüllten Gläser in die Höhe sprangen.

Alle schwiegen.

Dann nahm Irma wieder das Wort und sagte bedächtig: »Meener Meinung nach, muß Karl de beiden Meechens fangen, ohne uff'n Leim zu jehen, vasteht sich. Er muß se 'n bisken umschmeicheln un Honich um't Maul schmier'n, bis se allens verjessen hab'n. Solange Karl det tut, feift keen Luder wat!«

Willem schüttelte ungläubig den Kopf und murmelte vor sich hin: »Weiberquatsch!«

Karl, der bisher mit gerunzelter Stirn und finsteren Blicken zugehört hatte, rief jetzt plötzlich dazwischen: »Allens Unsinn! So oder so! Entweder wir jeh'n kaputt oder de Meechens. Kalt mach'n müssen wer se, et jiebt keen andern Auswech!«

Willem schüttelte wieder den Kopf, und durch seinen Körper ging ein kurzes Schaudern. »Nee«, flüsterte er leise, »bloß nich so wat, ick bin keen Freund von de Schlächterei und kann keene Blutwurscht seh'n!«

»Ach wat, Blutwurscht!« erwiderte Karl trotzig, »so dammlich sind wer doch nich, det wer det bisken Lebenslicht mit 'ne harte Kante ausblas'n. Det mach'n wer janz jeräuschlos mit'm Pulver, det ick schon lange bei mir in de Westentasche einjenäht trage, wenn se mir kappen sollten. Mit een'm Schluck schmeiß ick se um. Un denn täusch'n wer 'n Selbstmord aus verschmähte Liebe vor. Unsere Weiber sind doch de besten Zeujen!«

Irma nahm den Vorschlag mit lautem Beifall auf und zeterte: »Det is jut, det is jut, so müssen wer's machen. Karl, du hast 'n Kopp uff'n richtjen Fleck!« Lucy und Willem schwiegen.

Nach einer langen Pause erhob sich der Führer der Verbrechergesellschaft und sagte leise: »Macht, wat ihr wollt, ick wasche meine Hände in Unschuld!«

Dann ging er hinaus und irrte stundenlang in der lauen Nachtluft umher.

Am nächsten Abend kam die Buttermamsell mit trauriger Miene und rot geweinten Augen allein in den Wanderwagen. Die Gesellschaft tat sehr teilnahmsvoll und erkundigte sich lebhaft nach dem Grund ihrer Betrübnis. Als man erfuhr, daß die Trippeljule am frühen Morgen verhaftet worden sei, weil sie einem ihrer Liebhaber eine goldene Uhr gestohlen hatte, bemächtigte sich der Verbrecher eine an Verwirrung grenzende Bestürzung, und sie beeilten sich, was auffällig erscheinen mußte, die Besucherin mit besonderer Liebenswürdigkeit zu bewirten und eine Bowle, die schon bereit stand, aufzutragen. Sei es nun, daß das Mädchen von ihrer Freundin gewarnt wurde oder daß sie die Gefahr instinktiv erkannte oder die plötzliche Liebenswürdigkeit der Leute, besonders der Irma, sie stutzig machte, kurz, sie benutzte eine passende Gelegenheit, ihr Glas mit dem der neben ihr sitzenden Lucy zu vertauschen.

Karl forderte zum Trinken auf, erhob sein Glas und rief: »Trinken wir auf das Wohl unserer alten Freundin, die uns det Verjnüjen macht, aus alter Anhänglichkeit in unserer Mitte zu erscheinen. Sie lebe hoch!«

Etwas gedämpft stimmte sie Gesellschaft in diesen Ruf mit ein, man führte die Gläser nach gegenseitigem Anstoßen an die Lippen und trank.

Im nächsten Augenblick fiel Lucys Kopf wie ein hölzerner Klotz auf die Tischplatte, ihr Körper zuckte kurz auf, dann gab sie kein Lebenszeichen mehr von sich.

In demselben Augenblick war die Buttermamsell mit einem Satz aus dem Wanderwagen gesprungen und lief wie von Furien gepeitscht über den Rummelplatz.


 << zurück weiter >>