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Liebeswerben.

Moritz Feigenbaum war mit Esther Machschewes bisher nur vorübergehend in der Synagoge und bei Wohltätigkeitsveranstaltungen in Berührung gekommen. Jetzt trieb es ihn mit elementarer Gewalt, sich ihr inniger zu nähern. Und da er ihre Lebensgewohnheiten kannte, gelang es ihm bald, ihr zu begegnen und einen Gedankenaustausch anzubahnen.

Esther, die sich in ihrer Umgebung nicht wohl fühlte und außerdem an einer erschlaffenden Langeweile litt, empfand schon nach den ersten Zusammenkünften in der Nähe des jungen Mannes ein erquickendes Gefühl innerer Zufriedenheit, ein bisher unbekanntes Wohlbehagen und eine frohe Gemütsstimmung, die im Gegensatz zu ihrem sonstigen Lebensernst ihr Welt und Menschentum in ganz anderem Lichte erscheinen ließen.

Aus den gelegentlichen Spaziergängen entwickelten sich bestimmte Stelldicheintage, die in einer Konditorei in der Neuen Friedrichstraße mit viel Humor und Gemüt verbracht wurden, und beinahe zum Überfluß noch ein reger brieflicher Verkehr.

Alles dies geschah heimlich ohne Wissen der Mutter; denn nach ostjüdischer Sitte durfte ein Mädchen mit keinem jungen Manne, nicht einmal mit ihrem Verlobten, spazierengehen oder ohne Erlaubnis der Eltern brieflichen Gedankenaustausch pflegen.

Für Esther war demnach der ungezwungene Verkehr mit dem jungen Feigenbaum etwas außergewöhnlich Neues und Fremdartiges. Sie folgte ihrem natürlichen Trieb, ohne sich bewußt zu werden, daß aus dem harmlosen Umgang eine Liebschaft sich entwickeln könnte. Und obwohl die starke Zuneigung, die sie dem jungen Manne entgegenbrachte, nichts anders war als das Erwachen der Mädchenliebe, so verstand sie dennoch nicht, dieses Gefühl vernunftsgemäß richtig zu deuten, schon weil der Begriff Liebe ihr anders anerzogen war, als den Töchtern der westlichen Völker.

Bei den Ostjuden sind die Mädchen sehr früh über den Zweck ihres Daseins aufgeklärt. Sie wissen, daß sie von Gott bestimmt sind, Kinder zu gebären und eine Familie zu gründen. Und der für diesen Lebensberuf erforderliche Mann wird nach Familie, Charakter und Einkommen ausgewählt und dem Mädchen als Gatte zugeführt. Ohne Liebesempfinden wird die ostjüdische Ehe eingeleitet, aber die gemeinsame harte Lebensarbeit und der vererbte Familiensinn, wie besonders auch die herzliche Fürsorge, die die Eltern den Kindern gemeinsam entgegenbringen, führen in der ostjüdischen Ehe meistens zu einer außergewöhnlichen Liebe und Anhänglichkeit, sodaß Ehescheidungen sehr selten sind.

Esther Machschewes war also weit entfernt in Moritz Feigenbaum ihren zukünftigen Gatten zu ahnen.

Bei dem jungen Manne hingegen lagen die Dinge ganz anders. In der Stadt Posen von Eltern mit deutscher Kultur erzogen und in einem deutschen Gymnasium unterrichtet, fühlte er ohne traditionellen Zwang frei und natürlich die Liebe zum Weibe in sich erwachen und nach den ersten Begegnungen mit dem schönen Mädchen, das ihm zunächst nur dem Äußeren und dem Wesen nach gefallen hatte, vertiefte sich der Gedanke, daß nur sie als sein Weib ihm das erhoffte Glück bereiten könnte.

Zwar fehlte ihr trotz allen Ernstes und natürlicher Intelligenz die weibliche Reife für einen deutschen Haushalt und die Festigkeit des Charakters, weil sie ihre fatalistische und auf Zweckmäßigkeit gerichtete Erziehung noch nicht überwunden hatte, aber dafür brachte sie soviel Naivität, Anpassungsfähigkeit und Reinheit des Herzens mit, daß der junge Mann von ihrem Wesen mehr entzückt war denn je und den Augenblick, sie um ihr Jawort zu bitten, nicht erwarten konnte.

Seit der Ankunft des Samson in Berlin nahmen die Geschäfte des Pufeles einen immer größeren Umfang an und er mußte Riesensummen eingeheimst haben, – nicht zum wenigsten durch den Mädchenhandel –, weil er sich jetzt auch öffentlich als wohlhabender Mann aufspielte und das Verlangen trug, aus dem gewohnten Kreis der Grenadierstraße nach dem Westen Berlins zu übersiedeln.

Diese Sehnsucht war nicht so leicht zu stillen, zumal es in Großberlin keine leeren Wohnungen gab und die Wohnungsämter streng darüber wachten, daß nur berechtigte und in den Listen eingetragene Personen Wohngelegenheiten bekämen.

Wie alle behördlichen Vorschriften und Gesetze auf einen Mann von der Art des Pufeles keinen Eindruck machten, so setzte er sich auch in diesem Falle darüber hinweg und mit Hilfe des von Niemßdorf gelang es ihm auch schließlich eine elegant eingerichtete Wohnung im vornehmsten Stadtviertel käuflich zu erwerben und das Wohnungsamt durch geschickte Winkelzüge zu täuschen.

Bei dieser Gelegenheit gab ihm der verkommene Assessor auch den Rat, seinen Namen etwas europäischer zu frisieren und dem ersten »e« einen Akzent zu geben, wodurch der Klang etwas Vornehmeres, Französisches bekäme. Herr Pufeles hieß also von nun an Pufèles (Püfähl gesprochen). Mit dem Umtaufen des Vornamens ging es nicht so glatt, da doch wenigstens die Anfangsbuchstaben der bisherigen Namen erhalten bleiben sollten und ein Vorname mit »N«, Nathan ausgenommen, nicht so leicht zu finden war. Nathan klang aber beinahe ebenso galizisch wie Noa.

Herr von Niemßdorf machte deshalb den Vorschlag Noa in Nero zu verwandeln. »Wie heißt Nero?!«, entgegnete Pufeles stürmisch, »'s ist doch ä Name for ä Hund!«

Der Assessor beschwichtigte ihn mit dem Hinweis, daß Nero ein großer und sehr gefürchteter römischer Kaiser gewesen sei.

»Wenn es is äsoi, dann könn'n Se mer zukünftig Mossiöh Nero Pufèles nennen, Herr Assessorleben!« erwiderte der Galizier schmunzelnd und gab seinem gerissenen und skrupellosen Helfer auch gleich den Auftrag, für neue Visitenkarten und Briefbogen zu sorgen.

In der eleganten Wohnung des Herrn Nero Pufèles ging es jetzt hoch her. Zwar hielt er sich keine Dienstboten und ließ den angesammelten Schmutz nur gelegentlich durch ein Reinigungsinstitut entfernen, aber jeden Abend war Gesellschaft mit musikalischen und deklamatorischen Darbietungen und ab und zu wurde auch das Tanzbein geschwungen. Vor allem aber diente ein Zimmer nur dem Spiel.

Die Gäste des Herrn Pufèles bestanden ausschließlich aus seinesgleichen: akklimatisierte Ostjuden mit deutscher Tünche, internationale Schieber, Abenteurer, leichtfertige Mädchen und berufsmäßige Kokotten ohne Heimatsgefühl. Letztere dienten nicht nur dem Liebesbedürfnis des Herrn Pufèles und seiner Gäste, sondern auch dem sogenannten künstlerischen Teil der Unterhaltung, dem Gesang und den Nackttänzen, wenn es Herrengesellschaft gab. An solchen Abenden bildete ein Spiel den Abschluß, wobei der Gastgeber in Gemeinschaft mit von Niemßdorf seine Gäste empfindlich rupfte, und so die Unkosten für die stattgehabte Veranstaltung nebst einem anständigen Gewinn wieder herausholte.

Da Süßstoff, Kokain und andere Medikamente gehandelt und verschoben wurden, kam es auch gelegentlich zu Kokain- und Opiumorgien, sodaß so ziemlich alle Laster, die es nur gibt, in der Wohnung des Herrn Nero Pufèles eine verständnisvolle Pflegestätte fanden.

Aus der Grenadierstraße wurde von den dortigen Bekannten und Geschäftsfreunden niemand in die neue Wohnung hinübergenommen, mit Ausnahme der Frau Diamant, die hier in ihrem richtigen Element war und der Frau Machschewes nebst ihrer Tochter.

Daß die ehemalige Wirtin des Hausherrn nur der schönen Esther wegen in den verworfenen Gesellschaftskreis hineingezogen wurde, war sofort ersichtlich, wenn man beobachtete, in welcher Weise Herr Pufèles und sein Freund Samson sich um das Mädchen bemühten.

Zunächst wurde Esther neu eingekleidet und nach der neuesten Mode im Gesellschaftsstil herausgeputzt, was dem Mädchen viel Freude bereitete. Dann erhielt sie von einer Dame Unterricht im gesellschaftlichen Benehmen und von einem älteren Herrn Unterweisung in den zeitgemäßen Tänzen.

Viel Sorgfalt wurde auf den Umgang mit den jüngeren Gästen des Herrn Pufèles gelegt, aber der Hausherr achtete streng darauf, daß die äußeren Formen des Anstandes bewahrt bleiben, wie auch Kokotten und leichtsinnige Mädchen nie in ihre Nähe kommen durften.

Auf diese Weise sollte Esther nur die Glanzseiten der Gesellschaft kennenlernen, durch Schmutz und Unsitte nicht mißtrauisch gemacht werden und ihr reines jungfräuliches Gemüt erhalten.

Diese raffinierte Züchtungsmethode einer für ein vornehmes Bordell bestimmten Jungfrau verfehlte ihre Wirkung nicht.

Und Esther, die bisher ein höheres Kulturleben noch nicht kennen gelernt hatte, erfreute sich des äußeren Glanzes und war entzückt von den Vergnügungen, die ihr geboten wurden.

Die heimlichen Zusammenkünfte mit Moritz Feigenbaum erlitten zwar durch die unerwartete gesellschaftliche Inanspruchnahme des Mädchens keinerlei Unterbrechung, wohl aber konnte der junge Mann aus den Schilderungen des geliebten Mädchens eine tiefe seelische Veränderung wahrnehmen, und es drängte sich ihm die schmerzvolle Überzeugung auf, daß Esther Machschewes auf dem besten Wege sei, in der Gesellschaft des Galiziers und seiner Freunde ihren Untergang zu finden.

Der junge Mann war so tief erschüttert und dauernd beunruhigt, daß er seine Seelenqual nicht allein mit sich herumtragen konnte, sondern seinem Schwager sich offenbarte.

Der Rabbinatskandidat machte ein sehr ernstes Gesicht, denn er wußte nicht nur, welche Gefahren die weltlichen Vergnügungen für ein reines Mädchen in der Sündenstadt Berlin bedeuteten, sondern er zweifelte auch nicht einen Augenblick daran, daß seine Landsleute, deren moralische und ethische Eigenschaften ihm wohl bekannt waren, mit der Esther Machschewes unlautere Zwecke verfolgten. Und zu dieser Erkenntnis gelangte er aus seiner praktischen Erfahrung, wonach keiner seiner Landsleute Aufwendungen für ein junges hübsches Mädchen machen würde, ohne ein lüsternes Ziel oder geldliche Interessen damit zu verbinden.

Das Ergebnis der Unterredung war, die viel umworbene Esther ihrem schädlichen Gesellschaftskreise dadurch am schnellsten zu entziehen, daß die Heirat beschleunigt werden sollte.

Der Rabbinatskandidat wollte es selbst übernehmen als Werber für seinen Schwager aufzutreten und Frau Machschewes zu besuchen.

Die ehemalige Leichenwäscherin empfing den Geistlichen mit kriecherischer Ergebenheit, und als sie vernommen, welchen Zweck der hohe Besuch habe, tat sie sehr geschmeichelt, daß sie die Ehre, die ihr und dem Estherchen durch die Werbung des Herrn Rebbe Rebbe = Rabbiner zuteil geworden, wohl zu würdigen verstehe, daß es ihr aber in dem Augenblick noch nicht möglich sei, ihre Zustimmung zu geben, weil sie das Kind noch für sich gebrauche. Und gleichsam als eine Milderung der vorläufigen Ablehnung fügte sie hinzu:

»Sie werden begreifen, Herr Rebbe, daß ä Wittfrau wie ich möcht behalt'n ihr Töchterche solang man kennt find'n in ihr 'ne Stütze. Und grad jetzt, wo se könnt verdien'n ä gutt Stück Geld und se will sich such'n ä Stelle im Ausland und unterstütz'n eppes de arme Mamme, sag ich mer, man könnt noch wart'n ä Johr oder zwei. Heint verheirat't man de Töchter nich mehr so jung, wie zu meiner Zeit, Herr Rebbe! Und 's is gutt äsoi, denn was hat man gehatt davon, alt und grau is man geword'n und ä Wittfrau dazu. Und man kennt sich nischt ernährn, wenn man nich hätt wenigstens ä Freund und Landsmann, wie den gutten Herrn Pufeles, was sich jetzt nennt mit ä anderem Nam'n, französch, was weiß ich?!«

Frau Machschewes seufzte tief und schwieg.

Der Rabbinatskanditat versuchte zwar noch allerlei Gründe für eine baldige Verheiratung der Tochter vorzubringen, seine Bemühungen blieben jedoch erfolglos. Jedenfalls aber war er in seiner Überzeugung dadurch bekräftigt, daß er den Eindruck gewann, in welch starkem Maße jener Herr Pufeles auf die Entschlußfähigkeit der Frau Machschewes eingewirkt habe. Und die erwähnte Absicht einer Reise des Mädchens ins Ausland, wovon sie selbst seinem Schwager bisher kein Wort gesprochen hatte, machte ihn stutzig und nachdenklich.

Inzwischen hatte auch Joel Gewürz versucht, sich der schönen Esther zu nähern, um sich mit ihr auszusprechen. Bei seiner Ungeschicklichkeit eine schwierige Aufgabe. Und der Anknüpfungspunkte gab es nur wenige. Am liebsten wäre er ihr an einem menschenleeren Ort begegnet, aber er wußte nicht wo, und auf der Straße mochte er sie nicht der Leute wegen ansprechen. Ebenso unmöglich war es in der Synagoge, weil dort die Männer und Frauen getrennt saßen und beim Gedränge nach Schluß des Gottesdienstes hätten andere vielleicht seine Worte hören können und ihn lächerlich gemacht.

So entschied er sich denn für einen der nächsten Sonnabendabende, wo die jüdischen Hausbewohner in der Gabel'schen Kneipe versammelt zu sein pflegten.

An dem bewußten Abend, den Joel für seine Liebeswerbung festsetzte, ging es in der Gabel'schen Kneipe ebenso lebhaft und bewegt zu, wie an jedem Sonnabend. Die Tische waren wieder dicht besetzt und die zahlreichen Gäste, Männer und Weiber, promenierten kauend und schwatzend auf und ab.

Joel Gewürz mischte sich unter die Gäste, verzehrte am Schanktisch eine Schmalzstulle und beobachtete hinter dem Glas Tee, das er in der Hand hielt, Esther Machschewes, die unter fremden Herren allein an einem Tische saß und offenbar auf ihre Mutter wartete.

Und als einer der Herren sich erhob, um hinauszugehen, benutzte der verliebte Uhrmacher diese günstige Gelegenheit, so schnell es seine kleine schmächtige Gestalt vermochte, zu dem leeren Platz neben dem angebeteten Mädchen zu gelangen.

Bei dem herrschenden Gedränge und der Rücksichtslosigkeit der Gäste glich dieser Weg einem Spießrutenlaufen, und tatsächlich kam Joel Gewürz fast außer Atem, mit schief auf dem Kopf sitzendem Hute, Schweißperlen im Gesicht und das Glas Tee krampfhaft in der Hand, an den ersehnten Tisch.

Höflich und mit betonter Ergebenheit, einige Entschuldigungsworte verlegen vor sich hin murmelnd, lüftete er den Hut – was in diesen Kreisen sehr ungewöhnlich ist – und setzte sich auf den leeren Stuhl.

Nunmehr aber fehlte es an der notwendigen Einleitung, denn der verliebte Uhrmacher, der heute Abend das Glück hatte neben seinem Idol zu sitzen, war nicht imstande, auch nur ein einziges Wort hervorzubringen.

Mehrmals versuchte er es, aber der Anlauf, den er durch die Luftröhre nahm, blieb in den Stimmbändern stecken, weil ihm die Kehle zugeschnürt war. Er versuchte mit dem Kopfe nachzuhelfen und drückte und drückte, aber nur mit dem einem Erfolge, daß sein Gesicht wie bei einem Erstickungsanfalle rot und blau wurde.

Dieses sonderbare Benehmen war der schönen Esther bereits aufgefallen. Zuerst tat sie so, als ob sie nichts bemerkte und ließ ihre Augen umherschweifen, um den Eindruck zu erwecken, daß sie nach jemandem Umschau halte. Schließlich aber kam ihr der kleine verwachsene Mann, der ihr dem Ansehen und Namen nach wohl bekannt war, so komisch vor, daß sie seine Schluckbewegungen dreist lächelnd verfolgte und ihm vergnügliche Blicke zuwarf.

Als Joel Gewürz die lachenden Augen der Esther auf sich ruhen fühlte, überkam ihn eine außergewöhnliche Kraft und Entschlossenheit. Er erhob sich noch einmal, lüftete wieder den Hut und sagte in gutem Hochdeutsch, das er geflissentlich gelernt hatte:

»Entschuldigen Sie, Fräulein Esther, wenn ich an Ihrem Tisch Platz genommen habe, es war dies mein sehnlichster Wunsch seit langer Zeit. Sie kennen mich nur oberflächlich von der Kille Kille = Gemeinde her und nur als einen kleinen verwachsenen Mann. Aber der Schein trügt, liebes Fräulein Esther! Hinter meiner unauffälligen, kleinen und verwachsenen Persönlichkeit verbirgt sich viel mehr, als Sie ahnen, nämlich ein großes Herz voll Gemüt und Liebe!«

Das Mädchen hörte schon nach den ersten Worten zu lächeln auf, denn die Art, wie der Uhrmacher sprach, gefiel ihr, und der kleine Mann, den man überall einen Chammer nannte, schien ihr ein ganz vernünftiger überlegender Mensch zu sein. Nur, weshalb er ihr das alles erzählte, konnte sie nicht begreifen und aus diesem Grunde, da sie eben nicht wußte, was sie antworten sollte, schwieg sie auch.

Joel Gewürz nahm wieder einen Anlauf und stotterte dann hastiger als vorher:

»Sehen Sie, – hören Sie – mein liebes Fräulein Esther, so ist es eben, – so hat man's in der Welt. Man wird für – etwas gehalten – und man ist doch ein anderer. Und die Mädchen, – nun die Mädchen denken, – wenn der Mann nicht groß und hübsch und ansehnlich ist, – dann kann er nicht lieben. So denken die Mädchen! Ich bin aber überzeugt, daß eine so große Mädchenseele, wie die Ihre, anders denkt und – fühlt, und vielleicht auch etwas – Mitleid fühlt. Seit langer Zeit sehne ich mich, Sie zu sprechen und Ihnen etwas zu sagen, was mich ungesprochen erwürgt. Ich kann es bei Gott nicht mehr ertragen, denn ich fühle und denke und denke und fühle nur immer eins. Gott hat es so gewollt, daß ich heute abend neben Ihnen sitze und es ist sein Wille, daß ich es Ihnen gestehe, wie es mich peinigt und quält bei Tag und Nacht und mich siech und krank macht, wie einen Geschlagenen. Und so geschlagen bin ich, daß ich ein großes Weh in meinem Herzen fühle und es nur eine einzige Heilung gibt, nämlich Ihr Erbarmen und Mitleid mit einem kleinen verwachsenen Mann, der nur für Sie denkt und lebt und arbeiten will sein ganzes Leben lang, bis das Blut ihm aus den Knochen kommt, weil er in Ihnen sieht seine Erlösung und sein ganzes Glück. Liebes Fräulein Esther, erhören Sie mich, weisen Sie mich nicht zurück, glauben Sie an meine grenzenlose Liebe wie an die Offenbarung der Thora und sagen Sie mir, daß Sie vielleicht, wenn Gott es will und wenn Sie mich als das erkannt haben, was ich Ihnen auf die Thora schwöre, vielleicht, vielleicht doch werden können mein Weib!«

Die letzten stürmisch gesprochenen Worte ließen das Mädchen heftig erröten, denn auf solchen Ausgang der Rede war sie nie und nimmer gefaßt und sie gebrauchte eine gewisse Zeit, um aus der Verblüffung zu erwachen. Dann aber konnte sie nicht länger an sich halten und lachte minutenlang, lachte so herzlich, daß ihr Tränen aus den Augen flossen und ein großer Teil der Gäste sich herandrängte, um den Ursprung des übermütigen Gelächters zu ergründen. In diesem Augenblick kam auch Frau Machschewes herbei und zwängte sich durch die Menge. Als sie von ihrer Tochter erfuhr, was sich soeben zugetragen, verfiel sie ebenfalls einem krampfhaften Lachen und brüllte so laut sie konnte: »Platzen könnt ma vor Lachen, platzen! Hört, ihr Leut, ich hab ä Schwiegersuhn! Der Eules Eules = der Bucklige hier hat mein Tochter ä Heiratsantrag gemacht!«

Wie ein Funkspruch verbreitete sich die Nachricht durch das ganze Lokal, der »Chammer« habe soeben der Esther Machschewes einen Heiratsantrag gemacht, und im Nu brauste ein unbändiges Geheul durch die Menge. Selbst aus dem hinteren Stübchen liefen die Gäste zusammen, um sich den verliebten »Eules« anzusehen und von überall her erscholl der Ruf: »Der Chammer, der Chammer!« Es wurde gegröhlt und gejohlt und gelacht und es wurden Spottlieder auf den Chammer gesungen und zwischendurch erscholl es immer wieder: der Chammer, der Chammerbock, er liebt de Zigge, der Chammer, der Chammer …! Dem bedauernswerten Joel wurde es glühend heiß auf seinem Stuhl. Am liebsten wäre er aufgesprungen und davon gelaufen. Aber erst mußte er sich durch die Menschenmenge, die ihn lachend und scherzend umgab, einen Weg bahnen. Und als er sich endlich erhoben hatte, weil er fürchtete aus Wut und Scham die Besinnung zu verlieren und sich noch lächerlicher zu machen, da ergriffen ihn ein paar derbe Fäuste, hoben ihn wie eine zappelnde Katze in die Höhe und trugen ihn unter allgemeinem Geschrei und Gelächter hinaus, dann warfen sie ihm den Hut, der hierbei vom Kopf gefallen war, hinterher.

Kurz darauf öffnete sich wieder die Tür, Joel Gewürz, blutrot im Gesicht, den Halskragen verschoben und die Haare zerzaust, stürzte wild herein und schrie aus Leibeskräften: »Gott soll euch strafen alle mitanand, ä schwarz Jahr sollt ihr haben alle mitanand und ä Buckel sollt ihr kriggen alle mitanand, wie ich!«

Dann warf er die Türe krachend zu.

Und im Gabel'schen Lokal erhob sich ein unbändiges Geheul, das minutenlang andauerte.

Als Joel sein Zimmer betrat, zitterte er am ganzen Leibe, warf sich aufs Bett und stöhnte und ächzte wie ein Schwerkranker. Und während er sich herumwälzte und in verhaltener Wut sein Gesicht zerkratzte, kreischte er laut auf und schlug mit den geballten Fäusten gegen die Wand.

Durch den Lärm herbeigerufen kam Frau Schüßler, seine Wirtin, aus der Küche, und da sie glaubte, daß der kleine Gewürz plötzlich von heftigen Krämpfen befallen sei, eilte sie auf ihn zu, nahm seinen Kopf in ihre Arme und indem sie mit ihren weiblichen Händen ihm das Gesicht streichelte, bemühte sie sich, ihn zu beruhigen.

Der Uhrmacher hatte noch nie in seinem Leben eine zarte Frauenhand an seinem Körper gefühlt und empfand ein solches Wohlbehagen, daß das Schütteln seines ganzen Leibes allmählich nachließ und er in tiefen Schlaf versank.

Frau Schüßler zog ihm die Stiefel aus und deckte ihn zu.

Bei Morgengrauen erwacht, fand Joel seine Wirtin und den Zimmergenossen Pflaumenhaft an seinem Bette sitzen und Frau Schüßler erkundigte sich sehr teilnahmsvoll nach seinem Befinden.

Jetzt vermochte der unglückliche kleine Mann das schreckliche Erlebnis des gestrigen Abends nicht länger bei sich zu behalten, und erzählte in allen Einzelheiten, was sich in der Gabel'schen Kneipe zugetragen, als er endlich Gelegenheit fand, seiner geliebten Esther sich zu offenbaren.

Die Wirtin schwieg zunächst, weil sie tiefes Mitleid empfand und dennoch nicht wußte, ob es nicht angebrachter sei, dem so hoffnungslos verliebten Joel zu raten, seine Leidenschaft für das Mädchen zu unterdrücken.

In ähnlicher Weise dachte auch Pflaumenhaft, nur mit dem Unterschied, daß er von der entgegengesetzten Seite anfing und seinem Zimmergenossen klar zu machen suchte, daß Esther Machschewes sich ganz in den Händen des Herrn Pufeles und seines Freundes Samson befinde und wahrscheinlich sehr bald völlig verdorben sein werde. Zur näheren Begründung seiner Ansicht erzählte er dann, daß er von Pufeles in dessen neuer Wohnung jetzt viel beschäftigt werde und so Gelegenheit gehabt habe, in das dortige Treiben einen Einblick zu gewinnen. Äußerlich sehe und höre er nichts, weil er sein Brot verdienen müßte, aber seine persönliche Meinung, die er für sich behalte, könne ihm niemand nehmen. Jedenfalls sei das, was sich in der Wohnung des Pufeles von außen unsichtbar abspiele mit Worten überhaupt nicht zu schildern. Und er persönlich könne sich auch keine Vorstellung machen, weshalb so viele Mädchen ein- und ausgingen, mit Pufeles und Frau Diamant hinter verschlossenen Türen sprächen und Koffer und Körbe gepackt werden. Das alles sei sehr verdächtig. Und da Frau Machschewes mit ihrer Tochter dort verkehre, werde das Estherchen wohl nichts gutes lernen und es den Frauenzimmern bald gleich machen. Für einen strebsamen anständigen Mann sei das Mädchen nicht zur Frau geeignet und Joel täte gut, sich die ganze Sache aus dem Kopf zu schlagen.

Der Uhrmacher nahm beide Hände vor das Gesicht und stöhnte.

Jetzt griff auch Frau Schüßler ein. Wenn es so um das Mädchen stände, dann sei es freilich besser, aufrichtige Liebe nicht zu vergeuden, meinte sie, und wenngleich sie im Leben nicht weit herumgekommen sei, so könnte sie sich vom Hörensagen doch wohl vorstellen, was das merkwürdige Gebahren des Pufeles und der Frau Diamant mit den vielen Mädchen zu bedeuten habe. Wahrscheinlich handle es sich um das Verschachern der Frauenzimmer an Bordelle und vielleicht habe der dicke Jüd selbst solche Häuser in anderen Städten und sei nur nach Berlin gekommen, um hier hübsche Mädchen für seine Zwecke zu suchen und abzuschieben. Und die Esther Machschewes sei vielleicht ein geeignetes Objekt dafür.

Joel Gewürz lauschte gespannt und seine Stirn verdüsterte sich, als er hörte, in welchen Kreisen sich seine Esther, die für ihn so rein wie ein Engel war, bewegte. Nur die Worte seiner Wirtin hatte er nicht verstanden und er fragte deshalb mit gespannter Miene, was das für ein Haus sei, ein Bordell.

Frau Schüßler wurde sehr verlegen und ihr blasses Gesicht überflog eine leichte Röte. Einen Augenblick überlegte sie, wie sie sich bestimmter ausdrücken sollte, dann sagte sie leise und gedehnt:

»In einem solchen Hause geben sich die Mädchen jedem Manne für Geld hin, aber das Geld steckt der Besitzer in seine Tasche und die Mädchen bleiben Sklavinnen, bis sie verbraucht sind. Dann wirft man sie auf die Straße, wo sie ihr lasterhaftes Leben fortsetzen, wenn sie nicht schon vorher durch Krankheit oder Siechtum verkommen!«

Joel Gewürz sprang wie ein wildes Tier aus dem Bett.

»Esther Machschewes eine Chonte Chonte = Dirne?!« kreischte er verzweifelt, »nur das nicht, nur das nicht, so wahr ich lebe!«

Kein Zureden, kein Bitten half. Der kleine Mann irrte wie geistesabwesend im Zimmer umher, sprach verwirrte Sätze vor sich hin und gestikulierte drohend mit den Armen.


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