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Der Einwanderer aus dem Osten.

Das sogenannte Scheunenviertel, das sich vor etwa dreißig Jahren dort ausbreitete, wo sich heute der Bülowplatz mit dem großen Volkstheater befindet, barg in den engen Gäßchen mit den alten halb zerfallenen und von Ungeziefer wimmelnden Häusern, Scheunen und Lagerplätzen den Auswurf der Berliner Verbrecherwelt.

Die Polizei war trotz jahrzehntelanger Bemühungen und strengster Maßnahmen nicht in der Lage die Schlupfwinkel und mit ihnen das lichtscheue Gesindel auszurotten. Und so entschloß sich denn der Magistrat von Berlin das ganze Scheunenviertel mit Ausnahme einiger besserer Straßen wie einen verpestenden Seuchenherd niederzureißen.

Der berüchtigte Stadtteil ist zwar verschwunden, aber in der Nachbarschaft des Bülowplatzes, in den früheren sogenannten besseren Straßen hat sich ein anderes Scheunenviertel entwickelt mit demselben verbrecherischen Gesindel und einer ganz neuen Erscheinung in Großberlin, dem Ghetto der aus Rußland, Polen und Galizien eingewanderten Ostjuden. Hier in der Grenadierstraße, deren Läden mit den hebräischen Aufschriften und den merkwürdigsten Namen das Fremdartige sofort erkennen lassen, herrscht im Sommer ein lebhaftes Treiben wie auf einem öffentlichen Markt in Galizien oder Polen. Im Winter aber ist dieses Ghetto äußerlich fast geräuschlos, hingegen spielt sich hinter den beschlagenen, selten gereinigten Fenstern der zahlreichen Gastwirtschaften und in den Häusern selbst das Leben oft lärmhaft, stürmisch und häufig genug nicht ungefährlich ab; denn als Parasiten der nicht gewalttätigen Ostjuden hausen hier auch Schwerverbrecher und Dirnen mit ihrem arbeitsscheuen Anhang.

Die Abend- und Nachtbeleuchtung ist nur spärlich. Es scheint, als ob die Stadtväter wüßten, daß die Bewohner dieser Straßen keinen Anspruch auf großstädtische Ausstattung erheben. Oder aber die Behörden haben mehr Wert darauf gelegt das Treiben des verbrecherischen Gesindels zur Nachtzeit zu überwachen.

Die Straße ist feucht und dunstig. Naßkalter Novemberabend. Die Läden sind bereits geschlossen, denn es ist fast neun Uhr. Aus den Fenstern der Kneipen fällt ein matter Lichtschein auf den Bürgersteig; die einzigen auf dem schlüpfrigen Gestein glitzernden hellen Flecken des im Nebel dampfenden Ghettos.

Ab und zu kommt eine männliche Gestalt eiligst und fröstelnd aus einem der Wirtshäuser und verschwindet in einem benachbarten Gebäude. Oder ein paar Männer, leise in fremder Mundart sprechend, schlendern gemächlich der Weinmeisterstraße zu.

Außer dem gelegentlichen Zuwerfen der Kneipentüren und dem gleichmäßigen Schritt der beiden Schupoleute, die in jeder Nacht hier ihre Runde machen, ist kein Geräusch vernehmbar und das Ghetto scheint bereits in tiefem Schlaf zu liegen.

In dieser schwarzgrauen Abendstunde schleppt sich der Häuserreihe entlang eine Gestalt, die noch schwärzer aussieht als die Nacht, vorsichtig tastend einen Sack auf dem Rücken und ab und zu mit hochgerecktem Halse nach den Häusernummern spähend.

Bei der matten Beleuchtung einer Straßenlaterne erkennt man in dem müden Wanderer einen Ostjuden mit langem schwarzem Kaftan, dunklem struppigem Vollbart und den ringelnden Stirnlöckchen unter dem breitrandigen schwarzen Hut.

Vor einem Hause, in dem sich eine Kneipe befindet, bleibt er in gebückter Haltung stehen, mustert den Eingang zur Kellerwohnung, buchstabiert mit Mühe die Aufschrift: Salli Butterfaß, Schneider, schaut dann, indem er mit der rechten freien Hand die Augen beschattet, noch einmal hinauf zur Hausnummer und geht dann zögernd hinein.

*

»Wer klappt ä so spät?« ruft eine heisere Frauenstimme, als der Fremde schon mehrfach an ihre Wohnungstür geklopft hatte.

»Laßt mer nur rein«, lispelt mit einschmeichelndem Geflüster der Ostjude, »jich bins selbst, Noa Pufeles aus Krakau, habt ihr nicht gekriegt mei Schreibebrief?!«

»Ä soi!« klingt es gedehnt hinter der Türe. Ein Rasseln der Sicherheitskette, ein kurzes Schließen, und dem Fremden steht eine Frau in den vierziger Jahren gegenüber, eine Haube auf dem Kopf, mit einer rotkarierten Nachtjacke und einem dunkelfarbigen Rock angetan und eine Kerze in der Hand.

Ohne weitere Begrüßungsworte schiebt sich der Besucher in den Korridor, und während die Frau die Türe wieder schließt, folgt er ihr in die Küche, wo er seinen Sack niederwirft und sich auf einen Stuhl setzt, nachdem die Frau den Leuchter auf den Tisch gestellt hat.

»Eure Briefkart ist heint morgen erst angekommen«, setzt die Frau die begonnene Unterhaltung fort und mustert ihren Gast von oben bis unten mit kritischen Blicken, »aber aus dem Geschreibsel hab ich nischt klug werden gekonnt, wann Ihr wollt' do sein!«

»Gottseidank, jich bin do«, erwiderte mit sichtbarer Erleichterung der Herr Pufeles aus Krakau, und seiner Gastgeberin die schmutzigen Hände entgegenstreckend, fügte er mit wichtiger Miene, die Augenbrauen in die Höhe ziehend und seinen Kopf hin und her wiegend, hinzu: »Wie heißt klug werden?! Meine alte Freundin Rochel Machschewes is klug genug, alle jiddischen Kinder gesagt!«

Frau Rochel Machschewes, früher Leichenwäscherin in Krakau und jetzt Gelegenheitshändlerin kannte ihren früheren Nachbarn, den Altkleiderhändler Noa Pufeles aus Krakau, zwar sehr gut, aber, wenngleich auch sie noch nicht die Reinlichkeitsbedürfnisse einer deutschen Großstädterin angenommen hatte, so war sie doch von der Schmutzkruste ihrer Heimat schon so weit entfernt, daß ihr das Aussehen des Besuchers ein gewisses Unbehagen bereitete. Sie ergriff daher nur zögernd seine Hand und ohne das Kompliment über ihre Klugheit weiter zu würdigen, lenkte sie gleich auf die Hauptsache ein und sagte ganz geschäftsmäßig:

»Nu, Herr Pufeles, von der Chochme Chochme = Klugheit kann mer nischt leben. Wenn ich Euch soll aufnehmen, müßt Ihr mir bezahl'n wie jeder andere, ob er is Freind oder nich. Ich bin ä arm Witwenfrau und hab noch ä Maidelche zu ernährn. Ich hab ä schein Stübl for Euch, gestern de Bett'n frisch bezog'n. Nemmts mer nischt übel, wenn Ihr Euch waschen sollt, bevor Ihr Euch hinlegt. Und Kinnem Kinnem = Läuse werd' Ihr mir doch keine mitgebracht hab'n aus Krakau? Mei Stübl is schein wie ä Salong, ä groß Fenster drin und weiße Gardien'n, keine dunklen Höhl'n wie in Krakau und kein Gewürm. Aber der Preis ist auch ä anderer, gutte Ware kost't Geld. Das weiß der Herr Pufeles auch, wenn er de gutten Röck gesondert hat von de miessen, und …«

Der Herr Pufeles, der bei der langen Ansprache und der offenbar absichtlichen Anpreisung der Zimmerschönheiten schon ungeduldig auf seinem Stuhl hin und her gerückt war, unterbrach jetzt plötzlich:

»Sie redden und redden immer und es hat ka End, wenn hört ma endlich, was ich hab zu zahl'n. Ob Se Gardien'n drin hab'n oder nich, intressiert mer garnich. Ich leg mer auch auf ä Strohsack, wenns nischt kost't.«

»Redden Se kein Stuß, Herr Pufeles«, erwiderte Frau Machschewes etwas spitz, »ä so ä reicher und wohlbeleibter Mann wie Sie schlaft nich uf ä Strohsack. Ich werd's euch billig geb'n, das Zimmer dreißig Mark 'n Monat, kost't mer beinah selbst soviel!«

Herr Pufeles griff hastig nach seinem Beutel und tat so, als ob er auf und davon gehen wollte. Er ging aber nicht und blieb ruhig sitzen und ächzte und stöhnte, als ob ihn jemand geschlagen hätte:

»Weih mir, was hab' ich getan, daß mich Gott so straft. Do bin ich hergeraten in ä fremde Stadt und ma zieht mer das Fell ab bis auf de Knoch'n. Ich bin ä armer Mann! For ä Monat dreißig Mark! Betteln kann ich gehn und de Kille Kille = Die Gemeinde wird mich noch versorg'n müss'n. Weih geschrien, ich könnt mer zerreiß'n!«

Der unglückliche Ostjude sank in sich zusammen, als ob eine schwere Last ihn drücke, aber es war nur Schein, geschäftsgewandte Mimik. Denn im nächsten Augenblick reckte er seinen bärtigen Kopf wieder in die Höhe und mit den Händen heftig gestikulierend, sprach er auf die Frau ein:

»Hundert Jahr soll'n Se alt werd'n und glücklich sein und viel Glück an Ihrem Maidelchen erleb'n und gesund sein bis über hundert Jahr, aber Se tun mer beises Unrecht, wenn Se mir halten for a Rotschild. Ä armer Mann bin ich und auf Kizwe Kizwe = Unterstützung angewies'n. So wahr ich leb' und so wahr Sie soll'n gesund sein bis über hundert Jahr, ich kann nischt bezahl'n dreißig Mark und nich dreizehn for ä Monat. Aber wir sind doch immer gewesen gute Freunde, und als Sie meine Ische Ische = Ehefrau – Gott hab se selig – so gut und gründlich gewaschen hab'n, daß se aussah wie ä weiße Taub, hab ich Ihn'n da nich ä Gulden extra gegeb'n? Daraus kenn'n Se seh'n, was ich for ä gutter Mensch bin, und weil ich ä gutter Mensch bin und Gott es so will, und weil Se sind ä arme Frau will ich tun ä Mizwe Mizwe = Wohltat und werd Ihn'n zahl'n zwanzig Mark 'n Monat, zwanzig Mark!«

Herr Pufeles tat so, als ob er erschöpft auf seinen Stuhl zurücksinken müßte, aber Frau Machschewes war auf alles gefaßt, sie wußte, daß die Geldfrage mit ihrem gerissenen Landsmann nicht so leicht zu erledigen sein würde und hatte deshalb erheblich vorgeschlagen. Um das Spiel aber zu einem glücklichen Ende zu bringen, setzte sie die Verstellung fort und klagte in jämmerlichem Tone:

»Was seid Ihr doch for ä weltfremder Mensch, als ob das Geld heint noch den Wert hätte, wie früher in Krakau. So gesund sollt Ihr sein, wie ich euch nich übervorteil'n werd. Aber wenn Ihr seid ä armer Mann, will ich nischt verdien'n an euch, zugeb'n will ich noch, weil Ihr ä gutter Mensch seid, also geb'n Se schon fünfundzwanzig!«

Herr Pufeles stöhnte und ächzte noch mehr als vorher und wand sich auf seinem Stuhl wie ein getretener Wurm. Wieder griff er nach seinem Beutel, als ob er sagen wollte: wir können kein Geschäft machen, ich gebe, aber er zog seinen Arm wieder langsam zurück, blieb sitzen und starrte wie verzweifelt zu Boden.

Jetzt kam, durch den Lärm herangelockt, die achtzehnjährige Tochter Esther herbei. Sie hatte sich einen Morgenrock übergeworfen, aber ihren verschlafenen Augen sah man an, daß sie schon im Bette gelegen hatte und nur durch das laute Stimmengewirr wieder aufgeweckt worden war.

»Um Gotteswillen«, fragte das Mädchen erstaunt und schüchtern, »was ist for ä Gezänk? Man meint, de Leite schlagen sich!«

Der schachernde und vorher noch so unglücklich sich gebärdende Ostjude blickte überrascht auf, und obwohl er selbst schon 42 Jahre alt war und Liebesglück in überreichem Maße genossen hatte, – denn schon mit 17 Jahren nahm er sein Weib, ein kaum dem Kindesalter entwachsenes Mädchen –, so machte die klassische Schönheit der Esther Machschewes doch einen so gewaltigen Eindruck auf ihn, daß sich sein Gesicht erhellte und ein süßes Lächeln um seinen bärtigen Mund spielte.

Die Tochter der ehemaligen Leichenwäscherin war in der Tat ein Geschöpf von außergewöhnlichem Liebreiz, eine jener seltenen Schönheiten, wie solche nur in Galizien oder in den Ländern um das Mittelländische Meer herum zu finden sind. Ihr edelgeformtes bleiches Gesicht mit einem zarten Rosenhauch auf den Wangen schien von einem griechischen Künstler aus blütenweißem Marmor gemeißelt. Über großen schwarzen funkelnden Augen, die in langen Wimpern weich und wehmütig gebettet lagen, wölbten sich zwei Augenbrauen wie von Künstlerhand ebenmäßig gemalt, und die korallenroten leicht geschwungenen Lippen zeigten, wenn der Mund sich mit einem Anflug kindlichen Schmollens öffnete, zwei Perlenreihen Zähne, wie aus Elfenbein zierlich geschnitzt. Malerisch hingen die blau-schwarzen Locken in üppiger Fülle um das Gesicht und schufen den wirkungsvollsten Rahmen zu den feinen Linien, den weichen Formen und dem duftigen Farbenschmelz.

Mit der Mutter, die vielleicht in ihrer Jugend auch einmal als schön gelten konnte, war heute keine Ähnlichkeit mehr zu erkennen; denn das Gesicht der Frau Machschewes war gelblich und verrunzelt und die Augen blickten müde und stechend. Nach der Sitte der Ostjuden wurden ihr die Haare bei der Hochzeitszeremonie bis auf die Kopfhaut abgeschoren, sodaß sie tagsüber einen künstlichen Scheitel trug, den sie nachts mit einer Haube vertauschte.

Herr Pufeles hielt das plötzliche Erscheinen der anmutigen Tochter der Wohnungsinhaberin für ein verheißungsvolles Zeichen. Er bot seine ganze Überredungskunst auf und schöpfte aus allen Quellen sinnbetörender Schmeichelei in der Hoffnung, Esther als Helferin zu gewinnen, sodaß er seine rauhe und harte Stimme veränderte und mit süßem Lächeln und schmachtendem Tone zu dem Mädchen sprach:

»Jich glaubt, ä Malches Malches = Engel wär herbeigekimmen, als ich das scheine Mädel gesehn wie ä Sonnenstrahl bei Nacht. Mir flimmerts noch for de Augen. Gottes Allmacht ist groß, daß er ä so ä herrliglichen Menschen hat wachsen lassen! Und wie er is gewachsen? Nich wie ä Baum, sondern wie ä Edelweiß auf 'm Libanon, wo de Tulpen blüh'n rot und gelb und in alle Farben. Hat mer so eppes schon gesehen? In de ganze Welt nich! Es gibt nix schöneres und herrliglicheres als das Maidelche von de Rochel Machschewes. Nur gesund bis über 100 Jahr, nur gesund, mei Goldkind, mei Leben! Aber was sag'n Se doch zu Ihre Mamme, die ä armen Mann will das Fell abzieh'n bis auf de Knochen, wo ich Ihr doch auch schon hab Guttes getan genug?! Was sag'n Se nu doch zu Ihre Mamme, die mer abnemm'n will fünfundzwanzig Mark for ä Stübl, fünfundzwanzig Mark? Gott soll helfen!«

Frau Machschewes schmunzelte, als ihre Tochter sie fragend anblickte. »Du weißt doch Estherche, wie's mit 'm Geld steht, man kann sich nichts bezähm'n for seine alten Tag und nich ä Malbisch Malbisch = Kleid kaufen for sei Kind«, murmelte sie mit verstellter Stimme vor sich hin, aber sogleich fügte sie hinzu: »Zwanzig hat er mer schon geboten, der Herr Pufeles. Wir sind Nachbarn aus Krakau und kenn'n uns gut, hat mer oft übers Ohr gehau'n, der gutte Mann, aber mer werd'n schon einig werd'n, leg'n se zwei Mark zu, weil mei Töchterle so bettelt for euch!«

Herr Pufeles griff wieder nach seinem Beutel und schrie laut auf: »Gott soll mer strafen, wenn ich de Rochel Machschewes auch nur um einen Heller betrog'n hätt, als se damals de rotwollnen Unterhosen bei mer gekauft. Mir geht ä Licht auf, jetzt begreif ich, Sie verwechseln mer mit ä anderen, der nicht is so ä gutter Mensch wie ich. Warum soll ich büßen for de Schlechtigkeiten, die begangen hat ä beiser Gannef Gannef = Spitzbube? Aber ich bin scho gestraft genug, daß ich reingeraten bin zu euch, wo ihr mir 'n Kopf abschlag' könnt, weil ihr wißt, daß ich als ä Fremder in der großen Stadt auf euch angewiesen bin! Also macht mit mir, was ihr wollt, ich bin da und ich bleib da und mehr als zwanzig kann ich nix zahlen ä Poschet Poschet = Pfennig! Au, was sag'n Se nu doch ä soi zu Ihre Mamme, de gutte Rochel, mei Goldkind, mei Leben?!«

Dem jungen Mädchen war die Handelei widerlich, sie runzelte die Stirn und blickte ihre Mutter mit unwirschem Kopfnicken an. Frau Machschewes verstand das Zeichen zu einem raschen Abschluß und freute sich innerlich, durch ihr geschicktes Verhalten den gerissenen Landsmann doch hochgenommen zu haben. Um den Schein zu wahren, murmelte Sie mit verstellter Stimme: »Nu gutt, Esterche, wenn du es so willst, bloß damit du schnell zu Bett kommst, gutt, lege ich noch mehr Geld zu, der Dalles wird noch größer. Meinem Esterche hab'n Se's zu verdanken, Herr Pufeles, wenn ich sag zwanzig! Nu geh leigen, mei Kind!«

Der Landsmann und neue Untermieter schüttelte verärgert seinen Beutel und erhob sich. »Nu, und wo kann ich mer waschen de Händ?« fragte er trocken. »De Füß auch und den ganzen Pufeles von oben bis unten,« erwiderte grinsend die Wirtin, »denkt Ihr, man kennt hier in de Betten steigen, wie in Krakau mit de Borke faustdick?! Ich stelle Euch ä Eimer heißes Wasser in de Stub und das kalte kennt Ihr Euch holen aus de Leitung, und ä gutte Bürst und Seife geb ich Euch auch mit 'nein. Und nu will ich Euch zeig'n das gutte Stübl!«

»Macht scho e Zoff Zoff = Ende «, murmelte der Ostjude erbittert, als er über den Korridor schritt. »Ma wird sich hier noch verkühl'n bei de miesse Pladderei, ausgerechnet muß ich bei 'ne Leichenwäscherin hineingeraten!«

»Das is mei Zimmer, um das Se gehandelt hab'n ä Stund?« fragte Herr Pufeles entsetzt, als ihm die Wirtin die kleine Türe zu dem engen Hintergemach öffnete, »und de weißen Gardien'n, von den Se geredd' hab'n stundenlang?!«

»Noch nich schain genug for den Krakauer Jüd«, murrte Frau Machschewes, »was kann ich davor, wenn Se hab'n ä groß Hintergestell vorn und hinten, daß Se nich reinpassen in de Stub? Und de Gardien? Kiek'n Se nach oben, was is 'n das anders als 'ne Gardien?!«

»Das nenn ich ä Wimpel an de Fahnenstang, das Streif'che da oben. Nu gutt, ich will leigen, laßt mer endlich in Ruh und gebt mer Wasser. Mit de Pladderei werd ich's machen, wie Ihr mit de Gardinen. Ne schwarzen Jontef Jontef = Feiertag sollt Ihr hab'n alle mitnnand!«

Frau Machschewes zog sich mit ihrer Tochter eiligst zurück und holte Wassereimer, Seife und Bürste, dann begaben sie sich in das gegenüberliegende Vorderzimmer zu Bett. Hier erzählte die Mutter noch eine ganze Weile von Herrn Pufeles aus Krakau, der in seiner ganzen Nachbarschaft als Geschäftslöwe wegen seiner Rücksichtslosigkeit und Geldgier berüchtigt und gefürchtet war.

Der neue Untermieter aber hatte zunächst nichts eiligeres zu tun, als sein Geld in Sicherheit zu bringen. Er verschloß die Türe, holte aus seinen Taschen und dem Inneren des Sackes Bündel von Banknoten aller Währungen hervor, ordnete die Papiere und vernähte sie im Futter seiner Weste, während er zahlreiche Gold- und Silberstücke in verschiedene Beutelchen tat, die er während der Nacht unter sein Kopfkissen versteckte. Mit der großen Reinigung nahm er es weniger genau. Er ging mit dem Wasser so vorsichtig um, als ob er einen besonders kostbaren Stoff vor sich hätte, und während er sich bemühte, die schwarzen Füße wenigstens bis zu einer leidlich grauen Färbung zu bringen, kratzte er sich wütend den Kopf, zumal die kleinen Tierchen aus Krakau unter der Einwirkung des dampfenden Wassereimers anfingen sehr lebendig zu werden. Endlich war er so weit, sich ins Bett begeben zu können, zog die Weste an, die einen Teil seiner Schätze barg, verlöschte das Licht und legte sich hin.

Der Gedanke, von einer Frau übervorteilt worden zu sein, verscheuchte ihm noch lange den Schlaf, und er begann sofort, im Geiste seine Vorbereitungen zu treffen, wie er unter dem Zwange der herrschenden Wohnungsnot durch gute Geschäfte den hohen Mietzins wieder ausgleichen könnte. Und hierzu wollte er sich gelegentlich, wenn alles gut ginge auch die Schönheit der Tochter seiner Aussaugerin nutzbar machen.

Auf demselben Treppenflur hauste als Nachbarin in einer Zweizimmerwohnung und Küche eine Frau Raja Diamant, die früher in Lodz das ehrbare Gewerbe einer Hebamme betrieben hatte, aber durch die Kriegswellen auch nach Berlin verschlagen war und sich hier durch Vermieten von Schlafstellen kümmerlich ernährte. Diese Frau war ungefähr in demselben Alter wie ihre Nachbarin Machschewes, aber weniger intelligent als diese und mit den Berliner Verhältnissen noch kaum vertraut, da sie erst zwei Jahre hier wohnte, während die Nachbarin schon vor fünf Jahren eingewandert war. Diese Frau Diamant beneidete ihre Glaubensgenossin schon deshalb, weil Frau Machschewes ein Zimmer mehr hatte als sie selbst und es ihr deshalb leichter war, durch Vermieten größere Einnahmen zu erzielen.

Was in der gegenüberliegenden Wohnung vor sich ging, wußte Frau Diamant mit der Schnelligkeit eines Funkspruchs und mit ihr wußte es das ganze Haus.

Und so war es denn nicht zu verwundern, daß Frau Diamant, als sich am nächsten Morgen beim ersten Einkauf ein Teil der Hausbewohnerinnen zur üblichen Zwiesprache an der Haustür zusammenfanden, die interessante Meldung verbreiten konnte, zu später Abendstunde sei ein reicher Jüd bei Frau Machschewes angekommen, der für das kleine Hinterzimmer eine ganz kolossale Miete zahle.

Frau Berthe Butterfaß, die ihrem Namen an Leibesumfang Ehre machte, die Gattin des Schneidermeisters in der Kellerwohnung, war die erste, die Mund und Nase aufsperrte und durch den veränderten Gesichtsausdruck auch sogleich die Frau des Gastwirts in demselben Hause, die durch ihre Küchenarbeit stark vertrocknete Sara Gabel und die Wirtschafterin des Hausbesitzers Gedalje Chili, die taube und halb verblödete Rosalie Toches, wie durch ein Blinkfeuer heransignalisierte.

Als das Getuschel seinen Höhepunkt erreichte und die zarten Frauenhände zur Unterstützung des Zungenschlags sich so lebhaft bewegten wie flatternde Hühnerflügel, kam auch noch eine christliche Mitbewohnerin des Hauses hinzu, Frau Mathilde Schüßler, die Witwe eines kleinen Beamten, die in der Mansarde Zimmer und Küche besaß, wovon sie das einzige Zimmer an zwei jüdische junge Leute abvermietet hatte. Der Glaubensunterschied war nicht groß genug, die noch größere Neugierde zu unterdrücken. Krampfhaft hielt die alte Frau den Milchtopf in der linken Hand und schob sich mit dem rechten Arm so dicht an die Frau Diamant heran, daß sie mit Befriedigung die neuen Ereignisse noch mehr erfahren konnte, wobei der graue Kopf mit dem spärlichen Ringelzöpfchen in wohlwollende Schwingungen geriet.

Jetzt betrat ein stattlicher junger Mann das Haus, Herr Moritz Feigenbaum aus Posen, der bei seiner Schwester, Gattin des im zweiten Stockwerk wohnenden Rabbinatskandidaten Dr. Benjamin Speckowski zu Besuch weilte.

Da es dem wohlerzogenen jungen Herrn nicht möglich und wohl auch nicht ungefährlich war, den festen Wall der eifrig disputierenden Frauen zu durchbrechen, faßte er sich in Geduld und wurde so wider Willen ein Zuhörer des weiblichen Parlaments. Dasselbe Schicksal ereilte den einen Untermieter der Frau Schüßler, den 23jährigen Uhrmacher Joel Gewürz. Der junge Mann, der etwas verwachsen, aber sonst von idealer Gesinnung war, kam als Flüchtling aus der Ukraine nach Berlin und hatte nicht nur in diesem Hause, sondern auch in der ganzen Straße viel Unliebsames zu erdulden. Wegen seines stillen in sich gekehrten Wesens und seiner Wortkargheit, hinter der sich ein reiches Gemüt verbarg, nannte man ihn spottweise kurzweg den »Chammer«, also einen Narren oder Esel.

Die Geduld der beiden jungen Männer wurde auf eine harte Probe gestellt, denn das Frauenparlament ging von einer Tagesordnung zur anderen über, und wer weiß, wie lange noch das Debattieren gedauert hätte, wenn nicht der Hausbesitzer im Augenblick der höchsten Not erschienen wäre.

Herr Gedalje Chili, ein Mann von 62 Jahren, Pelz- und Juwelenhändler aus Wilna, hatte nach dem russischen Zusammenbruch sein Vermögen noch nach Berlin retten und in diesem Hause anlegen können. Seiner Energie gelang es auch sehr bald, sich bei der stets aufsässigen und an Ordnung nicht gewöhnten Bewohnerschaft seines Besitztums Respekt zu verschaffen.

Kaum war die harte, etwas näselnde Stimme des Herrn Chili vernehmbar, der nicht übel dazwischen fuhr, als die Weiber schrill aufkreischten und auseinanderliefen. Es gab noch ein kurzes Geplänkel, eine Art Rückzugsgefecht mit Schimpfworten herüber und hinüber, aber, was die Hauptsache blieb, der Weg war frei.

Joel Gewürz ging mit seiner Wirtin, der Frau Schüßler, gemeinsam die Treppen hinauf. Hierbei erfuhr er noch ganz warm aus erster Quelle, daß bei Frau Machschewes in der vergangenen Nacht ein reicher Herr, wahrscheinlich der zukünftige Gatte der schönen Esther, abgestiegen sei.

Der junge Mann blieb einen Augenblick stehen und starrte seiner Wirtin ins Gesicht.

»Sie werden ja plötzlich so blaß, Herr Gewürz«, fragte die Wirtin unbefangen, »das Treppensteigen wird Ihnen trotz Ihrer Jugend wohl schon recht schwer?!«

Der Uhrmacher erwiderte nichts. Er seufzte tief und ging gedrückt und schweigend zu seinem Zimmer hinauf.


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