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In der Gabel'schen Kneipe.

In der Gastwirtschaft, die sich im Hause des Herrn Gedalje Chill befand, herrschte Hochbetrieb.

Hinter dem Schanktisch stand der Besitzer Wolf Gabel, in Miene und Haltung einem militärischen Befehlshaber gleichend, und kommandierte und verkaufte mit Würde und Behändigkeit. Die Uniform, die diesem General etwas salopp auf dem Leibe hing, trug noch deutlich die Husarenschnüre einer Morgenjacke aus Kameelhaar. Sonst aber mochte Herr Wolf Gabel, ein kräftiger blonder Mann in den fünfziger Jahren mit hochgezwirbeltem Schnurrbart an einen preußischen Unteroffizier aus der Vorkriegszeit erinnern. Niemand hätte vermutet, daß der Inhaber der Kneipe aus Lemberg stammte und vor etwa 8 Jahren, als er zum ersten Male das spärliche Licht der Grenadierstraße erblickte, mit ebensolchem Kaftan einherging und die gleichen Ringellöckchen trug, wie sein Landsmann Pufeles und die heute europäisch frisierten und angezogenen Gäste seines Lokals zur Zeit ihrer Einwanderung.

Die im Hochparterre gelegenen Räume waren ebenso eng und düster wie die übrigen Baulichkeiten des Hauses. Die ganze Wirtschaft bestand eigentlich nur aus einem mittelgroßen Gastzimmer, zu dem man über dem Treppenaufgang von der Straße aus gelangte. Hieran schloß sich ein schmales Billardzimmer und von dem ersten Raum zweigte sich dicht am Schanktisch ein enger und kurzer Korridor ab, von dem man rechts in die Küche ging. Da dieser Raum also eine gemeinschaftliche Mauer mit der Wand hatte, an der sich das Regal mit den Schnapsflaschen befand, so vermittelte eine Öffnung den Verkehr zwischen dem Gastwirt, der hier seinen dauernden Standort hatte, und der Küche. Am Ende des kleinen Korridors, knapp zwei Meter vom Gastzimmer entfernt, lag der Abort, durch einen schadhaften Glühstrumpf dauernd spärlich beleuchtet und in seiner Beschaffenheit ekelerregend, denn die langgezogenen Flecke an den Wänden protestierten hier in drastischer Weise gegen die Papiernot.

Von der anderen Seite des Schanktisches aus, gegenüber dem Eingang, führte gleichfalls ein schmaler und dunkler Korridor zu einem Raum von wenigen Metern im Geviert und ebenfalls dauernd von einer Gaslampe beleuchtet. Hier saßen des Abends, und auch wohl zu mancher Tageszeit, die Spieler in drangvoller Enge.

Das Personal der Kneipe bestand in einem schwarzhaarigen Kellner mit ehemals weißer Jacke und einem blonden jungen Mann mit schmaler Hakennase, der sich stets zur Verfügung des Chefs hielt und seinen Platz an der Ecke des Schanktischs nur verließ, wenn er die durch die Küchenöffnung verabfolgten Speisen auf die Tische stellte. Der andere jüdische Ganymed, der viel intelligenter aussah, versorgte das Spielzimmer und bildete offenbar eine Art Wachtposten, da er seinen Platz auf dem Korridor, der das verborgene Kämmerchen von dem Gastraum trennte, nur verließ, wenn er Speisen und Getränke vom Schanktisch holen mußte.

An dieser Stelle aber wurde nicht wie in einem anderen Berliner Restaurant gespeist. Es fehlte Tischtuch und Gedeck. Auf dem Schanktisch befand sich entweder ein Rinderbraten oder eine Gans. Das Fleisch wurde beim Rind nach Portionen, bei der Gans nach Achtel- oder Viertelstücken verkauft. Dazu eine Scheibe Brot. Nur selten ließ sich ein kultivierter Gast Messer und Gabel reichen, die anderen bemühten sich im Umhergehen oder Stehen Fleisch und Brot aus den Händen möglichst schnell zu verschlingen. Ferner stand eine Platte auf dem Schanktisch, die Schnitten mit Gänseschmalz bestrichen oder noch mit Fleisch belegt enthielt. Wer Appetit verspürte, sich das wohlschmeckende Gericht einzuverleiben, griff herzhaft zu und langte sich die begehrte Anzahl Schnitten heraus. Die Gäste schienen besonders vertrauenswürdig zu sein, denn niemand bezahlte gleich was er verzehrte, auch wurde nichts angeschrieben. Erst beim Fortgehen beglich jeder die Rechnung nach seinen eigenen Angaben.

Als Getränk wurde vorwiegend Tee mit einer Zitronenscheibe verabfolgt und kochend heiß getrunken. Der Verbrauch von Bier und Schnaps war gering, aber trotzdem erinnerte ein Vierundneunziger, also fast reiner Alkohol, der vielleicht in Großberlin nur an dieser Stelle zu haben war, an die russische oder polnische Heimat.

Die warmen Speisen, die hier verabfolgt wurden, zeichneten sich durch die Größe der Portionen aus. Nächst Gans, Rind und Klops waren es die besonderen jüdischen oder polnischen Gerichte, die bei diesen Gästen eine freundliche Aufnahme fanden, wie mit Mehl gefüllte Därme oder mit Blutgerinsel und Semmeln gefüllte Milz. Alles schmackhaft und pikant, mit Beigabe von Kartoffeln und sauren Gurken. Die Kostenfrage spielte keine Rolle. Es gab weder Speisekarten, noch bat ein Gast um vorherige Angabe des Preises. Eine schwarze Tafel an der Wand, die, mit Kreide geschrieben, in deutscher Sprache die Tagesgerichte nebst den Preisen angab, fand wenig Beachtung, da wohl nur ein geringer Teil der Gäste deutsch lesen konnte. Hier und da hing auch ein gedrucktes Plakat in hebräischen Buchstaben.

Was dieser Kneipe ein besonderes Gepräge gab, war nicht nur die Schnelligkeit, mit der die Gäste bedient wurden – eine fast militärische Disziplin –, sondern vor allem die Unruhe, die hier herrschte. Die wenigen Tische waren besetzt und der größte Teil der Besucher lief fast ständig hin und her, den Hut natürlich auf dem Kopf, denn niemand fiel es ein, die Bedeckung abzunehmen. Alles sprach, schrie und gestikulierte. Und aus dem verborgenen Spielzimmer drang näselndes Gesinge herüber.

An einem Tische sitzt Herr Pufeles und verhandelt mit zwei jungen Leuten, die Silbergeld, Gold und ausländisches Papiergeld vor sich liegen haben. Es wird probiert und gefeilscht. An anderen Tischen stecken die Gruppen ihre Köpfe zusammen, so daß man nicht sieht, womit sie sich beschäftigen. Wieder andere spielen Karten, aber sie tun dies in so geheimnisvoller Art, daß man sofort erkennt, es handle sich um verbotene Glücksspiele.

Das Geschäft ist schwierig, denn alle sind ausnahmslos gerissene Leute, auch die jungen Männer, die mit einem Pufeles zu tun haben, lassen sich sogar von diesem nicht übertölpeln. Schließlich kommt aber wenigstens nach hartem Kampf und vielfachem Anrufen Gottes ein teilweiser Abschluß zustande.

Nach der anstrengenden Arbeit trat eine kleine Ruhepause ein, denn alle Beteiligten waren etwas erschöpft und holten sich zur Kräftigung eine Anzahl Schmalzstullen mit Gänsefleisch vom Schanktisch. Herr Pufeles goß ein Glas heißen Tees hinunter. Dann winkte er die beiden Geschäftsfreunde näher an sich heran und sagte halblaut, aber doch so, daß es die Nachbarschaft noch verstehen konnte: »Ich kenn' noch ä bessere Ware als Gold und Silber; wozu muß man machen Geschäft mit totem Inventar? 's Lebendige ist mer lieber. Wenn ihr wißt ä hibsche Nekaiwe Nekaiwe = Mädchen, die nischt zu fragen hat nach ihre Mischpoche Mischpoche = Familie und die sich, so Gott will, verschicken läßt ins Ausland, könn'n wer alle verdien'n ä Zach Geld Zach Geld = viel Geld

Die jungen Leute schauten sich gegenseitig etwas verlegen an, denn sie wußten zunächst nicht, um was es sich in Wirklichkeit handelte, bis der eine von ihnen erwiderte: »Was kennt ihr schon groß verdienen, wenn ihr so ä arme Nekaiwe ä Anstellung verschafft im Ausland. Und solche Engagements liegen heint auch nich auf de Straß!«

Pufeles verzog seinen Mund zu einem breiten Grinsen, rückte noch näher an die jungen Männer heran und antwortete mit überlegenem Lächeln: »Was seid ihr nebbich doch für Chammers Chammers = Esel! Wie heißt ä Engagement? Werd ich nemmen nich ä Poschet Poschet = Pfennig von de Moad, so wahr mer Gott helfe, nich ä Poschet. Jenner soll zahlen, dem ich se schick', und die Leitchen sein nich knausrig, uff ä Tausender mehr oder weniger kommt's nich an!«

Der junge Mann schien noch immer nicht bekehrt. »Redden Se doch nich so ä Stuß«, warf er ungläubig ein, »wenn Se schon finden for de Mäden ä gutte Stell und jenner bezahlt in de Tausende, woher könn'n Se wissen, daß den Mäden gefällt de Arbeit?!«

Pufeles machte ein ironisches Gesicht und wiegte den Kopf hin und her, als er mit Nachdruck und bezeichnender Gebärde herausplatzte: »Arbeit werden de Mäden keine haben, darüber nemme ich jedde Garantie. Und verdienen soll'n se noch ä Zach Geld bei dem Vergniegen, das se sich selbst und den – – Mannsleiten verschaffen. Nu werd't ihr doch haben begriffen, ihr Parrachköpp?! Parrachköpp = Lausejungen Oder soll ich daitsch mit euch redden und sag'n, daß ich se schick'n werd' in ä Püffche Püffche = Puff, Bordell?!«

»Äsoi!« riefen die beiden jungen Männer gedehnt aus, »asoi, das hätt'n Se soll'n gleich sagen. Wer kann annehm'n, daß ä so bekoweter bekowet = anständig Jüd, wie Sie und ä Kozen Kozen = reicher Mann wie Sie, handeln will mit Menschenfleisch!«

Der Galizier wollte noch etwas erwidern, aber Pflaumenhaft, der sich soeben zwei Schnitten geholt hatte, setzte sich an den Tisch, um das Glas Tee, das er in der Hand hielt, mit Ruhe auszutrinken. Er hatte den letzten Teil der Unterhaltung deutlich gehört und war innerlich tief entrüstet über das Geschäftsgebahren seines Landsmanns und Glaubensgenossen, den er für einen respektablen Großkaufmann hielt. Im übrigen war er wegen seiner Armut gewohnt, nicht als vollwertig zu gelten, und der Zwang der Not, jedem seine Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen, brachte es mit sich, daß er mit allen gute Freundschaft hielt und seine eigene Meinung nie zum Ausdruck brachte. Nur, wenn er mit seinesgleichen zusammen war, also mit Arbeitern und Handwerkern, dann wurde er redselig und spielte nicht selten sogar die Rolle eines Agitators. Dies kam daher, weil der jetzt 28jährige Mann als russischer Kriegsgefangener mit Nihilisten und Bolschewisten lange Zeit in Konzentrationslagern zusammen war. In einem Vorort von Warschau hatte er sich früher als Kutscher betätigt und ernährte sich jetzt als Gelegenheitsarbeiter, wobei ihm seine vielfache Geschicklichkeit sehr zustatten kam.

Die zahlreichen Frauen, die in dem Lokal wie auf der Promenade hin und her gingen, waren zumeist Gattinnen der Spieler im Hinterstübchen. Aber auch andere Weiber waren dort. Teils solche, die der leiblichen Genüsse wegen erschienen, wenn sie verheiratet waren, in Begleitung der Männer, wie Frau Berthe Butterfaß mit ihrem schmächtigen Ehegesponst, teils wieder Frauen, die Geschäftsverbindungen anknüpfen wollten, wie Frau Raja Diamant, die mit einer Anzahl Geschlechtsgenossinnen eifrig diskutierte.

Die Kleidung der weiblichen Gäste war außerordentlich charakteristisch, ein Gemisch von moderner Eleganz und polnischer Schlamperei. Alle waren barhäuptig, die Frisuren zumeist in Unordnung, sodaß die Haare wirr ins Gesicht und über die mit Perlen und Brillanten behängten Ohren fielen. Einige hüllten sich in kostbare Mäntel aus Pelzwerk oder Plüsch, andere hatten karierte Tücher umgeschlagen, die nur den Oberkörper bedeckten und Röcke aus kostbaren Stoffen zwar, aber beschmutzt, frei ließen. Nach unten hin zeigte sich bei allen gemeinsam das Bestreben, den modischen Launen ihren Tribut zu zollen, denn sie trugen hellfarbene seidene Florstrümpfe und Stöckelschuhe in den neuesten Formen aus Lackleder oder braun, chamoix und mehrfarbig. Diese Eleganz hinderte sie freilich nicht, die triefenden Nasen statt mit dem Taschentuch mit der Hand zu wischen.

Als der eine der jungen Leute am Tische des Pufeles der Frau Diamant, die nach vollbrachter Aussprache ihren Spaziergang durch das Lokal machte, ansichtig wurde, ging er zu ihr heran, um wegen einer Schlafstelle für einen Freund mit ihr zu verhandeln. Und da ihm bekannt war, daß die Zimmervermieterin einem Gelegenheitsgeschäft nicht abgeneigt sei und viel weiblichen Umgang habe, fragte er sie scherzhaft, ob sie nicht »Mäden« verschachern möchte. Frau Diamant tat sehr beleidigt und wich einen Schritt zurück. Aber in demselben Augenblick trieb sie doch der Handelsgeist und die Sucht nach Gelderwerb dazu, die Bemerkung fallen zu lassen, daß bei solchem Geschäft nicht viel zu holen sei. Gleichsam, um das Gegenteil zu beweisen, zog der junge Mann sie jetzt am Arme an den Tisch des Pufeles und überließ es dem Galizier, sich mit der neuen Partnerin selbst ins Einvernehmen zu setzen. Es dauerte auch garnicht lange, bis er die Frau überzeugt hatte, daß es sich um ein müheloses und gewinnbringendes Unternehmen handele, schon, weil die Zahl derjenigen Mädchen, die bei der gegenwärtigen Wirtschaftslage gern ins Ausland möchten, nicht gering sei.

Frau Diamant war zwar gern dabei, wo es galt, ein Prositchen zu machen, aber sie gehörte doch zu den vorsichtigen Händlerinnen, die in keine neue Sache hineinspringen, ohne vorher alle Möglichkeiten unvorhergesehener Überraschungen gründlich zu erwägen. Und deshalb wies sie darauf hin, daß die geplante Vermittlung an sich vielleicht nutzbringend sein könnte, daß aber die strengen Paßvorschriften und die Grenzüberwachung die Durchführung des Vorhabens illusorisch mache.

Herr Pufeles wehrte lebhaft ab, für ihn gäbe es überhaupt keinerlei bürokratische Schwierigkeiten. Die österreichische Grenze sei früher sogar von Vereinen gegen den Mädchenhandel dauernd überwacht worden und dennoch habe er in jedem Jahre vier Trupps zumeist polnischer Mädchen nach Holland und Argentinien abgeschoben. Es käme lediglich darauf an, daß die begleitenden Vertrauensmänner die Jungfern in Sicherheit wiegten. Und falls es schließlich erforderlich sei, Ausweispapiere und andere Dokumente zu beschaffen, so würde es an geeigneten Helfern hierfür nicht fehlen.

Als die beiden jungen Leute, die jetzt eifrig bei der Sache waren, dies hörten, sprachen sie, wie aus einem Munde, daß sie einen rechtsgelehrten Herrn wüßten, den sie heute Abend schon in der Kneipe gesehen hätten, und der als guter Berater in solchen Fragen bekannt sei. Und der eine von ihnen erhob sich sogleich und ging auf die Suche nach dem Juristen, den er nach wenigen Minuten an den Tisch führte. Es war der Assessor von Niemßdorf, der Untermieter bei Kunze.

Dieser Assessor, ein junger Mann von 25 Jahren, aus guter Familie stammend und glänzend begabt, war infolge seiner Vorliebe für Weib, Wein und Spiel völlig verbummelt und arbeitsscheu geworden. Da er schon verschiedenes auf dem Kerbholz hatte, blieb ihm die weitere juristische Laufbahn verschlossen, und seitdem trieb er sich in den Lokalen des Ghettos umher, wohin ihn der Zufall verschlagen hatte, und lieh seine Kenntnisse und seinen juristischen Scharfsinn allerlei dunklen Machenschaften. Er besorgte auch Ausweise und amtliche Dokumente jeder Art und man munkelte, daß er sie stets persönlich gefälscht habe. Bei dieser gewagten Tätigkeit flossen ihm reichliche Mittel zu, aber ebenso mühelos, wie er das Sündengeld verdiente, warf er es auch mit vollen Händen wieder von sich, so daß er trotz alledem eigentlich nie etwas besaß und immer wieder gezwungen war, sich in neue Schmutzgeschäfte einzulassen.

Pflaumenhaft war inzwischen schon fortgegangen, sodaß die Gruppe alle Knifflichkeiten des Unternehmens ungestört besprechen konnte. Niemßdorf lächelte erhaben, als Frau Diamant und Pufeles, nachdem sie ihre Absicht bekannt gegeben hatten, die Frage an ihn richteten, ob er bereit sei, alle schriftlichen Arbeiten in dieser Sache zu übernehmen und die erforderlichen Dokumente zu beschaffen. Der Assessor erklärte sich nicht nur sofort mit allem einverstanden, sondern versprach auch für die nötigen Anstellungsverträge, konsularischen Empfehlungen und erforderlichen Korrespondenzen zu sorgen. Hierzu aber brauche er eine gewisse Zeit und einen entsprechenden Vorschuß.

Pufeles, der als geriebener Gauner sogleich erkannte, daß man sich eine so gewandte Persönlichkeit wie den Assessor warm halten müsse, überreichte ihm ohne Zögern eine Anzahl Banknoten und erbot sich ferner, ihn für den Rest des Abends als seinen Gast zu behandeln. Der Herr von Niemßdorf ließ sich nicht zweimal einladen. Er bestellte sich ein Viertel Gänsebraten und eine Flasche Wein in Begleitung mehrerer ausgesuchter Schnäpse. Die jungen Leute und Frau Diamant entfernten sich bald, sodaß Herr Pufeles, der selbst kein Alkoholiker war, allein das Vergnügen hatte, sich der kostspieligen Genußsucht seines Gastes zu erfreuen. –

Inzwischen ging es in der Kneipe immer ein und aus wie in einem Taubenschlag, und der Wirt mußte seine Regsamkeit verdoppeln, um die schnelle Bedienung und die straffe Disziplin aufrecht zu erhalten. Jetzt zapft er das Bier in die Gläser, langt in die Küchenöffnung, um warme Speisen und Tee herauszunehmen und mit lautem Kommando dem ihn assistierenden Gehilfen zu überreichen, und in derselben Sekunde verkauft er Zigaretten oder springt an einen benachbarten Tisch, wo neben einer Brotschneidemaschine zahlreiche Brote aufgestapelt sind. Mit einer Schnelligkeit sondersgleichen schneidet er das ganze Brot auf, ergreift die Schnitten mit seinen schmutzigen Händen, springt hinter den Ladentisch, um die dort in dem Augenblick angesammelten Gäste mit der gleichen Fixigkeit zu bedienen, und macht alles selbst und übersieht alles und ist immer auf seinem Platze. Ein außergewöhnlich tüchtiger Mann, der es bald zu wohlverdientem Vermögen gebracht haben wird.

Schon in vorgerückter Stunde kam Familienbesuch: Täubche Melber, jetzt genannt Gertrud, die 26jährige Tochter der Gabel'schen Eheleute, die mit dem 36jährigen Moische Melber, jetzt genannt Max, Besitzer eines Manufakturwarengeschäfts in der Klosterstraße, verheiratet ist. Das Paar, das am Bayrischen Platz wohnt, ist mit ausgesuchter Eleganz gekleidet, und der Herr Gemahl, der sich bemüht, den vornehmen Herrn zu spielen, ließ unschwer erkennen, daß er sich unter diesen Gästen nicht heimisch fühle. Das Täubche hingegen, ein echtes Kind ihres Vaters, schickte sich sofort an, ihren Mantel auszuziehen und dem hart bedrängten und sich abrackernden Vater behilflich zu sein, obwohl sie in ihrer großen, etwas massigen Erscheinung wenig Behendigkeit verriet und der wohlfrisierte schwarzhaarige Kopf mit dem durch ein träges Leben etwas aufgeschwemmten nicht unschönen blassen Gesicht wirklich nicht hinter diesen ästhetisch wenig anmutenden Schänktisch paßte. Herr Melber protestierte denn auch sehr lebhaft gegen solche unstandesgemäße Dienstfertigkeit seiner Frau, wobei es zu einer scharfen Auseinandersetzung kam. Das Täubche zeigte sich ihres Namens recht unwürdig, sie gebärdete sich sehr temperamentvoll und wenig zahm und ließ es an drastischen Ausdrücken nicht fehlen. Unter anderem warf sie ihrem Manne auch vor, als er naserümpfend und mit verächtlicher Gebärde auf die Art der Gäste hinwies, daß er selbst vor nicht allzu langer Zeit ebensolch Jüd gewesen sei und als Hausierer mit dem Sack auf dem Rücken angefangen habe. Erst dem Dazwischentreten des Vaters gelang es, dem unerquicklichen Streit ein Ende zu machen und die beiden nach der Küche abzuschieben.

Diesem Auftritt, der im Gastzimmer viel Heiterkeit erregte, folgte ein Streiten und Lärmen, das aus dem Hinterstübchen drang. Noch ehe der Wirt den Ort der Handlung erreicht hatte, um auch hier Frieden zu stiften, war der Schauplatz der Zänkerei nach dem Gastzimmer verlegt, denn eine Gruppe von Männern und Weibern war nach hier geeilt, wahrscheinlich, um den Ausgang zu erreichen, und nun erhob sich ein ohrenbetäubendes Geschrei in fremdartigen Kehllauten, unterstützt durch schlenkernde Bewegungen der Arme und Hände und hier und da bedrohlich illustriert durch eine Anzahl geballter Fäuste. Der Ursprung dieser Erregung wurde erst allgemein bekannt, als eine blonde Frau mit gewöhnlichem Gesicht, aber in einen Pelzmantel gehüllt, laut schimpfend durch das Gastzimmer promenierte und sich bei allen, die es hören wollten, darüber beklagte, daß ihrem Manne in der Hinterstube tausend Mark aus der Überziehertasche gestohlen worden seien.

Der Wirt mußte an solche Ereignisse schon gewohnt sein oder er hielt die Behauptungen der jammernden Frau für glatten Schwindel, weil er keine Spur irgendwelcher Erregung oder Anteilnahme zeigte. Der einzige Trost, den er zu spenden versuchte, war die trockene Bemerkung, daß ihm vor einiger Zeit ebenfalls ein Cutaway und ein Kostüm gestohlen worden seien.

Durch den Lärm und die Unruhe im Laden wurde auch Frau Gabel, die Gattin des Kneipenbesitzers, aus ihrem ständigen Aufenthaltsort, der Küche, hervorgelockt. Die Frau, die im Vergleich zu ihrem frischen Ehemann trotz der noch leidlich schwarzen Haare viel älter aussah, war dünn und formenlos wie eine Dachlatte und machte mit ihrem gelblichen vertrockneten und verrunzelten Gesicht den Eindruck, als ob sie selbst tagelang im Backofen gedörrt worden wäre.

Der Frau Gabel, eine offenbar sehr harmlose und gutmütige Person, schien der Vorfall sehr peinlich zu sein. Sie stellte sich neben den Schanktisch und versuchte die auf und ab spazierende immer noch laut vor sich hinsprechende Blondine im Pelz zu beschwichtigen. Das etwa zehnjährige Töchterchen der Gabel'schen Eheleute, ein sehr aufgewecktes aber schmierig aussehendes Kind, das in geringer Entfernung vom Schanktisch zwischen den Gästen saß und in einem Lesebuch blätterte, geriet plötzlich aus unerkennbaren Gründen über die Einmischung seiner Mutter in derartige Erregung, daß es recht respektlos hinüberrief: »Was mengste dir ein, hat doch nischt mit dir zu tun!«

Zwei Schupoleute erscheinen auf der Bildfläche. Man weiß nicht, ob sie jemand gerufen hat oder ob sie nur ihren Durst löschen wollten, denn sie gehen unbefangen an den Schanktisch. Die Uniformen aber wirkten merkwürdig abführend. Das Lokal wurde plötzlich so leer, daß man die einzelnen Gäste zählen konnte und der allgemeine Aufbruch vollzog sich dermaßen stürmisch, daß nicht einmal eine Blitzlichtaufnahme möglich gewesen wäre. Indessen unterhielt sich der Wirt mit den Sicherheitsbeamten und verabreichte Bier und Zigaretten. Man merkte es ihm und den Schupos an, daß er sich mit der Polizei sehr gut stand.

Herr von Niemßdorf hatte sich am Wein und Schnaps vollgesogen und konnte sich kaum noch aufrecht erhalten, als Pufeles ihn hinausführte. Von den Hausbewohnern saßen jetzt nur noch Frau Butterfaß mit ihrem Mann an einem Ecktisch und unterhielten sich lebhaft mit Bekannten.

Während des Genießens und Lärmens in der Kneipe, wo die Geldscheine wie wertlose Lappen massenweise herumflogen und die Lust und Freude am Leben allen Räumen eine warme Behaglichkeit verlieh, gingen die »Schnutengräfin« und die »Dollarrieke« auf naßkalter Straße hungrig und fröstelnd ihrem schimpflichen Gewerbe nach.

An der Ecke der Weinmeisterstraße machte die Breitenbach nach langem vergeblichen Bemühen endlich die Bekanntschaft eines jungen Mannes, den sie in die Gabel'sche Wirtschaft führte, um sich durch einen Grog zu erwärmen, während die Schnalzer ihren strichweisen Raubzug fortsetzte.

Aus dem einen Grog werden mehrere. Der Rum paarte sich mit Bier und Schnaps, und die Folge des genossenen Alkohols war schließlich, daß der junge Mann, wieder auf der Straße angelangt, sein eigenes Paarungsbedürfnis vergessen hatte und sich weigerte, die Dirne in ihre Wohnung zu begleiten.

Die »Schnutengräfin« denkt nicht daran, den erhofften Gewinn so ohne weiteres aufzugeben, und die Holde, die sich kurz vorher am Kneiptisch noch in verführerischem Liebesgeflüster erging, wurde plötzlich zur Megäre und überhäufte den jungen Mann laut keifend und kreischend mit einer Flut gemeinster Schimpfworte.

Hugo Schramm, der aus seiner Destille kam, näherte sich in diesem Augenblick dem Hause. Er bleibt stehen, hört, um was es sich handelt und hält es für seine Pflicht als Kavalier dem liebesunmutigen Jüngling eine gehörige Tracht Prügel zu verabfolgen.

Angesichts der drohenden Gefahr und weil der ritterliche Beschützer seine breitspurige Tatze bereits nach ihm ausstreckte, erhob der junge Mann ein fürchterliches Hilfegeschrei.

Die menschenleere Straße wurde jetzt lebendig, und die beiden patrouillierenden Schutzleute bogen um die nächste Ecke und eilten dem Schauplatz zu.

Nunmehr hielt es der sonst so verwegene Schramm für durchaus notwendig, sich mit der Dirne schnellstens in das Haus zurückzuziehen.

Im Treppenflur erst erkannten die beiden ihre Nachbarschaft und Zugehörigkeit miteinander und das Ergebnis dieses Sichfindens war naturgemäß eine gemeinsam zu verbringende Nacht.

Kurz darauf kehrte auch die Schnalzer mit einem bebrillten älteren Herrn heim und die Lichter der Gabel'schen Wirtschaft verloschen.

Krachend fielen die Rolläden herunter.


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