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Ein lebhaftes Haus.

Schon nach einigen Wochen war Herr Noa Pufeles aus Krakau nicht mehr wiederzuerkennen. Die heimatlichen Ringellöckchen verschwanden, und das belebte struppige und verfilzte Kopfhaar verwandelte sich unter der geschickten Hand eines Friseurs in eine moderne kurzgeschnittene Tracht. Der ungepflegte Bart fiel dem Rasiermesser zum Opfer, und wer Herrn Pufeles jetzt mit seiner veränderten Physiognomie und in moderner eleganter Kleidung sah, hätte ihn zweifellos für einen Amerikaner gehalten.

Äußerlich verjüngt, elastisch, soweit seine Körperfülle dies zuließ, geistig rege, von bienenhafter Betriebsamkeit, war Herr Pufeles nunmehr ein Mann, der sich in der Berliner Geschäftswelt sehen lassen konnte. Nur mit der Sprache haperte es noch, denn seine galizische Mundart konnte sich dem Hochdeutsch nur sehr schwer anbequemen, sodaß er trotz äußerer Eleganz und sicheren Auftretens schließlich doch immer wieder als galizischer Jüd erkannt wurde.

Die Empfänglichkeit des weiblichen Geschlechts für Äußerlichkeiten zeigte sich auch hier wieder in der Entwicklung seiner Beziehungen zur Frau Machschewes.

In den ersten Tagen nach seiner Ankunft waren sich beide gegenseitig ein Greuel. Man begrüßte sich kaum. Und wenn die Vermieterin das Geld ihres Untermieters nicht gar so nötig gehabt hätte, wäre es ihr am liebsten gewesen, den schmierigen und geizigen Herrn Pufeles aus Krakau nie wiederzusehen.

Das alles änderte sich mit der äußeren Wandlung des Galiziers, und je mehr äußerlich von seinen heimatlichen Bestandteilen der europäischen Tünche verfiel, desto freundschaftlicher gestaltete sich der Verkehr mit seiner Wirtin und der schönen Esther.

Innerlich freilich war sowohl mit Herrn Pufeles, wie auch mit Frau Machschewes, geistig und ethisch keinerlei Veränderung eingetreten. Beide blieben das, wozu ihre Heimat und die jahrhundertelange Isolierung sie erzogen oder gezüchtet hatte: materiell gerichtete Menschen, die nur im Geldbesitz das allein zu erstrebende Glück suchten, denn mit dem Gelde ließen sich ihrer Ansicht nach alle Freuden des Lebens käuflich erwerben.

In dieser Beziehung also waren die beiden Landsleute gleich geartet und es fragte sich nur, wie der eine von dem anderen nach derselben Tendenz die größtmöglichen Vorteile erringen könnte.

Frau Machschewes witterte sehr bald, daß das weltmännische Auftreten des Herrn Pufeles mit guten Geschäften zusammenhängen müsse. Und da es sie reizte, von dem gerissenen Landsmann zu lernen und sich in größeren Gelegenheitsgeschäften zu erproben, suchte sie einen engeren Anschluß. Und der Hausgenosse, der den Gedanken noch nicht aufgegeben hatte, aus der schönen Esther ein beträchtliches Kapital herauszuschlagen, hatte den gleichen Wunsch, wenn auch aus anderen Beweggründen.

Die Gelegenheit zur Erfüllung des beiderseitigen Verlangens bot das Chanukafest, das jüdische Weihnachten.

Alle Juden, ob verheiratet, verwitwet oder Junggesellen, haben das Bestreben, die Feiertage im Familienkreise zu verbringen. Und so fanden sich Herr Pufeles, Frau Machschewes und die schöne Esther zu einem Festessen am Vorabend der Chanukatage zusammen.

Das Tischgespräch drehte sich zunächst um religiöse Dinge, weil der Gast in Vertretung des Hausvaters die vorgeschriebenen Gebete zu verrichten hatte. Bald aber streifte die Wirtin geschäftliche Fragen und lockte so allmählich ihren Landsmann auf das Gebiet ihres persönlichen Interesses.

Nach dem üppigen Mahl und bei fettem Kuchen und dampfendem Tee wurde Herr Pufeles immer redseliger und plauderte seine Geschäftsgeheimnisse ganz unbefangen aus.

»Nu seh'n Se, meine liebe Frau Rochel«, sagte er listig lächelnd und mit einem starken Einschlag von Anmaßung, »Sie sind ä gutte Hausfrau und ä kluge Person, alle Ehr', aber ä Geschäftsfrau werd'n Se nischt werd'n, dazu fehlt Ihn'n der männliche Verstand, wie Se seh'n in mir. Do renn'n de Leit herum und plag'n sich ab, und de Ponimmer Ponimmer = Gesichter werden immer länger und hagrer, und sie verdien'n knapp 's trockne Brod. Da seh'n Se mir an, den Pufeles! Ich renn' nich und ich racker mer nich ab und doch hab ich mehr als de andern Leit zusamm'n. Das kommt daher, weil der Pufeles sich versteht umzustell'n, grad auf de Zeit, was wird verlangt. Gehandelt hab ich in Krakau mit allerlei alte Kleider und hab de Lumpen geschleppt wie ä Packesel. Dann hab ich gesessen mit meine Ische und wir hab'n die Fettflecke und den anderen Dreck herausgerieben und gewaschen und gebügelt und hab'n de Sachen, wenn's ging, verkinjet verkinjet = verkauft wie neu. Hab ich verdient ä scheen Stück Geld. Und Pufeles, der nich is auf'm Kopp gefallen, hat sich hingestellt und hat gesammelt de Gelder in Papier, Gold und Silber von alle Länder, weil ich hab gewußt, nach dem Krieg wird kommen ä Zeit, wo das Geld wird haben ä größeren Wert von de Länder, die hab'n gesiegt; und von de andern, die sind unterlegen, wird's Geld in Papierene sein wie de Spreu im Wind. Und so bin ich geworden ä Mann, der sich ernährt hat von de Valuta. Wissen Se was ä Valutamann is. Nu, ich werd's Ihn'n sagen! Ä Valutamann kauft de Papierche, wenn se steh'n schlecht und er verkauft se, wenn se steh'n gut. Bloß de Kunst is, zu wissen, wie mans machen muß, um de Papierche zu Fall zu bringen. Und das tut man ä soi, indem man die heimischen Papierchen ins Ausland bringt. Kommt zu viel von der Sorte auf de Börs zum Verkauf, fällt das Papierche immer mehr und ich kauf se dann hier billiger, als ich se hab verkauft. Und ä soi macht' ich's mit alle Länder. Und wo ich kriegen könnt' ä Goldstück oder ä Silberling kauft ich und zahlte de höchsten Preis, denn es gibt Länder, wo man zahlte das Zehnfache mehr. Und ich kaufte auch Bruchgold und Silbersachen, was mer grad gekommen war unter de Händ. Alles ging über de Grenz. Und do liegt de wunde Stell, denn de meschuggenen Regierungen haben verbotten de Ein- und Ausfuhr. Aber was tu ich mit dem, was mer so ä Parlament hat verbotten, wenn ich seh, daß Gott mer zeigt den Weg, wie ich kann komm'n zu Neschiris Neschiris = Reichtum!

Herr Pufeles machte eine kleine Pause, während er sich zugleich an einem dicken Stück Kuchen und einer Tasse Tee ergötzte.

Frau Machschewes saß nachdenklich da und seufzte. Sie hatte zum ersten Mal in ihrem Leben erkannt, daß es Geschäfte gibt, die eine Frau nicht ausführen könnte. Besonders gefährlich erschien ihr die Übertretung der gesetzlichen Verbote und die Ausfuhr der edlen Metalle und Wertobjekte. Deshalb fragte sie mit einer gewissen Ehrfurcht vor dem tapferen Landsmann: »Und da hab'n Se keine Angst gehabt um Ihr Leben, wenn Se wie ä Schmuggler mit de Ware über de Grenze ging'n?«

Pufeles lachte hell auf.

»Nu, mein'n Se wirklich, Frau Rochelleben, daß ich werd so dumm sein, meine scheene fette Haut zu Markt zu trag'n?« erwiderte er, schlau mit den Augen zwinkernd, »dazu hab ich gehabt meine Chaweirim Chaweirim = Genossen im Auslande, die alle 14 Tog nach Deutschland kamen und mit mir Chawrusse Chawrusse = Gemeinschaft, Kompagnie machen, Verlust und Gewinn hier und drüben auf Chawrusse. Und jenne Bochers Bochers = Männer kamen und gingen über de Grenz, weil se sind Untertan von de siegreichen Länder und de Zollbeamten, die alle Deutsch'n visetier'n bis auf'm Nabel, zieh'n vor jenne Bochers de Mütz und sag'n pardon, monsieur!«

Die geschäftseifrige Wirtin schien wieder Mut zu fassen, denn sie meinte, solchen Handel könnte sie jetzt noch betreiben, wenn sie geeignete Helferinnen im Auslande fände. Erst vor einigen Tagen hätte sie Gelegenheit gehabt, von einer alten Frau, der sie im Grünkramladen begegnete, Bruchgold billig zu kaufen.

Herr Pufeles schmunzelte bedächtig, als er seine Gastgeberin so selbstbewußt reden hörte. Er wiegte den Kopf hin und her, zog die Stirn in Falten und sprach gedehnt: »Tscha, Frau Rochelleben, so leicht is de ganze Sache nämlich doch nich. Zunächst müssen Se wissen, wie hoch steht das Gold hier und was man zahlt im Ausland. Alles muß gelernt sein. Wie Sie versteh'n aus ä Gans zu machen zwanzig Portioncher und ä Topp Schmalz und ä Schüssel Grieben, so versteht der Pufeles zu lesen de Kurs von de Börse. Und so lang Se nischt wissen von ä solche Bankgeschäfte, lassen Se de Händ davon und handeln Se lieber mit Unterröck. Ich geb Ihn'n wirklich ä gutten Rat aus alter Freundschaft und weil ich gemerkt hab heint, daß Se was versteh'n von de gutte Küch, denn aufrichtig gesagt, geschmeckt hat mer's heint einfach prima. Aber, wenn's ä bissel mehr gwes'n wär, hätt's nischt geschad't!«

Frau Machschewes schwieg und der eßfreudige Gast widmete sich einige Minuten behaglicher Verdauung.

Sein Blick fiel auf Esther, die sich während der Unterhaltung in eine illustrierte Zeitschrift vertieft hatte. Und sofort schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf. Endlich hatte er den Ausgangspunkt seines großen Plans gefunden. Das noch vor einer Minute so selbstzufriedene Gesicht des Galiziers bekam plötzlich etwas Teuflisches. Die Augenwinkel reckten sich in die Höhe, die Nase wurde noch spitzer als sie schon war, und die schmalen Lippen zogen sich zu einem breiten Grinsen auseinander, als er, jedes Wort vorsichtig abwägend, die Unterhaltung mit seiner Wirtin wieder aufnahm.

»Wie gesagt, Frau Rochelleben, alles muß gelernt sein,« sprach er im Tone eines Dozenten, aber an dem Zittern der Mundwinkel konnte man doch erkennen, daß etwas Besonderes in ihm vorging, »und wenn auch der gutte Wille da is, und man möcht gern, sobald der Mensch in de gewisse Jahre kommt, ist's nischt mehr mit's Lernen. Was man da nich kann, geht nich mehr rin in'n Kopp. Ich hab mer von Jugend auf interessiert for de Börs, wo mei Tate Tate = Vater selig hat gestanden vor de Tür und hat gehandelt mit wollne Socken und Fischblasen, und als ich gekonnt lesen jiddisch und deutsch, hab ich gleich gegriffen zu de Kurse. Nu sehn Se, Frau Rochelleben, wo de Fehler stecken, die nischt mehr nachzuholen sind. Aber das schad't nischt. Was Sie nich gelernt hab'n, das kann lern'n er anderer for Ihn'n und so könn'n Se doch kommen zu ä Neschiris, ohne sich abzurackern. Und wemmen hab'n Se alles zu verdanken?! Dem gutten Freund Pufeles, der sich's Köppche zerbrochen hat, wie er aus Ihn'n könnt machen ä Kazinite Kazinite = reiche Frau]

Der schlaue Galizier hielt bewußt inne, um die Wirkung seiner Rede abzuwarten.

Frau Machschewes hatte aufmerksam zugehört. Sie war gespannt auf die erwarteten Vorschläge und fühlte sich jetzt enttäuscht, nichts anderes gehört zu haben, als ihrer Ansicht nach ein müßiges Geschwätz. Deshalb starrte sie den beredten Tischgast an, und als dieser noch immer schwieg, sagte sie etwas nervös: »Nu, alter Freund, was tu ich mit euerm Geschmuß. Se mach'n mer 'n Mund wässrig und als ich zuchappen will, zieh'n Se mir de Pastete weg vor de Nos. Wer kann lern'n vor mir, wenn ich nebbich for nix mehr bin zu gebrauch'n?!«

Pufeles grinste satanisch und löffelte anscheinend gleichgültig in seinem Teeglas.

»Se hab'n mer bloß nich ausredd'n lass'n, Frau Rochelleben«, schmunzelte er mit pfiffiger Miene, »grad wollt' ich's Ihn'n sag'n aber beinah hätt'n Sie selbst 's erraten könn'n. Schau'n Se nur Ihr Töchterche an, die hat noch ä klaren Kopp zu lern'n, wenn Sie se ä halbes Jahr ins Ausland schick'n, wo se studier'n kann in ä große Bank. Und ich will noch ä Besonderes tun for Ihn'n, weil ich heint bin gewes'n Ihr Gast und es hat mer geschmeckt ganz ausgezeichnet wie im feinsten koschern Restaurant in Krakau, und wenn's beliebt will ich dem lieben Maidelche verschaff'n ä gutte Stell, wo se noch derzu verdient ä Stück Geld in ausländische Devisen und sich nischt langweilt wie zu Haus bei de Mamme!«

Frau Machschewes mußte wohl ein recht verblüfftes Gesicht gemacht haben, denn der Galizier versenkte seine Nase in das Teeglas, um dem forschenden Blick der gegenübersitzenden Mutter der schönen Esther zu entgehen. Aber die inneren Vorgänge, die zu dem erstaunten Aussehen der geldgierigen Frau führten, waren ganz anderer Natur, als Herr Pufeles annahm; die materiellen Neigungen dieser echten Galizierin überwogen nämlich bei weitem die natürlichen mütterlichen Instinkte. Und die Frau, die jahrzehntelang von dem Waschen toter Menschenleiber ihr Dasein fristen mußte, konnte in ihrem Lebensherbst ohne Gemütsregung über Leichen schreiten, wenn sich ein Ausblick bot für Geld und wieder Geld und ein genußreiches, beschauliches, wenn auch nur kurzes Erdenwallen. Ihr Erstaunen war also gleich bedeutend mit plötzlicher Erleuchtung: ein berauschender Ausblick in die Zukunft.

Der gewissenlose Tischgast hatte noch keine Ahnung, daß ihm seine Arbeit so leicht gemacht werden würde und daß sein Wurf so sicher glücken sollte, er hätte sich sonst nicht weiter schweigsam verhalten, sondern mit gewohnter Geschäftsenergie den Abschluß sofort getätigt. Er hielt es auch für unklug, nur ein einziges Wort über das Thema zu verlieren, bevor nicht die Mutter des Mädchens zu dem Plan in irgendeiner Weise Stellung genommen hätte.

Frau Machschewes hatte ihren Entschluß aber bereits gefaßt und war nahe daran, mit ihrem Landsmann die näheren Einzelheiten des Unternehmens zu besprechen, als ein plötzliches Ereignis die weitere Unterhaltung der ebenbürtigen Partner jäh verhinderte.

Vom Treppenaufgang her klang ein entsetzliches Hilfsgeschrei herüber. Man hörte deutlich klatschende Schläge, das dumpfe Fallen eines menschlichen Körpers und jämmerliches Kreischen. Dazwischen kläglich wimmernde Kinderstimmen und den rollenden Baß eines tobenden Mannes, dessen unartikuliertes Gebrüll, Schimpfen und Fluchen das altersschwache Gebäude wie ein Gewittersturm erzittern machte.

Im Augenblick war das ganze Haus alarmiert. Die meisten Bewohner und Bewohnerinnen hatten sich schon zur Ruhe begeben und kamen nun in den merkwürdigsten Notbekleidungen die Treppen hinauf oder heruntergelaufen. Die jüdischen Frauen hatten keine Zeit mehr gefunden, ihre Nachthauben mit den Scheiteln zu vertauschen, sie warfen sich der Kälte wegen in ihre Wintermäntel, unter denen das oft unerfreulich farbige Nachthemd wie ein Ballkleid im Batikstil recht schamlos herauslugte. Und die ausgetretenen Filzpantoffeln in Verbindung mit den Nachthauben trugen das Ihrige dazu bei, dem dramatischen Vorgang ein ungewollt komisches Gepräge zu geben.

Die Frau des Metallarbeiters Kunze, der im dritten Stockwerk wohnte, lag blutüberströmt auf dem Treppenpodest, und während die fünf Kinder im Alter von 3-9 Jahren laut schreiend auf der Mutter lagen, um sie vor weiteren Gewalttaten ihres Vaters zu schützen, hieb der entmenschte Gatte solange auf seine Fraue ein, bis der Assessor Erich von Niemßdorf, der bei Kunzes wohnte, und Moritz Feigenbaum den tobenden Arbeiter von seinem ohnmächtigen Opfer gerissen hatten.

Joel Gewürz und sein Stubengenosse Leib, genannt Leo Pflaumenhaft, waren mit ihrer Wirtin, der Frau Schüßler, auch herbeigeeilt und den vier jungen Männern gelang es, Kunze in eine Ecke zu drängen und ihn solange festzuhalten, bis er sich zu beruhigen anfing.

Inzwischen hatten sich die Frauen um Frau Kunze bemüht und die Ohnmächtige durch herbeigeschaffte Medikamente wieder zur Besinnung gebracht.

Unter den Anwesenden befanden sich außer dem Rabbinatskandidaten Dr. Speckowski, dem Schwager des Moritz Feigenbaum, noch zwei Straßendirnen, die 26jährige Luise Schnalzer, die in dem Stadtviertel unter dem Spitznamen »Die Dollarrieke« bekannt war und die 35jährige Anna Breitbach, die den Spitznamen »Die Schnutengräfin« führte. Beide hatten gegenüber der Kunzeschen Wohnung ein gemeinschaftliches Heim von zwei Zimmern und Küche. Im Hause selbst hatten die beiden Frauenzimmer bisher noch nicht von sich reden gemacht und niemand kümmerte sich um sie. In ihren Kreisen aber galten sie als keß und verwegen. Die Schnalzer bekam ihren Spitznamen, weil sie während der Inflation vorwiegend Männer einzufangen suchte, die ihre Huld mit Dollarnoten oder mindestens mit anderen ausländischen Zahlungsmitteln zu entlohnen vermochten, aber sie tat es auch billiger und scheute sich nicht, den einfachsten Arbeiter mitzunehmen. »Die Schnutengräfin«, die in ihrem Geschäftsbetrieb keine besonderen Bedingungen hatte und die deutsche Mark für durchaus ebenbürtig hielt, führte ihren Spitznamen insofern nicht mit Unrecht, als sie bemüht war, sich mit ausgesuchter Eleganz zu kleiden und als vornehme Dame aufzutreten, und da sie glaubte, daß das Mundspitzen zum guten Ton gehöre, machte sie in den Augenblicken, die ihr wichtig genug schienen als Aristokratin zu gelten, eine regelrechte Schnute.

Als Frau Kunze sich erhoben hatte und unter den Anwesenden auch die Schnalzer erblickte, verfiel sie in einen hysterischen Weinkrampf und überschüttete die Dirne mit einer Flut von Schimpfworten und Vorwürfen, die vor der ganzen Versammlung zum Ausdruck brachten, daß das Frauenzimmer ihren Mann ins Garn gelockt und ihm jedesmal fast den ganzen Wochenlohn abknöpfte, sodaß sie mit ihren Kindern verhungert wäre, wenn sie selbst, so krank sie auch sei, in den letzten drei Monaten nicht die Kraft aufgebracht hätte, nächtelang für ein bißchen Brot und Margarine zu nähen. Jetzt sei sie aber erschöpft und könne nicht mehr arbeiten. Und als sie ihrem Manne heute abend Vorwürfe gemacht habe, weil nicht einmal ein Stückchen Holz zum Feuer anmachen mehr im Hause gewesen, da habe der Wüterich noch dazu auf sie eingeschlagen. An all diesem Unglück und dem Elend der unschuldigen Kinder sei nur die Schnalzer schuld, die öffentlich gelyncht werden müßte.

Während der eine Teil der Bewohnerschaft die erregte Frau zu beruhigen versuchte, geriet der andere Teil, vorwiegend der weibliche, nun ebenfalls in Wallung und es hagelte Schimpfworte, Verwünschungen und Drohungen auf die Dirne nieder. Der Hausbesitzer Gedalje Chill ließ sich sogar zu der Äußerung hinreißen, daß er sein Grundstück sehr bald von den unlauteren Elementen säubern werde.

Jetzt trat auch die Breitenbach auf den Plan, denn die Gefahr, in der sich ihre Freundin gegenwärtig befand, drohte auch sie in Mitleidenschaft zu ziehen. Mit ihrer verrosteten Stimme keifte sie daher in die wild bewegte Schar der Männer und Weiber hinein:

»Wat de Kunzen euch Dösköppe erzählt, is allens Schwindel, aber ihr jlobt der Zicke mehr als uns, weil se mit ihr Jeflenne und de schwindsüchtije Fisaje an de Rührtrommel kloppt. Wir verdien'n unser Jeld uff ehrliche Weise und hab'n den Kunzen sein Wochenlohn nich nötig. Ihr fettjefressenen Weiber aber könnt de Futterluke weit uffreißen, weil eure Männer euch ernähren, sonst müßtet ihr alle ooch uff'n Strich jehn, wie wir …!« Ein einstimmiges Geschrei aus allen weiblichen Kehlen folgte, und Hände, mit Pantoffeln bewaffnet, reckten sich aus, um der Sprecherin mit Nachdruck den losen Mund zu schließen.

Die Breitenbach wich einige Treppenstufen zurück und zog ihre Freundin nach sich, um von diesem kleinen Vorsprung aus den Angriff noch einmal zu wagen. Am ganzen Leibe zitternd, kreischte sie den nachdrängenden Frauen entgegen: »Ihr dreckijet Jesindel, verjreifen wollt ihr euch an uns?! Kommt bloß ran, ihr fettwamstijen Säue, euch kratzen wir de Fassaden runter, det ihr aussehn sollt, als ob ihr mits Jesicht uff'm Plättbrett jesessen!«

Noch wilderes Geschrei als vorher folgte, und die Kampflust der Weiber steigerte sich dermaßen, daß eine allgemeine Schlägerei loszubrechen drohte.

In diesem kritischen Augenblick hielt es der Rabbinatskandidat Dr. Speckowski für seine Pflicht, als Friedensstifter aufzutreten. Er zog sich an dem Treppengeländer etwas in die Höhe, stellte sich auf die Zehenspitzen, reckte den Hals so hoch als er es vermochte, um von allen Seiten gesehen zu werden und hielt in dem gleichen salbungsvollen Ton, als ob er auf der Kanzel einer Kleinstadtsynagoge stände, folgende Ansprache:

»Meine verehrten Anwesenden! Ein unliebsamer Vorfall hat uns an dieser Stelle zusammengeführt und wir sind Zeugen gewesen von den Leiden einer unglücklichen Frau und den Verirrungen eines Ehegatten und Vaters. Unser Gott und Herr, der alleinige Herrscher im Himmel und auf Erden, wird in seiner ewigen Gerechtigkeit den lindernden Balsam finden für die leidende Familie, denn auch die Verirrung und Verblendung des Gatten ist ein Leiden der Seele dieses sonst so guten Mannes, und wir wollen beten, daß der Herr ihn erleuchte und genesen lasse von seinem Wahn, damit er der Gattin in Liebe als Versorger und den Kindern in Treue und Herzlichkeit als Vater wiedergegeben werde. Euch allen aber rufe ich zu: richtet nicht, damit ihr nicht selbst gerichtet werdet, zeigt euch eures Menschenantlitzes würdig und seid einig, einig im Frieden und in Nächstenliebe. Und so geht denn zu euren …!«

Weiter kam der Gelegenheitsprediger nicht, denn von dem unteren dunklen Treppenteil tönte ein Poltern und brummiges Stimmengewirr herauf, aus dem in kurzen Abständen nur das lallend herausgestoßene Wort: Hal – le – lu – ja! vernehmbar war.

Und bald darauf taumelte in Zickzackbewegungen eine breitschultrige Gestalt mit rohem Gesicht, der echte Typus eines Säufers, herauf und brach sich mit dem Rufe: »Nu macht man keen'n Klamauk!« gewaltsam Bahn durch die versammelte Bewohnerschaft.

Die kurze Predigt mit dem unerwarteten Abschluß hatte die erhitzten Gemüter sehr schnell besänftigt, sodaß die Versammlung sich rasch auflöste. Nur die neugierige Frau Diamant konnte nicht umhin, den Hauswirt zu fragen, wer dieser Trunkenbold und abschreckende Mensch denn eigentlich gewesen sei.

»Das ist der Arbeiter Hugo Schramm«, erwiderte Herr Chill, »sonst ein ganz anständiger Mensch, der seine Miete immer pünktlich bezahlt. Er wohnt oben allein in einer Mansardenstube und kommt niemandem zu nahe. Ich wünschte, alle Mieter wären so ruhig wie dieser. Gut Nacht, Frau Diamant!«


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