Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel

Der alte Förster Ahrens mußte sich erst eine ganze Weile verschnaufen, nachdem er den Fichtenkopf mitten in der Wiese erreicht hatte, denn einen halben Kilometer fast auf allen vieren kriechen und kaum einmal den Kopf heben dürfen, damit der drüben am andern Waldrande sitzende Hufschmied nichts merkte, war keine Kleinigkeit... Als er sich aber mit einem ordentlichen Schlucke Mechower Kornbranntweins gestärkt, die geliebte Stummelpfeife in Brand gesetzt hatte, begab er sich daran, das krause Fichtendickicht zu durchsuchen. Und schon nach ein paar Dutzend Schritten sah er, daß er auf der rechten Fährte war: Genau in der Mitte der Dickung, auf einem kleinen freien Platz, vielleicht zwei Meter im Geviert, war der Rasen fortgestochen und auch schon ein knietiefes Loch gegraben... Die Erde war noch ganz frisch, und es gab keinen Zweifel mehr, er stand an der richtigen Stelle, denn zu seinem Privatvergnügen hatte der Hufschmied Martschinowskti hier nicht gebuddelt! Er stieß seinen Jagdstock mit der spitzen Eisenzwinge an verschiedenen Stellen in den weichen Boden, immer gab es auf zwei Zoll Tiefe einen festen Widerstand, und er brauchte nur eine niedrige Schicht Erde mit den bloßen Händen zu entfernen, um den Deckel der so lange vergebens gesuchten Truhe bloßzulegen! ... Und da mußte er sich erst einmal niedersetzen, denn das Bewußtsein, das Schicksal seiner jungen Herrin so greifbar unter seinen Händen zu haben, war ihm ordentlich in die Glieder gefahren. Aber wer hatte es wieder einmal geschafft? Sein alter, treuer, kluger Unkas!

Da klopfte er dem Braven, der neben ihm saß, liebkosend den rauhen Kopf.

»Siehst du, Unkas, so sind die Menschen! Du würdest uns die Jagd verderben, hat sie gemeint. Aber was liegt denn an so einem krummen Bock ... wenn den nicht, dann einen andern, Böcke gibt es genug! Hier aber liegen Moses und die Propheten, und in ein paar Stunden werden wir es wissen, ob sie recht hat oder er, weißt du, der mit dem Gordonsetter, und du hast das langbeinige Beest damals ja nicht schlecht gewickelt!«...

Danach erst fing er an zu überlegen, was nun zu geschehen hatte.

Die Truhe heben und öffnen, ging nicht an. Einmal, weil ihm dazu alle Werkzeuge fehlten, zum zweiten aber, weil zu diesem Akte unumgänglicherweise Zeugen notwendig waren. Wenn die Truhe leer war, kam irgend so ein rabulistischer Rechtsanwalt womöglich auf die Idee, er hätte das Dokument beiseite geschafft. Da konnte man tausendmal nein sagen, und was hätte ich wohl für ein Interesse daran gehabt, der andre mit dem schwarzen Tatar zuckte nur mit den Achseln ... an ihm aber blieb der Verdacht hängen ...

Nach Hause laufen, ein paar Knechte mit Hacke und Spaten holen, ging auch nicht, in der Zwischenzeit hätte der Kerl, der noch immer auf seinem Stubben am jenseitigen Wiesenrande saß, den Kasten längst geplündert ... Und den alten Unkas mit einer schriftlichen Meldung am Halsband nach Hause schicken? Gewiß, der Brave hätte den Weg gemacht und Hilfe herbeigeholt, aber was sollte aus ihm selbst in der Zwischenzeit werden? Angst hatte er ja nicht, aber sein Drilling war ungeladen, und der andre hatte einen Revolver bei sich. Zudem fing es an, stark zu dunkeln, und was sollte er machen, wenn der Hufschmied bei sinkender Nacht einen Überfall unternahm? ...

Also, was blieb schon übrig? Die Nacht neben dem kostbaren Funde verpassen, den treuen Unkas als aufmerksame Schildwache neben sich, und am Morgen weiter sehen! Ob vielleicht die Torfstecher auf dem Wege zur Arbeit nahe genug vorüberkamen, so daß man sie anrufen konnte, oder daß sich sonst irgendwie die Umstände zu seinen Gunsten verschoben hatten ...

Und auf einmal fühlte er, daß er trotz aller gehabten Aufregung schläfrig wurde. Der ungewohnte Rotwein beim Mittagessen, danach, ohne ein bißchen Mittagsschlaf, der Birschgang und die anstrengende Spürarbeit. ... Schließlich, die erste Nacht war es ja nicht in seinem Leben, die er im Freien verbrachte, und Unkas paßte schon auf, um jeden Überfall des Hufschmieds zu vereiteln ... im Dunkeln nutzte dem Kerl auch sein Revolver nichts ... also schob er sich unter den dichten Tannen ein, einen kleinen Mooshügel als Kopfkissen.

»Achtung, Unkas, und paß gut auf!« ... und nach fünf Minuten erdröhnte ein Schnarchen, daß die ganze Dickung samt der noch immer in der Erde ruhenden Dokumententruhe schütterte.

*

Wie lange er geschlafen haben mochte, wußte er nicht. Als er mit einem Male die Augen aufschlug, war es stichdunkle Nacht, der Himmel mit Wolken verhangen, und er mußte erst nachdenken, wie er eigentlich hier zwischen die stachligen Tannen geraten war, in die er mit den Händen griff ... Irgendwo auf zwanzig Schritt Entfernung bellte und stürmte sein getreuer Unkas ... ganz recht, denn er hatte ihn in dem lebhaften Streite mit dem Verwalter Wisotzki eben ja selbst auf dessen Köter gehetzt, einer Kreuzung von Ziehhund und Bernhardiner ... mit einem Male aber kam er aus dem Traumland in die Wirklichkeit zurück, faßte seinen Drilling fester und sprang auf die Füße. Da draußen am Rande der Fichtendickung kämpfte sein braver Weidgenosse mit dem Hufschmied, der sich im Schutze der Nacht herangeschlichen hatte, und wenn der Kerl auch zehn Revolver bei sich getragen hätte statt einem, das galt jetzt gleich, seinen Getreuen durfte er nicht im Suche lassen.

Er bahnte sich mit vorgehaltenem Arm einen Weg durch das stachlige Dickicht und überlegte, wie er den verwegenen Kerl wohl am besten anlaufen sollte ... erst mal einen Haken nach der Seite schlagen, den Hund ordentlich anfeuern, so daß der Hufschmied nicht wüßte, nach welcher Richtung er sich zuerst verteidigen sollte, dann natürlich mit dem Kolben eins über den Schädel, daß er für die nächsten acht Tage nicht wieder ans Aufstehen dachte ... da drang zu seinem grenzenlosen Erstaunen eine klägliche Summe an sein Ohr.

»Gott sei Dank, Herr Förster, daß Sie aufgewacht sind! Der Hund reißt mir ja rein die Kleider vom Leib!«

Das hielt der Alte natürlich zuerst für eine Kriegslist, als er sich aber vorsichtig in den Rand der Schonung geschoben hatte, sah er, daß der Hufschmied recht hatte. Der Kerl in seinem hellen Rocke lag am Boden, Unkas aber stand über ihm und hatte sich in seinen Rockkragen verbissen.

So ganz traute der Alte dem Frieden aber noch nicht.

»Erst schmeißen Sie mal Ihren Revolver weg, Martschinowski!«

»Meinen Revolver? Ich hab' ja gar keinen, Herr Förster!«

»Na, und das blanke Ding, mit dem Sie heute abend immer 'rumgefuchtelt haben?«

»Das war doch mein Suppenlöffel, Herr Förster, und wie ich gestern nacht aus dem Krankenhaus ausgerückt bin, hab' ich ihn mitgenommen. Ich mußte doch irgendwas zum Graben haben!«

»So so, aus dem Krankenhaus kommen Sie?« sagte der Förster, »na, dann stehen Sie mal auf, und wir wollen weiter sehen!« Den angeblichen Revolver erwähnte er nicht weiter, denn es war ihm doch recht genierlich, vor einem Suppenlöffel den Rückzug angetreten zu haben ...

»Sie sagen so ›aufstehen‹, Herr Förster! Aber erst können! Erst mal wegen dem Unkas, und zweitens, ich hab' mir doch den rechten Fuß verstaucht oder gebrochen, was weiß ich!«

»Den Fuß verstaucht?« fragte der Alte, noch immer mißtrauisch.

»Na ja doch, Herr Förster, auch heute abend: wie ich mich umsah, ob Sie am End' nicht doch eine Patrone bei sich hätten. Und erst dachte ich, es wär' nicht so schlimm, aber nach den ersten zehn Minuten schon war der Fuß so dick wie ein Eimer. Na, und wie ich mir gar nicht mehr zu helfen wußte, dacht' ich: kriechst mal zum Herrn Förster 'rüber, da findst du wenigstens Gesellschaft!«

»Lügen Sie nicht, Martschinowski! Sie konnten doch unmöglich gesehen haben, wie ich in die Schonung gekrochen bin!«

»Das stimmt schon, Herr Förster, aber nachher hab' ich Sie gehört. So wie Sie schnarcht ja überhaupt kein Mensch, und erst hab' ich in all meinem Schmerz lachen müssen, denn ich hab' Sie, weiß Gott, an dem Schnarchen wieder erkannt!«

»So so,« sagte der Alte beruhigt und »laß los, Unkas!« Faßte den Hufschmied unter den Arm und führte ihn vorsichtig bis auf den freien Platz in der Dickung, an dem die Truhe vergraben lag. »Na, und nun wären wir so weit. Jetzt können wir uns Geschichten erzählen bis zum hellen Morgen, hoffentlich kommt irgend eine Menschenseele vorbei, die wir anrufen können!«

»Herr Förster, meinetwegen können Sie ruhig selbst gehen und Leute holen. Ich kann mich ja nicht vom Fleck rühren.«

»Ne, mein alter Freund! Erstens trau' ich Ihrem verstauchten Fuß nicht über den Weg, und zweitens: Sie mit den Dokumenten da allein lassen? Eher einen Wolf mit 'ner Ziege ein Jahr lang auf 'ner einsamen Insel! Aber wir werden was andres machen, und da, leuchten Sie mal!« Und bei dem Scheine eines Streichhölzchens, das der Hufschmied entzündete, schrieb der Alte auf die erste freie Seite seines dicken Notizbuches: »Dokumentenkiste gefunden, Hufschmied dazu. Sofort Meldung im Schloß und dann mit Wagen und Spaten nach Fichtenkopf in Wiesenjagen 21. Ahrens.« Das Notizbuch aber gab er seinem Getreuen in den Fang. »So, Unkas, apporte! Das trägst du jetzt nach Hause, hörst du, nach Hause!«

»Mff,« machte Unkas nur, weil das dicke Notizbuch, das er zwischen den Zähnen hielt, ihn an einem fröhlichen Blaffer hinderte, klopfte mit der kurzen Rute den Boden und war mit einem Satze im Dickicht verschwunden.

»Meinen Sie, Herr Förster, daß der Hund das alles auch richtig besorgen wird?« fragte der Hufschmied zweifelnd.

Der Alte zuckte nur mit den Achseln.

»Mein Unkas? Schade nur, daß er nicht reden kann, sonst hätte ich nicht nötig gehabt, ihm den Auftrag schriftlich mitzugeben. Solche Sachen hat er schon mehr als hundert ausgeführt, und mich nie im Stich gelassen. Oder doch, wenn ich nicht lügen soll, ein einziges Mal! Aber da war der Auftrag auch zu schwierig!«

»Wie denn, Herr Förster?«

»Na, da hatte ich meine Schnupftabaksdose vergessen und schickte ihn mit einem Zettel nach Hause. Er brachte sie ja an, aber weil er unterwegs immerfort niesen mußte, da hatte er sie mit den Zähnen aufgemacht und den Tabak ausgeschüttet. So weit reichte sein Verstand denn doch nicht, daß es mir auf den Tabak mehr ankam, als auf die Dose, oder ich hätte mich vielleicht auch deutlicher ausdrücken sollen! Na, aber jetzt erzählen Sie, Martschinowski, und wie sagten Sie, aus dem Krankenhaus sind Sie ausgerückt?«

»Ja, Herr Förster,« sagte der Hufschmied, »aber um Gottes Barmherzigkeit willen, haben Sie nicht was innerlich Erwärmendes bei sich? Jetzt, wo ich nach all den Aufregungen stillsitzen muß, friert mir rein die Seele im Leibe ein!«

»Ein Gedanke!« erwiderte der Alte, holte die bauchige Flasche hervor, stärkte sich selbst zunächst ausgiebig und reichte sie dann dem Hufschmied hinüber.

Der aber trank ordentlich andächtig und sagte dann mit einer gewissen Rührung: »Mechower Korn! Du mein lieber Gott, wie lang' hab' ich den nicht mehr getrunken ... Das Zeug nämlich, das sie drüben Whisky nennen: wie geräucherte Stiebelsohlen! Und ich wollt', ich hält' es nie geschmeckt!« ...

»Hat ja nur an Ihnen gelegen, Martschinowski!«

» Well, aber Sie sagen so, Herr Förster. Da soll man das Schloß am Archivschrank reparieren und sieht mit einem Male das viele Silber... zehntausend Dahler zum mindesten, und nachher langt es auf meinen Teil kaum zu Zwischendeck nach drüben! Ich mein', das ist doch schon Strafe genug, und vielleicht möchten Sie bei der gnädigen Baroneß nachher ein gutes Wort für mich einlegen?«

»Na, ich will sehen, was sich tun läßt, Martschinowski. Aber jetzt, wie zum Deuwel haben Sie es angestellt, daß wir Sie die ganze Zeit über nicht finden konnten?«

»Ja, Herr Förster, das hab' ich drüben gelernt. Wenn man Ursache hat, sich vor den neugierigen Menschen eine Zeitlang zurückzuziehen, geht man in ein Krankenhaus. Natürlich auf falsche Legitimationspapiere, aber die kriegt man drüben, wie man sie haben will, für fünf Cents können Sie inkognito als Graf reisen. Als ich 'rüber kam, hatte ich drei Pässe bei mir, darunter den Abmeldeschein eines Altsitzers Ochotny aus Czymochen. Na, und weil dieser Altsitzer in dem Dorf Czymochen noch heimatsberechtigt war, ließ ich mich auf seine Papiere im Allenberger Krankenhaus aufnehmen. Wegen Magenerkrankung und Altersschwäche! Und ich wurde ohne Anstand aufgenommen, denn die Gemeinde Czymochen ist ja für die Kosten haftbar.«

»Wie raffiniert, wie raffiniert!« sagte der Alte staunend.

»Lernt man alles drüben, Herr Förster! Und in dem Krankenhaus erfuhr ich alles. Daß Sie hier einen Graben hatten ziehen lassen, daß der KIein-Lipinsker Herr wieder gesund geworden war, ich aber hatte Zeit, mir meinen Plan zu bauen. Und sagen Sie selbst, Herr Förster, ob ich nicht recht hatte. Mich melden, nachdem ich mich mit dem Herrn Baron von Linde eingelassen hatte, wär' Unsinn gewesen, danach hätt' man mich bloß eingesperrt. Also hatte ich an meinen Schwager in Prostken geschrieben, er sollte mich am zehnten Mai, wenn's wieder ein bißchen Mondschein gab, mit einem Spaten hier auf den Lipinsker Wiesen erwarten. Da wollte ich dann die Dokumente mitnehmen, wieder nach drüben gehen und ein ordentliches Stück Geld für die Auslieferung verlangen. Bis zum zehnten aber wollte ich so langsam wieder gesund werden, damit ich meine ordentliche Entlassung gekriegt hätte und meine eigenen Kleider, denn in dem gestreiften Kittel halten die Leute einen gleich für einen entsprungenen Sträfling. Leider kam mir etwas dazwischen, ich mußte schon vorgestern nacht das Krankenhaus verlassen!«

»Wie schade! Und wieso denn?« erkundigte sich der Alte ironisch.

»Ja, nämlich, Herr Förster, das war auch so ein Pech. Auf die Anfrage des Herrn Kreisphysikus, wie das mit den Verpflegungskosten stände, schickte die Gemeinde Czymochen den Totenschein des Altsitzers Ochotny, war der Kerl doch in der Zwischenzeit in Wala-Wala, wissen Sie, Herr Förster, da oben in Wyoming, gestorben! Na, und da ich daraufhin und in Anbetracht meines gebesserten Gesundheitszustandes ins Amtsgerichtsgefängnis eingeliefert werden sollte, zog ich es vor, mich in der Nacht vorher zu empfehlen!«

»Na, und wenn ich Sie nun nicht gestört und glücklich erwischt hätte, wären Sie jetzt mit den Dokumenten natürlich schon längst unterwegs zu Ihrem Schwager nach Prostken?«

Der Hufschmied zuckte mit den Achseln.

»Herr Förster, wär's Ihnen lieber, wenn ich lügen würde? Also ja, und mehr noch. Ich hätt' auch schon längst das Reisegeld zur Überfahrt und säß' in dem Nachtzug nach Königsberg und von dort weiter nach Bremen! Gefreut hab' ich mich nicht, als ich hörte, wie Sie sich mit Ihrem Hunde unterhielten, und ich ausreißen mußte, wo ich mit dem Löffel schon den Deckel von der Kiste angekratzt hatte!«

»Na ja, ist gut, Martschinowski, und ich hab' ja schon gesagt, ich werd' ein gutes Wort bei der Baroneß für Sie einlegen. Aber glauben Sie nun wirklich, daß die gesuchte Urkunde da drinnen liegt?«

Über das verwitterte Gesicht des Hufschmieds flog ein Lächeln.

»Herr Förster, ich, wenn ich nämlich glücklich drüben gewesen wär', hätt' natürlich so getan! Aber genau sagen kann ich es nicht, denn zum Lesen hatten wir keine Zeit. Nur so viel weiß ich noch: Es waren dicke Papiere darunter, und an einigen hing, wie ein Klunker, ein großes Siegel. Wär' der sel'ge Gärtner Tyrol nicht solch ein Esel gewesen, daß er sich mit der Truhe seiner Großmutter schleppte, statt ein paar ordentliche Kartoffelsäcke mitzubringen, hätten wir gar nicht nötig gehabt, die Papiere aus dem Regal zu nehmen!«

»Ja, ganz schön,« sagte der Alte, »und hätte er's getan, wär' vielleicht manches ganz anders gekommen, wir zum Beispiel brauchten hier jetzt nicht zu sitzen. Aber erklären Sie mir nur noch das eine, Martschinowski: Weshalb hat er mir mit seinen letzten irdischen Worten allerhand Richtungslinien beschrieben, die nachher nicht stimmten, statt einfach zu sagen: Fichtenkopp, Jagen 21?«

»Ja, sehen Sie, Herr Förster, der Tyrol war eben ein unpraktischer Mensch, ich möcht' sagen, so ein bißchen ideal angelegt. Allein schon wegen der nicht mitgebrachten Kartoffelsäcke – Sie verstehen mich, Herr Förster? – sondern vielmehr er kommt mit einer Truhe an, die allein schon für sich fünfzig Pfund wog. Das ganze Geschirr hätten wir wegräumen können, so aber mußten wir über die Hälfte dalassen, die schönen großen Leuchter zum Beispiel gingen in den engen Kasten gar nicht hinein. Und genau so war es auch mit dem Eingraben. Er kiekte immer nach dem Mond und den Sternen, ich aber merkte mir Jagen und Schonung. Und wenn ich nicht ein so ehrlicher Mensch gewesen wär', hätt' ich gar nicht nötig gehabt, mit ihm hinterher zu teilen, denn er allein hätte die Kiste ja nie wiedergefunden!«

»Hm,« sagte der Alte, »›ehrlicher Mensch‹ ist in Anbetracht der obwaltenden Umstände ein bißchen viel gesagt. Aber schad't nichts, die Kiste haben wir ja jetzt!« ...

Danach schwiegen die beiden, bis vom Wiesengestell her Pferdeschnaufen, Wagenknarren und Laternenschein kam.

Na sprang der Alte auf, schwang die Mütze und schrie: »Holla hoh, hierher, hierher!« Zu dem Hufschmied aber sagte er: »Na, in einer kurzen halben Stunde wird sich ja nun alles entscheiden. Ob Sie nämlich, Martschinowski, Ihren verknaxten Fuß in Groß-Lipinsken auskurieren werden als hochgeehrter Wohltäter oder aber im Kreisgerichtsgefängnis von Allenberg!« ...

*

Fränzchen saß im Musikzimmer vor dem Klavier, spielte ihrem Hans Heinrich nun schon zum vierten oder fünften Male La Paloma vor, aber es gab des öfteren Pausen, die nicht gerade in dem Musikstücke vorgesehen waren. Die beiden alten Freifräuleins nebenan im Eßzimmer, die auf die Heimkehr von Elsbeth warteten, achteten jedoch nicht weiter darauf; Tante Lieschen, weil sie eingeweiht war und sich ungefähr denken konnte, was die Pausen bedeuteten, Tante Amalie aber, weil das Benehmen ihrer Schwester sie aufs lebhafteste intrigierte: Am Nachmittage, nach dem Fortgange des Klein-Lipinskers, mißmutig und niedergeschlagen, seit ein paar Stunden aber in einer geradezu glänzenden, fast übermütigen Laune ... Zudem zog sie von Zeit zu Zeit einen Brief hervor, las darin, lachte laut auf und schob ihn mit einem Schmunzeln wieder in ihre unergründliche Rocktasche. Und dieser Brief konnte nur aus Klein-Lipinsken stammen, mußte am Nachmittag durch einen Boten gebracht worden sein, denn Sonntags kam der Briefträger nur einmal von der Ostrokoller Post herüber, am frühen Morgen ... Daß aber dieser Brief und die gute Laune von Tante Lieschen in einem ursächlichen Zusammenhange standen, war unschwer zu erraten, und ebenso, daß er für sie selbst keine angenehme Nachricht enthalten konnte, denn das war nun einmal zwischen ihnen beiden nicht anders: Wenn die eine Schwester sich freute, hatte die andre in der Regel allen Grund, sich zu ärgern ...

Jetzt saß Tante Lieschen mit ihrem vergnügten runden Gesicht ihr gegenüber, strickte an einem baumwollenen Kinderjäckchen für eins der zahlreichen Babys in den Tagelöhnerwohnungen, Amalie aber lehnte untätig in der Sofaecke, denn der Arzt hatte ihr wieder einmal wegen einer Karlsbader Trinkkur jede Beschäftigung aufs strengste verboten, spielte nervös mit ihren lila Haubenbändern und sann darüber, wie sie die Schwester wohl zum Reden bringen könnte ...

Das sonst zuweilen probate Mittel, sie durch abfällige Bemerkungen über den Klein-Lipinsker zu reizen, verfing heute nicht. Tante Lieschen antwortete nur mit rätselhaften Bemerkungen, wie: »Ja ja, und hättest du der Liebe nicht, so wärest du wie Erz und klingende Schelle!« ... Oder: »Und sie säen nicht, sie ernten nicht, ihr himmlischer Vater ernähret sie aber doch!«

Da fuhr Tante Amalie auf.

»Ging diese letzte Bemerkung vielleicht auf mich?«

»Ja,« sagte Tante Lieschen ganz freundlich, »auf dich, liebe Amalie! Und, wo du so bedürfnislos bist, was soll dir passieren, wie sich die Dinge auch gestalten? Nimm aber mal mich armes Wurm, sechzig Pfennig bares Geld muß ich alle Monate erschwingen, wenn der Allenberger Verschönerungsrat mir die Haare schneiden soll, denn der Racker pumpt leider nicht. Du aber? Deine Löckchen bleiben immer gleich lang und gleich braun!«

Tante Amalie traten vor Zorn fast die Tränen in die Augen.

»Weißt du, Lieschen, wenn du auch die Ältere bist, aber mich so als Baby und fünftes Rad am Wagen behandeln zu lassen, dagegen muß ich protestieren!«

»Ach so,« tat Lieschen ganz unschuldig, »endlich versteh' ich dich! Du willst wissen, was in dem Brief da steht? Also beruhige dich, es ist nichts weiter als ein Heiratsantrag!«

»Ein Heiratsantrag?«

»Ja,« sagte Tante Lieschen, und der Schalk blitzte ihr nur so aus den munteren Äuglein, »denk dir bloß einmal an! Herr Hans Haffner, der Maler – du besinnst dich doch wohl noch auf ihn – also er hat schriftlich um meine Hand angehalten. Er hat Aussicht, an der Ostrokoller Dorfschule als Zeichenlehrer angestellt zu werden, und da er nunmehr eine Frau standesgemäß ernähren kann, ist seine Wahl auf mich gefallen. Die litauischen Käsenudeln mit Rosinen, die ich so fein zubereiten kann, hätten's ihm namentlich angetan, so schreibt er, ja!«

Da erwiderte Tante Amalie nur: »Hoffentlich bietet sich einmal bald die Gelegenheit, mich zu revanchieren, liebes Lieschen,« und schwieg von da an, aufs tiefste gekränkt und erbittert.

Und nun spielte sich in einer knappen Viertelstunde eine Reihe von Ereignissen ab, die ihr unbegreiflich schienen und sie ganz ratlos machten; wie sie selbst sich nämlich dazu verhalten sollte, um sich das eigene Schicksal für die Zukunft nicht zu gefährden.

Zuerst erschien der alte Diener Friedrich, flüsterte Tante Lieschen etwas ins Ohr, worauf diese »och ne?« sagte, sich rasch erhob und ihm auf den Flur hinaus folgte. Aber das war weiter nichts Auffälliges, kam öfter vor und hing wahrscheinlich mit irgend einer wirtschaftlichen Frage zusammen. Danach aber stand sie selbst auf, um einmal nachzuschauen, weshalb Fränze wohl mitten in der nun schon zum Überdruß gehörten » Paloma« ihr Spiel unterbrochen hätte, und da bot sich ihr ein Anblick, der ihre höchste Entrüstung herausforderte: die beiden küßten sich wie ein richtiges Liebespaar! ... Der lange Hans Heinrich hatte sich hinabgebeugt, damit die kleine Fränze, die auf dem Klavierstuhle saß, besser hinauflangen, ihm die Arme um den Hals legen konnte, und in dieser Stellung küßten sie sich, konnten gar kein Aufhören finden. Da trat sie auf die Schwelle, räusperte sich hörbar und mit strengem Angesicht, denn sie fand es geradezu unerhört, daß ihr Schützling mit der jüngeren Schwester so deutlich flirtete, während er sich um die ältere bewarb. Und als die beiden auseinanderfuhren, fragte sie scharf: »Hans Heinrich, ich darf wohl um eine Aufklärung bitten?«

Und Hans Heinrich, der gute Junge, geriet in Verlegenheit, bekam einen roten Kopf und fing mit den Fingergelenken zu knacken an.

»Ja ... nämlich ... liebe Tante Amalie ...«

Klein-Fränze aber trat vor ihn hin und sagte: »Laß nur! Nämlich, liebe Tante Amalie, die Sache ist so: Er hatte solche Angst, daß er bei Elsbeth beim ersten Kusse stecken bleiben könnte, und da hat er sich bei mir ein bißchen eingeübt! Und nicht wahr, Hans Heinrich, es geht schon ganz gut?«

Der Mechower gab sich einen Ruck.

»Ausgezeichnet sogar! Aber das ist natürlich Unsinn ... ich hab' mich nämlich anders besonnen ... ich heirat' Fränze!«

»Ja,« sagte die Kleine sehr bestimmt und energisch, »wir heiraten. Aber wenn du, Tante Amalie, Elsbeth auch nur mit einer Silbe eine Andeutung machst, ehe ich mich mit ihr heut abend vor dem Schlafengehen gründlich ausgesprochen hab', dann sind wir beide geschiedene Leute!«

»I wo werd' ich denn,« erwiderte Tante Amalie und bemühte sich, in ihre Stimme einen Ton mütterlichen Wohlwollens zu legen, »nur diese Überraschung – diese freudige Überraschung!«

»Na schön, dann gib uns deinen gerührten Segen, liebe Tante Amalie, und laß uns gütigst noch ein Weilchen allein! Ich muß dem Ungetüm da nämlich noch mindestens sechsmal sein Lieblingsstück vorspielen, sonst erklärt er die Verlobung womöglich für aufgehoben!«

Tante Amalie wandte sich gehorsam ab, drohte in der Tür noch einmal neckisch mit dem dürren Zeigefinger: »Aber keine zu langen Pausen, Kinderchen!« und schwebte zu ihrem Sofaplatz zurück, um in Ruhe zu überlegen, wie sie Elsbeth auf dem kürzesten Wege von dem unerhörten Geschehnis in Kenntnis setzen könnte. Was sollte denn aus ihr selbst werden, wenn Hans Heinrich die kleine Fränze heiratete, die aus ihrer Abneigung gegen sie niemals ein Hehl gemacht hatte? In Mechowen war dann kein Platz für sie, und hier kam ihr auch mit einem Male der Boden so merkwürdig unsicher vor ...

Aber kaum saß sie, da tat sich die Flurtür auf und herein trat – sie glaubte ihren Augen nicht zu trauen – Tante Lieschen mit Herrn Adalbert von Linde! ...

Der Klein-Lipinsker war im Jagdanzuge, trug vor sich mit beiden Händen einen Rehbock an den Läufen, sagte nur flüchtig: »Entschuldigen Sie gütigst, verehrte Tante Amalie, wenn ich Sie nicht feierlich begrüße, aber ich habe keine Hand frei,« und begab sich dann daran, auf ein paar Küchenstühlen, die der alte Friedrich nebst etlichem Laubwerk hereinschleppte, den Bock so aufzubauen, daß das starke Gehörn möglichst gut zur Geltung kam.

Fränze und Hans Heinrich traten aus dem Nebenzimmer, zwischen den beiden »Nebenbuhlern« gab es eine merkwürdig herzliche Begrüßung, und dann fing der Klein-Lipinsker eine Erklärung an, die offenbar aber für ihre Ohren künstlich zurechtgestutzt war und kein Körnchen Wahrheit enthielt, denn sie sah deutlich, wie Tante Lieschen der kleinen Fränze verstohlen zublinkte und ein Zeichen machte.

»Ja also,« sagte der Klein-Lipinsker, »es war wirklich ein ausnehmend günstiger Zufall. Ich hatte mir aus Langweile die Büchse umgehängt, um mir mit dem Professor, dem vom langen Malen die Beine steif geworden waren, ein bißchen die Füße zu vertreten; gerade wollten wir auf dem Quergestell vor der Ostrokoller Landstraße wieder umkehren, um den Abend bei einem geruhsamen Gläschen Grog zu beschließen, da fällt auf den Wiesen draußen ein Schuß. ›Nanu,‹ sag' ich zum Professor, ›sollte meine Cousine Elsbeth vielleicht auf den Grenzbock aus sein?‹ Und richtig, lupus in fabula, keine fünf Minuten später torkelt der Bock, weidwund geschossen, aus der Tannenschonung auf den Weg, bricht kaum dreißig Schritte vor uns zusammen. Na, und da dauerte es erst eine ganze Weile, bis der Bock verendet war – Sie, lieber Mechow, als Jäger, werden es begreiflich finden, daß wir ihn dabei nicht rege machen wollten – und hinterher konnte ich mich ebenfalls eine ganze Weile lang nicht recht schlüssig machen, was zu geschehen hatte. Nach den nicht gerade erfreulichen Ereignissen von heute nachmittag befürchtete ich, es könnte mir vielleicht als Aufdringlichkeit ausgelegt werden, wenn ich den Bock ohne vorausgegangene Anfrage von Groß-Lipinsker Seite auslieferte, aber der Maler, der liebe Kerl, fand wieder einmal das rechte Wort. ›Sieh,‹ so sagte er, ›weshalb willst du der Baroneß so die Freude verderben? Es glückt ihr endlich, diesen sagenhaften Bock zu erlegen, und nun schläft sie heute nacht vielleicht schlecht, aus Angst, du könntest ihr die Herausgabe des Bockes verweigern!‹ ...

Bon‹ sagte ich darauf, ›und mehr als noch einmal 'rausgeworfen kannst du ja nicht werden‹, aber über alledem war so viel Zeit vergangen, daß wir Elsbeth nicht mehr trafen, als wir auf die Wiese heraustraten. Wahrscheinlich war sie schon mit dem alten Ahrens weitergegangen, nach dem Torfbruche zu, denn da stehen ja auch ein paar gute Böcke, immerhin aber müßte sie doch schon längst da sein ...«

So schloß der Lipinsker, sah mit einem merkwürdig gespannten Gesichtsausdrucke nach der Flurtür, und Tante Lieschen tuschelte mit der kleinen Fränze verstohlen, worauf diese sich ebenfalls nach der Tür umsah. Der lange Hans Heinrich sprach noch ein paar bewundernde Worte über das geradezu kapitale Gehörn des Bockes und wie sehr Elsbeth sich wohl freuen würde, es schon heute zu sehen; danach aber trat ein allgemeines Schweigen ein, ordentlich eine beklommene Stimmung breitete sich über den Raum, nur Tante Amalie machte ein zufriedenes Gesicht, und ihre Augen blitzten schadenfroh. Das war ja mit den Händen zu greifen, daß Tante Lieschens Petersilie in der letzten halben Stunde arg verhagelt war. Der Klein-Lipinsker aber hatte sich bei Elsbeth gewiß etwas ganz Böses eingebrockt, was nun durch eine Komödie wieder gut gemacht werden sollte. Aber bei dieser Komödie war ja eine Rolle noch unbesetzt, und die gedachte sie selbst zuspielen! ...

Und wie sehr sie mit ihrer Vermutung recht hatte, zeigte schon der nächste Augenblick. Vom Flur her erklang Elsbeths Stimme, ohne daß man die Worte verstehen konnte; gleich darauf betrat der Maler das Zimmer, zuckte auf einen fragenden Blick des Klein-Lipinskers die Achseln und zeigte mit dem Finger nach oben. Zu Tante Lieschen aber sagte er nach einer ausnehmend herzlichen Begrüßung: »Verehrteste Freundin, Baroneß Elsbeth läßt sich entschuldigen. Sie fühlt sich von dem Birschgange zu sehr angegriffen und läßt bitten, ihr ein wenig Tee und Aufschnitt nach oben zu schicken!«

Der Klein-Lipinsker stand mit finsterem Gesicht da, die Zähne in die Unterlippe gepreßt, Tante Lieschen hantierte an der Teemaschine, Hans Heinrich und Fränze aber führten um den Maler ein ganz merkwürdiges Gehabe auf, schüttelten ihm die Hände, der Mechower umarmte ihn sogar. Und bis dahin hatte er bescheiden abgewehrt, als aber Klein-Fränze ihm die rosigen Lippen hinhielt, sagte er nicht nein, sondern entsprach dankend der freundlichen Einladung. Nur vorher tat er so, als wollte er sich in komischer Weise den Mund putzen, fuhr sich aber in Wirklichkeit über die feucht gewordenen Augen...

Unter andren Umständen hätte ja Tante Amalie alles daran gesetzt, die Ursache dieser so auffälligen Begrüßungsszene auf kürzestem Wege in Erfahrung zu bringen, jetzt aber standen denn doch wichtigere Interessen auf dem Spiele. Und einen günstigeren Augenblick, unbemerkt nach oben zu Elsbeth zu gelangen, konnte sie sich wirklich nicht wünschen. Also erhob sie sich leise und schritt, scheinbar ganz absichtslos, der Flurtür zu.

Tante Lieschen aber hatte sie im Auge behalten. Noch mit dem Messer in der Hand, mit dem sie eben eine Butterstulle geschmiert hatte, vertrat sie ihr den Weg.

»Nur über meine Leiche, Amalie,« sagte sie komisch-pathetisch, ganz ernsthaft aber fügte sie hinzu: »Also nach oben rennen und hetzen, das gibt's nicht, verstanden?«

»Hetzen?« tat Tante Amalie erstaunt. »Ich wüßte nicht gegen wen und was? Ihr habt es ja nicht der Mühe für wert gefunden, mich ins Geheimnis zu ziehen?«

Der Klein-Lipinsker trat näher.

»Ganz recht, Tante Amalie, und zwar aus ganz bestimmten Gründen. Um Sie aber jetzt kurz aufzuklären: Ich beabsichtige, Elsbeth zu heiraten, nur sie ist damit anscheinend noch nicht ganz einverstanden, und, wenn ich ehrlich sein soll, es wäre mir auch lieber, wenn Sie unten blieben, denn ich habe mir als Fürsprech jemand anders ausersehen. Willst du so gut sein, liebe kleine Fränze? Sag deiner Schwester, ich, Adalbert von Linde, bitte sie, für eine kurze Minute herunterzukommen. Aber wenn du die Liebenswürdigkeit haben wolltest, ihr zu erklären, daß ich keine Lust habe, lange zu warten! Über das törichte Gerede von meiner angeblichen Verlobung ist sie durch den Professor aufgeklärt, ebenso, daß ich sie lieb habe. Alles übrige aber ist nebensächlich und kann später, nach der Verlobung, besprochen werden. Eine halbe Stunde will ich warten, wenn sie in der Zeit nicht herunterkommt, hat sie mir ihre Meinung deutlich genug kundgegeben. Das Herumgezerre geht jetzt schon den ganzen lieben Nachmittag, und ich will jetzt endlich wissen, ob ja oder nein!« Bei den letzten Worten war ihm die Ader auf der Stirn geschwollen, er sah, wie zur Bekräftigung seines Gelübdes, auf die Uhr, klappte hörbar den Deckel zu und trat nach den Fenstern zu ins Dunkle.

Tante Amalie hatte sich mit ein paar unverständlichen Worten wieder in ihre Sofaecke gesetzt, Fränzchen war mit einer Tablette voll kalten Aufschnitts und einer Tasse Tee zu der schmollenden Schwester nach oben geeilt, die Zurückgebliebenen aber verhielten sich schweigsam, gleich als wollten sie durch Decken und Wände hören, wie die so folgenschwere Mission wohl ausgehen würde. Bis Tante Lieschen mit einem Scherzworte die beklommene Stimmung in laute Heiterkeit wandelte.

»Gott,« sagte sie, »sind Sie ein kurz angebundener Werber, Adalbert! Mein verflossener Leutnant zögerte mit seinem Antrag wegen mangelnden Kommißvermögens, bis er Hauptmann wurde. Danach aber war ich ihm zu dick und alt geworden, und er nahm sich eine andre, 'ne Junge, die noch dazu Geld hatte!«

Sogar Tante Amalie lächelte sanft und zeigte die Spitzen ihrer Mausezähnchen, denn es schien ihr an der Zeit, sich dem Umschwung der bestehenden Verhältnisse allmählich anzupassen. Der Klein-Lipinsker aber trat auf Tante Lieschen zu, lachte und streckte ihr die Hand entgegen.

»›Du‹, wenn ich gehorsamst bitten darf, Tante Lieschen. Na, und wollen wir mal?«

»Aber natürlich,« sagte Tante Lieschen, reckte sich auf den Zehenspitzen und ließ sich von dem Klein-Lipinsker einen herzhaften Kuß geben. Zu Tante Amalie aber bemerkte sie: »Nämlich weeßt du, liebe Schwester, man muß die Gelegenheit wahrnehmen. Wenn die oben erst 'runter is, kommt unsereens ja gar nich mehr 'ran!«...

*

Die Unterredung der beiden Schwestern war verhältnismäßig kurz gewesen, denn Fränzchen traf ihre ältere Schwester schon an, wie sie im Frisiermantel und mit der Brennschere in der Hand vor drei verschiedenfarbigen Blusen stand, die auf dem Sofa ausgebreitet lagen, einer weißen, einer rosafarbenen und einer schottischen.

Da stellte Fränzchen die Tablette auf den Tisch und sagte lächelnd: »Ich an deiner Stelle würde mich für die schottische entscheiden, denn er ist noch immer im Jagdanzug, und weil er doch den Bock hierhergeschleppt hat, könnte es bei der Umarmung leicht Flecken geben!«

»Wie meinst du das?« fragte Elsbeth mit strengem Gesicht.

»Ach Gott, hab' dich doch nicht so,« erwiderte Fränzchen, setzte sich auf den Tisch und schlenkerte höchst respektlos mit den Füßen. »Aber, um zunächst damit aufzuräumen: Meine Eide habe ich heute nachmittag gebrochen, indem ich mich mit Hans Heinrich verlobte. Sie galten überhaupt nicht, denn ich habe jedesmal mit eingekniffenem Daumen geschworen. Wenn du vielleicht das gleiche getan haben solltest, würde das die Situation bedeutend vereinfachen. Im übrigen aber hat er erklärt, länger als eine halbe Stünde wartet er nicht!«

»Autsch,« sagte Elsbeth, denn sie hatte sich mit dem heißen Eisen, und weil ihre Hand ein wenig zitterte, die Stirn verbrannt. »Also er ist noch immer da, wo ich ihm doch durch den Maler hab' sagen lassen, ich käm' nicht mehr herunter?« ... Die Frage der wiederholten Eidschwüre erörterte sie gar nicht mehr.

»Na ja doch,« erwiderte Fränzchen, »und beeil' dich, sonst geht er wieder fort, auf Nimmerwiedersehen. Der ist nicht wie mein Hans Heinrich, der kommt nicht mehr wieder! Also jetzt entschließ dich! Nimm schon die schottische, denn die kannst du dir allein zuhaken, ich geh' derweil herunter, sag', du kämst gleich!« ...

»Hopp, hopp, nicht so rasch,« wehrte Elsbeth ab, »und er wird schon noch eine Viertelstunde zulegen. Erst rapportier einmal, was er gesagt hat, und wie es eigentlich zugegangen ist, daß er ... na ja also, daß er den Bock so rasch gefunden hat! Hat er davon unten nichts erzählt?«

Daraufhin machte Fränze ein möglichst treuherziges Gesicht, denn sie war ja von Tante Lieschen genügend informiert, daß sich zwischen Elsbeth und dem Klein-Lipinsker irgend etwas zugetragen haben müßte, worüber zu schweigen alle beide triftige Gründe haben müßten. Und sie wiederholte, so gut es ging, was der Vetter Adalbert nach dem Aufbau des Bockes erzählt hatte.

»So so,« sagte Elsbeth, in Gedanken versunken, »und von dem Gewehr hat er nichts erwähnt?« ... Klein-Fränze sah die Schwester ehrlich verwundert an.

»Von welchem Gewehr? Und was meinst du damit?«

Elsbeth aber wandte sich ab, denn sie fühlte, daß sie rot wurde.

»Ach, nichts Besonderes,« sagte sie, und zum Glück fiel ihr im selben Augenblick eine Notlüge ein: »Nämlich nur, weil ich den Bock nicht ganz weidgerecht geschossen hab'. Mit dem Büchsenlauf gab es einen Versager, und ich mußte wohl oder übel mit der ›Witzlebenkugel‹ aus dem linken Schrotrohr hinlangen.« Im Innern aber empfand sie dankbar, wie diskret und taktvoll sich der Klein-Lipinsker selbst der vertrauten Schwester gegenüber benommen haben mußte. Und ein verstohlener Blick auf deren Antlitz gab ihr die Gewißheit, daß da wirklich keine Verstellung im Spiele war, und Klein-Fränze keine Ahnung davon hatte, wo und wie sie wieder in den Besitz ihrer Waffe gekommen war... daß der Maler am Eingang des Dorfes mit dem Gewehr auf sie gewartet hatte, um ihr gleichzeitig in eindringlicher Rede zu Gemüte zu führen, daß der Klein-Lipinsker erstens einmal nicht verlobt wäre, zweitens aber noch immer dem Grundsätze huldigte, daß der Wald verschwiegen sein müsse wie ein Grab. ...

Klein-Fränze aber dachte unterdessen im stillen, wie doch der Umgang mit dem Förster Ahrens abfärbte! Denn daß das »Familienoberhaupt« jetzt eben gelogen hatte, war ihr sonnenklar, sie mochte nur durch eine im Augenblick unangebrachte Querfrage keine Verzögerung herbeiführen. Unten wartete der Vetter Adalbert, hier aber langte Elsbeth nämlich schon nach der schottischen Bluse, bereitete sich nach der empfangenen Warnung also doch wohl auf eine im Bereiche der Möglichkeit liegende Umarmung vor ...

Auf der Treppe verhielt Elsbeth den Schritt und faßte sie bei der Hand.

»Fränzchen, du bildest dir doch nicht etwa ein, ich würde ihm um den Hals fallen und mich sofort verloben? Im Gegenteil, höchstens nach acht Tagen.«

»Na ja, immer erst nur zappeln lassen, das ist das einzig Richtige. Bei meinem Hans Heinrich hat es geradezu Wunder gewirkt!«

Vor der Tür zum Eßzimmer aber gab es einen neuen Aufenthalt.

»Fränze, um Gottes willen, was soll ich nur jetzt für ein Gesicht machen?« ...

Da klopfte die Kleine dem Familienoberhaupt ordentlich mütterlich wohlwollend den Rücken.

»Na, dein gewöhnliches, hübsches! Wenn dir's aber nur um die ersten Worte zu tun ist, das will ich schon besorgen!« ... Und sie öffnete die Tür. »Guten Abend allerseits, und da sind wir beide. Nämlich Elsbeth hat sich anders besonnen!« ...

*

Der Klein-Lipinsker, der gerade ein großes Stück Schinken zum Munde führen wollte, denn auf Tante Lieschens Ermahnung hatten die schon glücklich und annoch unglücklich Liebenden sich zu Tisch gesetzt, sprang auf.

»Wie scharmant, liebe Elsbeth, daß du mir die Freude nicht verdorben hast, dir den Bock noch heute abend zeigen zu dürfen. Und wie liebenswürdig, daß du mir die kleine Verstimmung von heute nachmittag nicht nachträgst! Also jetzt komm her und sieh dir mal an, was für einen kapitalen Kerl du weidgerecht gestreckt hast. Das gibt den ersten Schild auf der nächsten Ausstellung!« Und er faßte sie bei der Hand, führte sie vor die zwei Stühle, auf denen er den Bock aufgebaut hatte.

Sie aber war ihm ordentlich dankbar, daß er sie führte, denn vor ihren Augen lag es wie ein Nebel. Und ganz mechanisch betastete sie das Gehörn des erlegten Bockes.

»Ja, in der Tat, ganz außerordentlich!« Mehr konnte sie nicht hervorbringen.

Er aber, der Klein-Lipinsker, beugte sich über sie und flüsterte leise: »Mädel, du bist zum Anbeißen! Und ich ganz verrückt, nicht erst seit heute abend, sondern schon vom Nachmittag her. Und bild dir doch nicht ein, ich hätte heute abend nicht gemerkt, daß du mir auch gut bist, aber verlaß dich drauf, kein Mensch hat eine Ahnung. Nicht mal der Professor, denn der bildet sich noch jetzt ein, wir hätten nur einen Ringkampf aufgeführt, um dein Gewehr nämlich. Na also?« Und er blickte ihr fragend in die Augen.

Elsbeth aber wandte sich langsam ab. Sprechen konnte sie nichts, denn das Herz weitete sich ihr jählings vor hereinflutender Glückseligkeit. Nur rot wurde sie, daß sie die Wärme bis unter die kurz zuvor mit dem Brenneisen gekrausten Stirnhaare spürte.

Da lachte der Klein-Lipinsker: »Wer schweigt, ist einverstanden,« und hob sie mit raschem Griff hoch empor, »Das da, meine Herrschaften, ist der Schluß des Lipinsker Erbfolgekrieges. Nicht ganz so lange hat er gedauert wie der spanische, aber dafür ist der Friedensschluß um so herzhafter. Einer aber muß ihn noch unterzeichnen, nämlich unser Professor, der im Nebenamte Heiratsvermittler ist. Und genier dich nicht, Elsbeth, halt ihm den kleinen Schnabel hin, deine Schwester, um die er sich gleichermaßen verdient gemacht, hat ebenso getan.«

Der Maler aber genierte sich merkwürdigerweise, vielleicht weil ihm der angetragene Kuß denn doch zu sehr gegen den eingewurzelten Respekt ging.

»Nein, laß nur, Adalbert, und vielleicht später. Für heute möchte ich nur die Hand küssen, die mir so viel Gutes getan!«...

*

Tante Amalie, die mit raschem Blick die Situation erfaßt hatte, war gerade dabei, dem Klein-Lipinsker in längerer Rede auseinanderzusetzen, wie sehr sie von Anfang an auf seiner Seite gestanden hätte und ebenso wie Elsbeth nur durch allerhand befremdliche Nebenumstände dahin gebracht worden wäre, an der Lauterkeit seiner Absichten zu zweifeln, als sie jählings in ihrem Redeschwall unterbrochen wurde. Frau Förster Ahrens stürzte atemlos herein, ein dickes Notizbuch in der Hand.

»Ach Gott, gnädigste Baroneß, entschuldigen Sie bloß, aber ich hab' mich nämlich so furchtbar geängstigt. Ich sah doch, wie Sie allein nach Hause kamen mit dem Herrn Professor, er redete Ihnen immerfort gut zu, mein Mann aber war nicht dabei. Und jetzt bringt mir der Unkas mit einem Male das da. Die Kiste ist gefunden, und mein Mann wartet bloß auf Sie!«

Der Klein-Lipinsker griff nach dem Notizbuche und las halblaut die Meldung: »Dokumentenkiste gefunden, Hufschmied dazu ...«

»Elsbeth,« unterbrach er sich, »hat diese Nachforschung noch einen greifbaren Zweck? Wir zwei sind uns doch einig, also mein' ich, wir lassen die ganze Angelegenheit in der Schwebe? Lassen noch ein paar Fuhren Sand aufschütten und den alten Kasten samt seinen Inhalt so langsam und ungestört vermodern?«

»Nein,« sagte Elsbeth und warf den Kopf zurück, »ich will wissen, wer von uns beiden recht hatte, ich oder du! Außerdem aber...« Den Satz jedoch sprach sie nicht zu Ende, sondern barg errötend ihren Kopf an seiner Brust.

»Ich verstehe,« flüsterte er dicht an ihrem Ohr, »wegen der Mädel. Und damit die mit meinen Jungens mal keine Prozesse zu führen haben. Na, beruhige dich, Schatz, es werden immerhin Geschwister sein, außerdem können wir ja darüber ein ganz grobes Pergament ausfertigen, und zwar in mindestens sechs Niederschriften, falls nämlich das eine oder andre verbrennen oder gestohlen werden sollte.« Laut aber befahl er: »Friedrich, lassen Sie schleunigst das Break anspannen, damit wir alle Platz haben! Denn, nicht wahr, liebe Tante Amalie, Sie würden doch schmerzlich bedauern, nicht beim Schlußakte dabei sein zu dürfen, nachdem Sie vorher für eine wirklich restlose Versöhnung zwischen Groß- und Klein-Lipinsken so tätig gewesen sind?« ...

*

Der alte Ahrens wunderte sich nicht wenig, als gleich hinter seiner jungen Herrin der Klein-Lipinsker aus dem langen Break stieg und sofort das Kommando übernahm. Als ein ans Gehorchen gewöhnter Beamter fragte er natürlich nicht, warum und wieso, schickte aber einen flehentlichen Blick zu Tante Lieschen hinüber, als wenn er hätte sagen wollen: Laß mich nicht im Stich, wenn's nachher wegen meiner lügenhaften Verlobungsgeschichte womöglich zum Kreuzverhör kommen sollte. Daß ich hier auf den Wiesen zufälligerweise auch noch den Viehhändler Matzanek getroffen haben sollte, glaubt mir ja doch kein Mensch, und womit soll ich mich sonst herausreden? ...

Auf dem schmalen Viereck in der Mitte des Fichtenkopfes drängte sich die Menge der Zuschauer, so daß für die beiden mit dem Spaten arbeitenden Knechte kaum der nötige Raum übrigblieb. Endlich wurde die Truhe gehoben, zum Öffnen aber brauchte man kein besonderes Werkzeug, denn der Deckel stand fast eine halbe Hand breit offen. Auf dem Grunde aber nichts als Müll und Häcksel und eine Mütze voll junger, blinder Feldmäuse. Die Alten, die sich aus den Dokumenten mit scharfem Zahn die Nester zurechtgeschnitten hatten, waren schon am Nachmittag entwichen, als oben das verdächtige Kratzen und Graben begann ...

Der Klein-Lipinsker ließ die Kiste umstülpen und leuchtete mit der Laterne auf den Haufen zerfressener Papiere, zwischen denen die kleinen Mäuse mit leisem Fiepen übereinander krabbelten.

»Da, Elsbeth, sieh her. Urkunden sind wohl da gewesen, aber ob die richtige darunter war, wird sich beim besten Willen nicht mehr nachweisen lassen.«

Tante Lieschen und der Maler schüttelten sich die Hand, der alte Ahrens aber fühlte sich gedrungen, seine junge Herrin, die schweigsam dastand, darauf aufmerksam zu machen, daß jetzt eine Versöhnung doch wohl am Platze sein dürfte, trotzdem er selbst am Nachmittag dagegen gewesen wäre ...

»Und sehen Sie, gnädigste Baroneß,« so schloß er, »der alte Unkas und ich, wir haben unsre Pflicht getan. Wer aber ist wieder einmal an allem schuld? Herr Verwalter Wisotzki! Hätte er damals die beiden Kerle nicht unnützerweise bei der Arbeit gestört, hätten sie den Deckel wieder ordentlich zugemacht, und die Mäuse wären nicht hineingeraten. So aber? Jetzt können Baroneß den Herren vom Berliner Kammergericht vielleicht noch sagen, was der Wald einmal umschlossen hat, gibt er nicht wieder her, aber, wo diese Herren sowieso von den hiesigen Verhältnissen keine Ahnung zu haben scheinen, wird es sich fragen, ob man damit irgendwelchen Eindruck erzielt.«

»Beruhigen Sie sich, Ahrens,« sagte der Klein-Lipinsker und zog Elsbeth mit der Linken an sich, »wir haben es vorgezogen, uns vorher gütlich zu einigen.«

»Gott sei Dank,« sagte der Alte und schüttelte seinem neuen Herrn kräftig und mit freudestrahlendem Gesichte die Hand. Aber es war schwer zu sagen, worüber seine Freude größer war. Ob über die endlich vollzogene Einigung der streitenden Parteien oder darüber, daß er aller Wahrscheinlichkeit nach unbequeme Fragen über die angebliche frühere Braut des Klein-Lipinsker Herrn nun nicht mehr zu gewärtigen hatte...

Elsbeth aber sah, während der Klein-Lipinsker Vetter sie mit der Linken umschlungen hielt, mit schwimmenden Augen ins Dunkle. Sie fühlte sich so recht geborgen. »Schweigen im Walde«, sagte sie leise.

Er beugte sich besorgt über sie.

»Schatz, was willst du damit sagen? Und glaub mir doch: Nicht mal der Professor hat gesehen, was wirklich zwischen uns vorgefallen ist!«

»Na ja,« sagte sie rätselhaft, »aber auch sonst. Denn damit hat es nämlich angefangen. Aber das erklär' ich dir vielleicht später, wenn wir erst verheiratet sind!«


 << zurück