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Sechstes Kapitel

Hans Heinrich von Mechowen traf zu seiner nachmittäglichen Kaffeevisite gerade ein, als die Wogen der Erregung nach dem Abgange des Klein-Lipinskers so ziemlich am höchsten brandeten. Die Beamten mit ihrem männlichen und weiblichen Anhang debattierten draußen auf der Parkterrasse, wohin sie wahrscheinlich von Tante Lieschen verwiesen worden waren, drinnen im Speisesaal aber die Herrschaft. Die einzigen, die mit der Situation anscheinend zufrieden waren und den Mund hielten, waren die vier Wisotzkischen Kinder. Sie saßen um den runden Verandatisch und aßen schweigsam eine süße Grießspeise mit Himbeersoße. Wie der Berg des Schlaraffenlandes türmte sich die für etwa zwanzig Personen angerichtete Mehlspeise vor ihren Tellern, und da trotz eines viertelstündigen energischen Angriffs noch keine augenfällige Abnahme zu merken war, hatte es in der kleinen Tafelrunde auch noch keine Streitigkeiten gegeben wegen gegenseitiger Übervorteilung, gierigen Vordrängens und dergleichen. Frau Wisotzki sagte nur zuweilen: »Passen Sie, bitte, auf, Herr Kandidat, daß die Kinder sich nicht den Magen verderben,« dann wandte sie sich wieder der Debatte zwischen ihrem Manne und dem Förster zu, die sich nach wie vor um den Dokumentengraben und um seine angeblich unrichtige Anlage drehte.

Der Mechower Hans Heinrich, der von der Parkseite her geritten kam, schwang sich aus dem Sattel.

»Nanu, meine Herrschaften, ausgesperrt? Werden denn da drinnen Familiengeheimnisse verhandelt?«

Und da erhoben sich vier Stimmen auf einmal, um ihm zu erklären, was in der Zwischenzeit vorgefallen war, natürlich in verschieden gefärbter Darstellung, je nach dem betreffenden Parteistandpunkte. Nur in einem waren sie alle vier einig, daß nämlich der Klein-Lipinsker ganz plötzlich mit einem Versöhnungsanerbieten erschienen wäre, aber nach erfolglosem Bemühen schon wieder den Rückzug hätte antreten müssen. Und der alte Förster Ahrens, der in dem allgemeinen Wettstreit seine Lunge geschont hatte, sagte als letzter: »Ja, und gehen Sie vor der nächsten halben Stunde nicht hinein, sonst müssen auch Sie Ihr Urteil abgeben, ohne daß es nämlich etwas hilft, Herr von Mechow. Wir alle waren schon der Reihe nach drin, haben aber wegen allgemeiner Unzufriedenheit wieder das Lokal verlassen müssen!«

Da wollte Hans Heinrich sich still wieder auf seinen alten Blacklock schwingen, um noch ein Stündchen mit langsamem Hin- und Herreiten zu verbringen, denn auf eine Frage der Baroneß Elsbeth wieder den Schiedsrichter spielen, lockte ihn nicht; er hatte genug vom letztenmal. Als er aber schon die Stufen der Veranda wieder hinunterging, ereilte ihn Tante Amalie, die seine lange Gestalt zwischen den übrigen durch die Scheiben der Glastür eräugt hatte. Wie ein Stoßvogel kam sie auf ihn zugeschossen, ergriff ihn bei der Hand: »Nein, nein, dageblieben, Hans Heinrich! Dich geht die Sache mit am allermeisten an, und denk dir bloß, Tante Lieschen, Fränze und der Justizrat nebst dem Pastor predigen Versöhnung. Nach diesem Affront!« Und noch zwischen Tür und Angel setzte sie ihm ihre Auffassung auseinander, daß nämlich der Besuch des Lipinskers von der feindlichen Seite nichts andres wäre, als ein Eingeständnis seiner eignen Schwäche. Weil er ganz genau wüßte, daß das Dokument existierte, hätte er sich nur zu diesem Versöhnungsversuche entschlossen, und weil ihm die Vorentscheidung des Kammergerichts offensichtlich in die Glieder gefahren wäre! ... »Darum also,« so schloß sie, »nach wie vor Krieg bis aufs Messer. Wir werden die Urkunde schon finden in dem ganzen Jahr, wenn alle Stränge reißen, werd' ich mich mal auf die Suche machen. Aber ich bin ja mit ein paar Komplimenten über meine Jugendlichkeit nicht zu fangen wie Schwester Lieschen. Und daß ich mich besser gehalten hab' als sie, ist kein Wunder, denn ich bin doch um so und so viel Jahre jünger« – die genaue Zahl gab Tante Amalie nicht an.

Also vorbereitet betrat Hans Heinrich das Zimmer.

Tante Lieschen stand mit hochrotem Gesicht an dem noch immer nicht abgeräumten Speisetisch, Klein-Fränze sprach eifrig auf den Ostrokoller Pastor ein, und der Justizrat Kersten setzte seiner Mandantin mit wohlerwogenen Worten auseinander, daß Tante Lieschen recht hätte, wenn sie riete, ein Brieflein mit ein paar versöhnlichen Zeilen nach Klein-Lipinsken zu richten, denn für ihn stände es fest, daß Herr Adalbert von Linde zum mindesten etwas Zuverlässiges über den Aufenthalt des Hufschmieds Martschinowski wüßte. Nach der unfreundlichen Ablehnung aber wäre es ihm natürlich nicht zu verdenken, wenn er diese Wissenschaft für sich behielte. Elsbeth aber, die Hauptperson bei dieser ganzen Verhandlung, stand am Fenster, ihr feingeschnittenes Profil zeichnete sich scharf gegen den hellen Hintergrund ab, um ihre Lippen stand ein trotziger Zug, und fast schien es, als hörte sie kaum zu, spähte vielmehr die Lindenallee entlang, ob der nicht vielleicht doch noch wiederkommen würde, der vorhin in hellem Zorn davongeritten war. ... Als von der Gartenseite her die Glastür klang, wandte sie den Kopf ...

»Gott sei Dank, noch ein Unparteiischer! Na, und was raten Sie mir nun, Hans Heinrich, Krieg oder Versöhnung?«

Das sollte spöttisch klingen, aber Hans Heinrich, der nach der letzten so enttäuschenden Unterredung mit seiner Mutter andre Augen gekriegt hatte, war auch auf einmal hellhörig geworden. Und er vernahm in der so spöttisch formulierten Frage einen leisen Unterton, der fast nach verhaltenen Tränen klang. Diese Wahrnehmung aber machte ihn noch befangener als sonst. Er ließ die langen Finger der Reihe nach knacken.

»Na ja, nämlich, und weil ich sowieso unterwegs war, da dachte ich ...«

»Entschuldigt bist du, mein Junge,« unterbrach ihn Tante Lieschen, »und nur vorwärts. Siehst ja, wir warten auf dein Urteil, wie auf die Weisheit Salomonis!« Und da sah Hans Heinrich sie beleidigt an, dann aber richtete er sich auf. Ihn vor dem fremden Justizrat mit seiner schwerfälligen Sprache zu blamieren, hatte Tante Lieschen doch wahrhaftig nicht nötig!

»Also gut ... und wenn ihr es wissen wollt, wie ich denke ... und entschuldigen Sie, Herr Justizrat, nämlich es ging mir früher nicht so schwerfällig mit dem Sprechen ... wissen Sie, ich bin vor fünf Jahren beim landwirtschaftlichen Rennen in Allenberg gestürzt ... also uns alle geht die ganze Geschichte nichts an! Nur Elsbeth! Und wenn sie will, soll sie sich mit dem Klein-Lipinsker vertragen, oder den Prozeß weiterführen, ganz wie sie gesonnen ist, uns aber geht es nichts an. Persönliche Sentiments spielen da keine Rolle!«

Elsbeth trat auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand.

»Schön Dank, Hans Heinrich, und endlich mal ein vernünftiges Wort. Ich allein trag' doch auch die Verantwortlichkeit, nicht wahr?«

»Na ja,« fiel Tante Lieschen eifrig ein, »dann faß doch aber auch endlich den einzig vernünftigen Entschluß, gib mir die Erlaubnis, den Klein-Lipinsker samt dem Maler zum Nachtessen einzuladen, wenn es dir zu peinlich ist, selbst zu schreiben!« Tante Amalie zeterte dazwischen: »Das hat Hans Heinrich doch gar nicht gemeint, und ich bitte dich, hör nicht auf Tante Lieschen, in ihrer Verblendung ahnt sie ja gar nicht, was sie dir zumutet.« Der Justizrat pflichtete Tante Lieschen bei, Klein-Fränze rang die Hände: »Um Gottes willen setzt ihr doch nicht so zu, das hat doch auch alles noch bis morgen Zeit,« und es gab ein greuliches Durcheinander. Elsbeth aber wartete das Ende nicht ab.

»Ach, laßt mich alle zufrieden,« sagte sie plötzlich, warf den Kopf in den Nacken zurück und ging mit raschen Schritten aus dem Zimmer. An der Tür aber gab es einen unterdrückten Aufschluchzer, und einen Augenblick lang sah es aus, als müßte sie sich an der Klinke festhalten, um nicht zusammenzubrechen. Da sagte Fränzchen zornig: »Na ja, da habt ihr's, und wie konntet ihr nur alle auf sie so eindrängen, ihr habt ja gar keine Ahnung,« und lief der Schwester nach. Ein paar Minuten später aber stand Hans Heinrich allein in dem großen Zimmer! ...

Erst war Tante Lieschen gegangen, mit der zornigen und auch auf ihn gemünzten Bemerkung, sie wäre schließlich nicht dazu da, um allen verfahrenen Kutschfuhrwerken der ganzen Umgegend aus dem Graben zu helfen, Tante Amalie folgte ihr zu ausgiebiger Auseinandersetzung, denn ihr brannte noch etliches auf der Seele, was sie bei dem allgemeinen Wirrwarr nicht hatte anbringen können, der Pastor aber hatte sich anscheinend schon früher still gedrückt, denn eine Parteinahme zwischen den Herrschaften, von denen nach der neuesten Wendung der Dinge jede berufen sein konnte, über seine endgültige Bestätigung im Ostrokoller Pfarramte zu entscheiden, war ihm natürlich unangenehm. Als letzter verabschiedete sich der Justizrat mit der ärgerlichen Bemerkung, daß es leichter wäre, eine von Bremsen geplagte Kälberherde zu hüten, als die Sache einer aus lauter Damen bestehenden Partei zu führen, er, Hans Heinrich, hatte nur noch die Mühe, dem alten Herrn gütlich zuzureden und ihm mit dem Wunsche glücklicher Heimkehr in den Wagen zu helfen. ... Als er wieder das Speisezimmer betrat, war auch die Parkveranda leer, nur sein alter Blacklock stand mit herabhängenden Zügeln und drömelnd vor der Treppe, und im Hintergrunde auf dem großen Rasenrundell hielt Frau Verwalter Wisotzki ihrem jüngsten Sohne den Kopf; anscheinend litt der Kleine unter den Folgen seiner Heldentaten vor der mächtigen Grießbreischüssel. Der geschniegelte Hauslehrer aber stand unterwürfig daneben, hatte hilfsbereit sein Taschentuch gezogen und, nach den heftigen Mundbewegungen der Frau Verwalter zu schließen, bekam er just keine Liebenswürdigkeiten zu hören. Da freute sich Hans Heinrich erst ein Weilchen über die demütigende Situation dieses faden Tropfes – hoffentlich sah auch die kleine Fränze gerade von oben herunter, und wenn nicht, konnte er's ihr ja später erzählen – dann aber kam allmählich ein drückendes Gefühl der Vereinsamung über ihn! ...

Und gerade heute war er mit allerhand seltsamen Hoffnungen und Erwartungen von Hause geritten! ...

Bei der Unterredung von Tante Lieschen mit seiner Mutter war er ja nicht dabei gewesen, hinterher aber hatte die alte Dame nur gesagt: »Mein Junge, in solchen Dingen muß ein Mann sich allein zurechtfinden. Tante Lieschen meint auch, der Maler hätte recht, du warst so lange in der Irre geritten, dein wahres Glück läge vor dir auf dem Wege, du hättest es nur bisher nicht gesehen. Also mach die Augen auf, vielleicht findest du es!« Und als er danach weiter mit Fragen in sie dringen wollte, hatte sie abgewehrt: »Laß mich, mein armer Kopf kann nicht mehr. Nur eins noch: dein Stolz schon müßte es dir verbieten, um eine zu werben, die über dich lacht und dir nachspottet, wie du, armer Junge, schwer nach den Worten suchst. Fränzchen aber hat das noch nie getan, also entscheide dich, was dir lieber ist. Ob du eine Frau haben willst, die auf dich hinabsieht, sich womöglich einbildet, sie hätte noch einen andern kriegen können, oder eine, der du so, wie du bist, recht bist. Im übrigen frag Tante Lieschen, ich kann nicht mehr!«

Mit diesem Bescheid war er fast eine Woche lang umhergegangen, getraute sich nicht nach Groß-Lipinsken hinüberzureiten, um nicht der zu begegnen, die hinter seinem Rücken über ihn lachte, und das Herz hatte ihm weh getan, daß er nun auf alle Zukunftsträume verzichten, daß aus der Vereinigung von Lipinsken und Mechowen nichts werden sollte. Aber mit einer Frau zusammenleben, die ihm heimlich nachmachte, wie er beim Reden mit den Fingern knackte, die dabei noch einen andern im Herzen trug – er wußte schon, wen, und schalt sich jetzt einen Narren, daß er's nicht früher gemerkt hatte – also das ging nicht an. Von dieser Erkenntnis jedoch bis zu dem Entschluß, nun auf einmal um die jüngere Schwester zu werben, war ein gewaltiger Sprung! Zunächst einmal hatte er sich das neben Elsbeths imponierender Erscheinung so unbedeutend aussehende junge Ding noch niemals daraufhin angeschaut, ob man sich wohl darein verlieben könnte, zweitens fürchtete er sich davor, daß die ältere Schwester, bei der er doch schicklicherweise um Fränzchen anhalten mußte, seine Werbung mit einem mokanten Lächeln aufnehmen würde, so etwa: aha, Füchslein, weil die hoch oben hängenden Trauben dir zu sauer waren, und so weiter, drittens aber war er von Fränzchens heimlicher Liebe doch lange nicht so überzeugt, wie Tante Lieschen und seine Mutter. Ja, früher vielleicht, aber in letzter Zeit war eben ein fühlbarer Umschwung eingetreten, oder ihre ehemals so freundliche Haltung war nichts weiter gewesen, als ein wenig Mitleid, um es ihn nicht allzu schmerzlich empfinden zu lassen, daß Elsbeth ihn so schlecht behandelte. ... Aber schließlich, wenn er es sich recht überlegte, eine Vernunftehe ohne diese herzverzehrende, heiße Liebe, war für ihn schon das vom Schicksal Bestimmte und Richtige. Auf Groß-Lipinsken mußte er freilich dabei verzichten, aber dafür gewann er wenigstens eine Frau, die ihn, wie er nun einmal war, nicht verspottete, sondern achtete. Und noch einmal sozusagen von vorn anfangen, auf den andern Gütern der Nachbarschaft zur Brautschau herumziehen ... dazu hatte er sich denn doch schon zu sehr an die kleine Fränze gewöhnt! Außerdem wäre es ihm fast als eine Art von Verrat vorgekommen, ganz abgesehen von den Unbequemlichkeiten, die ein solches Umherziehen mit sich brachte ... All diese Zweifel und deren Schluß hatte er nach dem Mittagessen seiner alten Dame vorgetragen, sie aber hatte nur gelächelt: »Na ja, diese ›Vernunftehen‹, bei denen man sich in ein vernünftiges Mädel verliebt, sind wirklich die allerbesten!« Und als er weiter fragte, wie er wohl vor Fränzchen, der seine frühere Verehrung für Elsbeth doch bekannt wäre, seine plötzliche Sinnesänderung motivieren sollte, hatte die Mutter sogar, gegen all ihre sonstige Gewohnheit, laut aufgelacht: »Geh, du langer Hasenfuß, ich glaub' wirklich, du hast Angst vor dem kleinen Tierchen? Na, dann reit hinüber, zu Tante Lieschen, ich glaub', die Gute hat schon für alles vorgesorgt!«

Mit diesem Bescheid hatte er sich auf den Weg gemacht, allerhand seltsam erwartungsvolle Gefühle in der Brust, denn es schmeichelte ihm doch nicht wenig, daß Klein-Fränze, wie es den Anschein hatte, ihn so hingebend liebte. Und wenn er sich's recht überlegte, bedurfte es von seiner Seite nicht einmal mehr viel Entsagung, um diese Vernunftehe einzugehen. Wenn man die kleine Fränze allein für sich sah, nicht neben der stolzen Schwester, konnte einem etliches schon wohl gefallen. Das zierliche Figürchen mit den kleinen Händen und Füßen, das feingeschnittene Gesichtchen mit der energisch geschwungenen Nase, darüber das dunkelblonde Ringelhaar, das sich ihr in natürlichen Locken um Stirn und Schläfen krauste... wie ein Porzellanfigürchen sah sie aus, und er mußte sich mit seinen groben Händen wohl arg in acht nehmen, es nicht zu zerbrechen. Am fröhlichsten aber stimmte es ihn, daß er nach der Versicherung seiner Mutter nicht mehr viel Worte zu machen brauchte. Tante Lieschen hatte ja schon vorgesorgt! ...

Und so ungefähr malte er sich, während ihn sein alter Blacklock im leichten Schaukeltrab den Groß-Lipinsker Waldweg entlang trug, den Hergang aus. Sie gingen nach dem Kaffee im Park zu dritt spazieren. Auf einmal sagte Tante Lieschen: »So, Kinder, jetzt lass' ich euch allein, aber haltet euch nicht zu lange bei überflüssigen Vorerklärungen auf. Da, gebt euch die Hand, erledigt die unumgängliche Küsserei, in der Zwischenzeit will ich zu Elsbeth gehen, damit sie als Familienoberhaupt einen recht gerührten Segen vorbereitet!«

So hatte er sich's ausgemalt, und es war wieder einmal natürlich ganz anders gekommen! Klein-Fränze hatte ihn kaum beachtet, Tante Lieschen war verärgert nach oben auf ihr Zimmer gegangen, und er stand hier unten ganz allein, niemand bekümmerte sich um ihn...!

Gewiß, der plötzliche Besuch des Klein-Lipinskers war immerhin ein nicht unwichtiges Ereignis, aber, nachdem es nach allen Richtungen erörtert und durchgesprochen worden war, doch vorläufig erledigt. Und deswegen brauchte man ihn doch nicht so verletzend nichtachtend zu behandeln? Schließlich war seine Werbung um die kleine Fränze doch auch kein so alltäglicher Vorgang, von dem es gleichgültig war, ob er sich heute oder etwa in acht Tagen vollzog! Da stieg ihm ein bitterer Zorn im Herzen empor: Wenn man hier so gesonnen war, konnte man lang auf ihn warten! Und er wandte sich zum Gehen, umfing nur noch einmal mit einem abschiednehmenden Blick den weiten und doch so gemütlichen Raum, in dem er so viele bange und auch wiederum so glückliche Stunden verlebt hatte. Da hingen über dem dichten Fries aus lauter Rehkronen die verräucherten Bilder, die in dem großen Saal keinen Platz mehr gefunden hatten, streng blickende Herren im Lederkoller und hohen Stulpstiefeln, auf der andern Seite aber die Damen in gebauschten Reifröcken, Fächer oder Blumen in den schlanken Händen. Eine davon war eine Mechow, und daher stammte die alte Vetternschaft zwischen den beiden Häusern. Also warum sollte es nicht auch umgekehrt kommen, eine Linde sich in die lange Reihe derer fügen, die auf Mechowen als Herrinnen gesessen hatten? Aber natürlich, wenn man sich hier daraus nichts machte, konnte er ja irgendwo anders hinreiten, wo man eine solche Ehre zu schätzen wußte! ...

Und schon schritt er zur Veranda, um sich auf seinen alten Blacklock zu schwingen und davonzureiten, natürlich auf Nie- und Nimmerwiedersehen, da ging eine der Seitentüren, die zum Treppenhause führten, auf, und Klein-Fränze trat in das Zimmer, sah sich suchend um, und als sie bemerkte, daß der Mechower schon in Hut und Handschuhen dastand, die Reitpeitsche unter dem Arm, sagte sie: »Nanu, Hans Heinrich, schon fort? Wir haben doch noch nicht Kaffee getrunken!«

Da wollte er erwidern: Na ja, wenn man mich hier so behandelt?!, aber das stimmte ja nicht mehr, sie, die Hauptperson, war ja wiedergekommen. Und da er beim besten Willen nicht so rasch eine Bemerkung zurechtzimmern konnte, die seiner Freude über ihr Wiederkommen Ausdruck gegeben hätte, schwieg er erst ein paar Augenblicke und sagte dann: »Na, und Elsbeth?« Während er sie aussprach, fühlte er schon., daß gerade diese Frage unter den obwaltenden Umständen wenig am Platze war, aber er konnte sich nicht helfen, es war ihm nichts Besseres eingefallen.

Fränzchen zuckte mit den Achseln.

»Elsbeth ...? Sitzt oben und heult!« Und als er sie darauf ein wenig verwundert ansah, sagte sie: »Na ja, was ihr euch alle von ihr einbildet, als wäre sie so 'ne Art eiserne Jungfrau, die Brust mit Stahl gepanzert und innen lauter Stacheln! Hat 'n Herz wie andre junge Mädchen auch und ist verliebt wie ein Backfisch. Und wenn ich bloß reden dürfte, dann würden euch allen die Augen übergehen! Aber ich darf leider nicht,« fügte sie mit einem Seufzer hinzu, »denn ich hab' geschworen, auf mein ganz großes, unbrechbares Ehrenwort!«

»In wen?« fragte Hans Heinrich. Es war der Schluß einer ganzen Gedankenkette, von der er nur das letzte Glied herausgekriegt hatte.

»In wen? Wie kann man nur so fragen,« erwiderte Fränzchen, »und ich hab' doch geschworen. Aber in Sie nicht, Hans Heinrich, so viel kann ich Ihnen schon verraten.« Und sie sah ihn ordentlich herausfordernd und böse an.

Da hätte er ihr gar zu gern gesagt, daß es ihm jetzt vollkommen gleichgültig wäre, in wen sich Elsbeth verliebte, wie niedlich sie hingegen selbst aussähe in der hellblauen Bluse mit dem Veilchensträußchen, dem dunkelblauen, fußfreien Rock und zwischen beiden den hellen Ledergürtel, den er mit einer einzigen Spanne ausmessen könnte, aber er fand zu den Gedanken wieder einmal die Worte nicht.

»Ich kenn' ihn,« war das einzige, was er herausbrachte, und gut wenigstens, daß er noch hinzufügen konnte: »Ist mir aber auch jetzt ganz egal!«

Klein-Fränze aber wurde daraufhin merklich freundlicher. Sie erkundigte sich, weshalb er sich fast eine ganze Woche lang in Groß-Lipinsken nicht hätte sehen lassen, und als sie darauf die Antwort erhielt, es hätte sich in der Zwischenzeit etliches klären müssen, schien sie nicht unzufrieden. Nach einer kleinen Pause fragte sie: »Finden Sie nicht auch, Hans Heinrich, daß der Wisotzkische Hauslehrer eigentlich ein recht fader Mensch ist?«

Darauf aber erwiderte er merkwürdigerweise nichts, sondern sah nur nach der Tür, die zum Treppenhause führte. Und nach einer Weile kam des Rätsels Lösung: Er fragte, wo Tante Lieschen so lange bliebe!

Da wäre sie am liebsten aus der Stube gelaufen, denn noch weiter entgegenkommen konnte sie doch beim besten Willen nicht! Aber der arme liebe Kerl konnte doch nichts dafür, daß sich ihm die Worte nicht so geschickt zu den Gedanken fügten wie andern Leuten, und in seinem ehrlichen Gesicht glaubte sie zu lesen: Wenn nur ein Christenmensch mir jetzt helfen möchte! Also konnte sie wohl noch einen Schritt weiter gehen!

Ob sie ihm etwas vorspielen sollte, fragte sie, bis die andern zum Kaffee herunterkämen? Und als er darauf nur nickte, ging sie ins Teezimmer, öffnete mit lautem Klappen den Flügel, ein paar Augenblicke danach aber drangen die Klänge der mexikanischen Volkshymne zu ihm hinüber. Wenn er danach nicht sprach, so dachte Fränzchen, dann konnte er ihr leid tun! ...

Hans Heinrich aber hob den Kopf: La Paloma, sein Lieblings-, Leib- und Magenstück, das sie ihm neulich so unartig und verletzend verweigert hatte! Und was ihm vorhin als eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit erschienen war, wurde ihm jetzt zur Gewißheit: Der Maler, dieser prächtige Kerl, hatte recht, die kleine Franze liebte ihn! Da glaubte er es auch ohne Tante Lieschens gütige Mitwirkung schaffen zu können, und es war nicht Zaghaftigkeit, daß er das Spiel nicht unterbrach. Die Melodie mit ihrem wechselnden, bald heroisch einherschreitenden, bald sanft schmachtenden Rhythmus war zu schön! Wenn er bei seinen Gumbinner Ulanen übte, und es gab ein Liebesmahl, ließ er sich das Lied gegen Stiftung einer Vierteltonne Schiefferdecker Bieres zum mindesten sechsmal am Abend vorspielen, aber noch nie hatte es ihm so herzbeweglich geklungen wie heute. Die schönsten Stellen summte er mit, und erst als der letzte Ton verklungen war, trat er in die Verbindungstür und streckte beide Hände aus.

»Elsbeth, liebe kleine Elsbeth! Und kannst du mir verzeihen, daß ich so lange in der Irre gegangen bin?«

Sie stand auf und kam ihm mit niedergeschlagenen Augen entgegen.

»Ich hab' dir ja schon verziehen, dummer, langer Hans Heinrich! Aber wenn ich nicht wüßte, daß du diesmal wirklich mich gemeint hast ... ich heiß' nämlich immer noch Fränze

Da wurde er wieder verlegen, wollte sich entschuldigen, aber er kam nicht dazu. Ein zierliches, kleines Persönchen schmiegte sich an ihn, reckte die Arme, und da mußte er sich herunterbeugen, damit sie ihre Absicht ausführen, ihm um den Hals langen konnte ...

Als sie sich eine ganze Weile geherzt und geküßt hatten, wuchs Hans Heinrich der Mut.

»Komm, Kleines, jetzt wollen wir zu Elsbeth gehen!«

Sie aber wehrte erschrocken ab.

»Nein, nein, um Himmels willen, jetzt nicht und noch lange nicht. Überhaupt Elsbeth ... die darf es am allerletzten erfahren! Heute, jetzt eben, hab' ich schon zum zweiten Male das Heiraten verschworen, trotzdem ich schon den Meineid sozusagen im Herzen trug. Ich hab' ja wieder den linken Daumen eingekniffen, zum Zeichen, daß es nicht gelten soll, aber ist egal, sie glaubt doch daran, und ich sage dir, sie würde furchtbar böse werden. Und leider Gottes, der andre Eid gilt, über mein Stillschweigen nämlich, und daß ich keinem Menschen verraten soll, wie furchtbar und hoffnungslos sie selbst in unsern feindlichen Vetter in Klein-Lipinsken verliebt ist!«

Da lächelte Hans Heinrich, und, weil er vor der Kleinen keine Scheu mehr verspürte, fügten sich auch die sonst so widerspenstigen Worte den vorauseilenden Gedanken: »Aber mir kannst du doch alles erzählen. Wir zwei sind doch von jetzt an eins!«

Klein-Fränze sah ihn erst etwas ungläubig an, als er aber ernsthaft versicherte, daß auch im Bürgerlichen Gesetzbuche der Grundsatz aufgestellt wäre, zukünftige Eheleute hätten keine Geheimnisse voreinander zu haben, im Zweifelsfalle aber stände dem mit diskretionärer Vollmacht ausgerüsteten Manne allein die Entscheidung zu, fing sie an zu erzählen. Wie fassungslos die Schwester schon damals gewesen wäre nach dem Rencontre, bei dem sie dem Klein-Lipinsker das Leben gerettet hätte, diesmal aber wäre es fast noch ärger gewesen. Sie, Elsbeth, hätte sich nämlich eigentlich nur vor den andern geniert, die zur Versöhnung ausgestreckte Hand des Klein-Lipinskers zu ergreifen, wäre schon drauf und dran gewesen, das Gespräch mit einer Einladung zum Kaffee zu unterbrechen, um hinterher und unter vier Augen alle strittigen Punkte zu erörtern, und da wäre er, der Klein-Lipinsker, mit dieser gar nicht mehr wieder gut zu machenden Beleidigung gekommen: Mein Fräulein, ich habe Sie überschätzt! »Und alle seid ihr über einen Leisten geschlagen,« so fuhr sie fort, »habt keine Ahnung, wie es in uns aussieht, und daß wir manchmal am deutlichsten sprechen, wenn wir gar nichts sagen. Aber jetzt ist's natürlich ganz aus, sie hat sich zum zweiten Male heftig verschworen, alte Jungfer zu bleiben, und ich habe wieder mitschwören müssen! Wenn auch natürlich mit eingekniffenem Daumen, aber im übrigen wie echt und ganz feierlich. Also, du wirst einsehen, da kann ich doch nicht eine knappe Viertelstunde später herkommen und sagen: Du, Elsbeth, entschuldige, daß ich wortbrüchig geworden bin, aber ich habe mich eben mit Hans Heinrich verlobt?«

Hans Heinrich lächelte zu ihr herunter.

»Du hast recht, das geht nicht, wir müssen schon warten, bis sie selbst wortbrüchig geworden ist, und ich werd' mich mal hinter den Maler stecken, der versteht sich auf solche Sachen. Was uns aber angeht, also eine muß es doch erfahren, nämlich meine Mutter.«

»Ja,« sagte die Kleine, »und wo sie mit Tante Lieschen alles abgesprochen hat für heute nachmittag, wartet sie wohl schon auf uns. Aber sieh, wenn ich jetzt anspannen lasse, wird Elsbeth aufmerksam, fragt, wohin die Reise, und es gibt gleich am ersten Tage eine Verstimmung. Das Kücken, das sich selbst nicht zu helfen weiß, ist doch nun mal Familienoberhaupt und seit mehr als einem Jahr mein Gegenvormund, na, und da ich keine Lust zum Lügen hab', gäb's womöglich Stubenarrest, und ich müßte gehorchen!«

»Ich würd' natürlich am Spalier in die Höhe klettern,« sagte Hans Heinrich, »aber wozu haben wir den alten Blacklock? Solange es auf der offenen Landstraße geht, schreiten wir ehrbar nebeneinander her, und ich führ' ihn am Zügel. Im Wald aber, da machen wir es, wie unsre hochseligen Vorfahren. Ich nehm' dich vor mich auf den Sattel und reite mit meiner Braut in die heimatliche Burg!«

»Und du glaubst, er könnte uns beide tragen, dein alter Blacklock?«

Hans Heinrich lachte.

»Mein seliger Vater wog in seinen Stiefeln zweihundertvierzig Pfund. Also wenn ich dich auf den Schoß nehme, wackelt Blacklock nur mit den Ohren: Was für ein Flaumfederchen ist da meinem jungen Herrn in die Arme geflogen?«

Fränzchen winkte mit dem kleinen Zeigefinger: »Komm mal ein bißchen 'runter, du Langer!«

Und als er sich herunterbeugte, schlang sie ihm die Arme um den Hals.

»Du sprichst ja wie ein Liebesbriefsteller, und ich glaube, du hast dich nur verstellt. Aber dein Glück ist es: Wenn Elsbeth eine Ahnung gehabt hätte, was für ein famoser Kerl du bist, hätte sie dich mir vielleicht nicht gelassen!«

Da hob er sie in die Höhe und trug sie in übermütigem Jubel zu der Verandatür.

»Wär' ganz glatt abgefallen, das Fräulein Familienoberhaupt. Oder ich hätt' mich von ihr scheiden lassen müssen, denn reden hätt' ich bei der wohl niemals gelernt ...!«


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