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Zweites Kapitel

Im Groß-Lipinsker Schlosse gärte es wie in einem Bienenschwarm, in den sich eine Hornisse verflogen hatte. Die Stubenmädchen flogen treppauf und treppab, um in aller Hast das im ersten Stock gelegene »Königszimmer« in Stand zu setzen, das sonst alle Jahre nur wenige Tage benutzt wurde, wenn nämlich zur Manöverzeit der kommandierende General darin wohnte, und das seinen Namen daher trug, weil es einmal, vor jenen fünfzig oder sechzig Jahren, den König Friedrich Wilhelm IV. für eine Nacht beherbergen sollte. Dazu aber war es nicht gekommen, denn der hohe Herr hatte die für seine Rundreise durch die Provinz getroffenen Dispositionen leider in letzter Stunde geändert. Trotzdem es also damals seinen eigentlichen Zweck gewissermaßen verfehlt hatte, war ihm der ehrende und es vor den andern Fremdenzimmern im Schlosse auszeichnende Name in der Tradition erhalten geblieben, vornehmlich wohl wegen der prunkvollen Ausstattung, die ihm Elsbeths Großvater, der damalige Herr von Lipinsken, gegeben hatte. Ein wahrhaft königliches Bett mit vergoldeten Pfosten und einem seidenen Himmel darüber, reichgeschnitzte Eichenstühle, an der Längswand einen Gobelin, vor allem aber eine Waschtoilette, die damals eine Kostbarkeit und ein wahres Prunkstück darstellte, denn sie trug eine echte weiße Marmorplatte und darauf eine Waschschüssel aus Meißner Porzellan von zu jener Zeit ganz ungewöhnlich großen Dimensionen. Dazu natürlich ein reichliches Zubehör von Näpfen und Schalen, und über dem Ganzen, den Raum zwischen den beiden Fenstern fast vollständig ausfüllend, ein geschliffener Kristallspiegel mit zwei schwervergoldeten Armleuchtern.

Bei der im ganzen Schlosse herrschenden peinlichen Ordnung und Sauberkeit war nun das Instandsetzen eine verhältnismäßig geringfügige Arbeit. Das Bett frisch überziehen, im Ofen ein ordentliches Feuer anmachen, Kanne und Schüssel des Waschtisches mit Wasser füllen, und das Königszimmer wäre zur Aufnahme seines Gastes genau so bereit gewesen, wie vor jenen fünfzig oder mehr Jahren. Daß für diese Vorrichtungen ein Dutzend Hände in Bewegung gesetzt wurde, lag nur an Tante Lieschen.

Der Förster Ahrens, der mit seinem Bericht über das seltsame Zusammentreffen auf dem Wiesenweg und Elsbeths Heldentat wie eine Bombe in die friedliche Tafelrunde am abendlichen Teetische hineingeplatzt war, hatte noch nicht recht ausgesprochen, noch saß alles wie in einer Erstarrung, da hatte die rundliche alte Dame auch schon das Kommando übernommen.

»Sie, Ahrens, lassen sofort einen Schlitten anspannen und schicken einen reitenden Boten mit 'nem Handpferd zum Doktor nach Ostrokollen ...«

»Ist beides schon besorgt, gnädiges Fräulein.«

»Na schön, um so besser! Du, Fränzchen« – sie wandte sich zu der jüngeren Schwester der Haus« Herrin – »sorgst für reichlich warm' Wasser, denn das wird in solchen Fällen immer gebraucht, ihr beiden, Lisette und Dorette, macht euch über das Königszimmer her, lüften, Staub wischen, Ofen heizen, aber das muß alles wie der Blitz gehen; Sie, Friedrich, springen zum Verwalter hinüber, holen Verbandzeug und Karbolsäure aus der Gutsapotheke, ich aber werde für warmes Bettzeug sorgen, damit der arme Mensch nicht friert, wenn er verbunden ist!«

»Na, und was bleibt für mich übrig?« fragte das Freifräulein Amalie von Linde, Tante Lieschens jüngere Schwester.

»Die Kritik, wie üblich, meine Teuerste,« war die schlagfertige Antwort.

Tante Amalie rückte die Haubenbänder zurecht.

»Also gut! Weißt du denn überhaupt, ob Elsbeth ihn hierher transportieren lassen wird?«

»Das ist doch ganz selbstverständlich!«

»Na schön, aber dann das ›Königszimmer‹! Ganz, als wüßten wir uns vor Freude über die uns widerfahrene Gnade nicht zu lassen!«

Tante Lieschen machte eine energische Handbewegung, denn in ihre Rechte als oberste Leiterin des gesamten inneren Haushaltes ließ sie sich nicht dreinreden.

»Also es bleibt dabei! Und ›Gnade‹? Das natürlich nicht, aber vielleicht eine Fügung. Wenn je der liebe Gott seine Hand aufgehoben hat, ei nadiehrlich, und lach nich so höhnisch, Amalie« – jedesmal nämlich, sobald sie ein wenig in Erregung geriet, verfiel sie in einen leicht sächselnden Dialekt, den sie in ihrer Jugend während der Dresdner Pensionszeit erlernt hatte – »ja also, die Hand aufgehoben, um uns armsäl'gen Erdenwürmern einen Fingerzeig zu geben, so is es diesmal geschehen. Aber darüber können wir uns ja später am Abend noch in aller Gemütlichkeit aussprechen, nich wahr?« Und draußen war sie, tummelte sich wie ein Brummkreisel mit ihrer kurzen und rundlichen Figur über Korridore und Stiegen und vergaß ganz an ihr Asthma zu denken, das ihr sonst das Treppensteigen zu einer beschwerlichen Arbeit machte.

Tante Amalie, die im Gegensatz zu ihrer freundlichen und allzeit zu einem muntern Scherzworte aufgelegten Schwester niemals mit dem Verkleinerungswort angeredet wurde, wohl, weil ihre hagere und steife Würde von vornherein jede Vertraulichkeit ausschloß, war mit dem Königsberger Malprofessor allein im Zimmer zurückgeblieben. Sie hob die spitzen Schultern und ordnete die braunen Löckchen, die zu beiden Seiten der sorgfältig gekrausten Spitzenhaube herunterhingen, zu braun, um echt zu sein ...

»Ja also, Herr Professor, was sagen Sie nun bloß dazu? Sie sind doch jetzt lange genug im Haus, um über die ganzen Verhältnisse auch ein Urteil zu haben, also ›Königszimmer‹? Muß da der Klein-Lipinsker, wenn er hereingebracht wird, nicht gleich denken, wir warteten bloß auf ihn? Und sich umgucken, ob nicht auch womöglich schon der Pastor da ist, um die Nottrauung zu vollziehen?«

Der Angeredete, ein blonder Hüne mit langwallenden Künstlerlocken, die auf ein verschlissenes Samtjakett fielen, hatte sich nach der unwillkommenen Unterbrechung schon längst wieder über die rosige Gänsebrust hergemacht, von der er sich beim Eintritt des Försters Ahrens einen wohl zwei Finger breiten Kampen heruntergeschnitten hatte. Er ließ die Gabel sinken und antwortete diplomatisch: »Na, vielleicht ist er immer noch bewußtlos und merkt das nicht so?«

In seiner etwas eigentümlichen Stellung im Schlosse lag es, mit jedermann gut Freund zu sein, es mit keinem zu verderben. Im vorigen Frühjahr nämlich, kurz nach ihrem Regierungsantritte, hatte ihn Elsbeth eines schönen Tages draußen auf der Fohlenkoppel beim Skizzieren angetroffen und kurzer Hand eingeladen, für ein paar Wochen ihr Gast zu sein. ... In ihrer Freude über das endliche Wiedersehen mit der Heimat hatte sie gewissermaßen das Bedürfnis, jedem, der ihr begegnete, etwas Gutes anzutun. Und der Königsberger Meisterschüler, der mit überschmalem Beutel eine Ferienstudienreise machte, nahm nur zu gern an. In der Folge aber gefiel ihm das sorglose Wohlleben so, daß er nicht mehr ans Fortgehen dachte. In der ersten Zeit nahm er zwar alle vier Wochen einen schüchternen Anlauf, sein längeres Bleiben zu begründen, sagte: »Gnädigste Baronesse, eigentlich dürfte ich ja Ihre Gastfreundschaft nun nicht länger mehr in Anspruch nehmen, aber ich hätte im Interesse meiner künstlerischen Entwicklung noch so viel nach der Natur zu skizzieren ...« Da aber darauf jedesmal eine erneute freundliche Einladung erfolgte, so unterließ er nach und nach diese Erinnerungen, daß er im Lipinsker Schlosse nur zu Gaste war. Und eines Tages begab es sich, daß die junge Herrin ihn in einer etwas peinlichen Unterhaltung mit dem Allenberger Gerichtsvollzieher betraf, der durchaus nicht einsehen wollte, daß Staffelei, Leinwand, Pinsel, Farben und Palette zu den unantastbaren Reservatgütern eines der Malkunst beflissenen Jüngers des heiligen Lukas gehören sollten. Da schlichtete sie lächelnd den Streit, indem sie den Schergen des Königsberger Schneiders anwies, die eingeklagte und erstrittene Schuldsumme an der Gutskasse zu erheben, dem »Professor« aber setzte sie stillschweigend ein auskömmliches Taschengeld aus, das ihm allmonatlich von dem Verwalter Wisotzki als »Gehalt« ausgezahlt werden sollte. Beim ersten Male sträubte er sich ein wenig, hielt seiner gnädigen Schutzherrin eine feurige Dankesansprache, in der er sie »Mäcena« titulierte, in der Folge aber unterließ er auch diese Ansprachen, ebenfalls aus dem bereits oben angeführten Grunde. Nicht aber aus Undankbarkeit. Als Sohn armer Schneidersleute, die kaum den Speck erschwingen konnten, um die täglichen Kartoffeln abzuschmälzen, war er eines Tages tief aus dem Posenscheu nach München auf die Wanderschaft gegangen, weil er den Gott in seiner Brust fühlte und den Drang, ein großer Maler zu werden; hatte sich dort ein paar Semester durchgefrettet, indem er nächtens für ein Herrengarderobegeschäft Gehröcke nähte, tagsüber aber zeichnete und malte, solange die nachts müde geprickelten Hände und Augen vorhalten wollten, bis ihm ein vom heimatlichen Pastor erwirktes kleines Stipendium an der Königsbergs Kunstschule ein etwas menschenwürdigeres Dasein ermöglichte. Schließlich aber als ein unverhofftes Gnadengeschenk des Himmels hier diese großzügige, echt ostpreußische Gastfreundschaft, gewissermaßen eine Belohnung für treues Ausharren im Dienste der Kunst! Brauchte sich nicht zu kümmern, ob der liebe Gott Winter oder Sommer sein ließ, drei-, viermal am Tage ein mit allerhand guten Sachen gedeckter Tisch, und von Morgen bis Abend keine andre Frage, als, was male ich jetzt und was zeichne ich nun. ... Da war es ihm nicht zu verdenken, wenn er im Verkehr mit den maßgebenden Schloßinsassen sich ein wenig »politisch« verhielt und darauf aus war, sich seine Stellung nicht zu verderben. Draußen fing wieder das Hungern und Zigeunern an. Noch mehr aber: tagtäglich fühlte er sein Können wachsen und reifen. Noch eine nicht allzu lange Zeit, und er konnte aus der Stille als ein Meister hinaustreten in die große Welt, die da draußen, weit hinter den Lipinsker Wäldern lag. ... In Wirklichkeit aber hätte er um seine Stellung nicht so ängstlich zu sorgen brauchen. Wenn er eines Tages vor die junge Schloßherrin getreten wäre und hätte in allem Ernste gesagt: »Gnädigste Baroneß, jetzt muß ich aber wirklich und unwiderruflich Abschied nehmen,« hätte sich ein allgemeines Wehklagen erhoben, denn im Laufe der Zeit war er allen Schloßinsassen mit seinem heitern und freundwilligen Wesen unentbehrlich geworden. Bei der abendlichen Tafelrunde aber war er die Seele des ganzen Kreises. Da brach nach geschehener Arbeit und unter dem wohligen Gefühl, für den andern Tag keine Sorgen zu haben, sein fröhliches Künstlertemperament durch, er erzählte Schnaken und Schnurren, hänselte sich mit dem »Bruder in Apoll«, dem dichtenden Hauslehrer der Verwalterskinder, oder führte das Schloßpersonal in wohlgelungenen und komischen Schattenbildern vor. Wenn aber gar an einem besonders lustigen Abend Tante Lieschen auf allgemeines Verlangen mit den Kellerschlüsseln klimperte und die junge Herrin fragte, ob ausnahmsweise eine Flasche deutschen Schaumweines spendiert werden dürfte, holte er die »Klampf'n« hervor, seine ebenfalls aus den Klauen des Gerichtsvollziehers gerettete Gitarre, und sang Münchener Schnadahüpfeln.

»Maler san lust'ge Leut', malen zum Zeitvertreib,
Haben kan Geld im Sack, rauch'n Tobak!
Wanns gar kan Geld mehr ham, gehn's an die Eisenbahn,
Da komm'n noch mehr z'samm', die a kans ham!
Duliäh, diäh, dulioh dio o ho ho!«

Schloß mit einem kunstvollen Jodler, und die ganze Tafelrunde stimmte mit ein, sogar die saure Tante Amalie gab, von der allgemeinen Lustigkeit angesteckt, ein krähendes Piepsen von sich, das aber in einem Hustenanfall zu endigen pflegte. Worauf sie regelmäßig erklärte, sie hätte ihre einstmals sehr schöne Stimme leider Gottes nach den Masern verloren ...

Nach der diplomatischen Antwort des Malers durchmaß sie das Zimmer mit großen Schritten, die knochigen Hände auf dem Rücken ineinander geschlagen.

»Na ja, Sie haben recht, Herr Professor, vielleicht merkt er's gar nicht. Und nachher können wir ja irgend eine Ausrede erfinden, die andern Zimmer wären meinethalben alle besetzt gewesen. Oder würden neu tapeziert, das wär' vielleicht noch besser! Aber wozu in aller Welt nur diese Eigenmächtigkeiten? Lieschen hätte doch vorher sagen können: Liebe Amalie, nachdem diese wichtige Frage an uns herangetreten ist, wo bringen wir ihn unter? Wir beide nämlich, Herr Professor« – sie blieb stehen und reckte ihre dünnen Schwurfinger zur Bekräftigung dem Maler vor das Gesicht – »wir beide sind doch vom Familienrat als Beschützerinnen unserer Nichte Elsbeth eingesetzt worden, mit gleichen Rechten und Pflichten, also woher nimmt sich meine Schwester da immer das ›Prä‹?« ...

Die Geschichte von der Einsetzung durch den Familienrat war eine kleine Lüge, um vor Fernerstehenden ihren dauernden Aufenthalt im Schlosse zu beschönigen. In Wirklichkeit aßen die beiden aus einer verarmten Seitenlinie der Lindes stammenden Freifräuleins von Linde, da sie wegen Überfüllung in dem adligen Stifte von Königsberg bislang keine Unterkunft gefunden hatten, im Lipinsker Schlosse auch ein Stückchen Gnadenbrot. Nur mit dem Unterschiede, daß Tante Lieschen sich nützlich machte und dieses Brot nicht umsonst aß, während Tante Amalie fast immer »eine Kur gebrauchte«, deren Befolgung ihr die Tätigkeit in der Wirtschaft unmöglich machte.

Auch diesmal wußte Hans Haffner, der Maler, sich geschickt aus der Schlinge zu ziehen.

»Aber, ich bitte Sie, gnädiges Fräulein, das ist doch nun mal nicht anders. Bis zu einem gewissen Grade muß die Jugend sich unterordnen. Und wo Ihr Fräulein Schwester doch mindestens fünfzehn bis sechzehn Jahre älter ist als Sie ...?«

Er sprach den Satz nicht zu Ende, sondern benutzte die Gelegenheit, sich den Rest der Gänsebrust, ein halbhandlanges Ende, auf den Teller zu legen. Tante Amalie aber lächelte geschmeichelt.

»Sie übertreiben ein wenig, lieber Professor, Sie übertreiben! Ganz so groß ist der Altersunterschied zwischen mir und meiner Schwester denn doch nicht« – in Wirklichkeit betrug er nämlich nur anderthalb Jahre, »aber wenn ich auch weitaus die jüngere bin, in solchen Fragen, die gewissermaßen die ganz hohe Familienpolitik angehen, muß meine Stimme auch gehört werden. Und da sage ich, diese Versöhnungspolitik mit dem Klein-Lipinsker ist ein Unsinn! Er denkt nicht daran! Gleich am andern Tag, als mein Vetter Bernhard beim Schnitzeljagdreiten mit den Allenberger Dragonern verunglückt war und der Justizrat Kersten im Namen der unmündigen Elsbeth das Erbe antreten wollte, fand er den Klein-Lipinsker schon auf dem gleichen Wege. Kaum daß er ihn um eine Viertelstunde abschneiden und vor seinem Eintreffen ein juristisches fait accompli herstellen konnte, sonst wären die beiden armen Würmer, die Elsbeth und Fränzchen, die damals noch in ihrer englischen Pension saßen, rein heimatlos geworden. So aber mußte er klagen und ist ja nun, Gott sei Dank, in zwei Instanzen glücklich abgewiesen worden. Und von Rechts wegen! Denn nämlich die berühmte Stelle in dem Tagebuche seines Urgroßvaters: ›Heinrich erscheint mit neuen Propositions, habe aber refüsiert in Ansehung ohnedies getroffener väterlicher Bestimmungen,‹ ist vom Allenberger und Königsberger Gericht mit Recht als belanglos angesehen worden, nämlich als auf einen andern Fall bezüglich, es gibt eben, Gott sei Dank, noch Richter in Ostpreußen!«

Und die alte Dame vertiefte sich in die umfangreiche Vorgeschichte des langwierigen Prozesses, bewies haarscharf, daß die Klein-Lipinsker von jeher entschlossen gewesen wären, das feierliche Abkommen bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zu brechen; beleuchtete gebührend den merkwürdigen Diebstahl des Silberzeuges und zeichnete zum Schluß den gegenwärtig regierenden Baron Adalbert in den schwärzesten Farben, als einen wahren Ausbund von Habsucht und Rachgierigkeit, dem Versöhnungsgedanken zuzutrauen eben nur Tante Lieschen fertig bekäme! ... Hans Haffner, der Maler, aber, der den ganzen Tag mit dem Skizzenbuch hinter den Jährlingsfohlen her gewesen, hatte von der Arbeit einen gewaltigen Hunger heimgebracht, ohne die Gelegenheit zu finden, ihn endlich zu stillen. Die grobe Schnitte Gänsebrust war nichts als eine kleine Abschlagszahlung gewesen, und von Zeit zu Zeit hob er den Kopf und sah sehnsüchtig nach der Mitteltür hinüber, ob Tante Lieschen nicht endlich wiederkäme, denn Tante Amalie war eine unbequeme Erzählerin. Alle Augenblicke spitzte sie ihre Rede zu einer rhetorischen Frage zu, die mindestens ein zustimmendes Brummen verlangte, zuweilen aber unterbrach sie sich und heischte eine direkte Meinungserklärung: »Also, liebes Professorchen, was sagen Sie nun dazu?« Und da gab es denn ein störendes Kopfzerbrechen, um eine möglichst neutrale und zu nichts verpflichtende Antwort zu finden, namentlich seit sie auf ihr Lieblingsthema gekommen war, weshalb nämlich wohl ihre Nichte Elsbeth den Mechower Hans Heinrich so wenig aufmunternd behandelte, während doch gerade in dieser Verbindung nicht nur das Heil der Zukunft läge, sondern eine kluge Rückversicherung, für den Fall nämlich, daß das Kammergericht in Berlin wider alles Erwarten einen unbilligen Spruch fällen sollte. Er konnte der alten Dame doch nicht sagen: »Mein gnädigstes Fräulein, ich bin ein verdammt hellhöriger Bursche; abhängige Menschen, die sich winden und drücken müssen, lernen gar schnell, ihren Mitmenschen ins Innere zu sehen, als trügen sie eine Glasscheibe in der Brust. Also Ihr Wüten gegen den Klein-Lipinsker ist nichts andres als die Angst, hier das gesicherte und bequeme Plätzchen Altersversorgung zu verlieren, und in Ihren Plänen, die Baroneß Elsbeth mit dem Mechower zusammenzubringen, kann ich Ihnen erst recht nicht zustimmen, denn ich würde dadurch aufs gröblichste die Interessen meiner besten Freundin verletzen. Eines süßen, lieben, kleinen Kerls, dem ich in echter und selbstloser Freundschaft zugetan worden bin, nachdem ich ein paar Wochen den Größenwahn gehabt, mit dem Marschallsstab in meinem Tornister mir eingebildet hatte, ich dürfte den Arm nach dem Höchsten recken! Duck dich, Schneidergesell, und schluck's 'runter, um solche Früchte zu pflücken, muß man eine siebenzinkige Krone im Wappen führen, nicht aber einen Malerpinsel, hinter dem noch immer die aufgesperrte Schneiderschere blinkt, und die Alten sitzen noch immer im Posenschen, bei spärlichem Speck und reichlichen Kartoffeln.« ... Einmal vor jenen langen Monaten, als der Mechower Hans Heinrich wieder der älteren Schwester in seiner schwerfälligen Art den Hof machte, hatte er bei einem zufälligen Aufblicken ein zorniges Gesicht gesehen und ein Paar dunkle Augen, in denen Tränen schimmerten. Da hatte es ihm zuerst einen gewaltigen und schmerzhaften Stich ins Herz gegeben, dann aber hatte er ganz laut »Esel« gesagt. Und es war unentschieden geblieben, ob er sich selbst damit gemeint hatte oder den langen Hans Heinrich. Da hätte er nach mannhafter Selbstüberwindung seiner kleinen Freundin gern geholfen, aber er konnte den Mechower doch nicht kurzer Hand am Kragen fassen, umdrehen und ihm zurufen: »Falsche Fährte, Weidgesell, da drüben steht dein Glück?!« ...

Und Tante Amalie sprach weiter und weiter. So gut hatte sie es schon lange nicht mehr gehabt: vor einem geduldigen Zuhörer einmal gründlich ihr Herz ausschütten zu dürfen, ohne daß ihr die ältere Schwester bei jedem Satze mit einer schlagfertigen Bemerkung ins Wort fiel. Daß diese Auseinandersetzungen nach Lage der Sache für den Gang der Ereignisse ohne jeden Belang waren, focht sie nicht an; die Hauptsache schien ihr zu sein, einmal ungehindert auch ihre Meinung aussprechen zu dürfen. Sie hatte sich dem Maler gegenübergesetzt, häufte ihm aus Dankbarkeit für sein Zuhören den Teller mit Rebhühnerpastete und andern Leckerbissen, wenn er aber zulangen wollte, legte sie ihm die Hand auf den Arm und fragte: »Also nicht wahr, liebes Professorchen, da müssen Sie mir doch recht geben?« Bis endlich, Gott sei Dank, die so lang ersehnte Unterbrechung in die Erscheinung trat. Aber nicht die erwartete Tante Lieschen, sondern der, von dem schon eine Viertelstunde lang in allen möglichen lobenden Tonarten die Rede gewesen war, der Hans Heinrich von Mechow auf Mechowen. Er öffnete nach einem kurzen Anklopfen die Mitteltür, sah sich suchend um und sagte die übliche Formel her, mit der er jedesmal seinen Besuch gewissermaßen zu entschuldigen pflegte: »Guten Abend! Nämlich ich ... also ich war sowieso unterwegs, und da dachte ich, wirst mal in Lipinsken ... aber wenn ich vielleicht stören sollte?«

Tante Amalie war aufgesprungen und hieß ihren Schützling strahlenden Antlitzes willkommen.

»Aber im Gegenteil, lieber Hans Heinrich, wie gerufen!«

Und als fürchtete sie, es könnte ihr jemand zuvorkommen, erzählte sie ihm in schier atemloser Hast, was sich nach der Meldung des Försters Ahrens zugetragen hatte, nicht ohne dabei zugleich auch ihrer lebhaften Befürchtung Ausdruck zu geben, daß Tante Lieschen mit ihrer Versöhnungspolitik nach dieser unerwarteten Wendung in den Groß- und Klein-Lipinsker Beziehungen womöglich Oberwasser bekommen könnte. Da fand Hans Haffner endlich die Muße, seinen durch die erduldeten Tantalusqualen ins Gewaltige gesteigerten Hunger zu stillen. Seinem scharfen Auge entging es aber dabei nicht, daß der Mechower merkwürdigerweise gar kein erstauntes oder betroffenes Gesicht machte, sondern zuhörte wie einer, dem man etwas längst Bekanntes erzählte. Und als er sich noch darüber verwunderte, betrat Baroneß Fränze, ebenfalls wie gerufen, das Zimmer und schien auch nicht weiter erstaunt zu sein, den Mechower vorzufinden, trotzdem sich dieser wegen des kränkelnden Zustandes seiner Mutter sonst am Abend selten sehen ließ. Da entsann er sich, daß seit einigen Wochen ja auch Schloß Mechow Telephonanschluß hatte, zugleich aber glaubte er den Gedankengang zu erraten, aus dem heraus seine kluge kleine Freundin den Nachbar herübergerufen haben mochte. Zu einer Art heilsamen Anschauungsunterrichts vielleicht: Da sieh her, wie sich meine Schwester um den Klein-Lipinsker hat, und wenn dir danach nicht die Augen aufgehen, kannst du mir leid tun ...

Jetzt erschien auch Tante Lieschen, ein wenig außer Atem von dem vielen Treppensteigen, strich sich das nach Männerart kurzgeschnittene weiße Haar aus dem erhitzten Gesicht und ließ sich erschöpft in den nächsten Sessel fallen.

»So, das wär' geschafft, den weiteren Ereignissen können wir in Ruhe entgegensehen!« Und ein wenig verwundert fügte sie hinzu: »Nanu, Hans Heinrich, auch zu Wege?«

Der Mechower ließ in Verlegenheit die Gelenke an seinen langen Fingern knacken.

»Ja, guten Abend, Tante Lieschen ... ich war nämlich sowieso unterwegs und da dachte ich ...«

»Ich weiß,« sagte Tante Lieschen, »streng dich nur nicht zu doll an, mein Junge, es könnt' dir sonst vielleicht wirklich was einfallen,« und streifte mit einem Seitenblick ihre Schwester Amalie, als wenn sie hätte sagen wollen: Wer dich herzitiert hat, kann ich mir ungefähr denken!

Danach trat jenes beklommene Schweigen ein, das Ereignissen, von denen jeder etwas ganz Besonderes erwartet, vorauszugehen pflegt. Nur Tante Amalie fragte einmal inzwischen: »Hast du für den Mitteltisch im Königszimmer auch nicht die Kristallkaraffe vergessen, Lieschen, mit den vergoldeten Gläsern und der silbernen Tablette?« erzielte mit dieser spitzfindigen Anzapfung aber nur ein mitleidig-verächtliches Achselzucken. Da fügte sie noch hinzu: »Na ja, ich meine nur, daß unser Ehrengast sich nicht über mangelndes Entgegenkommen zu beklagen haben wird.« Als aber darauf ebenfalls keine Antwort erfolgte, versank auch sie in schweigsames Nachdenken.

Und endlich erklangen die Schellen auf dem Hofe, der Schlitten fuhr vor; der Verwalter Wisotzki öffnete dienstfertig die Mitteltür, und herein kamen Elsbeth und der Förster Ahrens; danach fuhr der Schlitten wieder in den Hof zurück, aber von dem eigentlich Erwarteten keine Spur.

Tante Lieschen verschlug's die Rede.

»Nanu, und?« war das einzige, was sie herausbringen konnte.

Elsbeth schien ganz ruhig, während der Verwalter und der Förster rote Köpfe hatten, als hätten sie eine jener lebhaften Auseinandersetzungen hinter sich, die zwischen den beiden alten Feinden nicht gerade zu den Seltenheiten gehörten. Der alte Ahrens sah zudem mächtig verärgert aus, während das wohlgenährte und glattrasierte Gesicht des Verwalters in unverhohlenem Triumphe glänzte. Die junge Schloßherrin gab dem Förster ihr Gewehr, legte Kapuze und Lodenjacke ab und trat in ihrer kleidsamen graugrünen Bluse an den Teetisch, ganz wie sonst, wenn sie von einem gewöhnlichen Jagdgange zurückkehrte.

»Professor, haben Sie mir noch was übrig gelassen? Ich hab' einen ganz barbarischen Hunger!« Setzte sich, um nach der Teekanne zu langen, und täuschte mit ihrer erzwungenen Ruhe alle, die im Zimmer waren, nur nicht den blonden Maler. Wenn er von Profession auch nur ein Tiermaler war: wer sich darauf verstand, in einem Pferdekopfe zum Beispiel, dem gewöhnliche Augen nichts ansahen, die ganz besondere Eigenart des Temperaments mit einigen wenigen Strichen zum Ausdruck zu bringen, las auch in einem Menschenantlitz schärfer und deutlicher als andre. Und da war ihm der nervös gespannte Zug nicht entgangen, der der jungen Herrin in der Gegend der Mundwinkel stand, ganz abgesehen davon, daß ihm auch die Augenlider so aussahen, als hätten daran vor nicht allzu langer Zeit ein Paar zornige Tränen gesessen ...

Tante Amalie hatte sich zuerst von der allgemeinen Enttäuschung erholt. Sie lachte spöttisch auf.

»Nein, Lieschen, was sagst du nun bloß dazu? Wie sich doch gewisse Ereignisse wiederholen. Auch vor jenen fünfzig Jahren kam der heiß Erwartete nicht, und das Königszimmer blieb leer!«

»Ach, laß mich doch zufrieden!« sagte Tante Lieschen und setzte sich verärgert in die dunkelste Ecke des Zimmers.

Elsbeth aber, die sich gerade eine Butterstulle strich, hob mit affektierter Gleichgültigkeit den Kopf.

»Was habt ihr denn eigentlich, ihr beiden?«

Und jetzt war für Tante Amalie der Augenblick des Triumphes gekommen. Sie trat einen Schritt vor und betonte jedes einzelne Wort mit einer ordentlich genießenden Spitzfindigkeit.

»Ach, nichts Besonderes, liebe Elsbeth. Meine Schwester hat nur geglaubt, du würdest den Klein-Lipinsker hierherschaffen lassen, und hat vor Freude darüber das Königszimmer in Stand gesetzt!«

Elsbeth sah mit einem rätselhaften Blicke nach der dunkeln Ecke hinüber, in der die schmollende Tante Lieschen saß.

»So, so, das Königszimmer! Das macht deinem guten Herzen alle Ehre, Tante Lieschen, aber er braucht es nicht, für ihn glücklicherweise. Eine leichte Gehirnerschütterung, ein paar gequetschte Rippen und ein Schlüsselbeinbruch, sonst ist ihm weiter nichts passiert; der Doktor meinte, in vierzehn Tagen würde er schon wieder, wenn auch etwas kräpelig, im Sattel sitzen, und da wollte ich dir, Tante Lieschen, für die kurze Zeit keine Unbequemlichkeiten machen. Außerdem wußte ich nicht, ob ihm die aufgenötigte Gastfreundschaft hinterher auch angenehm gewesen wäre. Herr von Linde war nämlich mit wenig lauteren Absichten auf Groß-Lipinsker Gebiet herübergeritten!«

Tante Lieschen fuhr auf.

»Wie willst du das wissen? Der arme Mensch war doch bewußtlos!«

Elsbeth aber lächelte, ein seltsam herbes Lächeln. »Wir haben die Beweise, liebes Tantchen. Herr Wisotzki, bitte!«

Der beleibte Verwalter, der mit dem Förster dicht an der Tür stehen geblieben war, schien auf das Stichwort nur gewartet zu haben. Er rückte die goldene Brille zurecht und trat einen Schritt vor.

»Ja, nämlich, meine Herrschaften, wir haben die Beweise, daß Herr von Linde sich auf unsern Wiesen mit dem aus Amerika zurückgekehrten Hufschmied Martschinowski ein Rendezvous gegeben hatte, um mit dessen Hilfe das gestohlene Dokument auszugraben!« Er mußte die Stimme erheben, denn in dem entstehenden Durcheinander drohten seine letzten Worte verloren zu gehen.

Tante Lieschen aber trat vor ihn hin und stemmte die Hände auf die rundlichen Hüften.

»Das hat Ihnen der bewußtlose Herr von Linde wohl alles auf die Nase gehängt, Herr Wisotzki?«

Der Verwalter verneigte sich respektvoll.

»Ja, gnädiges Fräulein, ich bin ja nur ein einfacher Landwirt, ich bilde mir nicht, wie gewisse andre Leute ein« – dabei streifte er den Förster Ahrens mit einem höhnischen Seitenblicke – »ich könnt' das Gras wachsen hören, wenn ich 'ne Rehspur von 'ner Hasenspur unterscheiden kann!«

»Reh fährte,« unterbrach ihn ärgerlich der alte Förster.

»Ist egal, Herr Ahrens, in diesem Falle kommt es nicht auf die Ausdrucksweise, sondern auf die Sache an! Also wie ich an die Unfallstelle komme, und der Doktor nebst der gnädigen Baroneß und dem Herrn Förster bekümmern sich um den Gestürzten, mach' ich so einen kleinen Rundgang. Und auf einmal stoß' ich auf ganz frische Fußspuren, sag', gnädigste Baroneß, war denn außer Ihnen und Herrn Ahrens noch jemand bei dem Unfall zugegen? ›Nein,‹ sagen die Baroneß, ›der, den Sie meinen, kam erst später, ein Stromer,‹ und beschreibt sein Aussehen. Ich aber darauf nur: ›Was, über dem linken Auge hing ihm das Lid halb herunter?‹ ... sehe den Herrn Förster an, und beide sagen wir wie aus einem Munde: Martschinowski. Und daß der Kerl ein paar Brocken englisch gesprochen hatte, war nur ein Merkmal mehr, denn er ist ja mehr als vier Jahre drüben in Amerika gewesen!«

»Na ja, ist gut, Herr Wisotzki,« sagte Elsbeth, »und das weitere ergibt sich ganz von selbst. Es gehört kein großer Scharfsinn dazu, sich das übrige hinzuzudenken, denn, um zu glauben, der Klein-Lipinsker suchte nur deshalb nach dem Dokument, um es mir zur gefälligen Benutzung vor dem Kammergericht zu überreichen, da müßte man ja schon eine so unverbesserliche Idealistin wie unser gutes Tantchen Lieschen sein!« Und mit erhobener Stimme fügte sie hinzu: »Also, Herr Wisotzki, es bleibt bei dem, was wir abgesprochen haben. Von heute an werden auf den Wiesen Wachen aufgestellt, in acht Tagen aber wird Herr Förster Ahrens uns behilflich sein, nach der richtigen Konstellation von Mond und Morgenstern die Richtungslinie für den Graben festzulegen. Und dann wird gebuddelt, denn Sie, Herr Wisotzki, haben vielleicht recht, der Klein-Lipinsker hat am Ende Beziehungen zum Kammergericht und weiß, daß die gestohlene Urkunde bei der Entscheidung eine Rolle spielen wird. Wenn er sie in sicherem Gewahrsam, womöglich gar vernichtet hat, können wir die ganzen Wiesen um und um graben, er aber lacht sich höhnisch ins Fäustchen ... e, einfach ekelhaft! Einem solchen Menschen hier in diesem Hause auch nur eine Stunde lang Obdach gewähren, da müßte man doch« ... sie brach ab, denn sie sah Tante Lieschens Äuglein in Tränen schwimmen und mochte die Gute nicht allzusehr kränken ... »also beruhige dich, Tante Lieschen. Du warst ja auf den Wiesen nicht dabei, konntest das alles nicht wissen. Und jetzt Schluß mit diesen unerquicklichen Geschichten! Eins nur noch« – sie reckte sich heraus und sah mit blitzenden Augen im Kreise – »von jetzt an wird in meiner Gegenwart der Name dieses Menschen ohne meine ausdrückliche Aufforderung nicht mehr genannt! Das ist mein unabänderlicher Wille, wer dem zuwiderhandelt, hat's mit meiner Freundschaft verspielt! ... Jetzt aber entschuldigen Sie mich, meine Herrschaften, wenn ich mich zurückziehe, die frische Luft hat mich müde gemacht. Gute Nacht allerseits, gute Nacht!« ...

Elsbeth schritt mit einem kurzen Kopfnicken der Tür zu, die nach dem Treppenhause führte, als sie aber an Tante Lieschen vorüberkam, die mit ihren geknickten Hoffnungen wie ein Bild des Jammers dastand, empfand sie eine Regung des Mitleids. Sie schlang ihr den Arm um den kurzen Hals und flüsterte leise: »Außerdem ist er längst verlobt, also tröst' dich, gutes Tantchen. Wenn du's nicht glauben willst, frag den alten Ahrens!«

Von den Zurückbleibenden aber verspürte niemand ein Ruhebedürfnis, alles sprach und schwatzte erregt durcheinander, sogar der schweigsame Mechower war auf seine Art redselig geworden, das heißt, er setzte der kleinen Baroneß Fränze ohne allzu häufige Zuhilfenahme der Fingergelenke auseinander, daß der Unfall des Klein-Lipinskers doch nicht so leicht zu nehmen wäre, wie Elsbeth zu meinen schien. Mit einer Gehirnerschütterung zum Beispiel wäre nicht zu spaßen; manche bekämen das Stottern danach oder büßten zum mindesten die Fähigkeit ein, für ihre Gedanken den passenden und raschen Ausdruck zu finden. Nur der alte Förster schien die gleiche Müdigkeit zu empfinden, wie seine junge Herrin. Er griff nach seiner Mütze und versuchte, sich unauffällig nach der Ausgangstür zu konzentrieren, denn eine Ahnung sagte ihm, bei den letzten geflüsterten Worten der Baroneß Elsbeth wäre von ihm die Rede gewesen. Und fast wäre es ihm geglückt, denn Tante Lieschen sah ihrer Nichte mit einem ganz merkwürdigen Gesichtsausdruck nach, wie sein Unkas ungefähr, mußte er denken, wenn ihm der Wind eine Witterung an der Nase vorüberführte, und er konnte es im Augenblick nicht spitz kriegen, was es war, ob Huhn oder Schnepfe. ... Schon hatte er die Hand an der Klinke, als sie mit einem Male den Kopf nach ihm wandte. Da kam sie wie eine Kegelkugel auf ihn zugeschossen, faßte ihn bei der Rockklappe und sagte halblaut: »Halt, dageblieben, Ahrens. Und jetzt mal Farbe bekannt! Was sagt' mir eben meine Nichte, der Klein-Lipinsker wär' längst schon verlobt?«

Da wollte er es erst mit einer Ausflucht versuchen, daß es seiner Wissenschaft nach noch nicht so weit wäre, wenn auch die Leute allerhand munkelten, aber er bekam es nicht fertig, unter den klaren Augen der alten Dame die gröbliche Lüge zu wiederholen. Also versicherte er sich erst ihres ehrenwörtlichen Stillschweigens und bekannte sich dann zur Wahrheit. Daß er der jungen Baroneß die Schnurre nur erzählt hätte, um auszukundschaften, wie sie in Wirklichkeit gegen den Klein-Lipinsker gesonnen wäre; als Entschuldigungsgrund für dieses Beginnen aber führte er die seltsame Äußerung an, die sie beim Erlegen des Gabelweihen getan hätte. »Hm,« machte Tante Lieschen nur darauf und sah noch einmal zu der Tür hinüber, durch die ihre Nichte verschwunden war, als suchte sie dort nach einer alten Spur, die mit dieser neuen zusammenzubringen wäre. Als aber der Förster Ahrens mit der Bitte schloß, sie möchte zusehen, der Baroneß allmählich und ohne allzu arge Bloßstellung seiner Person die Wahrheit beizubringen, sagte sie: »Nee, nee, lassen mersch lieber noch ein Weilchen. Wer weeß, wozu es gut is, denn nämlich alles auf der Welt is nur Fügung. Eins aber noch, Ahrens: Trauen Sie dem Klein-Lipinsker diese Schweinerei zu?«

»Nein, gnädiges Fräulein. Ich steh' vor einem Rätsel, aber ich meine, mit einem Kerl, der ins Zuchthaus gehört, läßt sich der Herr Baron von Linde nicht ein. Hat er's aber doch getan, dann gewiß nur in guter Absicht. Um endlich Klarheit zu schaffen!«

»Bravo!« sagte Tante Lieschen darauf ganz laut und entließ den Alten mit einem gnädigen und herzhaften Händedruck. Danach aber entsann sie sich, daß sie über aller Arbeit und Aufregung vergessen hatte, an sich selbst zu denken, setzte sich an den Teetisch und holte das Versäumte nach. Und es schien sie weiter nicht anzufechten, daß ihre Schwester Amalie noch immer mit dem Verwalter in der dunkeln Zimmerecke tuschelte. »Partei Wisotzki,« dachte sie nur geringschätzig, »und noch ist ja nicht aller Tage Abend!«

Dem Maler aber hatte sich aus allerhand leise tastenden Beobachtungen und keck zugreifender Phantasie ein Bild geformt. Während die andern sprachen, öffnete er sein Skizzenbuch und warf es mit flüchtigem Stift auf das Papier: Ein gestürztes Pferd und, mit dem Rücken dagegen gelehnt, den verunglückten Reiter. Über ihn aber beugte sich ein knieendes junges Mädchen im Jagdkostüm, hatte den Arm um seinen Hals gelegt und küßte ihn auf die Stirn ... Als er damit fertig war, schrieb er »Liebet Eure Feinde« darunter und reichte es lächelnd Tante Lieschen hinüber, denn wußte, sie würde ihm den Scherz, der so sehr ihren stillen Wünschen entsprach, nicht verübeln. Zur Vorsicht aber fügte er hinzu: »Nur für Sie ganz allein, gnädiges Fräulein!«

Und Tante Lieschen stutzte zuerst, dann lachte sie laut auf: »Professor, Sie Frechdachs, das ist ja beinahe Majestätsbeleidigung! Aber ich gäb' was drum, wenn Sie recht hätten!«

Tante Amalie aber verabschiedete eilends den Verwalter, denn die plötzliche Heiterkeit ihrer Schwester beunruhigte sie.

»Nanu, Lieschen, auf einmal so vergnügt? Und darf man an deiner Freude nicht auch ein wenig teilnehmen?«

»Nee,« sagte Tante Lieschen kurz angebunden und klappte der Neugierigen das Buch vor der Nase zu, »allzuviel wär' ungesund, denn du hast die deinige ja schon gehabt!« Sprach's und schob das Skizzenbuch, um es vor jedem heimtückischen Angriff zu sichern, unter ihren gewichtigsten Körperteil.

Tante Amalie aber bildete sich ein, ihre geheiligte Person wäre von dem spottlustigen Maler zur Zielscheide eines respektlosen Witzes gemacht worden, und schwor Rache. Und als eine ganze Weile schon vergangen war, niemand mehr an den kleinen Zwischenfall dachte, fragte sie, scheinbar so ganz nebenher: »Pardon, lieber Herr Professor, wie lange sind Sie doch eigentlich jetzt schon bei uns in Lipinsken?«

Hans Haffner, der gerade mit dem Mechower in einer außerordentlich interessanten Erörterung über die Merkmale begriffen war, an denen ein Kenner das junge Edelfohlen vom Halbblut unterschied, wandte kaum den Kopf.

»Wie lange? Ich glaube, jetzt wird es bald ein Jahr.« Und, ein wenig aufmerksamer geworden, fügte er hinzu: »Aber, weshalb fragen Sie danach, gnädiges Fräulein?«

Und Tante Amalie, die sonst so vorsichtig lächelte, daß gerade nur die Spitzen ihrer schneeweißen »Mausezähnchen« sichtbar wurden, hob die schmale Oberlippe, so daß auch die beiden sonst sorgfältig versteckten »Einsiedler« im Lampenlichte gelblich erglänzten, an denen die Perlenreihe mit seinen Goldklammern befestigt war.

»Ach, nur so, lieber Herr Professor, ich meine nur, wie doch die Zeit vergeht!« ...

Der Maler aber hatte verstanden, seine Zeit war um. Fragte sich nur, ob er gleich morgen sein Bündel schnürte oder abwartete, bis die alte Kreuzspinne, die er sich heute – Gott allein mochte wissen wodurch – zur Feindin gemacht hatte, es durch allerhand Ränke fertig brachte, daß auch die Baroneß Elsbeth ihm ein unfreundliches Gesicht zeigte. ... Tante Lieschen versuchte zwar, mit einem Scherzwort die peinliche Situation zu retten, da aber der Maler in trübes Nachdenken versank, war die Stimmung unwiederbringlich dahin. Und da auch der Mechower Hans Heinrich, für den der Wirtschaftstag um vier Uhr morgens anfing, es mit dem Gähnen kriegte, trennte man sich früher als sonst, ein jedes mit seiner besonderen Verstimmung im Herzen. Der einzige, der sich fröhlich auf den Heimweg machte, war der lange Hans Heinrich. Der Klein-Lipinsker, gegen den er immer – weshalb, wußte er nicht recht zu sagen – eine stille Eifersucht verspürt hatte, war nach dem heutigen Abend abgetan für alle Zeiten, jetzt fing sein Weizen zu blühen an! Nur noch ein paar Tage, Schonzeit sozusagen, dann wollte er seine Mutter bitten, für ihn auf die Freiwerbe zu gehen, denn er selbst befürchtete leider, bei der entscheidenden Frage stecken zu bleiben. Außerdem, Frauen untereinander brachten so etwas viel glatter zu stande, und wenn erst alles in Ordnung war, brauchte man auch nicht mehr so viel zu reden. Brautpaare küßten sich ja meistenteils. Dann aber sollte eine noch nie dagewesene Seligkeit anfangen, ein Tag immer schöner als der andre. Ausreiten wollten sie zusammen, zusammen auf die Jagd gehen und miteinander überlegen, wie Mechowen und Groß-Lipinsken am besten aus einer Hand bewirtschaftet würden. Da war nämlich viel zu sparen, und er hatte sich schon oft seine Gedanken darüber gemacht. Verschiedene Grenzschläge nämlich konnte man sehr gut, was Düngung und Bestellung anlangte, zusammenlegen, während jetzt die Grenze eine störende Scheidewand bildete, gleichmäßig gearteten Boden unnütz trennte und den verschiedenen Besitzern eine kleinliche Flickarbeit auferlegte, die bei gemeinschaftlichem Betriebe zu vermeiden war. ... So spann er sich in allerhand wohlige Zukunftsträume ein, ließ seinem alten Hunter Blacklock die Zügel hängen und merkte gar nicht, daß diese Träume weniger der jungen Herrin als ihrem Besitze galten, sich mehr um die Landwirtschaft als die Liebe drehten ...

*

Die kleine Baroneß Franziska, der Schloßherrin jüngere Schwester, zog die Bettdecke über die Ohren und versuchte gerade, ihre Gedanken auf einen andern Gegenstand zu lenken, als den dummen Hans Heinrich aus Mechowen, als ihr mit einem Male auffiel, daß Elsbeth, die vor mehr als einer Stunde doch erklärt hatte, sie könnte sich vor Müdigkeit nicht mehr aufrecht halten, anscheinend noch nicht schlafen gegangen war. Aus dem Schlüsselloch der Verbindungstür zwischen ihren beiden Schlafzimmern drang ein seiner Lichtstrahl und flimmerte ihr gerade in die Augen. Da dachte sie zunächst, die Schwester hätte vor Müdigkeit vergessen, die Beleuchtung abzudrehen, und wollte sich schon auf die andre Seite legen, nachdem sie mit ihrem angeborenen Sparsamkeitssinn einen kleinen Kampf ausgefochten hatte, als ein unbestimmter Laut an ihr Ohr drang, fast wie ein unterdrücktes Weinen. Und da horchte sie erst ein Weilchen, ob sie sich nicht getäuscht hätte, als aber der Laut sich wiederholte, sprang sie auf, schlüpfte in die kleinen Pantoffeln und öffnete die Tür. Ganz leise, um die Schwester nicht zu erschrecken.

»Elsbeth, weshalb schläfst du denn nicht?« wollte sie fragen, aber die Worte blieben ihr in der Kehle stecken, denn ihren Augen bot sich ein ganz seltsames Bild. Die um drei Jahre ältere Schwester, zu der sie – abgesehen von dem ihr als Familienoberhaupt ohnedies zukommenden Respekte – mit zärtlicher Bewunderung emporblickte, einmal, weil sie fast einen ganzen Kopf größer war, zum andern aber, weil sie eine Ruhe und Sicherheit des Auftretens besaß, die ihr ein schier unerreichbares Ziel dünkten, also diese sonst so selbstsichere Schwester weinte schier fassungslos vor sich hin! Saß, noch immer in ihrem Jagdkostüm, an dem kleinen Mitteltische, hatte den Kopf in beide Fäuste gestützt und starrte mit Augen, aus denen unaufhaltsam die dicken Tränen rollten, in die kleine elektrische Lampe, die sie sich von dem Nachttische herübergeholt hatte. Vor ihr aber auf dem Tisch lagen zwei seltsame Gegenstände. Ein zusammengeknülltes, anscheinend blutbeflecktes Taschentuch und ein zerknickter Photographiekarton, auf dem früher einmal vielleicht ein Bild gesessen hatte, der jetzt aber nur ein paar unbestimmte Flecke zeigte.

Elsbeth fuhr auf, als wenn sie jemand bei einem Verbrechen ertappt hätte, deckte rasch die Hände über Bild und Tuch ... »wer ... was, wer ist da?« Als sie aber die Schwester erkannte, trat auf ihr Gesicht ein strenger, abweisender Zug.

»Franze, du? Was willst du hier und weshalb bist du nicht in deinem Bett geblieben?«

»Ach Gott, verzeih, Elsbeth,« sagte die Kleine schüchtern, »aber ich hörte dich weinen und da dachte ich. ich könnte dir vielleicht helfen!«

Elsbeth blies verächtlich den Atem durch die halbgeschlossenen Lippen.

»Weinen? Ich? ... Und helfen? Mir kann kein Mensch auf dieser Welt helfen!« Dabei aber brach ihr schon wieder die Stimme und sie sah mit tränenschimmernden Augen ins Leere. Und da kriegte Fränzchen es ebenfalls mit dem Weinen. Sie umfaßte die Schwester und schluchzte laut auf.

»Ach Gott, Elsbeth, sei doch nicht so abweisend zu mir, wir sind doch Schwestern! Und wenn du auch so viel älter, schöner, klüger und gesetzter bist als ich, vielleicht kann ich dir doch helfen, wie die kleine Maus dem großen Löwen, der in das Netz des Jägers geraten war!«

Und da die Schwester noch immer dasselbe abweisende Gesicht machte, hörte sie nicht auf mit Liebkosungen und Bitten, bis die andre sich endlich in ihrem starren Sinn erweichte. »Also, es ist gut,« sagte sie und strich sich mit dem Handrücken über die Stirn, »und du hast recht, wenn du mich daran erinnerst, daß wir Schwestern sind. Nicht, daß ich deshalb mit meinem Kummer auch dein junges Herz beschweren müßte, aber ich habe die Pflicht, dich zu erziehen und zu warnen, damit es dir nicht einmal ebenso geht wie mir! Aber vorher mußt du mir schwören und dein Ehrenwort geben, daß du von dem, was ich dir jetzt erzählen werde, keiner Menschenseele ein Sterbenswort verraten wirst!«

Klein-Fränze hob feierlich die Schwurfinger in die Höhe.

»Ich schwöre bei meinem allerheiligsten Ehrenwort!«

Und die Zähne klappten ihr aufeinander, einesteils vor Frost, denn sie stand noch immer in ihrem dünnen Hemdchen da, andernteils aber vor Erwartung der kommenden Mitteilungen, die ja ganz fürchterlich sein mußten, sonst hätte die Schwester doch nicht diese geheimnisvolle Einleitungsformel gewählt. Da sie aber nicht wußte, wie lange diese Enthüllungen dauern würden, zudem schon das Kribbeln des kommenden Schnupfens in dem Naschen spürte, hüllte sie sich in die dicke Decke des Diwans, muschelte sich in dem bequemen Sorgenstuhl am Ofen zurecht und schlang unter der Umhüllung die Arme um die Kniee.

»So, jetzt fang' an, Elsbeth, und ich bin gespannt wie ein Flitzbogen!« Im nächsten Augenblick aber bereute sie schon, diese, wie sie jetzt selbst einsah, für den Ernst der Stunde wenig passende Wendung gebraucht zu haben, denn Elsbeth zag unmutig die Stirn zusammen. Also verbesserte sie sich rasch: »Das heißt nämlich, und ich wollte sagen, ich sterbe fast vor Neugier!«

Und der herbe Tadel blieb nicht aus, die Schwester zuckte mit den Achseln.

»Flitzbogen und Neugier – mit Kindern sollte man eigentlich nicht ... na ja, es ist gut, du sollst ja auch erst lernen!« ... Sie ging eine ganze Weile lang auf und ab, als kämpfte sie noch immer mit dem Entschluß, ihr Allerinnerstes zu entblößen, oder als suchte sie nach den passenden Einleitungsworten. Plötzlich aber blieb sie stehen und legte ihr die Hand auf die Schulter: »Sag, Fränze, und was glaubst du, darf man einen Unwürdigen lieben?«

Klein-Fränze, die so plötzlich von einer unwissenden Schülerin zur Schiedsrichtern avanciert war, sah ihre Schwester verständnislos an. Aus dem Klein-Lipinsker machte sie sich wirklich nichts, das hatte sie am heutigen Abend doch ganz klar und deutlich bewiesen, also wen konnte sie wohl damit meinen? Da sie aber doch irgend eine Antwort geben mußte, sagte sie: »Ja, das kommt ganz darauf an, was man darunter versteht. Wenn man zum Beispiel unwürdig auf einen sagen würde, nur weil er vor lauter Dummheit nicht merkt, daß jemand in ihn verliebt ist, oder er rennt meinetwegen einer andern nach, aber man hofft noch immer, ihn zu kurieren, ja, also das könnte ich so schlimm nicht finden!«

Elsbeth hatte kaum zugehört.

»Das sind natürlich Kindereien. Ich meine ganz etwas andres! Stell dir vor, es hätte dich jemand beschimpft, gekränkt und fast in den Tod getrieben. Er bekämpft dich mit den unlautersten Waffen, du hast die Beweise, daß er nicht mal vor einem Verbrechen zurückschreckt, um dich zu vernichten, außerdem aber ist er noch mit einer andern verlobt – also, jetzt frage ich dich noch einmal: Darf man einen solchen Menschen lieben?«

Fränze zerbrach sich den Kopf, auf welches Scheusal in Menschengestalt diese Beschreibung wohl zutreffen dürfte. Etliches paßte auf den Klein-Lipinsker, etliches aber auch wiederum nicht ...

»Nun, und?« fragte Elsbeth ungeduldig.

Da entschloß sie sich kurz und antwortete mit einem klaren Nein!

Elsbeth ließ die Arme sinken und seufzte tief auf.

»Ja, du hast leicht sagen: Nein! Wenn man ihn nun aber doch liebt? ... Man glaubt, man hätte längst überwunden, alles! Die Liebe, den Haß und die Verachtung, nichts, bildet man sich ein, wär' übrig geblieben als eine stumpfe Gleichgültigkeit, und auf einmal kommt ein Tag wie der heutige, zeigt einem unbarmherzig, daß das alles nur Selbsttäuschung war, und man liebt ihn womöglich ärger denn je?«

»Ja, aber um Gottes willen, wen denn nun bloß?«

Elsbeth wurde ordentlich ärgerlich.

»Wen? Na, wenn du das bis jetzt noch nicht gemerkt hast ...?«

»Den Klein-Lipinsker?« Sie schrie fast auf vor freudigem Schreck, wickelte sich aus der Decke und flog der Schwester um den Hals. »Den Klein-Lipinsker? Aber das ist ja herrlich, das ist ja famos, das ist ...« Sie wollte gerade sagen »die schönste und beste Lösung für uns alle beide,« aber Elsbeth schob sie mit herbem Ausdruck von sich.

»So, findest du? Und ich verblute mich fast daran!«

Da senkte sie das Köpfchen und gestand beschämt ein, im ersten Augenblick aus sträflichem Egoismus an sich selbst gedacht zu haben.

»Verzeih, Elsbeth, ich sehe ein ... und es war auch nur wegen dieses dummen langen Hans Heinrich. Wenn ein Mensch so furchtbar dumm ist, und man gibt sich alle Mühe um ihn, er aber merkt absolut nichts, sieht nur immer dich und wieder dich, also verzeih noch einmal, aber da meinte ich, wo wir doch heute zum ersten Male so offen über solche Dinge sprechen, also da war ich eifersüchtig auf dich!«

Elsbeth mußte in all ihrem Kummer auflachen.

»Eifersüchtig, auf mich? Geh, du Dummchen! Und auf Herrn Hans Heinrich? ›Guten Tag ... knack ... ich war nämlich sowieso unterwegs ... knack ... und da dachte ich, knack ...‹« und sie machte dem Mechower nach, wie er unter dem Knacken der Fingergelenke an der üblichen Begrüßungsformel druckste, bis ihn eine mitleidige Seele unterbrach.

Klein-Fränze aber wickelte sich, beleidigt, wieder in ihre warme Decke ein.

»Erlaube, liebe Elsbeth, dafür kann er nichts. Und deinem Klein-Lipinsker kann es genau ebenso gehen! Hans Heinrich hat es nämlich auch von einem Sturz zurückbehalten. Mit Gehirnerschütterungen ist nicht zu spaßen. Sonst aber ist er ein herzensguter Mensch, und wenn er mal etwas glücklich herausgebracht hat, dann hat es auch immer Hand und Fuß, denn im Denken ist er sicher noch lang so gescheit wie dein Klein-Lipinsker. Aber, ist ja auch egal, dir soll er ja gar nicht gefallen!«

Jetzt war die Rolle des Gekränktseins an Elsbeth.

»Fränze, ich verbitte mir diesen Ton, sonst schicke ich dich sofort wieder zu Bett! Ich will dich belehren, du aber, statt zuzuhören, benimmst dich wie ein kleines Pensionsmädchen!«

»Du fragst mich ja immer,« maulte Fränzchen zurück, »also muß ich doch auch wohl antworten, nicht wahr?«

»Na ja, aber nicht in dieser direkt kindischen Art und Weise! ›Dein Klein-Lipinsker!‹ Ich hab' dir doch gesagt, daß er längst verlobt ist!«

»So, so,« sagte Fränzchen, »mit wem denn?«

Aber eigentlich fragte sie nur so nebenher, um überhaupt etwas zu sagen, denn in Wirklichkeit mußte sie an ganz etwas andres denken. Wie sich nämlich in dieser kurzen Viertelstunde ihre Stellung zu der älteren Schwester verändert hatte. Wo hätte sie früher wohl den Mut hergenommen, ihr, als dem Familienoberhaupte, zu widersprechen? Alles in Groß-Lipinsken gehorchte ihr, sogar die beiden alten Tanten richteten sich ängstlich nach ihr, und es war recht so, denn sie war ja die Herrin. Also woher hatte sie nur den Mut genommen, dem Familienoberhaupte so keck die Meinung zu sagen? Und eine Ahnung dämmerte in ihrem jugendlichen Köpfchen, daß diese Respektlosigkeit angefangen hatte, als sie sehen mußte, daß die stolze Herrin von Adlig-Groß-Lipinsken auch nichts andres war, als ein rettungs- und hoffnungslos verliebtes junges Mädchen, das in seinen Herzensnöten genau so hilflos war als andre ...

Elsbeth aber schien auf die Frage nur gewartet zu haben.

»Mit wem? Na, wie sie heißt, weiß ich noch nicht. Aber wenigstens wie sie aussieht! Ein süßer blonder kleiner Pussel, der ihm die Jagdsocken stopft und aufpaßt, ob seine Leibgerichte auch ordentlich gekocht werden, ob die Schmandsoße zum Beispiel auch richtig mit Kaddickbeeren abgeschmeckt ist.«

»Um Gottes willen,« sagte Fränze, »jetzt, schon während der Verlobung stopft sie ihm die Socken? Und ist es vielleicht seine ›Mamsell‹?« Wirtschafterin

»Ach, Unsinn, nein, er malt sie sich nur so aus!« Und da Fränze sie darauf ganz ratlos ansah, versuchte sie erst, zu erklären, wo und wann sie diese Äußerung gehört hätte; als sie damit aber auch nicht viel weiter kam – ganz natürlich, denn Fränze hatte von all diesen Geschehnissen keine Ahnung – sagte sie: »Also denn der Reihe nach! Aber hör hübsch zu und unterbrich mich nicht!« Und sie fing, so gut es gehen mochte, an zu erzählen, wie alles gekommen war. Wie es angefangen halte, seit sie den Klein-Lipinsker Vetter sich zum ersten Male mit Bewußtsein angesehen hätte vor jenen zehn Jahren, als er herübergekommen war, um sich ihrem Vater als neugebackener Kürassierleutnant zu präsentieren. Damals dachte ja niemand an den häßlichen Streit, und vielleicht war der verstorbene Papa an allem schuld. Als der Vetter Adalbert in seiner blanken Uniform vom Hofe herunterritt, stand sie neben dem Vater auf der Freitreppe und winkte mit dem Taschentuch. Er aber fragte: »Gefällt er dir, Elsbeth?« Und sie darauf: »Riesig, Papa! Den und keinen andern!« Der Vater aber lachte: »Na, meinen Segen habt ihr, und es wär', weiß Gott, das Gescheiteste!« Von dem Tage an hatte sie angefangen, sich als die Braut des Klein-Lipinsker Vetters zu fühlen, trotzdem er sich nur höchst spärlich in Groß-Lipinsken sehen ließ und sie auch kaum beachtete. Das war ihr nur ganz natürlich erschienen, denn er war doch schon Leutnant, während sie bis zur Verlobung noch ein tüchtiges Stück zu wachsen hatte ... Mit dem Verliebtsein aber hatte es so ganz richtig erst angefangen, als sie mit Fränze in die Pension nach Eastborne kam, sie natürlich mit dem Bilde des Klein-Lipinskers, das sie heimlich aus Papas Album entwendet hatte, in der Tasche. Dort in der Fremde hatte sie sich manchmal nach ihm gebangt, daß ihr zu Mute war, sie müßte barfuß aus dem Schlafsack fortlaufen, immer weiter, bis ans Meer, vielleicht daß sich dort ein mitleidiger Schiffer fände, der sie in die Heimat führte ...

»Gott, du Ärmste,« unterbrach sie Fränze, »was mußt du damals gelitten haben! Ich hab' dich manchmal stöhnen und seufzen gehört, aber ich meinte immer – wie kindisch – es ging' dir auch so wie mir. Ich konnte nämlich dieses gräßliche Orangenschaleneingemachte, das wir morgens und abends aufs Brot geschmiert bekamen, absolut nicht vertragen!«

Und Elsbeth erwiderte nachdenklich: »Ja ja, vielleicht wär' es überhaupt besser gewesen, ich hätte mich dir schon früher einmal anvertraut. Zu zweien trägt sich's doch leichter, überhaupt, wenn man sich nur einmal gründlich aussprechen kann!« ... Und sie fuhr fort zu erzählen. Von der ersten großen Enttäuschung, die sie erfahren hatte, als der alte Justizrat Kersten telegraphierte, der Vetter Adalbert erhöbe in seinem und der andern männlichen Agnaten Namen Anspruch auf den Groß-Lipinsker Besitz als freiherrlich Lindesches Majorat, bestreite die Existenz der Urkunde über die Errichtung des Kunkellehens! Wie sie damals trotzdem gehofft hatte, ihn beim Begräbnis zu sehen, und über sein Ausbleiben fast ebensoviel geweint, als über den plötzlichen Tod des Vaters. Und weiter schilderte sie das schreckliche Abenteuer am Lipinsker See, wie sie danach angefangen hatte, den Vetter zu hassen, später aber ganze Tage lang überhaupt nicht mehr an ihn dachte, so daß sie wirklich glauben konnte, er wäre ihr vollkommen gleichgültig geworden. Bis mit einem Male der heutige Abend kam, an dem sie genötigt wurde, ihm das Leben zu retten und hinterher Samariterdienste zu erweisen. »Und siehst du, Fränze, was das Allerschlimmste ist: Der Verwalter Wisotzki hatte mir eben bewiesen, daß Adalbert sich unter allen Umständen mit diesem schlechten Subjekt, dem Hufschmied Martschinowski, verabredet haben müßte, um den Platz festzustellen, an dem der Kasten mit dem Dokument vergraben liegt, und es hinterher natürlich zu unterschlagen; ich hatte schon den Befehl gegeben, den Klein-Lipinsker nach seiner eignen Wohnung zu schaffen, als es mir mit einem Male wie ein Stich durchs Herz ging: Wird er dort auch die richtige Pflege haben?«

»Hm,« sagte Fränze nachdenklich, »dieser Verwalter Wisotzki ist mir überhaupt von jeher unsympathisch gewesen. Wozu mußte er denn von dieser dummen Fußspur anfangen?«

Elsbeth zuckte unwillig mit den Achseln. Es wäre wirklich gescheiter gewesen, zu dem Kinde da von allen diesen traurigen Sachen nicht zu sprechen. Und sie hätte ja auch geschwiegen wie sonst, wenn es ihr nicht so unversehens in die weichmütige und ratlose Stimmung hineingeraten wäre ...

»Närrchen, das war doch seine Pflicht, er mußte mich doch aufmerksam machen! Und darum handelt es sich ja auch gar nicht, sondern um mich. Daß ich, nachdem ich's gewissermaßen schwarz auf weiß hatte, welch ein unfairer und verächtlicher Gegner unser Vetter Adalbert ist, mich doch noch immer um ihn sorgen mußte! Du glaubst ja gar nicht, welch eine Anstrengung es mich gekostet hat, vor euch allen da unten die Gleichgültige und Gelassene zu spielen, während ich mich innerlich zersorgte: Wird er auch vorsichtig genug aus dem Schlitten gehoben, ist sein Lager ordentlich zubereitet, und überhaupt« – sie schrie fast auf – »lebt er noch? Siehst du, Fränze,« so schloß sie, »wenn ich daran denke, dann foltert mich die Angst und die Ungeduld, daß ich hier alles stehen und liegen lassen könnte, um zu ihm zu eilen!«

Sie schwieg und ging mit großen Schritten in dem lauschigen Zimmerchen auf und ab. Klein-Fränze aber dachte ein paar Augenblicke lang angestrengt nach.

»Hm, woher weißt du denn eigentlich, daß er verlobt ist?«

»Der alte Ahrens hat es mir gesagt, kaum zwei Stunden ist es her! Oder vielmehr verloben soll in der nächsten Zeit!«

»Na, dann ist's bestimmt nicht wahr,« entschied Fränze, »denn das weißt du doch, der Alte lügt wie gedruckt.«

Elsbeth blieb stehen.

»Nein, Kleines, was hätte er wohl für einen Grund gehabt, mich in einer so wichtigen Frage zu belügen? Aber verlobt oder nicht verlobt, ich muß endlich zu einem Entschluß kommen, ich für meine Person. Und wenn du mir natürlich auch nicht raten, nicht helfen kannst, die Aussprache hat wenigstens das eine Gute gehabt, daß ich mir klar geworden bin, was zu geschehen hat. Ein Ende muß gemacht werden!«

»Ja,« sagte Fränze eifrig, »vielleicht schickst du mal Tante Lieschen in hochdiplomatischer Sendung hinüber, um nachzusehen, wie es ihm geht? Vielleicht erfährt sie dann auch so hinten herum, wie er eigentlich gegen dich gesonnen ist?«

Elsbeth fuhr entrüstet auf.

»Fränze! Und glaubst du im Ernst, daß ich mich so entwürdigen könnte? Nach allem, was ich dir erzählt habe? Nein, mein Entschluß muß anders lauten: Ich will nicht verächtlich werden vor mir selbst! Darum aber reiße ich dieses schwächliche und verächtliche Gefühl jetzt aus meinem Herzen und werde den Klein-Lipinsker von nun an behandeln, wie es ihm gebührt und zukommt, als einen Feind, mit dem man – Gott sei's geklagt – nicht mal die ehrliche Klinge kreuzen kann, aus Angst nämlich, sie zu beschmutzen!«

»Elsbeth!« schrie Fränze auf.

Die aber hörte nicht, wie ein heiliges Feuer schien es in ihren Augen zu brennen.

»Das war der Anfang, und das ist das Ende!« Sie raffte den zerknitterten Pappkarton und das dünne Spitzentüchlein vom Tische, zerriß beides in kleine Fetzen und warf sie in das schwach glimmende Kaminfeuer. Fränze wollte noch zuspringen, um wenigstens die Reste der schmerzlichen Erinnerungen zu retten, aber es war zu spät, die Flammen züngelten aus den glimmenden Kohlen hoch auf, was äußerlich war von Elsbeths so hoffnungsloser Liebe, bildete nur noch ein paar Blättchen bräunlicher Asche. Und Elsbeth sah mit verschränkten Armen zu.

»So ... es ist aus! Von morgen an werdet ihr alle, er und ihr, eine andre kennen lernen! Damit du aber nicht glaubst, Kleines, ich würde von jetzt an versuchen, dir bei deinem – knack ... knack – Hans Heinrich gefährlich zu werden« – ordentlich ein verächtlicher Zug flog um ihre stolzgeschürzten Lippen – »also da schwöre ich vor Gott und dir, ich werde überhaupt nicht heiraten! Nur die Maibirsche will ich noch wahrnehmen, dann gehe ich auf Reisen, weiß Gott wohin, nur möglichst weit fort von hier. Dich aber setze ich zu meiner Erbin und Nachfolgerin ein, du magst deinen Hans Heinrich heiraten und hier in der Enge hausen! Noch gescheiter aber wär's, du gibst ihm auch den Laufpaß, denn die Männer, alle wie sie gewachsen sind, sind falsch und roh und verächtlich. Also, wenn du willst, schwör mit. Wenn aber nicht, dann laß es bleiben!«

Und da hob Klein-Fränze die Hand, schwor mit, denn sie mochte die Schwester, die am ganzen Körper bebend und mit ganz seltsam entgeistertem Ausdruck vor ihr stand, durch einen Widerstand nicht noch mehr aufregen. Im stillen aber dachte sie schaudernd: Brr, noch eine Auflage Tante Lieschen und Amalie, und kniff, zum Zeichen, daß der Schwur nichts gelten sollte, hinter dem Rücken den linken Daumen ein, wie sie es vorzeiten von ihrer masurischen Kinderfrau gelernt hatte. Danach schwor sie noch einmal auf ausdrückliches Verlangen, über alles, was ihr anvertraut worden war, das allerstrengste und peinlichste Stillschweigen zu bewahren, diesmal aber ohne eingekniffenen Daumen und jeglichen Rückhalt. Und als Elsbeth, deren Mitteilungsbedürfnis mit einem Male erschöpft schien, die Verbindungstür öffnete, ging sie willig in ihr Schlafzimmer zurück, ließ sich zudecken und schlief so recht beruhigt ein. Fühlte sich fast als die Ältere und Besonnenere, nachdem die regierende Schwester gezeigt hatte, daß sie im letzten Grunde auch nichts andres war, als ein töricht verliebtes junges Mädchen. Irgendwie würde ihr schon zu helfen sein, wenn der ganze Fall für den Augenblick auch recht trostlos und verworren aussah. Was sie selbst aber und ihren langen Hans Heinrich anlangte, der lief ihr jetzt nicht mehr fort. Nur, da sie bisher mit Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit nichts ausgerichtet hatte – wenn sie ihm zum Beispiel die Kaffeesemmel so recht schön dick mit Butter, Honig und Liebe schmierte, langte er ganz achtlos zu, sagte kaum danke schön – also da wollte sie es auf dem entgegengesetzten Wege versuchen! Gleich von morgen an sollte er einmal kennen lernen, was schlechte Behandlung bedeutete, vielleicht daß ihm dann allmählich die Augen aufgingen!


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