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Siebentes Kapitel

Der Förster Ahrens schritt mit seiner jungen Herrin und dem getreuen Unkas auf dem schmalen Waldwege dahin, der zu den Groß-Lipinsker Wiesen führte, und ordentlich ein Hochgefühl schwellte ihm die Brust, daß er sie endlich einmal wieder für sich allein hatte, denn der Einfluß dieses alten Heuchlers Wisotzki war in den letzten Wochen schier übermächtig geworden. Herr Verwalter hinten und Herr Verwalter vorn, den ganzen Tag hatte sie den Kerl beim Auswerfen des Grabens um sich, während er nur ab und zu auf eine halbe Stunde abkommen konnte, denn die Frühjahrskulturen nahmen ihn von früh bis spät in Anspruch. Gleich am ersten Tage hatte er Einspruch erhoben, der Graben wäre um reichlich zweihundert Meter zu weit nach dem Torfbruche zu angefangen worden, aber seine Meinung war leider nicht durchgedrungen. Später aber, wenn er wieder einmal seine Bedenken geltend machte, hörte ihm die Baroneß kaum zu, und er konnte sich schon ungefähr denken weshalb: Der fette Schleicher hatte ihr sicherlich einen Floh ins Ohr gesetzt, er, Ahrens, hielte es heimlich mit dem Klein-Lipinsker. Der Verwalter aber konnte in diesen Verdacht nicht gut geraten, denn alle Welt wußte ja, daß er früher in Klein-Lipinsken Inspektor gewesen und in grobem Unfrieden geschieden war. Und den ganzen Tag über schmeichelte er sich bei der Baroneß damit ein, daß er gegen den Klein-Lipinsker hetzte und ihr allerhand Räubergeschichten erzählte, was für ein roher, gewalttätiger Patron das wäre, und welche lockeren Streiche er als Leutnant bei den Königsberger Kürassieren verübt hätte. Na, und so etwas war der Baroneß bei ihrem Hasse gegen den Klein-Lipinsker natürlich Musik in den Ohren; er aber konnte sich doch nicht revanchieren und sagen: Bitte, fragen Sie mal Herrn Wisotzki, woher sein Haß gegen den Herrn Baron von Linde stammt, und weshalb er dort weggejagt ist? Und wenn er aus begreiflichem Zartgefühl gegen seine eigne, werte Person darüber schweigt, fragen Sie vielleicht weiter, wie er's hier in Groß-Livinsken anstellt, sich mit zwölfhundert Mark eignem Gehalt einen Hauslehrer zu halten, der sechshundert kriegt? ... Aber das ging leider nicht an, denn den Denunzianten mochte er nicht spielen. Es wäre ihm auch in der ganzen Umgegend verdacht worden, wenn er einen Familienvater, der ein ganzes Haus voll kleiner Kinder zu ernähren hatte, ins Unglück gestürzt hätte.

Und jetzt war der ersehnte Umschwung ganz ohne sein Zutun gekommen. Zuerst die Blamage mit dem Dokumentengraben, mehr aber noch heute nachmittag sein kleinmütiger Rat, sich an den Klein-Lipinsker mit der Bitte zu wenden, ob er nicht so gut sein wollte, den Aufenthalt des Hufschmieds Martschinowski bekannt zu geben, damit man endlich das Dokument fände. Ganz natürlich, denn seine fette Pfründe hatte im andern Falle in einem kurzen Jahr ein Ende, wenn nämlich der Baron Adalbert von Linde hier ans Ruder kam!

Da hatte er entschieden das Richtigere getroffen, als er hereingerufen und um seine Meinung gefragt wurde. »Jetzt zu Kreuz kriechen und um gut Wetter bitten, gnädigste Baroneß? Nach dieser neuen Beleidigung? Womöglich blamieren wir uns nur mit der Bitte, vielleicht weiß der Herr Baron von diesem Hufschmied nicht mehr als wir! Also zunächst einen neuen Graben anfangen, aber nach meinen Angaben, und dann ein öffentlicher Aufruf in den Blättern, der Hufschmied solle sich hier melden, bei Straflosigkeit und einer ordentlichen Belohnung. Mit dem Herrn Baron aber alles beim alten lassen, meine ich, und wozu erst Freundschaft anfangen? Nachher gibt es doch bloß Verdruß, denn wer verliert, ärgert sich immer!« So hatte er gesprochen, ein wenig gegen seine innere Überzeugung, dafür aber so recht politisch und diplomatisch. Er kannte ja noch vom Frühjahr her den Haß der Baroneß gegen den Klein-Lipinsker Vetter, wußte besser als alle andern, wie es in ihrem Innern aussah, also weshalb sollte er diese Wissenschaft nicht zu seinen Gunsten ausbeuten und der jungen Herrin ein wenig nach dem Munde reden? Er hatte sich in den letzten Wochen, weiß Gott, schwer genug geärgert, von ihr so unverdientermaßen zurückgesetzt worden zu sein!

Und die guten Folgen dieser politischen Haltung hatten sich gleich am selben Tage gezeigt. Kurz nach Kaffeezeit war der alte Friedrich mit dem Befehl gekommen, er sollte sich bereit halten, in einer Viertelstunde würde die Baroneß ihn abholen, um mit ihm auf die Büsche zu gehen. Da hatte er natürlich »zu Befehl« gesagt, wechselte das Sonntagsgewand mit einem alten Kittel und stieg eilends in die hohen Jagdstiefel. Im stillen aber brummte er, welch anständiger Mensch und Jägersmann wohl vor dem fünfzehnten, zwanzigsten Mai einen Bock schösse. Noch ging das Rehwild in dem madigen grauen Winterkleid, und die braven Böcke waren bei dem kalten Frühjahr noch so weit mit dem Fegen zurück, daß ihnen die Bastfetzen um die Gehörne zoddelten, wie alten Weibern die Haare, aber seine Frau las ihm gründlich den Text.

»Was geht's dich an, Ahrens? Es sind doch ihre Böcke! Und nimm die Gelegenheit wahr, schmied das Eisen, solang' es noch warm ist, und wenn es sich so macht, trag ihr vor, daß wir für die alte Rotbunte eine neue Kuh kriegen. Sie gibt trotz dem Kalben keine acht Stof mehr den Tag, und wenn du dein Anliegen durch Herrn Wisotzki vorbringst, weißt du den Bescheid ja im voraus!«

Da hatte er erst noch etwas von weidmännischem Ehrgefühl gebrummt, wovon Frauenzimmer natürlich nichts verständen, dann aber gemeint: »Hast eigentlich recht, Alte, und weshalb soll ich ihr die Freude nicht machen? Ich werd' sie auf den alten Urian, den Lipinsker Grenzbock, ansetzen, den kriegt sie doch nicht!«...

Jetzt schritten sie schon eine ganze Weile lang nebeneinander her, ohne mehr als das allernotwendigste gesprochen zu haben. Als er sagte: »Also gnädigste Baroneß, ich denke, wir nehmen mal zuerst den Grenzbock – Baroneß besinnen sich wohl noch, den ich Ihnen damals im Frühjahr gezeigt habe, als sie dem Herrn Baron das Leben retteten,« hatte sie erwidert: »Na ja, natürlich, den zuerst. Meinen Sie, ich will warten, bis er ihn sich holt? Und ich habe erst gestern gesehen, wo er austritt. Wo der schmale Zipfel von unserer Wiese in die Klein-Lipinsker Schonung einschneidet, da hat er gestanden. Auf fünfzig Schritt bin ich an ihm vorbeigeritten, er hob kaum den Kopf aus dem grünen Klee.«

»Na ja,« lachte der Förster, »weil der alte Bursche das Datum des Jagdanfangs im Kopfe hat, genau so wie unsereins. Und passen Sie auf, Baroneß, heute, wo er weiß, jeden Augenblick kann es ihm ans Leder gehen, da äugt er selbst beim Äsen, und alle Augenblicke wirft er auf, sichert nach allen Seiten, und nur eine Maus braucht sich zu regen, dann prescht er ab ins Dickicht. Ich kenn' ihn, gnädigste Baroneß, und ich sage Ihnen, den Hut nehme ich ab, wenn Sie ihn umlegen! Nur in der Brunft, mit Angstgeschrei des Schmalrehs, ist er vielleicht zu kriegen.« Da ihm aber plötzlich einfiel, daß er damit seine junge Herrin womöglich auf die Idee brächte, einen der geringeren Böcke anzugehen, von denen sie schon ein halbes Dutzend im Stangengehölz bestätigt hatten, fügte er hinzu: »Natürlich die Ehre, wenn es Ihnen nämlich gelingt, Baroneß, wär' um so größer!«

»Verlassen Sie sich drauf, Ahrens,« hatte sie gesagt, »ich krieg' ihn!«

Danach waren sie schweigend nebeneinander hergeschritten; die Baroneß köpfte mit ihrem dünnen Stöckchen ab und zu eine Küchenschelle, die am Grabenrande stand, er aber sann über einen passenden Anfang, um ihr sein Anliegen wegen der rotbunten Kuh vorzutragen. Nicht so plump mit der Tür ins Haus, sondern mit einer geschickten Einleitung, etwa: Ja, ja, wie doch die Zeit vergeht. Alle werden wir mal alt, müssen jüngeren Kräften Platz machen, weil wir nicht mehr unsre Pflicht erfüllen können. So auch mit dem Rindvieh. Sehen Sie zum Beispiel, gnädigste Baroneß, meine rotbunte Kuh; als ich sie vor jenen acht Jahren kriegte, gab sie mehr als zwanzig Stof Milch und heute kaum acht. Also, wo mir das doch gewissermaßen ins Deputat eingerechnet wird, da meine ich, ob gnädige Baroneß nicht so gnädig sein wollten, auch in dieser Hinsicht eine Neuerung anzubefehlen!

So gedachte er loszulegen, nachdem er sich's sorgfältig überdacht hatte, als plötzlich die Baroneß zu sprechen anfing. Erst räusperte sie sich ein wenig, dann sagte sie: »Hm, Ahrens, Sie kennen den Klein-Lipinsker Herrn doch sicherlich ebensogut wie Herr Wisotzki, also ist er nun wirklich ein solcher Ausbund von Schlechtigkeit?«

Der Alte hob verwundert den Kopf. Nanu, was sollte das auf einmal heißen? Und sicherlich erwartete die Baroneß eine bejahende Antwort von ihm! Aber wenn das vielleicht auch »politisch« gewesen wäre, mit dem Verwalter in ein und dasselbe Horn zu blasen, so weit konnte er sich gegen die Wahrheit denn doch nicht versündigen. Nur ein wenig abwartend wollte er sich natürlich verhalten.

»Ausbund von Schlechtigkeit, gnädigste Baroneß? Na, das ist ein bißchen viel gesagt. Er ist ein strenger, aber gerechter Herr. Gebummelt wird bei ihm nicht, aber dafür kriegt auch jeder Arbeiter seinen ordentlichen Lohn. Und die Leute bleiben gern bei ihm, denn er hat so eine freundliche Art, macht gern sein Witzchen, weiß von jedem, wo ihn der Schuh drückt, und hilft manchmal ab, ehe erst die Klage an ihn herangetreten ist. Wenn aber einer faulenzt, dann geniert er sich nicht, da gibt's Senge!«

»So, so,« meinte die Baroneß und köpfte angelegentlich eine Küchenschelle, »aber das meine ich eigentlich nicht!«

Na, was denn? dachte der Alte. Und aus einmal merkte er, wo seine junge Herrin hinaus wollte! Aber das stimmte doch so gar nicht zu dem, was er vor jenen fünf oder sechs Wochen festgestellt hatte? Und laut sagte er: »Ach so, wenn Sie das meinen, gnädigste Baroneß? Also in seiner Leutnantszeit soll der Herr Baron ja ein lockerer Bruder gewesen sein. Kein Wunder, Leutnant bei den Kürassieren, die Taschen voll Geld, und ein so bildhübscher Mensch! Da hat ihm natürlich alles, was lange Kleider trägt, blanke Augen gemacht. Da erzählt man sich wirklich ein paar tolle Sachen, und die Königsberger Damen sollen ihn arg verwöhnt haben, waren ordentlich stolz, wenn sie mit ihm ins Gerede kamen! Aber dabei war ich natürlich nicht, ebensowenig wie der Herr Wisotzki, nur ich meine, deswegen ›Ausbund von Schlechtigkeit‹ auf ihn zu sagen, ist ein bißchen viel. Jung waren wir mal alle! Wenn ich aber in der Stelle der gnädigen Baroneß wäre – also lieber einen, der auch andern gefallen hat, als so einen Duckmäuser, von dem man sich immer sagen muß: Hättest du dich seiner nicht erbarmt, hätt' er wahrhaftig keine andre gekriegt!«

Die Baroneß warf hochmütig den Kopf in den Nacken zurück.

»Was fällt Ihnen eigentlich ein, Ahrens? Um mich handelt es sich dabei doch gar nicht! Und Sie waren doch, wenn ich mich recht erinnere, derjenige, der mir einmal erzählte, mein Vetter würde sich verloben oder hätte es schon getan?«

Der Förster kratzte sich verstohlen den Kopf. Ei verflucht noch mal, an die alte Lüge, die er damals in ganz bestimmter Absicht produzierte, hatte er in keinem Winkel seiner Seele mehr gedacht! Und wie sich jetzt verhalten? Die Wahrheit eingestehen und sich für alle Zeiten blamieren?

»Gott, eigentlich ist es ja ganz uninteressant und gleichgültig,« sagte die Baroneß nach einer kleinen Pause, »aber wie heißt denn die junge Dame?«

Da fiel dem Alten in der Bedrängnis glücklicherweise ein, daß Tante Lieschen ihm an jenem Abend doch direkt befohlen hatte, vorläufig noch mal bei der Lüge zu bleiben, und er konnte ja nicht wissen, ob die Gründe, die damals die alte Dame zu dieser Weisung bestimmt hatten, nicht auch heute noch in Geltung waren?! Also antwortete er: »Ja, genau weiß ich das nicht mehr, gnädigste Baroneß, ich hab' der Sache damals auch nicht solch eine große Wichtigkeit beigelegt. Irgendwer hat es mir auf dem Jahrmarkt erzählt... ach so, jetzt besinne ich mich, der Viehhändler Matzanek aus Lötzen. Wissen Sie, gnädigste Baroneß, diese Leute kommen ja viel herum auf den Gütern, und da hören sie so mancherlei. Also hinter Königsberg soll die junge Dame zu Haus sein, aber den Namen hab' ich vergessen.« Gott sei Dank, das war unbestimmt genug und auch weit genug fort. Wenn es aber doch zum Klappen kam, hatte der Viehhändler Matzanek eben gelogen, und man konnte lange suchen, bis man seiner habhaft wurde, denn er zog in der ganzen Provinz von einem Markt zum andern ...

»Aber, wie sie aussieht, werden Sie doch wohl behalten haben?« forschte die Baroneß weiter.

»Ja, das natürlich, gnädigste Baroneß! Blond soll sie sein und so klein, wie etwa unsre Baroneß Fränzchen!« Das log er aber auch natürlich nur so aufs Geratewohl, nur um die Antwort nicht schuldig zu bleiben.

»Na, denn stimmt's ja!« sagte die Baroneß und köpfte wieder eine unschuldige Küchenschelle; der Hieb war so energisch, daß das Köpfchen der Blume ein ganzes Ende weit über den Graben flog. Dem Alten aber benahm eine plötzlich aufsteigende Erkenntnis fast das klare Denken. Das waren doch genau dieselben Fragen, die er damals vor jenen langen Wochen erwartet hatte, als er nach dem Schuß auf den Gabelweih dem Füchslein mit ebenderselben gröblichen Lüge den fängischen Brocken gestreut hatte? Und was war denn in der Zwischenzeit geschehen, daß es jetzt auf einmal einsprang? ...

Aber er hatte keine Zeit, aus all den Gedanken, die auf ihn eindrängten, eine Schlußfolgerung zu ziehen, denn sein alter Unkas war mit einem Male unruhig geworden. Nahm eine Fährte auf, die quer über den Weg führte, verfolgte sie etwa zwanzig Schritte weit in den Hochwald und kehrte dann wieder um. Stieß seinen Herrn mit der Nase an und gab Standlaut.

»Sie hätten den Hund lieber zu Hause lassen sollen,« sagte die Baroneß mißbilligend, »er wird uns noch die ganze Jagd verderben!«

»Mein Unkas?« erwiderte der Alte gekränkt. »Gnädigste Baroneß, wenn wir beide zusammen nur so gut birschen könnten wie dieser Hund! Es ist leider keine Zeit, Ihnen zum Beweise der Wahrheit die diesbezügliche Geschichte zu erzählen, also ein andermal. Und um eine Rehfährte kümmert er sich sonst auch gar nicht, außer es ist Schweiß darauf, und ich setze ihn an. Es handelt sich hier also auch um kein Stück Wild, sondern um irgend etwas andres, wovon er glaubt, es könnte mich interessieren. Um irgend eine Witterung, die er nicht vergessen hat.«

»Sie wollen mir Märchen erzählen, Ahrens!«

»Gnädigste Baroneß, haben Sie schon mal Grund gehabt, an meiner Wahrheitsliebe zu zweifeln? Und ich sage immer, wir Menschen haben den Größenwahn, wenn wir uns allein in der Schöpfung Gottes die Fähigkeit zuschreiben, zu denken und aus unsren Gedanken Schlüsse zu ziehen. Die Hunde denken auch, unsre Sinne sind nur zu grob, sie immer zu verstehen. Und nehmen Sie mal an, gnädigste Baroneß, ein Tier, das jede Wildart auf hundert Schritte und mehr bloß am Gerüche erkennt, das auf hartgetrocknetem Acker die Spur eines leichten Vogels mit der Nase verfolgt, als liefe es an einem deutlich gezogenen Kreidestrich entlang, ein solches Tier sollte sich zum Beispiel auch die Witterung eines Menschen nicht merken können? Und sich, wenn es wieder einmal auf diese Spur stößt, nicht erinnern, damals haben wir mit dem Kerl doch das und das vorgehabt, also will ich meinen Herrn mal anstoßen? Wenn Baroneß mir aber nicht glauben, brauchen wir uns ja bloß den kleinen Umweg zu machen über die Stelle, wo Sie damals dem Klein-Lipinsker Herrn das Leben gerettet haben. Hängen lass' ich mich, wenn mein Unkas nicht deutlich zeigt, daß er den Platz wiedererkennt, wo er den Gordonsetter übergerollt hat!«

Die Baroneß wehrte fast ängstlich ab, schon die bloße Erinnerung schien ihr peinlich zu sein.

»Nein, nein, lassen Sie nur, Ahrens, wir vertrödeln zu viel Zeit damit. Gestern abend um diese Zeit war der Bock schon draußen.« Und sie drängte zur Eile, gleichsam als fürchtete sie, der gescheite Unkas könnte an der Unfallstelle seinem Herrn auf irgend eine Weise auch noch von andern Ereignissen Kunde geben, deren Augenzeuge er gewesen war ...

*

Der Bock stand wirklich schon draußen, als sie vorsichtig in den mit Buschwerk bestandenen Wiesenrand hinaustraten, genau an demselben Fleck, auf dem ihn die Baroneß gestern abend bestätigt hatte. Eine alte Ricke hatte er bei sich und ein Schmaltier, ihn selbst aber konnte man trotz der großen Entfernung an der übermäßig starken Statur ganz sicher als den Gesuchten ansprechen, und wenn man das Glas hob, erkannte man deutlich das prächtige Gehörn. Der alte Bursch war gut durch den Winter gekommen und hatte sich auch schon mit dem Fegen beeilt: wenn er den Kopf aufwarf, schimmerten die Ecken ganz weiß, und es war ein wahrer Staat, wie hoch er aufgesetzt hatte. Wohl mehr als eine Spanne lang ragten die Stangen über die Lauscher empor, um die Rosen aber saßen ganze Knollen von schwarzen Peilen! Sogar dem Förster fing das alte Jägerherz vor Erregung lauter zu schlagen an, zugleich aber sah er deutlich, daß dem Bocke da, wo er stand, nicht beizukommen war. Ganz als hätte er wirklich die Grenzen im Kopfe, so hatte er sich seinen Platz ausgesucht! Die Kleewiese, auf der er äste, gehörte zu Groß-Lipinsken, die dichte Tannenschonung aber ringsum mit ein paar hellgefärbten, im ersten Grün stehenden Lindenbüschen, zu Klein-Lipinsken. Von der offenen Wiese her drohte ihm keine Gefahr, was dort sich näherte, mußte er auf tausend Schritte eräugen, denn noch war das Gras nicht hoch genug, um auch nur einer Krähe Deckung zu gewähren, geschweige denn einem auf Knieen und Ellbogen sich anbirschenden, ausgewachsenen Menschen. Ebenso sicher aber war er von der Waldseite aus, denn der Klein-Lipinsker, wenn er sich nicht gerade aufs Wilddieben hätte verlegen wollen, durfte auf die »feindliche« Wiese natürlich nicht hinausschießen. Aber daran dachte der Baron von Linde selbstverständlich nicht, soviel der Alte sich entsann, unterhielt er nicht einmal mehr den Birschsteig im Rande der Schonung, der vor langen Jahren bestanden hatte, als es nämlich noch eine freundnachbarliche Jagdfolge gab zwischen Groß- und Klein-Lipinsken ...

Also es war ausgeschlossen, an den Bock heranzukommen, selbst wenn man auf die Gefahr eines neuen Prozesses hin den Rand der feindlichen Schonung als Deckung bei dem Birschgange benutzen wollte. Da lag vom Winter her so viel trockenes Astzeug und Reisig, daß man selbst bei der allergrößten Vorsicht keine drei geräuschlosen Schritte tun konnte, beim ersten, noch so leisen Knacken aber wäre der Bock natürlich mit ein paar langen Fluchten in die schützende Schonung gefahren. Schreckte vielleicht noch mit seiner groben Stimme »mö, mö, mö«, und die Jagd war zu Ende. Also man gab es auf für heute abend, grub aber dafür am andern Vormittag hinter dem kleinen Weidenbusch mitten in der Kleewiese ein ordentliches Ansitzloch. Setzte sich am frühen Nachmittag hinein, ließ sich geduldig von den Mücken zerstechen, rührte sich nicht, na, und wenn der Wind gut blieb und das Glück günstig war, konnte man den Bock vielleicht kriegen. Vorausgesetzt nämlich, daß man im letzten Augenblicke es nicht vor Aufregung mit dem Flattern kriegte und vorbeischoß, um ihn für alle Zeiten auf diesem Wechsel zu vergrämen! ...

Das wollte er seiner jungen Herrin auseinandersetzen, aber ein Blick auf ihr Gesicht zeigte ihm, daß er mit allen diesen Gründen wenig ausrichten würde. Die Jagdpassion hatte sie gefaßt, sie verwandte kein Auge von dem Bock und ihre feinen Nasenflügel zitterten vor Erregung. Da dachte er: In Gottes Namen, und was liegt schon daran, wenn sie einen erfolglosen Birschgang geht? Und als sie ungeduldig fragte: »Na, Ahrens, was machen wir jetzt?« hob er zwei angefeuchtete Finger seiner Rechten in die Höhe, um zu prüfen, wie der leise Luftzug ginge.

»Der Wind steht nicht schlecht, Baroneß. Also Sie brauchen keine große Umgehung zu machen, halten sich hier am Waldrand bis zum Dokumentengraben, schneiden in ihm mit guter Deckung die Wiese – zu etwas ist das Werk des Herrn Wisotzki doch wenigstens gut gewesen – auf der andern Seite haben Sie dann vier- bis fünfhundert Schritt guten Birschsteig unter unsern hohen Kiefern, ich hab' ihn erst vor ein paar Tagen ordentlich harken lassen. Von der Klein-Lipinsker Schonung an aber müssen Baroneß sich selbst helfen. Vielleicht legen Sie sich eine Weile lang hin, wir haben ja noch über eine Stunde Büchsenlicht, und warten ab, ob der Bock sich nicht zu Ihnen heranäst. Auf zweihundert Meter liegend aufgelegt, können Baroneß schon ruhig hinlangen, aber, bitte, erst vorher ordentlich übers Visier sehen, nicht Korn klemmen, und wenn Sie im Schatten schießen, nicht zu weit ins Blatt hineingehen, sonst fliegt's oben drüber weg. Weil Sie doch nämlich von unten nach oben schießen, Baroneß, und ja nur die Kugel antragen, wenn sie ganz sicher ist, sonst sehen wir den Bock in diesem Jahr nicht mehr wieder!«

Die letzten Detailvorschriften waren überflüssig, denn näher als auf einen halben Kilometer kam sie an den Vorsichtigen nicht heran, aber man mußte doch so tun als ob, und den Diensteifrigen markieren.

»Verlassen Sie sich drauf, Ahrens, ich krieg' ihn,« sagte sie mit blitzenden Augen.

»Na, denn Weidmannsheil, gnädigste Baroneß, und Hals- und Beinbruch!«

»Weidmannsdank, Alter,« erwiderte sie, schulterte wieder ihren Drilling und ging mit elastischen Schlitten den Birschsteig hinab, der ein paar Schritte vom Rande im Hochwalde allen Schlenken und Biegungen der Wiese folgte.

Der alte Ahrens aber machte es sich auf einem Mooshügel, von dem aus er den ganzen Wiesenplan überschauen konnte, bequem, steckte sich zum Schütze gegen das blutgierige Mückengeschmeiß seine kurze Pfeife mit »Eigengebautem« an – jede Mücke, die von jetzt an in seinen Dunstkreis kam, fiel einfach betäubt aus der Luft, um am Boden einen elenden Vergiftungstod zu sterben – und hing so allerhand Gedanken nach.

Die Fragen nach der dem Klein-Lipinsker angelogenen Braut kamen ihm im Zusammenhange mit den Ereignissen des heutigen Nachmittags doch sehr verdächtig vor, und eine Ahnung dämmerte ihm, als wenn der Besuch ohne diese Legende vielleicht einen andern Ausgang genommen hätte. Zugleich aber, wenn er sich vergegenwärtigte, wie sehr die Baroneß gerade auf den Grenzbock aus war, auf den der Klein-Lipinsker doch nun auch schon seit Jahren vergebens fahndete, das unbequeme Gefühl, daß er diesen Birschgang doch nicht so sehr seiner »politischen« Haltung verdankte, als vielleicht dem Wunsche der Baroneß, dem Heim von Linde zu zeigen, daß sie wirklich eine weidgerechte Jägerin sei. Wie damals, als sie sich nach dem braven Schuß auf den Gabelweih verheddert hatte: Und wenn er das mitangesehen hätte, ob er dann noch... Nach dem heutigen Tage hätte er darauf geschworen, daß die Baroneß damals den Klein-Lipinsker gemeint hatte, obwohl es nie bekannt geworden war, daß gerade der sich über die Jagdpassion seiner jungen Herrin besonders abfällig geäußert hätte. Aber schließlich, wer wollte sich in so verzwickten Dingen auskennen, wie es die Entschließungen junger Mädchen waren? In jedem Falle jedoch erschien es rätlich, den Klein-Lipinsker recht bald wieder zu »entloben«. Der Weg dazu war ja sehr einfach. Er brauchte nur beim nächsten Wochenmarkt wieder einmal den Viehhändler Matzanek getroffen und von diesem erfahren zu haben, daß an der damals erzählten Verlobungsgeschichte kein wahres Wort gewesen wäre. Und er selbst konnte sich's sparen, der Baroneß mit dieser neuen Geschichte unter die Augen zu treten. Tante Lieschen hatte sich ja bis zu einem gewissen Grade mitschuldig gemacht, also sollte sie auch helfen! ...

Der Bock drüben auf der Kleewiese war mit einem Male unruhig geworden, hatte aufgeworfen und äugte unverwandt nach dem Rande der Schonung, als regte sich dort etwas Verdächtiges. ... Die Baroneß konnte es nicht sein, denn die war seiner Berechnung nach kaum erst ein paar hundert Schritte im Dokumentengraben vorwärts gekommen ... der Bock machte ein paar Dutzend lange Fluchten nach der offenen Wiese zu, Ricke und Schmalreh folgten, schwenkten im Bogen nach dem Rande der Schonung, dann beruhigte sich die ganze Gesellschaft allmählich, fing wieder zu äsen an. Nur der Bock äugte noch hin und wieder nach der Stelle, die zuerst seinen Argwohn erregt hatte ... wahrscheinlich war dort ein Fuchs ausgewechselt, schob sich jetzt in einer Furche zollbreit um zollbreit vorwärts, um in jähem Ansprung einen der harmlosen Hasen zu ereilen, die zu Dutzenden in dem saftigen Klee ästen; aber so sorgfältig er auch mit seinem scharfen Glase den Wiesenplan durchmusterte, er konnte den rotpelzigen Meister Reineke nicht entdecken ...

Und was nur sein braver Unkas heute hatte! Statt sich zusammenzurollen wie ein Igel und vernünftigerweise die gute Stunde, die es noch bis zur Rückkehr der Baroneß dauern konnte, zu überschlafen, saß er aufrecht auf den Hinterkeulen, miefte von Zeit zu Zeit und sah ihn immerfort an.

Da sagte der Förster: »Was hast du denn nur, Alter?« zugleich aber fiel es ihm ein, wie schwer es vorhin gehalten hatte, den Hund von der quer über den Weg laufenden Fährte abzurufen. Viel würde ja dabei nicht herauskommen, wenn er ihm den Willen tat und nachsuchte, vielleicht ein altes Weib, das den Sonntagnachmittag benutzte, sich für die Woche zum Kaffeekochen eine Traglast trockner Äste zu sammeln. »Also schön, Alter, meinetwegen,« sagte er und stand auf, »sollst deinen Willen haben. Ob ich nun hier sitz' und zuseh' oder nicht, das ist tutmähmschose, deswegen kriegt sie den Bock doch nicht!«

Unkas tat einen halblauten Blaffer, rannte vor Freude wie ein Besessener ein paar hundert Schritte in die Wiese hinaus, um wieder umzukehren und dann höchst gesittet und vernünftig auf dem Waldwege voranzugehen, den sie vor kaum einer halben Stunde von der entgegengesetzten Richtung her gekommen waren. Und genau an der gleichen Stelle wie vorhin markierte er, nahm die Spur wieder auf, sprang über den Graben und wartete, ob sein alter Herr ihm folgen würde. Der aber prüfte erst gründlich die Wegstelle, ehe er ebenfalls den Graben überschritt, und sagte kopfschüttelnd: »Was willst du nur, dummer Kerl? Es ist doch absolut nichts zu sehen. Oder am Ende ist doch was Besonderes unterwegs, ein Wilddieb oder so etwas, sonst hätte der Kerl sich nicht so sorgfältig gehütet, auf eine weiche Stelle im Weg zu treten?«

Unkas sagte nur leise miefend »mm ... mm ...« und wedelte aufgeregt mit der kurzgestutzten Rute.

»Na, denn vorwärts, Alter, such verloren. Aber merk dir's, es gibt einen bösen Katzenkopp, wenn sich zum Schluß etwa die alte Bintschkowa entpuppt, und sie sichelt vorjährige Streu für ihre diesjährigen Ferkel!«

Und Unkas zog langsam weiter, immer in den Hochwald hinein, die Nase am Boden, arbeitete an der Fährte wie an einer Schnur.

»Daß dich der Deuwel!« sagte der Alte, denn in dem schweigenden Walde war es schwül, und was seinem Unkas langsames Tempo dünkte, trieb ihm den Schweiß aus allen Poren. Plötzlich aber sagte er: »Unkas, down und nicht weiter!« denn in einer Talsenkung waren sie an eine breite moorige Stelle gekommen, und endlich zeigte sich die Spur, auf der der Hund arbeitete, in voller Deutlichkeit. Und keine zwei Stunden konnte sie alt sein, denn die Krümel am Rande waren noch ganz feucht, und ein mitheruntergetretener Grashalm hatte sich noch nicht wieder in die Höhe gehoben ...

Und ein seltsamer Männerstiefel war es, der sich da in dem weichen Moorboden abzeichnete, ganz anders, als er hier zu Lande getragen wurde ... eine breit ausladende Sohle ohne Nägel, in rundem Bogen vom Spann zur Spitze geschwungen, ein breiter Absatz, ebenfalls ohne Nägel... ordentlich ausländisch sah die Fußspur aus! Interessant war die Sache ja, aber wie sich einen Vers darauf machen? Und plötzlich sprang der Alte auf, er glaubte das Richtige gefunden zu haben, die Spur damals in dem klumpigen Gemisch aus Hagel und Schnee hatte so ähnlich ausgesehen!

»Vorwärts, Unkas, in einer halben Stunde hab' ich den Kerl! Dann aber gibt es heute abend die dickste Blutwurst, die unsre Alte im Schrank hängen hat, verlaß dich auf mein Wort, selbst wenn sie mich für verrückt erklären sollte!« ...

Und Unkas arbeitete weiter auf der Spur, merkwürdigerweise aber nicht nach der Wiese zu, sondern immerfort im Hochwalde, immer weiter nach der entgegengesetzten Richtung, in der der Dokumentengraben lag, und der Alte wollte an ihm fast schon irre werden. Endlich nach ein paar tausend Schritten machte er rechtsum, zog auf die Wiese hinaus, dort aber schien er mit seiner Weisheit zu Ende zu sein. Schlug ein paar Bogen, kehrte um und setzte sich leise miefend vor seinem Herrn nieder. Und da war der Alte ordentlich froh, daß er auch einmal eingreifen konnte, denn vom Waldrande her führte in die Wiese ein leise rinnendes Abzugsgräblein, das der Kerl, um für alle Fälle seine Spur zu verwischen, sicherlich barfuß angenommen hatte.

»Siehst du, Unkas, jetzt tritt die sogenannte höhere und menschliche Intelligenz in ihre Rechte! Nach ein paar hundert Schritten werden wir die Stelle schon finden, wo er aus dem kalten Wasser wieder 'rausgeklettert ist! ... Und siehst du,« sagte er nach einer Weile, »hier hat er gesessen und sich die Stiebeln wieder angezogen. Das seh' ich nämlich, mein Sohn, an dem Abdruck seiner Hinterkeulen, und jetzt vorwärts!«

Es bedurfte der Aufforderung nicht mehr, Unkas hatte die Spur schon längst aufgenommen, arbeitete quer über die Wiese auf einen niedrigen Fichtenkopf zu und jetzt so eilfertig, daß sein alter Herr nur noch schwer gleichen Schritt halten konnte.

»Unkas, nicht so fix,« sagte er schnaufend, »und Unsinn, der Fichtenkopp stimmt doch nicht mit den letzten Bekenntnissen des alten Tyrol, der Kerl wird mich doch nicht sozusagen mit seinen letzten paar Atemzügen so gemein angeschwindelt haben? ... Aber freilich, auch von hier aus kann man Kirchturm, Mond und Morgenstern in eine Linie kriegen, fragt sich nur um das Datum der Betrachtung ... verflucht noch mal, der Kerl hat doch drin gesteckt und uns zu früh spitz gekriegt!«

Aus dem niedrigen Fichtengebüsch brach ein Mann in hellblau gestreifter Anstaltskleidung, rannte mit weitausgreifenden Sätzen über die Wiese nach dem gegenüberliegenden Waldrande zu; der Förster brauchte nur mit einem flüchtigen Blicke hinzusehen, um zu erkennen, daß es wirklich der Hufschmied Martschinowski war, der da um seine Freiheit rannte ...

»Unkas, faß, faß!«

Der Brave stürmte in langen Sätzen vorwärts, noch ein paar hundert Schritte und er hätte den Kerl gestellt, aber da hob das gefährliche Subjekt die Hand empor und etwas Blankes blitzte im Sonnenschein.

»Wollen Sie mit Gewalt Ihren Hund loswerden, Herr Förster? Und meinen Sie, ich genier' mich vielleicht?« schrie der Hufschmied mit zurückgewandtem Kopfe.

Da steckte der Förster Daumen und Zeigefinger in den Mund und stieß einen hallenden Pfiff aus. Unkas machte erst down, als hätte ihn mitten im Rennen eine Faust am Halsbande niedergerissen, sah sich nach seinem Herrn um und kehrte auf einen zweiten Pfiff gehorsam mit langen Sätzen zurück.

Der Kerl hatte weiß Gott recht! Den Hund nutzlos opfern, der ihm zehn Jahre lang und mehr ein treuer Gefährte gewesen war? Nicht um alle Dokumente der Welt! Lieber machte er sich schon selbst auf das Rennen, obwohl der andre ausgeruhte Beine hatte und die eignen zweihundertundachtzig Pfund, die schweren Jagdstiefel und Kleider gar nicht gerechnet, nicht gerade wie ein Gummiball über den weichen Wiesenboden zu treiben waren. Aber haben mußte er den Kerl, also vorwärts! ...

Und drei-, vierhundert Schritte im Galopp hielt er aus, dann aber mußte er das Rennen aufgeben; die Beine hätten schon noch länger vorgehalten, aber der Atem reichte nicht! Also was blieb übrig? Dem Kerl eine Kugel nachschicken, natürlich in die Gegend der Beine! Und hinterher sechs Wochen ehrenvollen Brummens im Allenberger Gerichtsgefängnis, denn die Herren von der Strafkammer waren manchmal komisch. Der Fall paßte leider nicht in die Verordnung über den Gebrauch der Schußwaffen, denn ein vergrabenes Dokument war kein gewilddiebter Rehbock, und er konnte dem hohen Gerichtshöfe doch nicht durch einen eigens zu diesem Zwecke arrangierten Wettlauf beweisen, daß ein dürrer Hufschmied weniger Fett am Herzen und flinkere Beine hatte, als ein in Ehren und Bequemlichkeit korpulent gewordener Beamter? ... Und er hob das Gewehr, zielte sorgfältig ... der Kerl sah sich um und warf sich platt auf den Boden ... um so besser, dann sollte er auch ganz sicher seine Kugel in die Waden kriegen!

»Paksch,« sagte der Büchsenlauf an seinem Drilling, und er brauchte ihn erst gar nicht aufzuklappen, um zu wissen, daß er das Laden vergessen hatte. Aber das kam davon, wenn man mit so einem kleinen Frauenzimmer auf die Birsch ging, dem die Plappermühle nicht stillstand. Unterdessen war der Kerl, der ihn mit zurückgewandtem Gesicht beobachtet hatte, natürlich wieder aufgesprungen und lief in gemütlichem Trab dem Waldrande zu.

»Herr Förster, das nächste Mal, wenn Sie auf mich schießen wollen, vergessen Sie die Patronen nicht!« schrie der Hufschmied zurück, und da erst merkte der Alte, wie unbedacht er sich verraten hatte. Hatte sich nach dem Versager hastig die Taschen befühlt und, als er auch dort nichts fand, was einer Patrone ähnlich sah, wahrscheinlich ein arg betroffenes Gesicht gemacht! Aber auch das kam nur von dieser verdammten Übereilung. Hätte die Baroneß nicht schon beim Mittagessen sagen können: Sie, Ahrens, halten Sie sich parat, heute abend will ich einen Bock schießen? Statt dessen war Hals über Kopf der Befehl gekommen: Rasch, machen Sie sich fertig, Herr Förster, in einer Viertelstunde holt die Baroneß Sie zum Birschen ab! Man selbst aber war noch im Sonntagsgewand, dachte an nichts Böses und wollte sich mit Frau und Tochter in aller Gemütlichkeit gerade an den Kaffeetisch setzen... Der Hufschmied Martschinowski hatte beim Laufen und Rückwärtsschauen einen Rumpler gemacht, wälzte sich im Überschlag auf der Wiese, im nächsten Augenblick aber lief er heil weiter und setzte sich dann auf einen breiten Stubben nieder.

»Herr Förster,« schrie er höhnisch herüber, »wenn Sie sich verpustet haben, können wir ja wieder mit Wettlauf loslegen!«

Da packte den Alten ein gewaltiger Ingrimm. Erst tat er so, als wenn er seinen Drilling umständlich laden würde, dann spannte er die Hähne und ging, das Gewehr anscheinend schußfertig, auf den Frechen los. Vielleicht ließ er sich verblüffen, und wenn er ihn erst auf Armeslänge hatte, war alles in Ordnung. Einen ungewechselten Fünfdahlerschein zwischen die Augen, und für die nächste Viertelstunde sagte der andre nur babb!

Der Hufschmied erhob sich und lachte laut auf.

»Herr Förster, meinen Sie, ich hab' drüben das Sehen verlernt? Und bilden Sie sich vielleicht ein, Sie könnten mir mit der ungeladenen Ofenschaufel da Angst einjagen? Jetzt aber nicht näher heran, sonst knallt es bei mir!« Und wieder hob er das blanke Ding in seiner Rechten in die Höhe.

Da verlegte sich der Alte aufs Parlamentieren.

»Martschinowski, so nehmen Sie doch Vernunft an. Das Ganze ist nur ein Mißverständnis, wären Sie nicht so blödsinnig gelaufen, war' ich Ihnen nicht nachgerannt. An Ihrer Person liegt mir gar nichts, nur an Ihren Wissenschaften. Zeigen Sie mir die Stelle, wo der Kasten vergraben liegt, und Sie sollen nicht bloß frei ausgehen, sondern von der Baroneß sogar noch 'ne Belohnung kriegen!«

»Na schön, dann gehen Sie, Herr Förster, man ruhig nach dem Schloß und holen Sie zehntausend Dahler und 'n Spaten. Unter dem tu' ich's nicht. Wenn Sie selbst aber auf die Idee kommen sollten, sich die Belohnung zu verdienen ... in dem Fichtenkopp hab' ich nur ein Mittagsschläfchen gehalten, die Truhe liegt ganz wo anders.«

Jetzt bist du der Dumme gewesen, mein Sohn, brummte der Alte, ich weiß Bescheid! Laut aber sagte er: »Also gut, ich will zusehen, ob sich die Baroneß zu der Summe verstehen wird. Warten Sie hier auf mich, in einer knappen Stunde bin ich wieder zurück!« Und er wandte sich, schritt quer über die Wiese nach dem gegenüberliegenden Rande des Hochwaldes, verschwand zwischen den Stämmen und machte linksum. Als er aber den drüben noch immer auf dem Stubben sitzenden Hufschmied und die Fichtendickung in einer Linie hatte, duckte er sich und begann auf allen vieren einen gar beschwerlichen Birschgang. Der Schweiß troff ihm von der Stirn, sein alter Jagdkittel war zum Auswinden naß, aber es verschlug ihm nichts. Wenn je, dann war er heute auf der richtigen Fährte. Aber erst nach dem Schloß laufen, Alarm schlagen und bei der Rückkehr das kostbare Nest natürlich leer finden ... dazu mußte sich Herr Martschinowski schon einen Dümmeren aussuchen! ...

Die beiden Verschworenen, Hans Haffner, der Maler, und der Baron von Linde, waren schon eine ganze Weile im Walde unterwegs. Der Maler mit einem derben Knotenstock in der Hand, das unvermeidliche Skizzenbuch unter dem Arm und den breitrandigen Kalabreser auf die Locken gedrückt, der Klein-Lipinsker aber in einem verschlissenen Lodenkittel, hohe Jagdstiefel an den Beinen und über dem Rücken die einläufige Mauserbüchse. Hans Haffner hatte fragen wollen, ob er sich nicht auch lieber mit einer besseren Waffe hätte versehen sollen, als seinem alten Knotenstock, falls es nämlich zu einem derben Handgemenge käme bei dem Überfall, der doch unzweifelhaft geplant würde, aber sein Mäcen und Genosse sagte »pst« und legte warnend die Hand auf den Mund. Da schwieg er wieder, obwohl es ihm sauer genug ankam, denn gerade heute hatte es nach langer Kühle den ersten herrlichen Frühlingsabend gegeben, und alle paar Dutzend Schritt war etwas Köstliches zu schauen, worüber er seinem entzückten Malerherzen gern Luft gemacht hätte. Da stand in verschwiegener Schneise ein schlankes Reh, scharf zeichnete sich der emporgeworfene Kopf mit den beweglichen Lauschern gegen den dunkeln Hintergrund ab, aber der Klein-Lipinsker schenkte dem reizvollen Bilde kaum einen flüchtigen Blick, schritt schweigend weiter. Oder durch die hohen Kiefern schoß plötzlich von der schrägstehenden Sonne ein Bündel goldener, warmer Strahlen, malte allerhand seltsame, bald blau, bald tief bronzefarben schimmernde Lichter auf die zarten Blätter der Lindenbüsche, die den Weg säumten. Und sonst waren sie bei einem solchen Anblick stehen geblieben, und er hatte seinem Begleiter erklärt, weshalb die modernen Maler die Bäume nicht ewig grün malten. Nicht weil sie übergeschnappt wären, wie die große Masse der Banausen meinte, sondern weil sie begnadete Augen hatten, vor denen die große Zauberin da oben am Himmel all ihre Geheimnisse entschleiern müßte. ... Bei diesem Unterrichte hatte sein Mäcenas mit der Zeit etwas gelernt, fing an, durch die Brille seines Lehrmeisters zu schauen, und machte ihn schon ab und zu bei einem gemeinschaftlichen Spaziergange auf solche seltsamen, dem gewöhnlichen Auge unsichtbaren Farbenspiele aufmerksam. Heute aber schritt er achtlos daran vorüber, trieb so eilends vorwärts, daß der Maler Mühe hatte, gleichen Schritt zu halten, obwohl seine Beine auch nicht gerade zu den kürzesten gehörten ...

Endlich, der Hochwald zur Linken ging in eine etwa zwanzigjährige Tannenschonung über, während sich rechts vom Wege eine weitläufige Erlenpflanzung dehnte, durch deren Mitte ein leise murmelndes Bächlein zu den Wiesen floß, blieb der Klein-Lipinsker stehen und deutete mit der Hand nach dem Grunde.

»Da kommt der Wechsel entlang, und hinten im Bruch hat er sein Lager,« flüsterte er leise.

»Wer ›er‹,« versetzte der Maler ebenso, »ich denke doch, es handelt sich um eine ›sie‹, die wir verärgern wollen?«

»Mensch, Professor und Maler, weißt du denn nicht, was heute für ein Datum ist? Der erste Mai!«

»So, so,« sagte Hans Haffner, »der erste Mai! Dann hätten wir aber doch mindestens eine rote Fahne mitnehmen sollen und müßten im geeigneten Augenblick die Marseillaise anstimmen. Wenn sie als Agrarierin stockkonservativ gesonnen ist, tut sie uns vielleicht den Gefallen und ärgert sich ein bißchen darüber!«

Der Klein-Lipinsker mußte wider Willen auflachen.

»Unverbesserlicher Faxenmacher! Aber jetzt paß auf. Da unten im Grund läuft der Wechsel des Grenzbockes, das heißt der Weg, den er jeden Abend und Morgen macht, wenn er auf die Groß-Lipinsker Wiesen zur Äsung zieht und wieder in mein kühles Bruch zurückwandert, um dort tagsüber zu faulenzen. Der alte Filou von Ahrens hat nämlich im vorigen Jahr auf den Wiesen ab und zu einen Sprenkel Weißklee gesät, aber es hat ihm nichts geholfen. Und dies Jahr ist das Zeug fortgewuchert bis in den Schonungswinkel hinein, der Bock braucht nur die Nase 'rauszustrecken, um gleich am Rande die leckerste und süßeste Äsung zu finden.«

»Na schön, aber ich versteh' noch immer nicht, wie die Baroneß Elsbeth sich darüber ärgern soll, daß der Bock ihr den Weißklee wegfrißt. Sie selbst reflektiert doch nicht darauf, denn meines Wissens ist sie keine Vegetarianerin!«

»Du hast schon bessere Witze gemacht, Meester,« sagte der Klein-Lipinsker ein wenig ärgerlich. »Aber jetzt komm, wollen in Deckung gehen, es wird die höchste Zeit.« Und er führte nach einigem Wählen den Maler hinter einen niedrigen Lindenbusch zur Seite des Weges, von dem aus man einen bequemen Überblick über den Erlengrund hatte. Dort legte er sich längs auf den Leib, hieß den Maler ein Gleiches tun und suchte für seine aufgelegte Büchse einen bequemen Stützpunkt.

So lagen sie eine ganze Weile lang schweigend. Der Klein-Lipinsker verwandte kein Auge von dem Erlengrund, Hans Haffner aber hatte leise sein Skizzenbuch aufgemacht und zeichnete die landschaftliche Szenerie; wenn das Ereignis kam, mit dem die junge Schloßherrin von Groß-Lipinsken angeärgert werden sollte, brauchte er es nur aus dem Gedächtnis in den fertigen Hintergrund einzutragen. Und als er aus Langeweile schon den Baumschlag genauer zu zeichnen anfing, als für einen Hintergrund eigentlich notwendig gewesen wäre, entschloß er sich endlich zu der wispernden Frage: »Euer Hochwohlgeboren werden entschuldigen, aber auf wen warten wir denn eigentlich?«

»Na, auf den Grenzbock natürlich,« gab der Klein-Lipinsker ebenso zurück, »und heute muß er 'ran. Hab' sonst nie einen vor dem zwanzigsten umgelegt, aber sie spitzt sich schon den ganzen Winter darauf, also wird er ihr heute totgeschossen!«

»Und du glaubst wirklich, daß sie sich drüber ärgern wird?«

»Na und ob! Das Mädel hat ja Passion, und seit heute nachmittag weiß ich's genau, wie es damit angefangen hat. Aber das ist eine lange Geschichte, ich erzähl' sie dir vielleicht ein andermal. Und heute abend noch kriegt sie das Gehörn zur Ansicht geschickt – verlaß dich drauf, sie geht in die Luft, weil sie die Ironie erkennen wird, die darin liegt.«

»Na, wenn du nur davon überzeugt bist!«

Danach schwiegen sie wieder eine ganze Weile lang, bis der Maler es vor unterdrücktem Mitteilungsbedürfnis nicht mehr aushielt.

»Du, Adalbert?« fragte er leise.

»Na, was denn schon wieder?«

»Also, daß man auf der Jagd den Mund halten muß, hab' ich begriffen. Aber das Mückengeschmeiß frißt einen fast auf, und da wollte ich gehorsamst fragen, ob man sich nicht wenigstens eine brennende Zigarre in den schweigsamen Mund stecken dürfte!«

Der Klein-Lipinsker benutzte die Gelegenheit, um die steif werdenden Glieder möglichst geräuschlos in eine bequemere Lage zu bringen.

»Um Gottes willen und nicht zu machen. Wir liegen sowieso schon nicht im allerbesten Winde, und meine Hoffnung ist, daß der Bock hier im Waldinnern nicht so scharf windet wie draußen, daß er ein bißchen vertraut angeländert kommt.«

»So so,« sagte der Maler, »und dann lassen wir's eben. Aber um mich geht mir's dabei nicht so, ich wisch' mir das Zeug schon aus dem Gesicht, und im Nacken schützt mich meine Mähne. Ich frage mich nur die ganze Zeit über, wie groß dein Haß sein muß oder deine Liebe, was dasselbe sagen will, wenn du es nämlich nicht merkst, daß sich jetzt schon die zwölfte Mücke an deinem braunen Nacken sattgetrunken hat, ohne daß du auch nur einmal gezuckt hättest. Ich hab' sie genau gezählt, und ich glaube, eine erzählt es der andern. Vielleicht aber sind etliche auch schon ein paarmal gekommen, bestimmt kann ich's nicht sagen, denn an den Gesichtern sind sie leider nicht zu unterscheiden.«

Der Klein-Lipinsker faßte sich ins Genick.

»Wahrhaftig, du hast recht, es fängt an zu jucken. Außerdem fang' ich an zweifelhaft zu werden, ob der Bock nicht am Ende schon durch ist, und wir hier umsonst liegen. Aber warte, das werden wir gleich haben. Nur eins sag' ich dir, Meester, sollte in meiner Abwesenheit der Bock im Erlengrund auftauchen, nicht etwa schreien und pfeifen. Ich pass' selber auf, und wie er auch kommt, er muß mir vors Rohr geraten. Und du schwörst mir, dich nicht vom Platze zu rühren, denn sieh, Meester, 'ne Büchsenkugel ist härter als Menschenfleisch, und wenn ich nicht genau weiß, wo du bist, kann ich nicht schießen!«

»Ich schwöre!« sagte der Maler. »Außerdem aber würde es dem Zwecke der Übung nicht ganz entsprechen. Über mich würde sich unsre holdselige Gegnerin nicht ärgern, wenn ich auf der Strecke bleiben sollte. Ganz abgesehen davon, daß ich kein Gehörn trage, das du ihr heute abend zur Ansicht nach Groß-Lipinsken schicken könntest!«

»Faxenmacher!« lachte der Klein-Lipinsker halblaut und trat mit einem langen, geräuschlosen Schritte über den Graben, verschwand im Dunkel der Schonung. Hans Haffner aber blieb allein zurück, nahm sich zunächst vor, dem Rehbock, falls er im Erlengrunde erschiene, ein deutliches Zeichen zugeben: Kehr um, alter Freund, da hinten lauert einer auf dich, um dich totzuschießen, wenn du selbst aber auch nur eine Spur von Dankbarkeit im Busen hegst, komm morgen vormittag hierher, damit ich dich abzeichnen kann; dann aber versank er in ein frühlingsseliges Träumen. ... Sein Bild war fertig, hing in der Ausstellung, an einer großen Wand für sich allein, davor aber drängte sich eine entzückte Menge, und bewundernde Ausrufe wurden laut. Sehen Sie mal, wie das in der Luft steht, wie das lebt! ... So hat noch kein Mensch Füllen gemalt ... sehen Sie doch bloß den Schimmelhengst an der Spitze ... i bewahre, der Braune, der sich in der Mitte bäumt, ist ja noch viel prächtiger ... und dann den wunderbaren Beleuchtungseffekt ... der Schatten der ziehenden Wolke, der über einen Teil der Herde fällt ... wahrhaftig, wenn je ein Erstlingswerk die goldene Medaille verdiente, dann dieses!... Er aber stand mit der kleinen Fränze in einer Ecke, hörte zu und sagte: Ja, Baroneß, wenn ich das Bild da ein Jahr früher fertig gehabt hätte! Aber reden wir nicht davon, Sie sind ja Frau von Mechow und so weit ganz glücklich. ... Ich aber damals? Ein »Faxenmacher«, wie mich der Herr von Linde nannte, gut genug, um ihnen allen mit Spaß und Kurzweil die Zeit zu vertreiben, und Sie hätten mich ja nur ausgelacht, wenn ich gesagt hätte, meine Hoffnungen und mein Können sind mehr wert, als ganz Mechowen und Lipinsken zusammen! ... ›Wann's gar koan Geld mehr hain, gehn's an die Eisenbahn, da komm'n noch mehr z'samm, die a koans ham,‹ hätten Sie vielleicht damals gesagt, und mit Recht, aber heute gilt das nicht mehr. Zwanzigtausend Mark sind mir schon für meine ›Jugend‹ geboten, aber fällt mir nicht ein ...

»Meester,« sagte der Klein-Lipinsker plötzlich neben ihm, »nimm's mir nicht übel, aber du bist übergeschnappt. Jeden Augenblick kann der Bock kommen, und du singst Schnadahüpfeln?«

So geräuschlos war er zurückgekehrt, daß der Maler ihn erst gewahr wurde, als er sich schon auf seinem alten Platze ausstreckte.

»Ach so ja, und entschuldige. Ich war eben dabei, einen Wechsel auf die Zukunft zu ziehen, und da hatte ich die Gegenwart ganz vergessen. Aber weshalb meinst du, daß der Bock jetzt jeden Augenblick kommen wird? Habt ihr euch in der Schonung getroffen und verabredet?«

»Ne, mein Junge, noch besser! Meine schöne Cousine treibt ihn uns höchstselbst und persönlich zu!« Und als der Maler darauf ein Gesicht machte, als zweifelte er an seiner Zurechnungsfähigkeit, rückte der Klein-Lipinsker Schulter an Schulter. »Also denn hör zu,« wisperte er leise, »und wenn ich zu Ende bin, dann darfst du ›Hurra‹ denken, aber beileibe nicht schreien. Sie selbst ist nämlich auf den Bock unterwegs, und jetzt kriegt der Spaß erst recht seine Würze!«

»Ach ne,« sagte Hans Haffner, um überhaupt etwas zu sagen, was wie Anteilnahme klang, denn ihm waren schon längst starke Zweifel an dem Erfolge ihrer Unternehmung aufgestiegen.

Der Baron von Linde rückte noch näher, und seine blauen Augen blitzten ordentlich vor Jagdeifer, Schadenfreude und Erwartung.

»Verlaß dich drauf, Meester, ich hab' sie ja selbst gesehen!... Also ich schieb' mich in der Tannenschonung vorwärts, lautlos natürlich, mein Junge, denn Bockbirschen hab' ich ausgelernt, steck' die Nase zwischen zwei niedrigen Tannen ins Freie und richtig, der Bock steht schon draußen! Daß dich der Satan, denk' ich, wir sind zu spät von Hause weggegangen. Und auf sechzig Gänge stand er breitseit, ich hätte ihn mit der Mütze totschmeißen können! Da stieg mir der helle Zorn ins Gesicht, daß auch diese Invite verfehlt sein sollte und alles, was ich mir so schön ausgedacht hatte, und hol's der Henker, sagte ich mir, es wird gewilddiebt! Will schon das Schießeisen an die Backe nehmen, aber da fällt mir's ein, holla, erst mal nachsehen, ob auch die Luft rein ist. Also ich heb' das Glas hoch, durchmuster' die Groß-Lipinsker Waldlisiere und richtig, weit drüben am Ausgang des Wiesengestells sitzt der alte Ahrens mit seinem Unkas, steckt sich gerade die Pfeife an. Na, und da ich ja nicht gerade zu den Minderbegabten gehöre, lag alles andre auf der flachen Hand. Nach zwei Minuten hatte ich meine schöne Cousine spitz, wie sie in ihrem verunglückten Dokumentengraben entlang länderte. Und stellte sich gar nicht so dumm an, hob nur alle paar hundert Schritte das Hütchen mit der Spielhahnfeder über den Rand, jedesmal wenn sie an einem Erdklumpen eine genügende Deckung hatte, arbeitete auch nicht mit dem Glas, um den Bock nicht durch eine Sonnenspiegelung unnütz rege zu machen, also allerhand Hochachtung, hat beim alten Ahrens was gelernt. Na, und da schob ich mich beruhigt rückwärts. Es gab zwar einen leisen Knacker, denn der linke Fuß war mir beim langen Stehen eingeschlafen, aber der Bock nahm's weiter nicht übel, machte nur ein paar Fluchten in die Wiese hinaus und beruhigte sich dann wieder. Aber, Meester, ist das ein Kerl!« ... Er faßte den Maler in die Schulter und drückte ihn heftig. »Das Gehörn schon ganz gefegt, mindestens fünfunddreißig Zentimeter hoch, Perlen wie Knappe so dick, in der Auslage Die Entfernung zwischen den obersten Enden. breiter als ich spannen kann, und regelmäßig, als hätt' ihn ein Drechsler gemacht. Das Herz schlug mir bis in den Hals, mein Junge, als ich ihn mir so in Muße betrachtete, und ich sag' dir, kein zweiter wird in gleicher Herrlichkeit dies Jahr in preußischen Wäldern gestreckt. Das gibt den ersten Schild auf der nächsten Geweihausstellung!«

»Für wen?« fragte der Maler.

»Hier, mein Junge, von dieser Büchse fällt er, noch heute abend!«

»Na, und wenn ›sie‹ ihn kriegt?«

»Ausgeschlossen, ganz aus–ge–schlossen! Keine Möglichkeit, auf Schußweite 'ranzukommen, ich hab' mir die Gegend ganz genau angesehen. Versuchen wird sie's natürlich, aber nur um so besser! Darauf baut der sogenannte menschliche Verstand ja seinen Plan: Sie macht ihn rege, er aber prescht davon, schwenkt in seinen Wechsel ein und kommt hier vorbei. Egal, in welchem Tempo, da unten, wo das, Wässerlein rinnt, wird er krumm und geht koppheister. Vorbeischießen gibt's ja nicht! Nur einen Dahler gab' ich drum, ihr Gesicht zu sehen, wenn's hier knallt und ich schrei' tallihoh!«

»Gib her,« sagte der Maler, »und ich tu' dir den Gefallen. Schleich' mich an sie und zeichne sie im entscheidenden Moment porträtähnlich ab!«

»Stille jetzt und Schluß mit den Unterhaltungen,« erwiderte der Baron von Linde, »es dauert keine fünf Minuten mehr, dann kommt er!« ...

Und Hans Haffner schwieg gehorsam, denn er mochte sich hinterher nicht den Vorwurf machen lassen, er hätte durch unzeitgemäßes Schwatzen den sonst sicheren Erfolg verdorben. Noch vom alten Ahrens wußte er ja, wie sehr die Jäger dazu neigten, einen Mißerfolg fremden Leuten in die Schuhe zu schieben. Wenn es glückte, hatten sie natürlich das Verdienst und rühmten sich laut, im entgegengesetzten Falle aber verfügten sie über mehr Ausreden, als des Teufels Großmutter ...

Aber aus den fünf Minuten wurde eine Viertelstunde, eine zweite reihte sich an die erste, und nichts regte sich in dem Grunde, in dem das Wässerlein leise murmelnd talwärts floß, den »feindlichen« Wiesen zu. Schon begann es unter den hohen Stämmen zu dunkeln, Hans Haffner wollte gerade fragen, ob es nicht an der Zeit wäre, heimzugehen, weil im Dunkeln nur die Katzen etwas sehen könnten, als plötzlich, ratsch, der reißende Knall eines Büchsenschusses durch den Abendfrieden brach. Von den Groß-Lipinsker Wesen her! Ein Krähenschwarm stieg schimpfend und krächzend aus den Wipfeln der hohen Kiefern, ein paar Nußhäher flogen mit ihrem mißtönenden Brex, Brex von Stamm zu Stamm, und eine aus dem Schlafe gestörte Singdrossel huschte mit leisem Aufziepen über den Weg.

Hans Hassner richtete sich auf den Ellbogen auf.

»Na, Adalbert, was sagst du nun? Und dein Gesicht, bitte, damit ich's für die Nachwelt verewigen kann. Als Unterschrift: Der Lohgerber Marius auf den Trümmern Karthagos!«

»Unsinn,« sagte der Klein-Lipinsker etwas gereizt, »vorbeigeschossen! Hab' wenigstens keinen Kugelschlag gehört, das Fräulein wird – versuchsweise – auf tausend Meter mal hingefunkt haben! Aber jetzt down and whist ... jetzt geht's los!« Und seine Rechte spannte sich fester um den Kolbenhals.

Ein Knacken und Brechen im Tannenunterholz, die alte Ricke preschte vorüber, verschwand zwischen den jungen Erlen, gleich dahinter das Schmalreh, dann eine ganze Weile Schweigen, und schließlich ein unsicheres Trappen, dazwischen ein dumpf gurgelndes Geräusch, fast wie Husten aus einer todkranken Menschenbrust. Noch einmal ein Knacken von gebrochenen dürren Ästen, ein letzter Satz über den Graben, ein Torkeln und Schwanken, mitten auf dem Wege brach der brave Bock zusammen. Der Baron von Linde grub die weißen Zähne in die Unterlippe.

»Verdammt noch mal, sie hat ihn erwischt! So ein Mädel, so ein Frauenzimmer, ein schneidiges! Aber der Deuwel soll mich reiten, schockmillionenmal, wenn sie das Gehörn ausgeliefert kriegt. Nicht um alle Länder, die das Meer umspült!«

Hans Haffner wollte aufspringen, um dem armen Tier irgendwie zu helfen, aber die eiserne Faust des Klein-Lipinskers drückte ihn zu Boden.

»Nicht einen Schritt vorwärts! Und keinen Laut! Wenn wir ihn jetzt hochmachen, rennt er noch zweitausend Meter, ohne einen Tropfen Schweiß zu verlieren, wir aber können uns totsuchen und finden ihn nicht. So aber? Zehn Minuten und es ist vorbei. Hörst es nicht? Weidwund und die Lunge angekräpelt ... da sitzt die Kugel!« Und er stieß den Maler mit dem Zeigefinger in der Gegend der Kurzrippen in die Seite.

»Kann's mir schon denken,« sagte der Maler, und seine Stimme klang ein wenig heiser, »das mag vom weidmännischen Standpunkt alles sehr richtig sein. Aber was für ein grausames Volk seid ihr doch, ihr Jäger?!« ...

*

Solange der alte Ahrens ihr nachblicken konnte, war Elsbeth von Linde aufrecht und so recht keck einhergeschritten, hinter der ersten Biegung des Birschsteiges aber setzte sie sich auf einen vermorschten Kiefernstubben, schlug die Hände vors Gesicht und weinte sich noch einmal gründlich aus, gründlicher als am frühen Nachmittag, wo die kleine Fränze sie wieder einmal in ihrem Schmerz gestört hatte.

Also jetzt war es ganz aus und zu Ende, unwiderruflich! Morgen wurde gepackt und gereist, irgendwohin, nach Wiesbaden oder Paris, ganz egal wohin, nur allein sein und endlich Frieden finden. Nicht mehr diese entwürdigende Doppelexistenz führen, tagsüber die Gleichgültige, Gelassene und Heitere spielen, in den langen Nächten aber die Kopfkissenbezüge naß weinen, die Zipfel der Bettdecke zerbeißen, nur damit die nebenan schlafende kleine Schwester nicht herüberkam, um sie mit einer unerträglich süffisanten Miene zu trösten. Ganz als wenn sie immer sagen wollte: Geh', hab' dich doch nicht so, deine Schmerzen sind zu kurieren, der Doktor wohnt nur eine kurze Meile weit fort, und in ein paar Wochen ist alles gut! Heute nachmittag hatte sie sich sogar die Äußerung erlaubt: »Weißt du, Elsbeth, was unsre alte Kinderfrau in einem solchen Falle gesagt hätte? ›Schlaf, Baroneßko, schlaf! Bis zukünftige Mann deinige nächste Paar Hosen zerrissen hat, is alle wieder gut!‹›« Daraufhin hatte sie die Kleine natürlich gehörig in ihre Schranken verwiesen, daß sie noch immer des nötigen Ernstes entbehre, um ein wirklich tragisches Schicksal zu begreifen, dann aber es aufrichtig bedauert, sie zur Vertrauten gemacht zu haben. Denn die Kleine erwiderte schnippisch: »Ach, sei froh, Elsbeth, deiner kann wenigstens reden! Aber der meinige? Gott erbarm sich, dem muß ich die Liebeserklärung, glaub' ich, soufflieren, und dann noch bin ich nicht sicher, ob er sich nicht verheddert und stecken bleibt!« Da war sie natürlich sehr zornig geworden: »Fränze, ich denke, du hast doch geschworen?« Und weil die Kleine ein so merkwürdiges Gesicht machte, als wenn solche Eide unter Schwestern wenig Geltung hätten, hatte sie ihr unter verschärften Formen eine Wiederholung der damals beschworenen Gelöbnisse auferlegt, selbst aber dabei das seltsam zornige Empfinden gehabt: Wär' damals der erste Schwur nicht gewesen, und hättest du mich heute nachmittag nicht immerfort so merkwürdig komisch angeguckt, wäre vielleicht alles ganz anders gekommen! Dann wäre ich dem bösen Vetter gegenüber viel freier gewesen, hätte ihm – unbeschadet aller sonstigen, aus dem Prozesse entstandenen Gegnerschaft – die erbetene Unterredung unter vier Augen gewährt, und wer mag wissen, was er mir alles zu sagen gehabt hätte, während er in eurer Gegenwart sich natürlich die äußerste Reserve auferlegen mußte. Und ob er auch nur noch mit dem Schatten eines Gedankens an dieses »kleine blonde Pussel« gedacht hätte, wenn ich in der erbetenen Unterredung ihm auch nur um Fingersbreite entgegengekommen wäre und hinterher nur eine halbe Stunde lang die freundliche Wirtin gespielt hätte! ... Und überhaupt, so sage ich euch, er ist gar nicht verlobt! Meine Liebe hat eine brennende Lohe um ihn errichtet, die keine andre durchschreiten kann ... ausgeschlossen, unmöglich, unmöglich! ...

Und an diese törichte Hoffnung hatte sie sich geklammert, auch, nachdem von seinen Lippen die geringschätzigen Worte gefallen waren: »Mein Fräulein, ich habe Sie überschätzt!«... Eigentlich eine gar nicht mehr wieder gut zu machende Beleidigung, aber – wenn sie ehrlich gegen sich selbst sein wollte – hatte sie denn etwas Besseres verdient? Kein Wunder, daß er nach allem von seiner Seite bewiesenen Entgegenkommen zu diesem vernichtenden Urteil kam, denn unter all den lähmenden Einflüssen hatte sie sich wirklich benommen wie ein törichtes Gänschen! ...

Aber jetzt noch darüber zu grübeln, was alles hätte kommen können, wenn's eben nicht anders gekommen wäre, war nutzlos. Ein zweites Zusammentreffen, bei dem sie den ersten, so ungünstigen Eindruck ins Gegenteil hätte verkehren können, war ausgeschlossen und an der Tatsache, daß Adalbert von Linde wirklich verlobt war, nicht zu zweifeln. Der alte Ahrens hatte es ihr ja vor kaum einer halben Stunde bestätigt. Ein Glück nur, daß der Alte in seiner Harmlosigkeit gar nicht gemerkt hatte, daß sie den Birschgang nur arrangierte, um von ihm endlich eine ordentliche Antwort auf diese Frage zu erhalten, die ihr seit Wochen schon die Ruhe und den Schlaf raubte. Umsonst hatte sie sich ja in dieser Zeit nicht in allen Künsten der Heuchelei und Verstellung geübt! ... Wenn sie morgen abreiste, wußte kein Mensch außer Fränzchen, wie es eigentlich in ihrem Innern aussah, die aber hatte ja in der feierlichsten Form Verschwiegenheit gelobt, war erforderlichen Falles dazu bereit, unter ganz und gar unverbrüchlichen Formen noch einen dritten Eid auf unbedingte Verschwiegenheit zu leisten. Vielleicht, daß sie ihr, als Gegenleistung gewissermaßen, die Verpflichtung erließ, ebenfalls ledig zu bleiben, und ihr gestattete, den langen Hans Heinrich zu heiraten ...

Und die beiden mochten dann – was man so nannte – glücklich miteinander werden, als ihre Erben den Prozeß mit dem Vetter Adalbert ausfechten und auf Groß-Lipinsken hausen. Sie selbst aber, nachdem sie unter fremden Menschen und in fernen Ländern Vergessenheit gefunden hätte, wollte nur noch zu einem einzigen kurzen Besuche in die Heimat zurückkehren, nämlich, um zu hören, wie kreuzunglücklich der Klein-Lipinsker Vetter mit seinem blonden, kleinen und ach so hausbackenen »Pussel« geworden war, und dann befriedigt wieder von dannen ziehen ... denn, daß er mit dieser Person, die da irgendwo hinter Königsberg her war, keine glückliche Ehe führen konnte, lag auf der Hand. Ein Mann wie er konnte doch unmöglich auf dem kläglichen Standpunkte bleiben, daß die richtigen sechs Kaddickbeeren an der Soße des Sonntagshasens das Ideal einer glücklichen Ehe darstellten!...

Und vielleicht erwiderte sie ihm dann den heutigen Besuch, zeigte sich in ihrem ganzen Glanze als Weltdame, führte eine so geistvolle Unterhaltung, daß das blonde Pussel neben ihr ganz im Schatten verschwand, und gab ihm auf irgend eine Weise zu erkennen, welch ein Glück er sich damals verscherzt hätte! Das sollte dann ihre schmerzlich-süße Rache sein! ...

Ehe sie aber die nun unumstößlich beschlossene Reise antrat, mußte noch irgend etwas geschehen, damit er sie auch in der Zwischenzeit nicht aus dem Gedächtnisse verlor, irgend etwas, das ihn in seiner unerträglichen Selbstherrlichkeit und anmaßenden Überlegenheit so recht kränkte und ärgerte! Und da erst fiel ihr in all ihrem Kummer ein, daß der Birschgang, den sie halb und halb zu einem andern Zwecke unternommen hatte, dazu das geeignetste Mittel war. Den Grenzbock totschießen, auf den er seit sieben oder acht Jahren ebenfalls aus war, und ihm noch heute ohne eine Zeile der Erklärung das Gehörn zur Ansicht hinüberschicken! Er würde sie schon verstehen, denn er hatte ihr ja heute nachmittag deutlich genug gezeigt, daß er sich jenes Abends am Lipinsker See noch ebensogut entsann als sie! ... Und sie erhob sich elastisch, sah nach, ob ihr Drilling ordnungsmäßig geladen war, und machte sich eilends auf den vom alten Ahrens vorgeschriebenen Weg, fast unwillig, daß sie über diesem letzten Anfalle schwächlichen Wehleids so viel kostbare Zeit verloren hatte. Noch stand der Bock draußen, weit drüben am jenseitigen Wiesenrande, aber bis sie auf Schußweite herangekommen war, verging zum mindesten eine halbe Stunde, und wer mochte wissen, was in dieser langen Zeit alles passieren konnte? Vielleicht wurde der Bock durch irgend etwas beunruhigt, sprang ab, und ihr schöner Plan war verdorben, denn morgen reiste sie ja, unwiderruflich! ...

Also heute abend noch mußte er fallen, selbst wenn die Schwierigkeiten des Birschganges noch weit größer wären, als der alte Ahrens sie geschildert hatte. Um so größer war ja auch danach der Triumph!

Und zu Anfang ging alles wie am Schnürchen. Den langen Graben passierte sie ohne sonderliche Anstrengung, wenn auch der zähe Schlamm am Boden sich an ihre Sohlen heftete und durch das dünne Leder der Schuhe ihr die Füße netzte. Wer aber auf der Birsche war, durfte sich an solchen Kleinigkeiten nicht stören.

Von Zeit zu Zeit überzeugte Elsbeth sich durch einen vorsichtigen Ausblick, ob der Bock noch auf der Kleewiese äste, und beinahe wäre ihr das Herz vor freudigem Schreck stehen geblieben, denn ein paar Minuten lang sah es so aus, als wenn der Bock, durch irgendeine Ursache beunruhigt, geradeswegs auf sie loskommen wollte. Da hatte sie schon das Gewehr schußbereit auf ein paar Rasenstücke am Grabenrande gelegt, den Stecher am Abzug durchgedrückt, leider aber verhielt der Bock nach einem Dutzend langer Fluchten, fing wieder an zu äsen. Also weiter!

Drüben am andern Ende des Grabens nahm sie den geharkten Birschsteig an, ging dann noch ein paar hundert Schritte auf weichem Wiesenboden, durch eine vorspringende Ecke der Klein-Lipinsker Tannen gedeckt, von dort aus aber mußte dem Bock auf irgend eine Weise beizukommen sein. Sei es, daß sie nach der Weisung des alten Ahrens in guter Deckung abwartete, bis sich der Bock zu ihr heranäste, oder den Versuch machte, ihn auf der offenen Wiese anzukriechen. Und so schwer, wie der Alte ein solches Unternehmen immer geschildert hatte, konnte es sicherlich nicht sein. Er freilich mit seiner massigen Figur brauchte einen ganzen Graben, um sich darin zu bergen, sie aber schlich sich im Notfalle in einer schmalen Furche an, denn schlank war sie ja, Gott sei Dank, viel schlanker sicherlich als das berühmte blonde Pussel. Der Ausdruck »Pussel« allein deutete ja schon darauf hin, daß die Verhaßte von untersetzter, gedrungener Statur war. Außerdem hätte sie darauf gewettet, daß sie große Füße hatte und watschelte. Das taten alle diese dicken und blonden Frauenzimmer! ...

Die letzte vorspringende Ecke der Klein-Lipinsker Tannen war erreicht, Elsbeth hatte sich auf den Boden gelegt und spähte unter einem überhängenden Aste vorsichtig auf die Wiese hinaus. Der Bock stand noch da, aber auf den ersten Blick erkannte sie, daß es keine Möglichkeit gab, auf Schußweite heranzukommen. Platter Wiesenboden, so eben wie eine Tischplatte, in dem niedrigen Klee aber hätte sich kaum ein Teckel verstecken können, geschweige denn ein ausgewachsener Mensch. Und der Bock äste nach der entgegengesetzten Richtung, immer weiter in die offene Wiese hinaus, rupfte ein paar Blättchen weichen Klees, hob jedesmal danach lauschend und sichernd den Kopf mit dem prangenden Gehörn und verhielt nicht einen Augenblick lang den Schritt, äste im Gehen, und wenn sie ihn durch das Glas betrachtete, konnte sie deutlich erkennen, wie er seine Lichter Augen. umherwandern ließ, selbst wenn er den Kopf auf die Äsung Nahrung gesenkt hielt, jeden Augenblick bereit, auf das geringste verdächtige Anzeichen hin in langen und hastigen Fluchten davonzupreschen.

Da füllten sich ihre Augen mit zornigen Tränen, sie verdunkelten ihr den Blick, und ordentlich ein grimmiger Haß stieg in ihr auf gegen diese, doch ihr gehörige Kreatur, die ihr, der Herrin von ganz Groß-Lipinsken, den so gut angelegten Plan, boshaft sozusagen, verderben wollte. Und sie brachte die Büchse in Anschlag, visierte den Bock an, aber im selben Augenblicke sah sie schon, daß es ganz und gar ausgeschlossen war, die Kugel auch nur mit einer ganz winzigen Aussicht auf Erfolg anzutragen. Reichlich sechshundert Meter Entfernung, und wenn sie das linke Auge schloß, verschwammen die scharfen Umrisse, der Bock erschien ihr nicht größer als ihre Faust, und keine Möglichkeit, ein sicheres Abkommen zu finden ...

Da wollte sie schon den Birschgang abbrechen, um mit dem alten Ahrens zu überlegen, wie man dem Vorsichtigen beim nächsten Male besser beikommen könnte – im Notfalle konnte sie ja ihre Abreise um den einen Tag verschieben. Als sie aber noch einen Blick, den letzten, auf die Wiese hinauswarf und den langsam weiteräsenden Bock, erspähte sie einen schmalen Graben, gewissermaßen nur eine Flurgrenze, die quer von dem Dokumentengraben in die Wiese hinauslief und in einer flachen Bodenwelle endigte. Dünne Binsen und Schachtelhalm wucherten darin, scharf zeichnete sich der gerade Streifen in der Wiese ab, und sicherlich floß auf seinem untersten Grunde ein feuchtes Rinnsal, aber das mußte man in den Kauf nehmen, wenn es nur genügende Deckung gab! Und schon schob sie sich vorsichtig rückwärts, um das in der Nähe äsende Schmaltier nicht rege zu machen, lief unter den hohen Kiefern den Birschsteig im Laufschritt zurück, durcheilte den Dokumentengraben und nahm die Flurscheide an. Gott sei Dank, sie war breiter, als es den Anschein gehabt hatte, und die reichlich wuchernden Binsen gaben genügend Deckung! Da oben aber, hinter der flachen Bodenwelle halb verschwindend, äste der Bock! Und als sie zu erkennen glaubte, daß sie keinen andern Weg hatte, um auf Schußweite heranzukommen, beugte sie sich ohne Zaudern in das rieselnde Wasser, erst mit den Knieen bloß, als aber der Bock gerade nach der Seite des Dokumentengrabens äugte, mit dem ganzen Körper. Das Wasser war eiskalt, sie schüttelte sich fast vor Frost, als sie sich lang hineinlegen mußte, aber es half nichts, der Bock verwandte kein Auge von der merkwürdigen und auffälligen Erhöhung am Rande des Dokumentengrabens ...

Und es glückte! Hinter der weidmännischen Anstrengung kam die Belohnung: als sie am Ende des Rinnsals über der Erdwelle ganz sachte und vorsichtig den Kopf hob, äste der Bock auf kaum hundert Schritte Entfernung vor ihr, jede einzelne Perle an seinem stolzen Gehörn glaubte sie mit ihren scharfen Augen erkennen zu können. Und ganz vertraut äste er jetzt, denn der Wind stand gut, und er hatte natürlich keine Ahnung, daß mitten auf der anscheinend freien Wiese das verderbenschwangere Rohr auf ihn lauerte. Da rangen ein paar Augenblicke lang zwei gegensätzliche Gefühle in ihrer Brust: das Bedauern, das ahnungslose Tier aus dem Hinterhalte grausam töten zu müssen, und der Haß gegen den Klein-Lipinsker. Aber der Haß war stärker, und dazu kam noch das stolze Gefühl, eine weidmännische Leistung vollbracht zu haben, die ihr alter Lehrmeister für ganz und gar unausführbar hielt! Daß ihr aber der Bock jetzt noch entgehen konnte, war ausgeschlossen.

Sie schob langsam das Gewehr nach vorn, hob den Schaft an die Wange und versuchte zu zielen, aber das Visier flatterte vor ihren Augen, das Jagdfieber hatte sie gepackt und schüttelte ihr die Glieder. Und der Bock wurde mit einem Male mißtrauisch, vielleicht daß ein wechselnder Luftstrom ihm die verdächtige Witterung zugetragen hatte: Er warf den Kopf auf und trollte in geräumig schaffendem Trab nach dem Waldrande zurück. Da biß sie die Zähne aufeinander, und durch ihren schlanken Körper lief ein jähes Anspannen. Im nächsten Augenblick hatte sie Kimme, Korn und Ziel beisammen und ging mit dem gekrümmten Finger an den Abzug. Ein reißender Knall, der sich drei-, viermal im Widerhall an den Wiesenrändern brach, der Bock machte auf den Schuß einen langen Rücken, die Kugel hatte gesessen! Noch ein halbes Dutzend langer Fluchten geradeaus, dann ein Abbiegen von der zuerst eingeschlagenen Richtung, ein Schwanken und Torkeln ... Da sprang Elsbeth hinter der schützenden Erdwelle in die Höhe, schwenkte das Jagdhütlein in überquellender Siegesfreude und schrie laut nach dem Wiesenwege hinüber: »Hollahoh, Ahrens, rasch hierher, er hat es, er hat es!« ...

Als sie sich danach aber nach dem Bock umschaute, um dem armen Kerl, falls er noch nicht verendet war, einen Gnadenschuß durch den Hals zu geben, glaubte sie erst ihren Augen nicht trauen zu dürfen: Der Totgeglaubte war anscheinend wieder gesund geworden, jagte in langen Fluchten über die blanke Wiese der Klein-Lipinsker Schonung zu! Und da fiel ihr in bitterer Beschämung ein, wie gröblich sie sich gegen die alte Jägerregel vergangen hatte: Den kranken Bock nicht stören! Sich nicht zeigen und ruhig warten, bis er verendet war, sonst entwickelte der weidwund Geschossene mit einem Male ganz ungeahnte Kräfte und war fast immer, falls man nicht über einen ganz ausgezeichneten Hund verfügte, für den Jäger verloren! ...

Ein paar Minuten hoffte sie noch, der Bock würde auf der Wiese zusammenbrechen, denn so weit sie sehen konnte, war seine Bahn rot von Schweiß, aber je länger sie dauerte, desto rascher wurde seine Reise, erst ein paar Schritte vor der Klein-Lipinsker Tannenschonung wurde er ein wenig kürzer, Verlangsamte den Schritt. um schließlich halb im Schritt zwischen den beiden grünen Lindenbüschen in der Mitte des Winkels zu verschwinden ... fort war er!

Da traten ihr zwei dicke Tränen in die Augen, sie preßte das zarte Taschentüchlein vor den Mund, um aus Zorn und Leid nicht laut aufzuweinen, riß es mit den weißen Zähnen vor flackerndem Ingrimm entzwei und starrte nach den zwei Lindenbüschen hinüber, zwischen denen der Bock verschwunden war. So also war die Weidmannstat, mit der sie den Klein-Lipinsker Vetter zu treffen gedachte, abgelaufen! Morgen früh konnte im günstigsten Falle der alte Ahrens hinüberfahren: »Herr Baron, meine junge Herrin hat den Grenzbock krank geschossen. Würden Sie vielleicht die Liebenswürdigkeit haben, uns in Ihrer Tannenschonung die Nachsuche zu gestatten?« ...

Lieber sterben, als sich so demütigen!

Und schon wollte sie sich, den ohnmächtigen Zorn im Herzen, auf den Heimweg wenden, als plötzlich ein heller Schimmer über ihr verfinstertes Gesicht flog. Wer sah sie denn hier und wem brauchte sie es zu erzählen, daß sie den Bock mitten aus Feindesland herausgeholt hatte? Der Klein-Lipinsker war sicherlich nach Allenberg gefahren, um mit den dortigen Dragonern seinen Ärger zu vertrinken – der Verwalter hatte ihr ja genug von diesen Orgien erzählt, bei denen man sich meistens erst am frühen Morgen trennte – der Bock aber lag keine zwanzig Schritte weit hinter dem Rande der Schonung. Ein krank geschossenes Stück Wild tut sich zum Wundbett nieder, sobald es vor dem Schützen die erste Deckung erreicht hat, so lautete die alte Regel!

Eine halbe Minute danach hatte sie den abgeschossenen Büchsenlauf neu geladen und ging mit weit ausgreifenden Schritten den beiden hellen Lindenbüschen zu, zwischen denen der kranke Bock verschwunden war...

*

Der Klein-Lipinsker ließ das Glas sinken, durch das er den Todeskampf des verendenden Bockes beobachtet hatte.

»Du, Meester, eben hat es Rest gegeben, der Kopf ist ihm vornübergeklackst, und die schnellenden Läufe sind ruhig geworden. Komm, zück deinen Knotenstock, ich aber will ihn hessen und verschränken, damit wir ihn daran nach Hause tragen, denn einen Kerl mit solch einem Gehörn laß ich über Nacht nicht draußen. Aber es wird ein Stück Arbeit geben, denn siebzig Pfund wiegt er gewiß auf seinen Schalen, und der lange Weg trägt die Last!« Er war aufgestanden, hatte sein Weidmesser aufgeklappt, im nächsten Augenblick aber warf er sich wieder zu Boden, im Grunde der Tannenschonung hatte es ein merkwürdiges Krachen und Knacken gegeben! Er zog den Maler, der sich ebenfalls schon aufgerichtet hatte, hinter den Lindenbusch zurück und raunte an seinem Ohr: »Still jetzt und keinen zu lauten Atemzug, die Jagd ist noch nicht zu Ende, da kommt jemand durch die Schonung, den Bock zu holen. Ist es der Förster Ahrens, der alte Racker, dann wird er nur freundschaftlich angeblasen, kriegt das Gehörn gezeigt, auf Nimmerwiedersehen natürlich, und wird mit einer Zigarre im Hals nach Hause geschickt. Ist sie es aber selbst, meine allerungnädigste Cousine, dann gibt es ein fröhliches Pfänden!«

Ein paar Minuten atemverhaltener Erwartung, das leise Knacken in der Tannenschonung kam näher und näher. Ein Rauschen in den Zweigen, ein Sprung über den Graben, und die Baroneß Elsbeth von Linde stand mitten auf dem Wege, sah sich in dem Dämmerlicht des sinkenden Abends nach allen Seiten suchend um. Der Klein-Lipinsker aber preßte Hans Haffners Arm und wisperte hinter dem deckenden Lindenbusch an seinem Ohr: »Sieh nur, wie es dasteht und sichert, das Schmaltierchen. Oha, wird das einen Spaß geben!«

»Adalbert, nichts, was sich nicht wieder gutmachen läßt,« warnte der Maler leise. »Ich an deiner Stelle würde sie mit der ausgesuchtesten Liebenswürdigkeit behandeln!«

»Ja, ihr womöglich den Bock nach Groß-Lipinsken schleppen: So, bitt' schön, mein Fräulein, und schenken Sie mir mal bald wieder die Ehre? Eine, die mit den Achseln zuckt, wenn ich, Adalbert von Linde, mein Wort verpfände? Ach nein, mein Jungchen, die Glacéhandschuhe werden jetzt nicht angezogen! Du aber bleibst ruhig liegen, bis ich dich rufe!« ...

Jetzt hatte Elsbeth in dem Dämmerlicht endlich den verendeten Bock entdeckt, der sich mit seiner grauen Decke von dem dunklen Boden des Weges kaum abhob. Noch einen raschen Blick in die Runde, ein halblautes »Gott sei Dank«, dann eilte sie auf ihn zu, packte ihn am Gehörn und versuchte, ihn über den Grabenrand nach der Schonung zu schleppen. Der Klein-Lipinsker aber sprang auf.

»Halt, liebe Cousine! Und zu liebenswürdig, aber ich bin es gewöhnt, meine Böcke ohne fremde Hilfe nach Hause zu tragen!«

Elsbeth war vor lähmendem Schreck neben dem Grabenrande in die Knie gesunken. Der böse Vetter aus Klein-Lipinsken! Und offenbar war sie in eine arglistig gestellte Falle geraten. Irgendwer im Schlosse mußte es ihm verraten haben, daß sie heute abend den Grenzbock erlegen wollte, überhaupt, es war ihr schon immer so gewesen, als wenn zwischen Groß- und Klein-Lipinsken allerhand geheimnisvolle Fäden gesponnen würden, seit der Maler drüben war... womöglich war der alte Ahrens als dritter im Bunde, oder vielmehr ganz bestimmt, denn sonst hätte er auf ihren Ruf doch eine Antwort geben müssen ... und vielleicht hatten die starken Böcke das immer so an sich, daß sie auf den Schuß hin nicht im Feuer zusammenbrachen, sondern noch tausend Schritte und weiter gingen, darauf aber hatte die ganze saubere Gesellschaft ihren hinterlistigen Plan gebaut ... Der Maler lag außerdem sicherlich irgendwo in der Nähe versteckt, um den neuen Vorfall in einem seiner schnöden Bilder zu verewigen, wie damals, als sie den verunglückten Klein-Lipinsker geküßt hatte, Gott allein mochte wissen, wie er das erfahren hatte, denn dieses Geheimnis hatte sie ja nicht einmal ihrer Schwester Fränze anvertraut ... Also war der Vetter Adalbert damals gar nicht so bewußtlos gewesen, wie er sich stellte, hatte – pfui, wie roh und indiskret – diesen Maler zu seinem Vertrauten gemacht ...

So jagten und überstürzten sich in ihrem Kopfe die Gedanken, während sie den Klein-Lipinsker auf dem Wege herankommen sah, so ein recht höhnisches und überlegenes Lächeln um den Mund ... Da verflog ihre Angst, wie fortgeweht, denn der jäh aufsteigende Zorn über all diese Hinterlist war stärker gewesen. Sie sprang auf und stellte den linken Fuß auf das erlegte Wild.

»Der Bock ist mein, Vetter Adalbert!« Und in ihrem Zorn merkte sie es gar nicht, daß sie den bösen Klein-Lipinsker beim Vornamen nannte, wie in jenen Stunden, wenn sie in ihren Gedanken mit ihm allein war. Er aber verneigte sich lächelnd.

»Du willst sagen, liebe Elsbeth, du hast den Bock geschossen. Das bestreite ich auch gar nicht, im Gegenteil: Weidmannsheil und alle Achtung ... daß du einen weidgerechten Birschgang hinter dir hast, sieht man an deiner Gewandung! Da aber meines Wissens zwischen Groß- und Klein-Lipinsken alles andre besteht, nur keine freundnachbarliche Jagdfolge – harmlose Kühe sogar, die mit einem Bein über die Grenze geraten sind, läßt du mir pfänden, unsere Knechte schlagen sich gegenseitig die Zähne ein, wir beide aber ... na, schweigen wir lieber da von – also du wirst dir hoffentlich klar darüber sein, was dein heutiges Vorgehen bedeutet? Nicht nur eine gewöhnliche Grenzverletzung, sondern« – er erhob seine Stimme – »qualifizierter Wilddiebstahl in allerschlimmster Form!«

Elsbeth begehrte zornig auf.

»Wilddiebstahl! Solche Worte verbitte ich mir ... wenn du darauf bestehst, kann ich dir den Bock ja bezahlen! Im übrigen habe ich nichts weiter getan, als ein auf meinem eigenen Grund und Boden erlegtes Stück Wild zu holen.«

Der Klein-Lipinsker verneigte sich von neuem, mit ironischer Höflichkeit.

»Scharmant, liebe Cousine, und das hätte nichts weiter auf sich, wenn wir in Frieden und Eintracht lebten! Unter den obwaltenden Umständen aber ist ›Wilddiebstahl‹ das einzig richtige Wort. Das Gesetz ist gerecht, aber nicht gerade höflich!«

»Ich danke für deine gütigen Belehrungen, aber, wenn ich mich vergangen habe, werde ich auch die Strafe zu tragen wissen!«

»Einen Augenblick, liebe Elsbeth!« Er wandte den Kopf halb nach rückwärts: »Professor, kannst du bezeugen, daß die Baroneß von Linde eingestanden hat, sie habe mit der Absicht die Grenze überschritten, den erlegten Bock zu holen?«

Ein klares »Ja« kam hinter dem Lindenbusch hervor.

»Und weiter! Kannst du bezeugen, daß die Baroneß von Linde dazu übergegangen war, ihre Absicht in die Tat zu übersetzen? Daß sie den Bock am Gehörn von der Mitte des Weges schon bis zum Grabenrand geschleppt hatte, als ich dazwischentrat?«

»So wahr mir Gott helfe zur ewigen Seligkeit, Amen!« sagte der Maler in einem wahren Grabeston, so daß Elsbeth ordentlich eine Gänsehaut über den Rücken flog.

Der Klein-Lipinsker aber wandte sich wieder zu ihr.

»Du siehst, liebe Elsbeth, es wird nicht etwa Aussage gegen Aussage stehen, sondern ich habe mir einen Eideshelfer und Zeugen mitgebracht!«

»Na ja, weil ihr mir hinterlistigerweise aufgelauert habt!«

»Zu dienen, liebe Elsbeth. Aber jetzt bitte ich dich, den Fall ein wenig ernsthafter anzusehen! Auf deinem Vergehen steht nämlich als Strafe: Konfiskation des Jagdscheines ...«

»Das ist mir gleichgültig,« unterbrach sie ihn, »morgen verreise ich sowieso!«

»Einziehung des Gewehrs,« fuhr der Klein-Lipinsker fort.

»Ich kann mir ja alle Tage ein neues kaufen ...«

»Scharmant, aber das dickste Ende kommt zuletzt... und Gefängnis!«

»Gefängnis?«

»Sehr wohl, liebe Elsbeth, und zwar, je nach der Schwere des Falles, bis zu drei Monaten!«

»Du willst mir Angst einjagen,« sagte sie mit einem Versuche zu lächeln.

»Durchaus nicht, liebe Elsbeth! Dein Rechtsanwalt wird dich schon darüber aufklären. Wir aber haben vor dem Fortgehen, ehe wir dir den Hinterhalt legten, noch extra im Strafgesetzbuch nachgesehen. Nicht wahr, Professor?«

»Jawohl,« sagte die Grabesstimme hinter dem Lindenbusch, »Paragraph 331: Wer mit dem Gewehr in der Hand eine fremde Jagdgrenze überschreitet, um sich dort widerrechtlich ein erlegtes Stück Wild anzueignen, wird mit Entziehung des Jagdscheines, Konfiskation des Gewehrs und Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft. Bei besonders schweren Fallen darf der Richter über dieses Strafmaß noch hinausgehen!«

Der Klein-Lipinsker mußte unwillkürlich lächeln: Der brave Professor tat ein wenig zu viel des Guten im Erdichten des benötigten Gesetzesparagraphen. Aber schadete nichts, es tat seine Wirkung, denn EIsbeth sah ganz verängstigt und verschüchtert aus. Da trat er einen Schritt näher und streckte die Hand aus.

»Also, Elsbeth, du hast es gehört. Aber ich will von einer Strafanzeige Abstand nehmen, unter einer Bedingung: Bitt ab, was du mir heute nachmittag angetan hast, und es soll alles wieder gut sein. Du behältst dein Gewehr, kriegst deinen Bock – ich selbst will ihn dir bis an die Grenze tragen, du brauchst nur nach dem alten Ahrens zu rufen, damit er ihn im Rucksack nach Hause schafft – über alles übrige aber Schweigen! Für den Maler und mich kann ich mich verbürgen, na, und der Wald plaudert ja auch nichts aus!«

Ganz herzlich hatte er zum Schluß gesprochen, genau wie am frühen Nachmittag, und ebenso wie damals schwankte sie einen Augenblick lang, ob sie die dargebotene Hand nicht ergreifen solle ... und noch mehr vielleicht: Ihn an der Hand zu sich herüberziehen und Aug' in Auge fragen: »Sag, Adalbert, bist du wirklich verlobt?« ... Aber leider, es ging auch sonst genau wie am Nachmittag, sie waren nicht allein miteinander. Und die Gegenwart dieses Malers lähmte ihr die Entschließungskraft! ... Mit einem Male aber schoß ihr der Gedanke durch den Kopf: Auch hinter diesem, anscheinend so ehrlich gemeinten Vorschlag lauerte nur eine hinterlistig gestellte Falle! Wenn es ihm ernstlich um eine Versöhnung zu tun gewesen wäre, hätte er ja allein kommen können! Wie er aber vorhin den Maler angerufen hatte, so sollte dieser ihm auch dafür als Zeuge dienen, daß sie demütig abgebeten hätte. Demütig und ängstlich, weil ihr keine andre Wahl geblieben war: Abbitte oder drei Monate Gefängnis! ...

Dem Klein-Lipinsker schwoll langsam die Ader auf der Stirn, aber noch hielt er an sich.

»Elsbeth, ich habe heute nachmittag mein Ehrenwort darauf gegeben, ich sei damals in ehrlicher Absicht unterwegs gewesen. Du hast mich vor Zeugen gekränkt, indem du dich mißachtend abwandtest. Also ist es jetzt zu viel verlangt, wenn ich dich jetzt, ebenfalls vor Zeugen, ersuche, diese Kränkung durch eine ehrliche Abbitte wieder gut zu machen?«

»Vor Zeugen«, das war das richtige Wort, denn sie war schon drauf und dran gewesen, nachgiebig und weich zu werden. Und – aus der Mehrzahl ging es ja hervor – wer mochte wissen, wer alles da hinter den Lindenbüschen versteckt sein mochte, um zuzusehen, wie sie sich vor dem Klein-Lipinsker demütigte? ... Sie richtete sich auf und sagte so recht hochmütig: »Abbitten? Ich bitte nie ab, am allerwenigsten aber, wenn ich das Bewußtsein habe, im Rechte zu sein!«

Der Klein-Lipinsker reckte sich heraus, seine blauen Augen blitzten.

»Schöne Cousine, bisher war es halber Spaß, jetzt wird es böser Ernst! Und du selbst hast es dir zuzuschreiben, wenn ich jede Rücksicht außer acht lasse ... also, jetzt bitte ich um dein Gewehr!«

»Niemals!«

»Elsbeth,« sagte er zornig, »der Spaß hat aufgehört! Die Flinte her! Wenn du sie nicht gutwillig auslieferst, nehm' ich sie mir mit Gewalt!« Und er trat einen Schritt näher und streckte den Arm aus.

Sie aber hob das Gewehr an die Wange: »Wag es, mich anzurühren!« ...

Und im nächsten Augenblick mußte sie hell auflachen, denn Herr Adalbert von Linde retirierte mit einem mächtigen Seitensprung unter die dunkeln Kiefern. Das also war der Mut dieses aufrechten Herrn vor zwei geladenen Flintenläufen riß er aus! Und laut rief sie zu dem Lindenbusche hinüber: »Herr Professor, können Sie vielleicht auch einmal später bezeugen, wie tapfer sich soeben der Herr Baron Adalbert von Linde benommen hat?«

»Jawohl,« klang die Stimme des Malers zurück. Sie aber fühlte sich schon als Siegerin, gedachte, unter dem Schutze ihres Gewehrs natürlich, so langsam einen ehrenvollen Rückzug anzutreten ...

Was sie jedoch als Feigheit angesehen hatte, war nur eine geschickte Kriegslist gewesen. Während sie höhnisch triumphierte, hatte der böse Vetter seitwärts einen Bogen geschlagen, überschritt lautlos den Graben, stand wie aus dem Boden gewachsen hinter ihr. Mit der Linken umschlang er sie, mit der Rechten aber entwand er ihr das Gewehr, schoß, blatz, blatz, die gespannten Läufe in die Luft ab.

»So, mein Kleines, das ist kein Spielzeug für Kinder!«...

Einen Augenblick lang stand sie wie gelähmt, dann warf sie sich wie eine Wildkatze und in hellem Zorn an ihn, umklammerte seinen Arm.

»Mein Gewehr will ich wieder haben, hörst du? Ohne Gewehr gehe ich nicht nach Hause!«

Der Klein-Lipinsker lächelte erst darüber, wie sie in ohnmächtigem Zorn sich abmühte, seinen erhobenen Arm, in dem er das Gewehr hielt, herunterzuzwingen, dann schlang er den linken Arm um sie und zog sie an sich.

»Mädel, bitt ab, und alles ist wieder gut,« sagte er mit heißem Atem, Gesicht an Gesicht.

»Nein!« erwiderte sie zornig und mit haßsprühenden Augen.

»Zum ersten, zweiten und ... letzten Male.«

»Nein!!«

»Na, dann, Gott helfe mir,« sagte der Baron von Linde, »und in abgekürztem Strafverfahren. So gut wird mir's zum zweiten Male im Leben nicht mehr geboten!« ... Er ließ das Gewehr zu Boden fallen, griff mit der Rechten um ihren Nacken, und so sehr sie sich auch sträuben mochte, es half ihr nichts, er fand den widerstrebenden Mund mit seinen Lippen ... »Und so,« raunte er zurück, »schenken laß ich mir nichts, ich zahl', was ich empfangen hab', mit Zinsen wieder!« Da ging es wie ein Schauer durch ihren Körper, ihre Arme sanken schlaff hernieder, und, es war keine Täuschung, er spürte deutlich, wie sie seinen letzten Kuß erwidert hatte. ... Da zog er sie fester an sich, wollte ihr gerade ins Ohr raunen: Na, siehst du, mein kleines Spautzkaterchen, jetzt sind wir ja einig, und du bist meine Braut, aber mit einem Male hob sich der Mal-Professor seitlich von dem Lindenbusche, der ihn so lange mildtätig verborgen hatte, in voller Lebensgröße vom Boden. Und warnend klang seine Stimme herüber: »Du, Adalbert, geh nicht zu weit und vergiß nicht, was du ihr schuldig bist!« ...

Da stieß Elsbeth ihn vor die Brust, wand sich aus seinen Armen, und ehe er vor Überraschung zu sich kam, war sie im Dunkel der hohen Kiefern verschwunden. Ein Knacken und Krachen von dürren Ästen, die sie in eiligem Laufe zertrat, dann wurde es still, kein Laut war mehr zu vernehmen, aus dem man einen Schluß hätte ziehen können, welche Richtung sie eingeschlagen hatte.

Der Klein-Lipinsker legte die Hand an den Mund und rief laut: »Elsbeth, liebe Elsbeth! Verzeih, aber an den Professor hatte ich nicht mehr gedacht, und komm wieder« ... als aber darauf keine Antwort erfolgte, schüttelte er den Maler in jäh ausbrechendem Unmute an der Schulter.

»Hans Haffner, Meester, Unglücksrabe! Gerade war ich im schönsten Zuge, noch den Bruchteil einer Minute, und ich war ein christlich verlobter Jüngling und Bräutigam. Zu dritt wären wir nach Groß-Lipinsken gezogen, du den Bock auf dem Rücken, ich die Braut am Arm, und da mußtest du Unglücksmensch dazwischen kolken!«

»Na ja,« sagte der Maler kleinlaut, »aber ich wollte doch nur dein Bestes. Von meinem Standpunkte nämlich sah es wie ein Ringkampf aus, und da meinte ich, du solltest ihr nach allem ausgestandenen Schreck einen ehrenvollen Rückzug gewahren! Daß du ihr aber während des Ringkampfes gerade einen Heiratsantrag machen würdest, konnte ich natürlich nicht ahnen. Sonst nämlich vollzieht sich ein solcher Vorgang doch in etwas gemäßigteren Formen, in Frack und weißer Weste, einen Blumenstrauß in der Linken, und die Angebetete sitzt auf einem Sofa.«

Der Klein-Lipinsker mußte wider Willen laut auflachen.

»Na also, entschuldigt! Aber was machen wir jetzt? Um nämlich mit möglichster Beschleunigung festzustellen, ob ich eben den gescheitesten oder dümmsten Streich meines Lebens vollführt hab'?«

Hans Haffner kraute sich in seiner langen Mähne.

»Hm, wenn ich mir einen Rat erlauben dürfte ... einmal nämlich hab' ich mit dem Grundsatz schon Glück gehabt: Mehr als 'rausgeworfen kannst du ja nicht werden!« ...

»Du meinst also?«

»Ja, mit Bock und Gewehr auf nach Groß-Lipinsken! Ich zunächst als Sühneprinz hinein, na und dann abwarten. Vielleicht hilft uns der liebe Gott und Tante Lieschen!«

»Also, in Gottes Namen!« sagte der Baron von Linde und warf einen sehnsüchtigen Blick nach der Stelle des Grabenrandes, an der Elsbeth – kaum ein paar Minuten war es her – in das schützende Dunkel entflohen war ...


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