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VIII.
Zur Würdigung der aristotelischen Philosophie. Ihr historisches Fortleben

1. Das Werk des Aristoteles. 2. Das Epochemachende desselben. 3. Unzulänglichkeiten. 4. Kritik des aristotelischen Lebensideals. 5. Die peripatetische Schule. 6. Verhältnis des Aristotelismus zur Stoa und zum Epikureismus. 7. Desgl. zum Neuplatonismus. 8. Desgl. zur Weltanschauung des Christentums. 9. Sein Fortbestand in der Scholastik. 10. Sein Ausleben.


1. Auf sein Verhältnis zu der platonischen Weltanschauung angesehen kann das aristotelische Denk- und Lehrgebäude hinsichtlich der Methode und der Durchbildung der einzelnen Disziplinen einfach als eine Fortbildung und abschließende wissenschaftliche Ergänzung derselben erscheinen. Bei tiefergehender Betrachtung der Tendenz und des Grundgedankens ergiebt sich jedoch zwischen beiden ein von den beiderseitigen Wurzeln her ansteigender Gegensatz. Das Motiv der platonischen Spekulation liegt in dem Bewußtsein der Existenz eines Reichs überweltlicher Werte, der Ideen, in deren Lichte die gegebene Welt erst ihre Bedeutung und Daseinsberechtigung gewinnt, sofern von ihr aus theoretisch der Aufblick zu jenen möglich, und in praktischer Hinsicht das Emporringen zu der mit ihnen und insbesondere der Idee des Guten gesetzten Lebensbestimmtheit gefordert wird. Der Schwerpunkt für das Dasein und den Wert des menschlichen Lebens verlegt sich für Platon aus der gegebenen Welt in ein Reich des Transzendenten. Die Erfahrungswelt wird zur Vorstufe für die Erreichung des über sie hinausliegenden »wahren Seins«. Mit diesem Hinausstreben über die Grenzen des erfahrungsmäßigen und »engmenschlichen« Daseins stellt sich Platon zu der Welt- und Diesseitsfreudigkeit des klassischen Hellenentums in bestimmten Gegensatz; er begründet eine Umwertung der dort enthaltenen Werte vermittelst des Hinweises auf eine geistige Tiefe der Welt, zu der das individuelle persönliche Lehen seine Einmündung nur durch einen Bruch mit dem spezifisch-ästhetischen Ideale der Hellenen, der gleichschwebenden harmonischen Durchbildung aller körperlichen und seelischen Kräfte und dem dadurch bedingten lebensfrohen Genügen an der umgebenden Wirklichkeit gewinnen konnte. Auch die Aufgabe der Erkenntnis steht im Dienste jenes Höchsten. Sie hat die thatsächliche Welt und Wirklichkeit nicht allein zu umspannen und zu durchdringen, sondern auch zu überfliegen, das Irdische als die an der Materie sich vollziehende Abschattung des Ueberirdischen aufzuzeigen.

Für Aristoteles dagegen gilt unzweifelhaft, daß er nur von dem Griechentum seiner und der voraufgegangenen Zeit aus recht verstanden und gewürdigt werden kann. Der hier waltenden geistigen Bestimmtheit hat er den Platonismus konform gemacht. Die Ideen mußten sich aus überweltlichen Werten zu in der gegebenen Welt wirkenden Kräften und zielstrebigen Potenzen umwandeln lassen. Als zugleich theoretisches und praktisches Ideal der Lebensführung wurde der durch die Denkthätigkeit erreichbare Einklang des menschlichen Einzellebens mit der Harmonie des von göttlicher Vernunft durchwalteten Weltlebens hingestellt. Und auf der Grundlage dieser Leistung ist es das Werk des Aristoteles, den Ertrag der hellenischen Kulturbewegung im fünften Jahrhundert, jenes unvergleichlich stetigen und glänzenden Anstieges zur Höhe vergeistigter Weltbetrachtung, nicht nur mit eigenen Gedanken weitergeführt, sondern auch in systematisch geschlossener Form zur Grundlage des wissenschaftlichen Geisteslebens der abendländischen (und zum guten Teil auch der orientalischen) Menschheit für über ein Jahrtausend gemacht zu haben. Seine Philosophie ist der wissenschaftliche Ausdruck des klassischen Griechentums, und macht dessen inneren Gehalt daher geeignet, als dauernd wirkendes Ferment weiterzuleben in der neuen Weltauffassung, welche einerseits zunächst durch das Auftreten des Christentums, und weiterhin andrerseits durch das der modernen Wissenschaft sich begründete.

 

2. Die nachhaltige Bedeutung der aristotelischen Philosophie für alle Folgezeit beruht vor allem darauf, daß sie das erste umfassende System der Wissenschaft gegeben hat, und zwar nicht bloß als Idee oder Entwurf, sondern nach Möglichkeit in die Tiefe, wie in die Breite ausgeführt, unter der Wirkung eines sicheren Bewußtseins der Methode sowohl in Bezug auf die Sammlung des Materials, wie auch hinsichtlich seiner durchgeistigenden Verarbeitung. Und das Ganze, welches so geleistet wurde, war, entsprechend dem damaligen Stande der Forschung und den Mitteln der Beobachtung, in sich zusammenhängend und abschließend in einer Weise, wie es später niemals wieder sich hat erreichen lassen. Fast alle Seiten des Natur-, wie des Menschenlebens hatten in bestimmt ausgeprägten Darstellungen ihre systematische Durchleuchtung erhalten; der Unterschied von Natur- und Geisteswissenschaften, wie nicht minder der von konstatierenden und von normgebenden Disziplinen war zu festumrissener Ausprägung gekommen. Zum erstenmale war im Bereiche des Wissens ein annähernd vollständiges Gegenbild geschaffen zu der Vielseitigkeit des menschlichen Wesens sowohl hinsichtlich seiner erkennenden, wie seiner ordnenden Fähigkeiten. Auf die Frage nach dem Wesen und Inhalt des Wissens schien von jetzt an auf viele Menschenalter hinaus der Hinweis auf das, was Aristoteles (mit einigen Ergänzungen durch seine Nachfolger) geleistet hatte, zu genügen. Was aber noch wichtiger war, als dieses: die Einsicht und das Gefühl, daß es dem wahren Wesen des Menschen gemäß sei, Wissenschaft zu haben, war zum unverlierbaren Moment des Allgemein-Bewußtseins geworden. Der Hinblick auf das Ganze der aristotelischen Leistung gab und bewahrte die Vorstellung von Begriff, Aufgabe und Ideal wissenschaftlicher Bildung. Gehoben war damit auch der Zweifel an der Möglichkeit der Erkenntnis und an der Fähigkeit des Menschen, zur Wissenschaft im wahren Sinne zu gelangen. Ueber bestimmte allgemeine Eigenschaften der wissenschaftlichen Methode herrschte von jetzt an Uebereinstimmung. Das Wechselverhältnis von Induktion und Deduktion war in einen festen Rahmen eingespannt, den auch die spätere große Vertiefung und Verfeinerung, welche die Erkenntnis vom Wesen und Verhältnis dieser beiden Wege noch erfahren sollte, nicht eigentlich durchbrochen hat. Das Analoge gilt von dem Verhältnis von Empirie und Spekulation. Die für alle Disziplinen normgebende Formalwissenschaft der Logik hatte ihren bis in die Neuzeit hinein maßgebenden Abschluß gefunden, ebenso wie die Theorie der Erkenntnis durch die Aufweisung des Weges, der von der Empfindung und Wahrnehmung aus durch die Anschauung zu den begrifflichen Inhalten hinaufführte.

Die nachmalige Zeit hat an diesem systematischen Gebäude im Einzelnen und im Ganzen unendlich vieles geändert. Sie hat das Material in fast unabsehbarer Weise erweitert, seine Verarbeitung fast überall auf andere theoretische Grundlagen gestellt, mit dem Gedanken der Entwicklung in Natur und Geschichte ganz anders Ernst zu machen gelehrt, in sehr vieler Hinsicht auch erheblich andere Normen der Beurteilung und Wertschätzung eingeführt. Aber sie konnte das alles doch nur leisten auf Grund des Umstandes, daß ihr ein so relativ vollkommener erstmaliger Abschluß des wissenschaftlichen Ganzen bereits vorlag, zu dem Stellung zu nehmen, und von dem aus sich weiter zu orientieren sie in der Lage war. Die ganze lange Periode der tastenden Versuche, zu den Stoffen und der Methode wirklich wissenschaftlicher Arbeit zu gelangen, die dem Zeitalter des Platon und Aristoteles vorauslag, hatte sie nicht erst zu wiederholen. Sie konnte Aristoteles selbst nur überwinden, indem sie von den von ihm gegebenen Grundlagen aus ihn über sich selbst hinausführte. Sie arbeitete allezeit an der Hand seiner Logik und seiner Erkenntnislehre, auch da, wo sie diese Gebiete selbst wieder neu in Angriff nahm, und sie verrichtete namentlich ihre Arbeit fortan in dem von ihm geschaffenen und begründeten Vertrauen auf die Möglichkeit der Wissenschaft als solcher, und mit dem von ihm überkommenen Blick für ihr eigentliches Wesen und ihre Aufgabe.

 

3. Beschränken wir uns hier auf die Bezeichnung der allgemeinsten philosophischen Gesichtspunkte, von denen aus eine »Ueberwindung« des Aristotelismus im weiteren Verlaufe der geistigen Entwicklung sich als notwendig herausstellte, so ist namentlich auf zweierlei hinzuweisen. Es konnte erstens nicht sein Bewenden haben mit jener bei Aristoteles durchgreifenden Vermengung der kausalsachlichen mit der wertsetzenden Betrachtung, wie sie in unsrer Darstellung wohl genügend herausgetreten ist. Die deutliche Sonderung der beiden Gesichtspunkte war notwendig sowohl für die Methodik der Fachwissenschaften, wie namentlich auch für die zureichende Erkenntnis der wahren Bedeutung, welche jedem dieser beiden Momente zukommt. Die Prinzipien und die Tragweite der kausalen Erforschung des Weltzusammenhangs konnten dem wissenschaftlichen Bewußtsein nur dann wirklich durchsichtig werden, wenn die Frage nach dem Zweck und Wert der thatsächlichen Zusammenhänge erst an die Resultate ihrer unbefangenen Eigenarbeit herantreten durfte, ohne ihr von vornherein Weg und Ziel vorgeschrieben zu haben. Der Begriff der Zweckmäßigkeit gewann dadurch selbst eine weittragende Bedeutung: er erhielt für das Gebiet der Natur und andrerseits für das des menschlichen Individual- und Gemeinschaftslebens einen spezifischen Inhalt, und als die Welt der Werte im eigentlichen Sinne entfalteten sich neben dem Gebiete der Natur die Inhalte und Zusammenhänge des geistigen Lebens, von deren Konnex mit dem Naturganzen her dieses selbst dann erst seinerseits seine Wertbestimmung zu empfangen hatte. Die Frage selbst aber von dem abschließenden Verhältnis zwischen der Welt des Kausalzusammenhangs und der der wertsetzenden Vernunft konnte und mußte nunmehr erst ganz von neuem aufgerollt und an Hand genommen werden.

Was sodann die Welt des Geistigen und namentlich des Ethischen insbesondere betrifft, so ist darauf hinzuweisen, daß die aristotelische Lebensanschauung von dieser Seite her dem Wesen der Persönlichkeit nicht in zureichender Weise gerecht wird. Das Wesen Gottes bleibt für Aristoteles beschränkt auf die reine Denkthätigkeit und gewinnt auf die Welt selbst im Grunde nur dadurch Einfluß, daß es die letzte Ursache für ihre Bewegung abgiebt; in das Wesen des Menschen aber soll das aktive Denken von außen hineinkommen, ohne mit den organisch entwickelten Kräften selbst auch in ein organisch bestimmtes Verhältnis zu treten. Seine Ethik selbst aber faßt das Wesen der Persönlichkeit mehr im ästhetischen Sinne, als eine Art schöner Seele, wie namentlich seine Tugendlehre beweist, und stellt als ihr Ideal gerade das Unpersönlichste auf, was es giebt, nämlich die Zurückgezogenheit in den reinen Aether des spekulativen Denkens. Aber auch abgesehen hiervon läßt sich eine vollwertige Bethätigung der Persönlichkeit außerhalb des vom Sonnenschein des Glückes begünstigten Lebensbereiches nach Aristoteles kaum denken, und gerade diejenigen Lagen, welche an sie die schwersten Anforderungen stellen, indem sie ihr das unablässige Ringen mit den konkreten Widersprüchen und tiefgreifenden Hemmungen und Gegensätzen des Lebens auferlegen, sind ihm eher ein Anzeichen dafür, daß, wer ihnen ausgesetzt ist, noch nicht zum Höhepunkt des menschenwürdigen Daseins vorgedrungen ist. Dass er das Wesen der ethischen Tugend auf der Grundlage des Gemüts erblickte, diese neue Einsicht kommt bei ihm nicht zur vollen Wirkung, weil er das Gemüt selbst gegenüber dem Denken als das Minderwertige zu achten nicht aufhört, also im Grunde doch auch hier Intellektualist bleibt.

 

4. Diese Hinweise auf einzelne Hauptpunkte sind indes noch nicht ausreichend, um die Würdigung des Aristotelismus nach der ethischen Seite hin zum Abschluß zu bringen. Das Urteil hierüber wird vielmehr immer abhängen von der Stellung, die der Urteilende selbst zu der Wertfrage betreffs des antiken und des modernen Lebensideals einnimmt. Diese beiden Standpunkte, obwohl oder vielmehr eben weil sie auf gegenseitige Ergänzung angewiesen sind, heben sich doch scharf gegensätzlich gegeneinander ab. In der antiken Anschauung, wie sie bei Aristoteles ihren Höhepunkt erreicht, wird die erfahrungsmäßige Wirklichkeit, in die wir mitten hineingestellt sind, als das allumfassende Ganze genommen; die thatsächliche Welt wird als das Allgenugsame aufgefaßt, und ausschließlich aus ihr heraus Normen gewonnen, die lediglich dazu dienen, die Welt als solche zu einem möglichst hohen Grade von Durchsichtigkeit für das Erkennen und von Harmonie in Bezug auf das Genießen und Handeln zu bringen. Dieses unmittelbare wirkliche Dasein und jene lediglich auf die gegebene Wirklichkeit bezügliche Ausgestaltung gelten als das, worüber hinaus nichts zu erkennen, zu haben und zu erlangen ist. Alles ist umspannt von einem festen Horizont der Wirklichkeit, so daß es thatsächlich nichts Unabsehbares für das Wissen, und nichts Unerreichbares für den normalen Fortgang des Handelns geben kann. Ihren letzten metaphysischen Abschluß findet diese Weltanschauung (vgl. u. S. 140) in einem Pantheismus, der nachzuweisen bemüht ist, daß die Welt als solche zugleich die Bethätigung eines göttlichen Grundes ist, der in ihr unter der Form der Entwicklung rastlos und restlos sich darlebt.

Dieser ethische Hellenismus, der in Aristoteles gipfelt, ist nun freilich niemals im eigentlichen Sinne »überwunden« worden, sondern bis zu gewissem Grade immer ein Ferment einer auf wissenschaftlicher Besonnenheit und daseinsfreudiger Energie beruhenden Lebensführung geblieben. Er ermöglichte aber, und er bedurfte einer Ueberhöhung durch diejenige Richtung, welche innerhalb der klassischen Welt selbst von dem Platonismus und nächstverwandten Richtungen begründet und unter der Wirkung der vom christlichen Ethos bedingten Gemütsbestimmtheit vertieft und zugleich zum Gemeinbesitz der nachmaligen Kultur gemacht wurde.

Für diesen andern Standpunkt ist die sichtbare Welt als solche nicht das Allgenugsame und Höchste, sondern für den in sie eingetretenen Geist der Hinweis auf, und der Durchgang zu einer höheren Wirklichkeit. Das umgebende Dasein ist für die Persönlichkeit nur der Standort, von wo aus sie in der Lage ist, den Ausblick auf ein überweltliches Leben zu gewinnen, dessen Existenz für die Erkenntnis sich ergiebt aus der Erfassung bestimmter theoretischer und praktischer Probleme und Aufgaben, die vom Zusammenhange des Gegebenen her sich nicht wollen lösen lassen, und für die auch der Hinweis auf die ins Unbestimmte hin mögliche Fort- und Höherentwicklung des Kulturlebens keine befriedigende Erledigung in Aussicht stellt, wie dies namentlich in der Thatsache hervortritt, daß es nicht gelingen will, eine Gewißheit betreffs des jeweiligen Aufhörens des Uebels und des Bösen in der Welt zu gewinnen. Der Begriff Gottes deckt sich auf diesem Standpunkte nicht mit dem der entwicklungsfähigen Welt, sondern bedeutet ein Ideal geistiger Wirklichkeit, das erst von der Welt her und im Blick über sie hinaus für die Persönlichkeit zu erreichen ist. Die Erkenntnis von Gottes Wesen und das Dahin-Einmünden der eigenen Persönlichkeit erscheint hier nur möglich durch theoretische und praktische Ueberwindung der Welt, diese selbst aber nicht etwa durch Weltflucht und Verzicht auf die Arbeit nach Erkenntnis, sondern gerade durch Welterkenntnis und Aufnahme der Arbeit an den Problemen, die von ihr aus sich der Persönlichkeit hinsichtlich ihrer eigenen Höherbildung darbieten. Und in dem spezifischen Inhalt dieser Aufgabe als eines Mittels zum Zwecke kommen auch die wesentlichsten Positionen der aristotelischen Lebensanschauung immer wieder mit zu ihrem Rechte: das nachhaltige Streben der dem Menschen als solchem eigentümlichen Energie in der Richtung auf Erkenntnis sowohl, wie auf Praxis, das Maßhalten, das Ausschauen nach festen Zielen, sowie der Blick und die Wertschätzung für das Wesen und die Bedeutung der Entwicklung; ferner der künstlerische Zug in der Auffassung der Welt und in der Verwirklichung der aus ihrem Wesen und Zusammenhange sich ergebenden Anforderungen an den Einzelnen; nicht minder auch der schaffensfreudige Optimismus und die Bethätigung einer vornehmen und idealen Gesinnung im Denken und Handeln, die Schätzung des Großen und Schönen gegenüber dem Kleinlichen und dem, was lediglich nützt; endlich das unentwegte Streben nach Herausbildung der moralischen Persönlichkeit. Von alledem hat die nachklassische und überhaupt die moderne Lebensrichtung immer nur zu ihrem eigenen Schaden gelegentlich Abstand zu nehmen versuchen können, und sich, wo sie zu neuem Vorwärtsschreiten ansetzte, von dorther immer auch wieder befruchten lassen. In dem Gesichtskreis selbst aber jener Anschauung konnte sie nicht beschlossen bleiben, hauptsächlich deshalb, weil sie Veranlassung hatte, es mit der Schärfe des Gegensatzes, um dessen Ueberwindung es sich für die theoretische und praktische Lebensaufgabe im höchsten Sinne handelt, strenger zu nehmen, als die hellenische Welt, die mit einer ästhetischen Konzeption des Weltalls darüber hinauszukommen versuchte. Sie vermochte die schwere Thatsächlichkeit des Uebels und des Bösen nicht, wie diese, lediglich einfach als das Unerfreuliche zu betrachten und nach Möglichkeit zu ignorieren. Sie suchte für das Verhältnis Gottes zur Welt nicht, wie Aristoteles, das letzte Wort in einer wissenschaftlich endgültigen Formel (weil sie dies immer wieder als unerreichbar erkannte), wohl aber immer mehr annähernd eine das ganze Menschenwesen, also namentlich auch das Gemüt befriedigende Stimmung: sie erblickte in Gott nicht bloß den Ordner und Erhalter der Welt in ihren großen und allgemeinen Zügen, sondern eine ethische Macht, zu der es dem einzelnen Menschen als solchem möglich ist, ein persönliches Verhältnis zu gewinnen. Während der antike Philosoph das Bestehen der Liebe zwischen der Gottheit und dem Menschen ausdrücklich in Abrede stellte, wird ihr (aller dialektischen Schwierigkeiten ungeachtet) jenes Verhältnis gerade durch diesen Begriff immer aufs neue wieder erst wirklich menschlich faßbar und gegenständlich. Und von diesem Punkte aus wird der Begriff der Liebe dann auch maßgebend für dasjenige, was als Quell- und zugleich Zielpunkt des ethischen Lebens zu erkennen ist: der Gegensatz beider Richtungen tritt im Praktischen deutlich heraus, wenn man z. B. auf die Behandlung der Sklaverei bei Aristoteles zurückblickt. Er sieht richtig, (woran auch nachmals das Christentum festhielt), daß es Menschen giebt, die ihrem Wesen nach zum Dienen geschaffen sind, und empfiehlt betreffs dieser »Sklaven von Natur« eine von Wohlwollen und Liberalität getragene Behandlung. Ein in unserm Sinne menschenwürdiges Verhältnis zu ihnen vermag er aber nicht zu begründen, wie er denn selbst einen Krieg lediglich zum Zwecke des Sklavenfangs für berechtigt hält, sofern nur die Nation, gegen die er sich richtet, eine von Natur sklavenmäßige sei. Das Prinzip der Caritas, auch nur in der Form, daß »alle Menschen Brüder« sind, liegt hier noch ganz in der Ferne.

Die moderne Fassung des Lebensideals bedeutet also, wie gesagt, eine Ueberhöhung des aristotelischen. Darin liegt aber zugleich, daß sie nicht eine Entwertung desselben einschließt, und zwar hauptsächlich deshalb nicht, weil sie selbst sich ihrer Eigenart und ihres Wertes erst da bewußt werden kann, wo man an der Hand der andern Richtung den Vollgehalt der gegebenen Welt zu würdigen gelernt und sich selbst zu einem in ihrem Sinne thätigen und werthaltigen Gliede dieser unmittelbaren Wirklichkeit zu machen gestrebt und verstanden hat. Eine wirklich fruchtbare Auffassung und Bewährung des neuen Welt- und Lebensideals war und ist immer nur da möglich, wo das frühere, soweit es nach der Höhe zu wirken vermag, zu seinem Rechte gekommen ist. Und so bedeutet der Aristotelismus auch nach dieser Seite hin ein unverlierbares Gut für das geistige Leben der Menschheit.

 

5. Unter den Schülern des Aristoteles hat sich namentlich Theophrast durch die erfolgreiche Fortsetzung seines Lebenswerkes hervorgethan. Zu der Reihe der von dem Meister selbst verfaßten naturwissenschaftlichen Schriften hat er zwei botanische Werke hinzugefügt, sowie eine Geschichte der Physik, und außerdem die verschiedenen Disziplinen der Philosophie (mit Einschluß der Ethik, aus der seine vielgelesenen »Charaktere« herstammen), selbst wieder auf aristotelischer Grundlage, aber mit kritischer Sichtung des Einzelnen bearbeitet. Abgesehen von ihm tritt in der weiteren fachwissenschaftlichen Thätigkeit der Genossen des Lyceums ein auf das Historische in Litteratur und Wissenschaft gerichtetes Streben immer mehr in den Vordergrund des Interesses. In der Fortbildung des spezifisch Philosophischen aber wollte die Zweiseitigkeit des aristotelischen Prinzips, wie sie in dem Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen, des Begrifflichen zum Empirischen, des reinen Denkens zur Wahrnehmung zu Tage lag, sich auf die Dauer immer weniger aufrecht erhalten lassen. Und zwar gewann in Betreff dessen die Richtung auf das Naturhafte und Konkrete, die Aristoteles selbst als neues Ferment in den Platonismus eingeführt hatte, entschieden die Oberhand über die ihr entgegengesetzte. Die Naturkraft als solche wurde zur Gottheit; die Lehre von der aktiven Vernunft schied aus der Betrachtung des menschlichen Wesens aus, und die Seele war als die Lebenskraft nicht mehr das Herrschende und Formgebende im Organismus, sondern das aus dem Zusammenwirken der von Haus aus belebten Einzelteile selbst erst hervorgehende Gesamtresultat. Diese Richtung führte schon im Anfang des dritten Jahrhunderts (v. Chr.) bei dem »Physiker« Straton zu einer zum ionischen Hylozoismus zurückbiegenden Gesamtanschauung, welche einerseits Gott und Welt, andrerseits Denken und Wahrnehmen in Eins setzte, und alles einzelne Geschehen lediglich aus dem Prinzip der immanenten Naturnotwendigkeit ableitete. Eine Wiederaufnahme des ursprünglichen Bestandes der peripatetischen Lehre beginnt erst, und zwar in engeren Kreisen, gegen das Ende der antiken Zeitrechnung (seit Andronikos von Rhodos) durch erneute Sammlung und Erklärung der aristotelischen Schriften, und hat um das Jahr 200 n. Chr. in Alexander von Aphrodisias, dem »Exegeten«, ihren bedeutendsten Vertreter gefunden.

 

6. Von dem Standpunkte eines Straton u. a. aus war nun schon der Uebergang des Aristotelismus in diejenige Gestalt der Spekulation näher gerückt, die in der Philosophie der Stoa eine festgeschlossene und sehr erfolgreiche Ausprägung bekommen hat. Sie kennzeichnet sich als ein organischer oder dynamischer Naturalismus und Monismus, der die Einheit von Stoff und Kraft in dem Begriffe des Körpers zusammenfaßt und die Gottheit als die zugleich denkende und wirkende Kraft im Ganzen der Welt aufgehen läßt. Der Begriff des rein Immateriellen, wie ihn Aristoteles für den Geist und die Gottheit als ersten Beweger der Welt herausgebildet hatte, ist hier wieder aufgehoben zu Gunsten der hylozoistischen Weltansicht. Wie einst bei Heraklit, so wird auch in der Stoa die als feurig gedachte Weltsubstanz zugleich als physisch und als göttlich, als mit Bewußtsein begabte und organisch wirkende Weltkraft bestimmt, der die einzelnen vernunftgemäßen Keimformen der Dinge (λόγοι σπερματικοί) von Haus aus innewohnen. Die schon bei Aristoteles gelegentlich hervortretende Anschauung von der Welt als einem einheitlichen Gesamt-Lebewesen (vgl. ob. S. 68) wird hier zum obersten Gesichtspunkt einer streng pantheistischen Weltauffassung erhoben. So erweist sich das stoische System nach der theoretischen Seite als eine Weiterführung und Umbildung des Aristotelismus im Sinne des Pantheismus. Nach der Seite der Ethik hin bekundet sich dagegen bei ihr der historische Zusammenhang mit der Schule der Kyniker. Was sie hier giebt, ist eine Art Gegenstück zu dem lichtfreudigen Bilde der ethischen Persönlichkeit, das Aristoteles gezeichnet hatte. Der Blick für die tiefen Schatten des Daseins, und für die Schwierigkeit, zum wirklichen Ideal der Persönlichkeit zu gelangen, ist hier schon bedeutend zur Wirkung gekommen. Der Gegensatz, zwar noch nicht eigentlich von gut und böse, wohl aber von gut und schlecht, der sich decken soll mit dem von weise und thöricht, bestimmt den Grundgedanken der stoischen Ethik. Auf das Glück von außen wird ausdrücklich Verzicht geleistet. Als oberstes Lebensziel gilt die Tugend im Sinne des naturgemäßen Lebens, d. h. die Uebereinstimmung der Lebensführung mit dem allbeherrschenden Naturgesetz, welches zugleich als der göttliche Wille dem menschlichen Einzelwillen gegenübersteht. In gewisser Weise erscheint allerdings das aristotelische Ideal noch schärfer ausgeprägt, ja überspannt, indem die Moral ohne den Unterbau einer streng logisch-theoretischen, und zwar monistischen Weltanschauung überhaupt als undenkbar gesetzt wird. Die Substanz des ethischen Lebens selbst ist aber eine wesentlich andere geworden, denn in der stoischen Bestimmung desselben ist im Unterschiede von Aristoteles außer der Erkenntnis des Weltgesetzes insbesondere das Bewußtsein der innern Freiheit aus der Peripherie des Gedankenkreises in das Zentrum gerückt, und zwar diese als die Fähigkeit der persönlichen Selbstbestimmung, die auch der Unausweichlichkeit des Weltlaufs gegenüber sich behaupten soll. Damit tritt denn in der Stoa ein rein praktisches Prinzip an die Stelle der theoretischen Lebensbethätigung: die vollkommene Pflichterfüllung auf Grund der ethischen Gesinnung, wie sie nur der Weise (σπουδαῖος) besitzt, der in freier Selbstentscheidung den Wechselfällen des Lebens gegenüber seine Unerschütterlichkeit (Ataraxie) behauptet. Angesichts dieser Aufgabe konnte das, was für Aristoteles das höchste Gut war, dem Stoiker nur als der Vorzug des begabten Durchschnittsmenschen erscheinen, nicht aber als Sache des Weisen, der vielmehr gerade zur Ueberwindung von Leiden und Widerwärtigkeiten berufen erscheint. – Dem Wesen der allgemeinen Menschenliebe kommt dabei die stoische Ethik schon erheblich näher, als Aristoteles. Sie hat wenigstens in der Theorie die Gleichheit aller Menschen hinsichtlich ihres Anspruchs auf wahrhaft menschenwürdigen Lebensinhalt, namentlich auch angesichts der bisherigen Ueberschätzung des Hellenentums gegenüber den »Barbaren«, mit Bewußtsein anerkannt. Da aber ihr Prinzip der Ataraxie eine richtige Würdigung der schon von Aristoteles so trefflich behandelten Affekte, insbesondere auch des Mitleidens, ausschloß, so hatte diese theoretische Einsicht für die stoische Lebenspraxis keine belangreichen Wirkungen.

Im vollen Gegensatze zu der Moral der Stoiker steht die der Epikureer. Gemeinsam mit der aristotelischen ist ihr das Prinzip der auf theoretische Einsicht in den Weltzusammenhang gegründeten Eudämonie unter der Gunst äußerer Verhältnisse, sowie die Anweisung zur Lebensführung im Lichte einer liberalen und namentlich für das Gut der Freundschaft empfänglichen Gesinnung. Während aber für den Peripatetiker die theoretische Spekulation immer das Höchste bleibt, ist sie für Epikur nur Mittel zum Zweck: sie soll lediglich die Vorurteile beseitigen helfen, welche die Stetigkeit einer auf Besonnenheit gegründeten Behaglichkeit im Wege stehen, indem sie den Menschen von den beunruhigenden Vorstellungen von seiten des Aberglaubens und der Volksreligion befreit; andrerseits soll sie ihn sichern vor der Ueberschätzung von allem, was den Gleichmut der Seele zu beeinträchtigen geeignet ist. Hierzu werden Güter, wie Patriotismus, eheliches Leben und auch alles dasjenige gerechnet, was aus einem angeblich zu hoch gespannten Begriffe von Ehrgefühl und männlicher Gesinnung entspringt. Zwischen diesem und andrerseits dem stoischen Extrem der praktischen Lebensauffassung erschien nun die aristotelische Anschauung in dem Lichte einer unvorteilhaften Mittelstellung, infolge deren sie zu Gunsten entweder des einen oder des andern ihrer beiden Gegner bald genug in den Schatten trat.

 

7. Noch mehr auf die Seite gedrängt wurde sie aber durch das Aufkommen des Neuplatonismus, in welchem die hellenische Weltanschauung im Gegensatz zu dem sich ausbreitenden Christentum, und doch zugleich unter wesentlicher Einwirkung von seiten desselben noch einmal eine großartige und selbständige Position zu gewinnen wußte. Das Wesentliche der neuplatonischen Weisheit ruht auf geistigen Bedürfnissen, die schon von Platon und den Pythagoreern geweckt worden waren, in den ersten Jahrhunderten n. Chr. aber die Vorherrschaft gewannen sowohl im Denken der Gebildeten, wie in den Stimmungen des Volkes: das Verlangen nach Befreiung von dem Drucke der irdischen Wirklichkeit, nach Erlösung von Welt und Zeit, und (als Mittel dazu) nach Läuterung der Seele. Die Metaphysik des Neuplatonismus ist eine Ueberspannung des platonischen Gegensatzes zwischen der Welt und einem höchsten Ueberweltlichen, der Gottheit oder dem »Ur-Einen«. Das Wesen Gottes an sich will sich (nach neuplatonischer Auffassung) wegen seiner absoluten Enthobenheit über alles Weltliche von der menschlichen Erkenntnis in bestimmten Begriffen überhaupt nicht mehr erreichen lassen. In seiner schöpferischen Wirksamkeit aber giebt es sich kund durch eine Reihe von Ausstrahlungen (Emanationen), worin es in absteigender Stufenfolge der Vollkommenheit sich zur Welt ausgestaltet. Eine von diesen ist die Seele, welche die Vermittlung herstellt zwischen der überirdischen Welt und der Welt der Erscheinung. Sie besitzt die Fähigkeit, sich mit Freiheit nach oben oder nach unten, nach dem »Geist« und der Ideenwelt oder nach dem Materiellen hin zu wenden und damit entweder zur Seligkeit ihres überirdischen Ursprungs zurück, oder in die völlige Verstrickung von seiten des Sinnlichen, und damit des Schlechten und Bösen zu gelangen. Von den beiden Antlitzen, welche das Bild der Materie bei Aristoteles zeigt, sofern sie einerseits von Haus aus nach Formgestaltung strebt, und andrerseits durch ihre Eigenart der Wirksamkeit des Formprinzips einen Widerstand entgegensetzt, ist für den Neuplatoniker das Letztere ausschließlich maßgebend, und die Materie für ihn wesentlich die Grundlage und der Träger der Unvollkommenheit. des Schlechten und des Bösen in der Welt, dasjenige Prinzip, von dem die Seele sich im schweren Kampfe loszuringen die Aufgabe hat, um wieder nach oben zu kommen. Mit dem Aristotelismus teilt aber der Neuplatonismus den intellektualistischen Grundzug: das geistige Sein hat sein Wesen im reinen Denken, und soll sich, soweit es dies vermag, in dieses zurückverwandeln. Gemeinsam ist beiden Richtungen auch die Unterordnung des Menschen unter das All; ferner die Ineinssetzung von Glück und Thätigkeit. Aber dies alles gravitiert bei den Neuplatonikern, im Unterschiede von Aristoteles, nach der Religion hin: nicht die gegebene Wirklichkeit, sondern die Ueberwelt gilt es hier mit der Erkenntnis und dem ganzen Wesen zu erfassen, – was freilich in vollkommener Weise schließlich nur wenigen auserwählten Persönlichkeiten soll gelingen können. Und der angegebene Weg zu diesem Ziele führt zwar auch durch das praktische Leben und die moralische Betätigung hindurch, hat aber zu endigen in der rein innerlichen Bewegung und Zurückgezogenheit auf sich selbst, die zum mystischen Erleben des Höchsten, der Wesensvereinigung mit der Gottheit, geschickt machen soll. Das Handeln erscheint als das Minderwertige gegenüber diesem in die Ewigkeit weisenden Denken, dessen Wesen übrigens für Plotin, den Hauptvertreter dieser ganzen Richtung, sich nicht mehr in der klaren begrifflichen Synthese des Aristoteles, sondern in vorwiegend gefühlsmäßigen Inhalten bethätigt. Die Grenze ferner zwischen der Natur und dem Seelischen erscheint hier belanglos und überhaupt verwischt, da jene selbst als durchseelt und von geheimnisvollen Kräften durchwaltet gedacht wird.

 

8. Das Christentum in seiner ursprünglichsten Gestalt steht zum Aristotelismus ungefähr in demselben Gegensatze, wie der Neuplatonismus. Es ruht wie dieser, den es in den wesentlichsten seiner Positionen selbst erst mit bedingt und bestimmt hat, auf der Gegenüberstellung von Welt und Ueberwelt, und noch viel entschiedener wie jener auf der Ueberzeugung, daß Gott nicht theoretisch, sondern gefühlsmäßig-praktisch zu erfassen und zu erleben sei. Von hier aus entspringt gleichfalls das Bestreben, den Weltzusammenhang draußen liegen zu lassen und sich durch innere Neubestimmtheit des Gemüts mit dem Höchsten selbst in direkte Fühlung und Gemeinschaft zu setzen. Das Aeußere hat hier überhaupt nur Bedeutung und Wert in der Art, wie es im Reflex des Innern erscheint. Gemeinsam ist beiden auch der gänzlich unaristotelische Gedanke, daß das Göttliche nicht lediglich der irdischen Ordnung zu dienen berufen und beflissen, sondern wesentlich dazu da sei, daß der Mensch oder wenigstens ein Teil der Menschen über die Welt hinaus zu ihm gelange. Auch im Christentum waltet daher eher der Zug zur Mystik als zu methodischer Erkenntnis, und gegenüber dem persönlichen, wie dem Gemeinschaftsleben hat es selbst im Verlauf seiner Entwicklung die aristotelische Tendenz auf harmonische Ausbildung beider innerhalb der Schranken weltlicher Größen und Ziele erst wieder würdigen und in seiner Weise verwirklichen lernen müssen. Diejenigen Momente aber, die das Christentum auch vom Neuplatonismus unterscheiden, machen seinen Gegensatz zu Aristoteles nur noch schärfer. Es verzichtet von vornherein auch auf begrifflich-dialektische Erkenntnis, deren Unentbehrlichkeit ihm auch erst weiterhin wieder nahe getreten ist. Das höchste Gut (das »Heil«) ist nach seiner Auffassung erreichbar nicht bloß für eine Minderheit bevorzugter Persönlichkeiten, sondern auch für die »Unmündigen«. Ueberhaupt erlangt hier das Geringe und Elende eine Berücksichtigung, die den korrekten Peripatetiker einfach unwürdig dünken mußte. Und was jener Erreichung würdig und fähig macht, ist für den Christen die Liebe, die hier in einem Sinne gefaßt wird, der weit über den Inhalt des aristotelischen Wohlwollens und Hochsinnes hinausgeht. Die Probleme nicht der Natur und des Staats und der antiken Ethik, sondern der innersten Geistes- und Herzensbedürfnisse, der Liebe, des Glaubens, der Hoffnung, des Gewissens regieren alles. Problem überhaupt ist hier nicht dasjenige, was der Verstand in der Außen- und Innenwelt sieht und analysieren kann, sondern was das Gemüts- und Willensleben zu dem bisher Erkannten als neue Thatsachen aufweist.

 

9. Es war daher kein Zufall, daß in den ersten christlichen Jahrhunderten die Neubildung des Wissens und der Praxis, sowie namentlich auch die der Religion selbst von dem Altertum her hauptsächlich durch neuplatonische Elemente mitbestimmt wurde, und von Aristoteles aus zunächst nur, was zur unentbehrlichsten logischen Schulung erforderlich war, seine Geltung behauptete. Es war die Zeit, welche am bezeichnendsten durch die Wirkung einer Erscheinung wie Augustin charakterisiert ist. Für diesen war der Glaube an das Ueberweltliche in erster Linie eine Kraft und That, eine Entscheidung vermöge des Willens vom innersten Kern und Wesen der Persönlichkeit her, die für die Gewißheit ihres Inhalts die Bekräftigung von seiten des Wissens sich wohl gefallen ließ, sie aber nicht erst geflissentlich zu suchen hatte. Es gehört nun aber zum Wesen des Glaubens, daß mit der zunehmenden Bildung außer jener Willensentscheidung immer auch das Bedürfnis nach seiner wissenschaftlichen Vergegenständlichung sich zur Geltung bringt. Daher mußte allmählich, zumal in dem Zeitalter, worin die Nachwirkungen der Kreuzzüge für Europa eine bedeutsame Erweiterung des geistigen Horizontes bedingten, immer mehr auch das Verlangen nach dem Besitz eines festen philosophischen Lehrbestandes heraustreten, der der Kirche jenen Dienst zu leisten geeignet war. Einen solchen fand diese denn auch in dem philosophisch-theologischen Lehrgebäude der mittelalterlichen Scholastik. Der wesentlichste Inhalt der kirchlichen Dogmen galt allerdings als »übervernünftig« und deshalb überhaupt nicht als Gegenstand eines positiven Vernunftbeweises; aber schon die begriffliche Formulierung dieses Inhalts selbst war doch nicht ohne einen gewissen Aufwand logisch-dialektischer Fertigkeit zustande gekommen. Außerdem war dabei die Meinung die, daß jene Uebervernünftigkeit der (auf Offenbarung beruhenden) Dogmen zwar die Möglichkeit der Entstehung ihres Inhalts durch die Vernunft ausschließe, keineswegs aber ihr Verständnis, und nach Umständen ihre Verteidigung vermittelst einer dem Wesen und Inhalte der Vernunft entsprechenden philosophischen Lehre. Mit dem verstärkten Auftreten dieses Bedürfnisses traf nun das erneuerte Bekanntwerden der Werke des Aristoteles zeitlich zusammen, und deren Inhalt kam dem neuen wissenschaftlichen Streben des Glaubens hauptsächlich in zweifacher Hinsicht entgegen. Der mehr und mehr intellektualistisch werdenden Scholastik bot jener vor allem eine Gotteslehre dar, welche einer Ausdeutung und Weiterbildung im speziell theistischen Sinne sich zugänglich und nachgiebig zeigte. Außerdem aber gab er ihr einen philosophischen Begriff der Welt und Natur, der sich dem religiösen leicht ein- und unterordnen ließ, einen solchen nämlich, der »Gott als den letzten Grund und Zweck der Natur betrachtet, und unter diesem Gesichtspunkt die Natur selbst als ein Stufenreich körperlicher und lebendiger Formen, die von dem göttlichen Zweck abhängen, von ihm bewegt werden, in ihm sich vollenden«. K. Fischer, Einleitung in die Geschichte der neueren Philosophie, 4. A. (Heidelb. 1891) S. 68. Durch die Einordnung dieses Naturbegriffs in das System der kirchlichen Lehren fand nun dieses bei Männern wie Albert d. Er. und Thomas von Aquino erst seinen einheitlichen Abschluß und seine formelle Vollendung. Das Reich Gottes auf der einen, und das der Natur auf der andern Seite wurden hier durch die spekulative Betrachtung in einen großen Zusammenhang gebracht und unter den verbindenden Gedanken der Entwicklung gestellt. Das Naturganze erschien als die Vorstufe zum »Reich der Gnade«; das natürliche menschliche Leben, das aus dem Stufenreiche der Natur hervorwächst, hat, nachdem ihm der Blick für das Uebernatürliche aufgegangen ist, seinen eigenartigen Beruf in der inneren Weiterentwicklung auf dieses hin, in deren Richtung es geleitet und gehalten wird durch die Lehren und Gnadenordnungen der Kirche. Als die Fortbildung und Krönung der natürlichen Tugenden, wie sie schon Platon und Aristoteles aufgezeigt hatten, erschienen nunmehr die geistlichen Tugenden des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung.

So befriedigt sich das wissenschaftliche Bedürfnis zunächst in engster Verschmelzung mit dem kirchlich-dogmatischen in dem erneuerten Studium und der Erklärung des Aristoteles. Die peripatetische Lehre war nun aber schon geraume Zeit früher als im Abendlande im Orient wieder zur Anerkennung und Verbreitung gekommen, und dort war diese Bewegung schon von vornherein von einem Interesse getragen, das in weit minderem Maße durch die Bedürfnisse von seiten einer kirchlichen Dogmatik beeinflußt wurde. Der Aristotelismus hatte daher dort von Anfang an seine Wirkung mehr in der Richtung des Naturwissens ausüben können, und somit weit erheblicher dem Wiederaufkommen eines selbständigen wissenschaftlichen Strebens die Wege bahnen helfen, als es zunächst innerhalb der christlichen Welt der Fall war. Vom Orient her hatte nun die letztere auch zuerst die Werke des griechischen Philosophen (zunächst in lateinischen Uebersetzungen aus dem Arabischen) wieder zugeführt erhalten und weiterhin auch die Lehren, welche Männer wie Avicenna und Averroes von außerhalb des kirchlichen Gedankenkreises daran angeknüpft hatten. Unter der Wirkung dieses arabischen Einflusses entwickeln sich nun die selbständigeren Regungen des wissenschaftlichen Geistes auch im Abendlande, wenngleich dabei hüben wie drüben die Meinung fürs Erste die blieb, daß der Inhalt des Wissens und seine Methode bereits fertig und abgeschlossen sei in dem, was Aristoteles (und außer ihm etwa noch Galen und einige andere antike Gelehrte) geleistet hatten. Nur der Franziskaner Roger Baco (im 13. Jahrhundert) und vielleicht einige weniger bekannte Persönlichkeiten blickten in dieser Hinsicht schon weiter, jedoch noch ohne sichtbaren Erfolg. So blieb die wissenschaftliche Bethätigung in jeder Form bis in das 14. Jahrhundert hinein ausschließlich an Aristoteles gebunden.

 

10. Das allmähliche Losringen von dieser Gebundenheit vollzieht sich nun schon innerhalb der Scholastik selbst seit dem Beginn jenes Jahrhunderts zuerst (bei Duns Scotus u. a.) durch die Ueberwindung des aristotelischen Intellektualismus, der bei Thomas zu dem Höhepunkte seines Einflusses gelangt war. Der philosophischen Betrachtung der aus der Dogmatik stammenden Fragen suchte man jetzt wieder durch eine vertiefte Erörterung der im persönlichen Willensleben und dem Wesen der menschlichen Freiheit liegenden Probleme gerecht zu werden. Eine neue, schon ganz antischolastische Erkenntnislehre wurde namentlich durch W. Occam begründet. Sie faßte die Begriffe nicht mehr als die in den Dingen selbst wirkenden »Formen« und Gesetze, sondern als ihre subjektiven »Vertretungen« innerhalb des Bewußtseins. Der schließliche Erfolg dieser neuen Richtung war eine vollständige Trennung der Gebiete des Glaubens und des Wissens, die es gestattete, die wissenschaftliche Untersuchung außerhalb jeder Rücksicht auf die kirchlichen Lehren zu halten durch die Annahme einer »zweifachen Wahrheit«. Diese Entwicklung auf kirchlicher Seite ging nun aber schon Hand in Hand mit der Wiederbegründung der rein weltlichen Betrachtungsweise in Bezug auf Persönlichkeit, Staat und Wissenschaft, welche in dem jugendkräftigen Zeitalter der Renaissance sich emporarbeitete, und in den Tendenzen des Humanismus und weiterhin der Reformationszeit sich fortsetzte. Dem Studium des Aristoteles trat das der andern Autoren des klassischen Altertums, insbesondere auch das des Platon, zur Seite und gegenüber; die Uniformität der geistlichen Kultur, die sich über die abendländischen Völker gebreitet hatte, mußte dem Emporkommen einer weltlichen weichen, welche zugleich den individuellen Unterschieden der Nationen Rechnung zu tragen begann. Dem zur Seite ging das Erstarken des persönlichen Einzelbewußtseins gegenüber den überkommenen Autoritäten in Staat und Kirche, das Verlangen nach neuen oder vielmehr erneuerten Quellen unmittelbarer Frömmigkeit und Gotteserkenntnis, und dem analog das Bestreben, auch in der Wissenschaft die unmittelbaren Grundlagen neu aufzugraben und insbesondere der Natur nicht mehr ausschließlich vermittelst des aristotelischen Begriffssystems näher zu kommen, sondern sie selbst auf ihr eigentliches Wesen zu prüfen. Man verlangte nach Neubeobachtung der Natur an der Hand neuer Methoden. Dieses letztere blieb nun freilich bis gegen den Beginn des 17. Jahrhunderts mehr ein unklares Wünschen und Tasten, da es an der sachlichen Methode zur wirklichen Begründung der Naturwissenschaft eben noch fehlte. Eine Reihe originaler metaphysischer und theosophischer Spekulationen über das Naturganze mußte dem neuen Begehren einstweilen genugthun, und die Ausführung im Einzelnen war dabei wenigstens in formeller Hinsicht immer wieder auf das von Aristoteles und der Scholastik geschaffene Begriffssystem angewiesen. Dies gilt selbst noch für die bedeutendsten Vertreter dieser Richtung, für Nikolaus von Cusa und Giordano Bruno, von denen der Letztere schon auf Grund der kopernikanischen Kosmologie eine metaphysische Theorie des Weltzusammenhangs im Sinne eines gemütvollen, im Bewußtsein der Unendlichkeit der Welt schwelgenden Pantheismus lehrt. Und neben alledem wußte sich die Scholastik mit den überkommenen aristotelischen Begriffsinhalten vermöge ihrer Jahrhunderte langen Einbürgerung immerhin in weiten Kreisen in einem intensiven Schulbetriebe zu halten, dessen Nachwirkungen selbst noch im Beginn der neueren Philosophie bei Männern wie Descartes, Hobbes, Bacon u. a. dem Kundigen ohne Mühe sichtbar werden. Selbst der Protestantismus, der mit der Scholastik nichts mehr zu thun haben wollte, sah sich für den lehrhaften Ausbau seiner Prinzipien fürs Erste noch auf die ursprüngliche aristotelische Begriffswelt, insbesondere die psychologische, angewiesen. Und dennoch bedeutete gerade das Eintreten der Reformation das wirkliche Ende des Aristotelismus in der Religion, da erst durch sie die Uebermacht des Intellektualismus auf diesem Gebiete dauernd gebrochen wurde. Diesem Anfang folgte unmittelbar die endgültige Befreiung von seiner Methode innerhalb der Wissenschaft, die Begründung nämlich der modernen Kosmologie und Mechanik durch Kopernikus, Galilei, Kepler und Newton. Infolge ihrer epochemachenden Entdeckung wurde die Substanzen- und Qualitätentheorie des Aristoteles beseitigt durch die Auffassung der Naturprozesse als Resultate von Kraftwirkungen, deren Eigentümlichkeit sich quantitativ aus dem Zusammenwirken einer bestimmten Anzahl messbarer Faktoren nicht nur begreifen, sondern auch berechnen ließ. Mit der Ansicht von der räumlichen Abgeschlossenheit der Weltkugel entfiel zugleich die von der spezifischen Verschiedenheit zwischen der Erde und der Region der Himmelskörper. Die dynamische Auffassung der Naturzusammenhänge trat zurück hinter die wirkliche Erforschung derselben vermittelst der neubegründeten Induktion und des Experiments, für welche auch von seiten der Philosophie her ein beredter und erfolgreicher Anwalt (Fr. Bacon) auf den Plan getreten war. Thomas Hobbes versuchte von hier aus die Durchführung einer neuen einheitlichen Weltanschauung, welche unter Ausschluß der Theologie sich auf mechanische Prinzipien und die Lehre von der Subjektivität der Empfindung gründete. Das Folgenreichste aber war die Neubegründung einer spiritualistischen Erkenntnistheorie und Metaphysik durch die in Mathematik, Mechanik und Philosophie bahnbrechenden Leistungen von Cartesius (René Descartes). In abgeschlossenen Kreisen spezifisch kirchlicher Bildung hat der Aristotelismus eine Art Sonderleben bis auf den heutigen Tag weitergeführt; als normgebender Faktor für die Wissenschaft hat er seit jenem Zeitpunkte aufgehört zu gelten. Damit aber ist es auch mehr und mehr möglich geworden, ihn zu seinem wirklichen Rechte kommen zu lassen, d. h. zu einer objektiven Würdigung des Vergänglichen und des Bleibenden in seinem Geist und Inhalt zu gelangen, eine Tendenz, welche auch der hier gegebenen Darstellung jenes Systems zu Grunde liegt.



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