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I.
Einleitung


1. Die Darstellung einer bestimmten spekulativen Weltanschauung, zumal einer solchen, die sich dem Zwecke der vorliegenden Sammlung von historisch-philosophischen Monographien einordnen soll, hat ihr Absehen in erster Linie darauf zu richten, den Leser für die in Frage kommenden Probleme und die daran anknüpfenden Lehren möglichst von vorn herein auf einen Standpunkt der Auffassung zu bringen, von dem aus er ihrem Inhalte schon mit richtig orientiertem Blick und der entsprechenden Begünstigung des Verständnisses entgegenkommt. Für ein System, das, wie der Aristotelismus, sich schon seit Jahrhunderten ausgelebt hat und demnach von Art und Inhalt des modernen Denkens in vieler Beziehung weit abgelegen ist, gilt diese methodische Forderung in ganz besonderem Maße. Die Wiedergabe des Zusammenhangs der darin enthaltenen Lehren muss den Ausblick freihalten, sowohl für die rechte Würdigung derselben vom Standpunkte der Zeit und der geistigen Atmosphäre, innerhalb welcher sie hervortreten, wie auch angesichts der veränderten Bedingungen für Auffassung und Schätzung der Zusammenhänge in Natur und Leben, wie sie nachmals sich herausgebildet haben und insbesondere in der Gegenwart zur Geltung kommen. Um diesen beiden Gesichtspunkten Rechnung zu tragen, ist es fürs erste erforderlich, die Hauptströmung derjenigen Gedankenentwicklung vorzuführen, an deren Endpunkt die durch Aristoteles begründete Weltanschauung anknüpft, und als deren Weiterbildung sie sich darstellt. Die Behandlung der aristotelischen Philosophie erfordert daher als Einleitung die Kennzeichnung des Zusammenhangs in den Grundgedanken und der Problemstellung der ihr voraufgegangenen hellenischen Spekulation.

 

2. Die wissenschaftliche Betrachtung der Wirklichkeit beginnt in der griechischen Geisteswelt bei den ionischen Philosophen, und zwar hier mit der Frage nach dem Weltgrunde, woraus ihre Entwicklung hervorging, und nach der Art und Weise, in der sie sich im Allgemeinen und Einzelnen von dorther vollzieht. An der Spitze steht dabei der Gedanke (der freilich noch nicht in voller begrifflicher Klarheit heraustritt), dass das Weltprinzip als eine Einheit anzusehen sei, aus der sich nach einem bestimmten, in seinem Wesen liegenden Gesetz des Werdens die Mannigfaltigkeit der Dinge und ihrer Gattungen stufenweise herausbilde. Die Synthese dieses Gedankens mit der erfahrungsmäßigen Thatsache des Unterschiedes oder Gegensatzes zwischen dem Lebendigen und dem Leblosen führte bei den genannten Denkern zu der Annahme eines Urstoffes, der aber nicht als ein Totes, sondern als ein die Fülle des Lebens keimhaft in sich Tragendes gedacht wurde, und aus dessen ursprünglicher Beschaffenheit sich durch einen in bestimmten Stadien fortschreitenden Prozeß der Veränderung erst das Unorganische und dann das Organische und Lebende (Beseelte) hervorgebildet habe. Hierzu kam bald noch die Ansicht, dass diese ganze Entwicklung einen Kreislauf darstelle, innerhalb dessen das entstandene Mannigfaltige periodisch wieder in die Einheit des ursprünglichen Stoffes sich zurückbilden müsse, um dann immer aufs neue sich in der aufgewiesenen bestimmten Weise aus ihm herauszugestalten. Das Auftreten des geistigen Lebens innerhalb der Wirklichkeit wurde dabei ebenso unbefangen als die Entfaltung eines im Urstoff vorhandenen Keimes angesehen, wie die etwa nach dem Gesetz von Verdünnung und Verdichtung und dergleichen innerhalb der physischen Welt sich vollziehenden Gebilde. So unbeholfen und zum Teil kindlich sich diese Weltanschauung in der Ableitung des einzelnen Gewordenen aus der uranfänglichen Beschaffenheit des Weltgrundes auch noch anstellte, so hatte sie doch bereits den Vorzug der Geschlossenheit und, wenn auch noch nicht in vollbewusster Weise, den Gedanken der Gesetzmäßigkeit, womit im Natur-, wie im seelischen Leben jedes Folgende durch das Voraufgehende und schließlich alles Einzelne durch das große Ganze und dessen Urgrund unabänderlich bedingt ist.

 

3. Die Tendenz, von der sie getragen war, fand nun eine Fortbildung durch die Spekulation der Pythagoreer, und zwar dadurch, dass hier bereits etwas von der Eigenart der elementaren mathematischen Begriffe auf sie zur Einwirkung kam. Die Beschaffenheit der Welt im Ganzen wie im Einzelnen und zugleich ihre Erkennbarkeit erschien bedingt durch die Eigentümlichkeit der Zahlen und der auf sie zurückführbaren geometrischen Größen: Zahlen und Größenverhältnisse verleihen jedem Dinge die ihm eigentümliche Besonderheit; sie vermitteln außerdem den Zusammenhang zwischen den einzelnen Vorgängen und am letzten Ende den Gesamtzusammenhang der Natur (mit Einschluss des Menschen) überhaupt, indem sie aus der räumlichen oder qualitativen Unbestimmtheit und Unbegrenztheit ein Bestimmtes und Begrenztes machen, und sie sind, da sie zugleich dem Erkenntnisvermögen in der Form von bestimmten Begriffen einwohnen, die unmittelbar gegebene und geeignete Handhabe für die Erkenntnis dieser Bestimmtheiten und Zusammenhänge. Die Vorstellung von der in den Dingen und ihren Zusammenhängen waltenden Gesetzmäßigkeit wurde hierdurch verdeutlicht und verstärkt, und zwar in der Weise, daß die Zahl nicht lediglich als ein Ausdruck dieser Gesetzmäßigkeit, sondern zugleich als das Bewirkende, ja als das Wesen derselben angesehen wurde. Eine Abschwächung dagegen erfuhr bei den Pythagoreern der von den Ioniern besonders betonte Gedanke der Einheitlichkeit des Weltgrundes. Zwar der Begriff des Eins oder der Einheit, (zwischen welchen man noch keinen Unterschied machte), wurde in abstracto als der Ausdruck des Grundwesentlichen im Weltzusammenhang festgehalten; für die konkrete Welterklärung dagegen bekam der Gegensatz, der nachmals teils als der von Stoff und Form, teils als der des Materiellen und des Geistigen deutlicher hervortrat, hier bereits eine stärkere Beachtung, und führte zu dem Versuch, ein Analogon dazu bereits in das Wesen des weltbildenden Prinzips selbst hineinzuverlegen. Man faßte die Weltentwicklung als das Produkt der Gegenwirkung zweier Grundfaktoren, und zwar solcher, für deren Beschaffenheit man sich gleichfalls an dem Wesen der Zahlen orientierte. Als die Prinzipien derselben erschienen das Gerade und das Ungerade, von denen jenes, das sich ohne Rest immer weiter teilen läßt, zu diesem, bei dem die Teilung nicht in solcher Weise ins Unbestimmte fortgeht, sich wie das Unbegrenzte zu dem Begrenzenden verhalten sollte. Da sie nun die Prinzipien der Zahlen als die der Welt überhaupt ansahen, so erblickten die Pythagoreer den Ausgangspunkt des Weltprozesses thatsächlich nicht, wie die Ionier, in einer einheitlichen Grundlage, sondern in der Zweiheit eines Gegensatzes von Prinzipien, nämlich der des Unbegrenzten und des Begrenzenden oder der Grenze, aus deren Zusammenwirken (durch Hineintragung von Grenzen oder Formen in die unbegrenzte und somit ursprünglich gestaltlose Beschaffenheit) sich die Einzeldinge und Zusammenhänge innerhalb des konkreten Weltganzen herausbildeten.

 

4. Das einstweilige Facit aus diesen Denkresultaten zog die Philosophie der Eleaten. Als die Hauptpositionen des bisherigen Denkens hatte sich ergeben: Die gegebene Welt weise zurück auf ein durch sie und ihre Veränderlichkeit zur Erscheinung kommendes Bleibendes, das als Prinzip und Gesetz innerhalb aller Mannigfaltigkeit sich in seinem Wesen behauptet. Sodann: daß ein solches ewiges und sich selbst gleichbleibendes Weltprinzip und Weltgesetz besteht, ergebe sich nicht aus der unmittelbaren Wahrnehmung, sondern aus dem zu dieser hinzukommenden und über sie hinausführenden Denken. Von diesen beiden Einsichten wird nun die zweite, die bisher mehr im Schatten gestanden hatte, von den Eleaten an die erste Stelle gerückt. Die obersten Begriffe, mit denen das Denken arbeitet, insbesondere die des Seins und der Einheit, sollen hinsichtlich dessen, was aus ihrem Inhalt unmittelbar sich ergiebt, ausschlaggebend sein gegenüber den Resultaten der Wahrnehmung. Da nun der strenggefaßte Begriff des Seins das Merkmal der Absolutheit im Gegensatze zum Relativen, und ebenso der reine Begriff der Einheit das der Stetigkeit und Ungeteiltheit im Gegensatz zur Veränderung und Mannigfaltigkeit in sich schließt, so sollte im Sinne der eleatischen Denkweise die erscheinende (wahrnehmbare) Welt, welche jene dem Inhalte der reinen Begriffe widersprechenden Eigenschaften zeigte, nicht als das wahre Sein, ja überhaupt nicht als ein Sein anerkannt werden, sondern nur als Inhalt der »trügerischen Meinung«. Die weitere Zuspitzung dieser Lehre erfolgte namentlich im Gegensatze zu dem letzten und größten der ionischen Philosophen, zu Heraklit, der als das Wesen des wahrhaft Seienden die nach einem Gesetz der Entwicklung sich vollziehende Veränderung aufgefaßt und somit das absolute Werden zum Weltprinzip gemacht hatte. Demgegenüber erscheint bei den eleatischen Denkern die Welt als die überall gleichartige, stetig (d. h. ohne leere Zwischenräume) zusammenhängende Masse in der geschlossenen Form der Kugel, wobei auch, zu Gunsten der Einheitlichkeit des Seienden ein Gegensatz zwischen Sein und Denken, zwischen Körperlichem und Geistigem, ausdrücklich in Abrede gestellt wird. Körperlichkeit und Geistigkeit werden, schon unter Annäherung an den nachmals sogenannten Pantheismus, als völlig zusammenfallend gesetzt.

 

5. Das eleatische Denken, welches die Summe der wahren Weisheit im Grunde auf die beiden Sätze: »Das Seiende ist Einheit« und: »Das Mannigfaltige ist nicht das Seiende« reduzierte, hatte einstweilen keine positive Fortbildung gefunden. Die Spekulation ging vielmehr entschieden in der von den Ioniern angebahnten Richtung weiter, indem sie die Beschaffenheit der Welt als eines Naturganzen aus einem materiellen Substrate unter der Wirkung eines den Werdeprozeß desselben leitenden Grundgesetzes erklärte, nur daß sie jetzt im Hinblick auf die Mannigfaltigkeit und Heterogenität des Wirklichen von vornherein auf die Annahme eines streng einheitlichen Weltprinzips Verzicht leistete. Selbst der größte der Eleaten, Parmenides, hatte sich einer analogen Ausdeutung der Wahrnehmungswelt nicht entziehen können, und nur den Vorbehalt hinzugefügt, daß sie nicht als der Weisheit letzter Schluß anzusehen sei. In dem Einhalten dieser Richtung des Denkens liegt nun der gemeinsame Zug in den Spekulationen des Empedokles, Anaxagoras und der Atomiker. An der Stelle des Urstoffes der Ionier stehen bei dem Erstgenannten die vier sogen. Elemente, deren vollständige gegenseitige Durchdringung und gänzliches Auseinandertreten die beiden Extreme darstellen, zwischen denen die Weltentwicklung hin und her geht, und zwar unter der Wirkung zweier entgegengesetzter Kräfte, der Anziehung nämlich und der Abstoßung, die übrigens hier noch halb mythologisch als eine Art göttlicher Potenzen (»Liebe« und »Streit«) aufgefaßt sind. Anaxagoras seinerseits setzt die verschiedenen gleichteiligen Stoffe, aus denen laut der sinnlichen Wahrnehmung die Dinge bestehen, als am Anfang in absoluter Mischung befindlich, aus der sich dann unter der Wirkung der dazukommenden Wirbelbewegung allmählich diese besonderen Mischungskomplexe derselben herausbilden, als welche sich die uns vor Augen liegenden Dinge darstellen. Demokrit endlich, der Hauptvertreter der Atomenlehre, machte (in bewußtem Gegensatz gegen die Eleaten, deren spekulative Grundansicht die Annahme des leeren Raumes für unmöglich erklärt hatte,) zu Prinzipien des Seienden die Gegensätze des Vollen und des Leeren und bezeichnete das Erstere spezieller als die unendliche Anzahl der kleinsten materiellen Bestandteile, die er Atome nannte, weil er ihre Haupteigenschaft in die Unteilbarkeit setzte. Aus ihrer Unterschiedenheit in Bezug auf Gestalt, Ordnung und Lage sollten sich die Ausgestaltungen der bestehenden Dinge erklären, und zwar unter der Wirkung der von Anfang an vorhandenen Bewegung (des »Falles«) der Atome, die dabei in Folge ihrer verschiedenen Schwere aneinanderprallen und dadurch als Gesamtresultat zunächst einen »Wirbel« hervorrufen. Aus diesen sollen dann rein mechanisch sich diejenigen Gruppen von Atomen herausbilden, die wir in den Dingen der Wahrnehmungswelt vor uns haben. Mit den Atomen der modernen Physik haben die demokritischen nur die Eigenschaften der Kleinheit und der Unteilbarkeit gemein, während ihr gegenseitiger Zusammenhalt nicht etwa auf besondere Kräfte, sondern auf eine Art Verhäkelung infolge ihrer verschiedenen Gestalt zurückgeführt wird. – Eine durchgreifende Verschiedenheit zwischen den drei genannten Richtungen besteht nun weiter in der verschiedenen Stellung, die sie zu der Auffassung und Erklärung des Geistigen einnehmen. Die Atomiker nähern sich in ihrer Ansicht über das Wesen der Seele dem altionischen (»hylozoïstischen«) Standpunkt, indem sie den Stoff selbst oder wenigstens einen Teil davon (nämlich die feinsten Atome, aus denen auch das Feuer besteht), zugleich als dasjenige ansehen, auf dessen Wesen und Wirken das Hervortreten der seelischen Vorgänge beruht. Empedokles dagegen und Anaxagoras betrachten das Seelische oder Geistige als ein neben dem Stoff ursprünglich Vorhandenes; jener, indem er sich dabei an überlieferte religiöse (orphische) Anschauungsweisen anschließt, die von einer vorzeitlichen Existenz der Seele berichten, aus der sie durch einen »Fall« in die Verstrickung mit dem Sinnlichen (also mit dem Leibe) geraten sei; dieser dagegen, indem er den »Geist« als den von Anfang an neben dem Stoffe bestehenden Ordner betrachtet, der durch seine ursprüngliche Kraft diesem den ersten Anstoß zur Bewegung und dadurch zum Prozeß der Weltbildung gegeben habe. Daß er aber dabei den Geist als das Reinste und Feinste unter den Dingen bezeichnete und diesen selbst Teile von ihm beigemischt sein ließ, beweist, daß auch er die Wesensverschiedenheit zwischen Stofflichem und Geistigem noch nicht als eine absolute betrachtete. Auch soll er in der Erklärung des Einzelnen, nach Platons Bericht, von der konsequenten Durchführung einer teleologischen Weltauffassung, wie sie das neu eingeführte Prinzip erwarten ließ, noch weit entfernt gewesen sein.

 

6. Schon die Mannigfaltigkeit und Verschiedenartigkeit dieser Versuche der objektiven Welterklärung mußte nun mehr und mehr den Gedanken heranbilden, daß es nicht angehe, eine endgültige und allen Menschen gemeinsam einleuchtende Beschaffenheit des Weltgrundes und Weltzusammenhangs zu ermitteln, sondern daß es Sache des erkennenden Menschen sei, sich an der Hand seiner Wahrnehmungen und der daran anschließenden Reflexion seine Ansicht über das Wesen der Dinge und ihres Zusammenhangs zu bilden. Zu diesem Standpunkt schienen sogar bei näherer Betrachtung die Inhalte der vorausgegangenen Spekulation selbst unmittelbar hinzuführen. Wenn es, nach Heraklit, nichts Bleibendes giebt, sondern alles im absoluten Werden begriffen ist, so kann auch kein bleibendes Erkenntnisresultat existieren, und das »Sein« der Dinge besteht lediglich in der Art und Weise, wie sie dem einzelnen Menschen jeweilen erscheinen. Aus dem scharfen Gegensatz aber, den die Eleaten zwischen dem wahren Sein und der Welt der Wahrnehmung aufgerichtet hatten, ließ sich ohne sonderliche Schwierigkeit der Satz begründen, daß das Seiende in dem hier gemeinten Sinne (des Bleibenden und Einheitlichen) überhaupt weder erkennbar noch darstellbar, und somit überhaupt als nicht vorhanden anzusehen sei. Diese Folgerungen zogen denn auch bereits zwei Zeitgenossen des Anaxagoras, Protagoras und Gorgias, die Häupter der Sophistik, einer neu aufkommenden Richtung der allgemeinen Bildung, welche den Zweck dieser nicht sowohl in der Erreichung eines objektiv abschließenden Erkenntnisinhalts erblickte, als vielmehr in der praktischen Befähigung des Menschen für die Aufgaben des Gemeinschaftslebens und (in bevorzugterer Weise) für die Begründung und Sicherung des individuellen Wohlergehens. An die Stelle des bisherigen Erkenntnisstrebens setzten die Sophisten die Tendenz auf Erwerbung praktisch verwertbarer enzyklopädischer Kenntnisse und auf empiristische Durchbildung einzelner Gebiete des erfahrungsmäßigen Wissens, wie Sprachwissenschaft und Archäologie. Allem Ueberlieferten in Theorie und Praxis gegenüber aber waltete bei ihnen grundsätzlich der Zweifel, und zwar namentlich auch hinsichtlich der Inhalte der volkstümlichen Religion und Moral. Das Maß aller Dinge war, wie Protagoras sagte, eben der Mensch, und die normale Beschaffenheit und Gültigkeit von Dingen und Satzungen war jederzeit nur die, welche für ihn, d. h. für das Gemeinwesen oder den Einzelnen sich als die jeweilen gegebene und zuträglichste auswies. Die Uebung im selbständigen Denken, welche die Sophisten ihren Schülern beibrachten, war dem entsprechend in der Hauptsache das Mittel zur geschickten und erfolgreichen Ausbildung in der namentlich für das athenische demokratische Gemeinwesen unentbehrlichen Rhetorik.

 

7. Für die Fortbildung der fachwissenschaftlichen Erkenntnisse und Bestrebungen ohne Rücksicht auf ihren gegenseitigen Zusammenhang ist die Sophistik unstreitig vielfach anregend gewesen. Die Zurückdämmung aller Tendenzen aber, welche auf feste Prinzipien im Denken und Handeln hinauskommen, hätte am letzten Ende in Wissenschaft wie in Moral nur zersetzend wirken können. Der allgemeine Wahrheitsgehalt der ganzen Richtung, der auch ihren großen Erfolg in der Hauptsache bedingte, lag in der Einsicht, daß die objektive Beschaffenheit der Welt und der Dinge nicht, wie man früher unbefangen und mehr oder weniger unbewußt vorausgesetzt hatte, sich in dem Verstande des Menschen gleichsam abspiegelt, sondern daß die Art und Weise, wie das menschliche Bewußtsein vermöge der in ihm liegenden Funktionsweisen die Eindrücke auf- und zusammenzufassen vermag, von vornherein selbst schon maßgebend wird für dasjenige, was dem Menschen als der normale Zusammenhang der Dinge und Verhältnisse erscheint. Die Frage, welche hierbei offen blieb, war zunächst nur die, ob diese menschliche Art und Weise des Erkennens sich ihrem Wesen nach immer nur individuell zu bethätigen vermöge, oder ob es für sie gemeinsame Normen gebe, denen gegenüber die individuellen Abweichungen in der Auffassung der Objekte hinsichtlich ihrer Gültigkeit als belanglos zu betrachten sind. Damit trat das Problem der Erkenntnistheorie als der unumgänglichen Vorarbeit sowohl des theoretischen, wie des auf das Praktische gerichteten Denkens zum ersten Male in schärfere Beleuchtung. Derjenige nun, der diesen Sachverhalt zur maßgebenden und fortwirkenden Grundlage einer neuen Orientierung über die Probleme des Daseins zu machen wußte, war der Athener Sokrates, und es war eine Wirkung der von den Sophisten in den Vordergrund gestellten praktischen Erkenntnisbestrebungen, daß er die neu auftretende Frage zunächst im Interesse der ethischen Erkenntnisfähigkeit des Menschen zu beantworten suchte. Die Frage von der Erkenntnis der Außenwelt ließ Sokrates hingegen zurücktreten. Als feste Erkenntnisobjekte bezeichnet er in erster Linie die moralischen Begriffe, deren Inhalt sich durch eine Art von induktiver Analyse des erfahrungsmäßigen Handelns der Menschen in seiner normativen Bedeutung müsse erweisen lassen. Die Merkmale des Begriffs und ihr gegenseitiges Verhältnis geben als Erkenntnisgegenstand eine feste Summe von Beziehungen, die als Normen für die erfahrungsmäßige Wirklichkeit, also (was die moralischen Begriffe betrifft) für das thatsächliche Wollen und Handeln des Menschen anzusehen sind. Sittliches Handeln (Tugend) ist daher nicht durch Ueberlieferung, Gewöhnung u. dergl. gewährleistet, sondern allein durch das begriffliche Wissen vom Wesen des Sittlichen; wie denn auch das Gegenteil der Tugend nach Sokrates in erster Linie auf dem Mangel an derartigem Wissen beruhen soll.

Sokrates selbst suchte nun diesen neuen Standpunkt, der in sehr fruchtbarer Weise die Möglichkeit der Erkenntnis zugleich mit ihrer praktischen Bedeutsamkeit ins Licht setzt, vorwiegend durch die Art seines Verkehrs mit den Volksgenossen und seiner eigenen Lebensführung zu erläutern, während einzelne seiner Anhänger ihn teils mit eleatischen, teils mit sophistischen Motiven zu vermitteln bemüht waren. Zum Quellpunkt aber für eine neue umfassende Weltanschauung wurde der neugewonnene Gedanke der begrifflichen Erkenntnis als der allein maßgebenden von seinem größten Schüler Platon gemacht und zwar in einer Vertiefung, die unbeschadet ihrer Originalität auch den Ertrag der früheren Welterklärungsversuche in sich aufgenommen hatte.

 

8. Das gemeinsame Ergebnis der von der Sophistik und Sokratik gegebenen Anregungen bestand in dem neuen Ausblick nach den Normen der Erkenntnis sowohl für die Außenwelt, wie für das Handeln, insbesondere an der Hand der Frage, inwieweit die Erfahrung in sich selbst solche Normen habe, und inwieweit sie durch die Erkenntnis aus Begriffen zu ergänzen sei. Außerdem in der Frage nach dem Werte der Dinge und des Handelns, sowie nach der Möglichkeit und der Tragweite von Wertbegriffen überhaupt. Hierzu nahm nun Platon als echter Schüler des Sokrates zuerst dadurch Stellung, daß er als feste Erkenntnis nur das betrachtete, was in der Erfahrung und im Handeln an begrifflichem Gehalt liegt. Der Inhalt der allgemeinen Begriffe für das Natur-, wie für das Gemeinschaftsleben wird, nach seiner Ueberzeugung, durch das, was in der Erfahrung ist und geschieht, nicht erst erzeugt, sondern schreibt die Art und Weise, wie man den Zusammenhang der Dinge auffassen und die Handlungsweise der Menschen beurteilen soll, von vornherein schon vor. Denn der Inhalt dieser Begriffe oder Ideen liegt von Haus aus schon im Bewußtsein und wird durch die erfahrungsmäßige Erkenntnis für dasselbe gleichsam nur transparent gemacht, um dann als Norm für die Auffassung und Beurteilung der Objekte zu dienen. In Verbindung hiermit steht bei Platon der Gedanke, daß das Begriffliche sowohl in der Natur (die Begriffe der Gattungen, Arten, allgemeinen Eigenschaften und Beziehungen), wie auch im Handeln (die Begriffe der Tugend, des Staats u. a.), nicht nur den allgemeinen Gehalt, sondern auch den Wert der Dinge und Handlungen bezeichne, oder, wie Platon dies beides in einem obersten Begriffe auszudrücken beliebt, das wahre Sein derselben. Vor den Ansprüchen der Erkenntnis selbst bekunden sie diese ihre Normalität durch den Umstand, daß sie in ihren Inhalten ein Konstantes, mithin wirklich Erkennbares darstellen, während dem gegenüber das sinnlich wahrnehmbare Einzelne im Sein und Handeln als sein Charakteristisches die Veränderlichkeit zeigt, die der Erkenntnis nichts bietet, woran als Bleibendes sie sich halten kann. Das Wahre ist daher überall das Allgemeine, die Ideen, die den »ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht« bilden. Sie sind die unräumlichen und unzeitlichen, nicht mit der Wahrnehmung, nur mit dem Denken erfaßbaren Urbilder der vergänglichen Sinnendinge. Als solche stehen sie nicht in, sondern über der sinnenfälligen Erfahrung, die ihnen überall nur mehr oder weniger unzureichend nachgebildet ist. Kein einzelnes Exemplar einer bestimmten Naturgattung z. B. bringt (nach Platons Anschauung) den entsprechenden Gattungstypus in ganzer Vollkommenheit zum Ausdruck, und würde, auch wenn es dies thäte, hinter ihm jedenfalls durch seine Vergänglichkeit zurückstehen, während der Typus selbst sich in der Folge der Generationen und in der Vielheit seiner Exemplare als ein Bleibendes ausweist. Unsre Allgemeinbegriffe und ihre logischen Verhältnisse sind daher nur die subjektiven Ausdrucks- und Erkenntnisweisen für die objektiv bestehenden Gattungstypen oder Ideen, an denen die Dinge, die wir vermittelst jener denkend umspannen, erst die eigentliche letzte und höchste Bedingung ihres Daseins haben. Die unsichtbare Welt jener Typen, die sich dem denkenden Bewußtsein in dem logischen Aufbau der Begriffe (vermittelst ihrer Neben-, Unter- und Ueberordnung) darstellt, bildet eine Stufenfolge höherer und höchster einander über- und untergeordneter idealer Muster und Werte als Vorbilder für die Ausgestaltung der sichtbaren Welt, und hat ihre Spitze, ihr höchstes und sie selbst wiederum bedingendes und beherrschendes Prinzip in der Idee des Guten, die als solche identisch ist mit der Gottheit. In dieser ewigen, idealen, nichtsinnlichen Welt liegt das wahre Sein, die echte Wirklichkeit, während die Sinnenwelt, wie Platon sagt, zwischen diesem Sein und andrerseits dem Nichtsein in der Mitte stehend diese Mittelstellung eben in ihrer Veränderlichkeit und Vergänglichkeit zum Ausdruck bringt.

 

9. Der frühere Gegensatz der Prinzipien, der sich besonders in dem Verhältnis der heraklitischen und der eleatischen Spekulation zum Ausdruck brachte, erscheint in der platonischen Weltanschauung vermittelst einer neuen Intuition durch einen höheren Standpunkt überwunden. Das Veränderliche und das Bleibende streiten hier nicht mehr um die Weltbeherrschung, sondern sind der Gesamtwelt als zwei sich ergänzende Bestandteile eingeordnet. Jenes ist die Eigenschaft der Sinnenwelt; dieses bezeichnet das Wesen des höheren und wahrhaft wirklichen Seins, das der Welt des Sichtbaren als das Schöpferische und Normgebende vorausliegt. Hierzu erhebt sich nun aber die neue Frage nach den Grundlagen und Beziehungen, in denen und vermittelst deren die Ideen als oberste Ursachen eine Sinnenwelt zu schaffen und sie in der bestimmt ausgeprägten Wirklichkeit, worin sie thatsächlich vorliegt, zu bedingen vermögen. Diese Frage in der hier formulierten Bestimmtheit scheint Platon von Haus aus einer Beantwortung überhaupt nicht für bedürftig gehalten zu haben. Er war geneigt, sie mit Angaben wie die, daß die Dinge an den Ideen »teilnehmen« oder sich zu ihnen wie Abbilder zum Original verhalten, für erledigt anzusehen. Es waltete hier im Grunde einfach die Anschauung, daß das Seinsollende (die absoluten Werte) seinem Wesen nach nicht umhin könne, in der Gestalt einer Welt wirklich und damit eben – verwirklicht zu sein. Auf die Dauer freilich konnte sich der Philosoph, schon unter der Nachwirkung der von den früheren Systemen betreffs der Weltentwicklung aufgeworfenen Probleme, der Frage nach dem Substrate, an und in welchem die Verwirklichung sich vollziehe, nicht entschlagen, und auch an der weiteren Frage nach dem Hergange dieser Verwirklichung nicht ganz vorbeigehen. Jener ersteren suchte er zu genügen durch die Annahme der Materie, die er mit dem Raume gleichsetzte. Dieser gilt ihm als das Substrat, welches unter der Wirksamkeit ewiger Typen (der Ideen) zu der Mannigfaltigkeit der sinnenfälligen Gattungen von Einzeldingen sich muß auswirken lassen. Der einheitliche Strahl der Idee wird gleichsam gebrochen an dem dunklen Untergrunde des Materiellen oder der Räumlichkeit, um in der Zurückwerfung von dort her als eine Vielheit sinnlich-räumlicher Einzelgestaltungen zu erscheinen. Zur urbildlichen Verdeutlichung aber dieses Vorgangs und seiner Möglichkeit (also zur Beantwortung der anderen Frage) griff Platon zurück auf die Prinzipien der Pythagoreer, die hier in die ursprüngliche Konzeption der Ideenlehre sich mußten einordnen lassen. Der Gegensatz oder Gegenpol der Ideenwelt ist für ihn die Materie oder der Raum als das Unbegrenzte, wohinein unter der vorbildlichen Wirksamkeit der Ideen sich Begrenzung (Abgrenzung) bildet, die sich als Zahl-, Figur- und Maßbestimmtheit zur Wirksamkeit bringt. Die Idee als bestimmter Gattungstypus bedingt (kraft ihres schöpferischen Wesens) eine mathematisch (durch Zahl, Figur und Maß) bestimmbare Art und Weise, wie die unbegrenzte Räumlichkeit sich zur charakteristischen Eigentümlichkeit einer besonderen Art von Dingen muß auswirken lassen. Auf diese Weise und in diesem Sinne ist oder wird die Idee zur Ursache nicht nur des Daseins der entsprechenden Gattung von Dingen, sondern auch ihres erfahrungsmäßigen Beschaffenseins. Mit weiteren Fragen zur Verdeutlichung darf man nun freilich an diese Ansicht nicht herantreten. Insbesondere muß jede Anschauungsweise, die sich die Idee in ihrem Verhältnis zum Unbegrenzten und Begrenzenden als wirkende Kraft nach Analogie eines Naturfaktors vorzustellen geneigt wäre, von vornherein ferngehalten worden. Als letzte Antwort auf die Frage nach dem Wie der Ideenwirkung in Hinsicht der materiellen Welt bleibt es somit doch bei der Behauptung, daß der bestimmte begriffliche Inhalt der Idee oben als das übersinnliche (transcendente) Muster oder Original für die entsprechende Eigenart der sie in wahrnehmbarer Wirksamkeit repräsentierenden Gattung von Dingen existiere, und wir erhalten keine abschließende Auskunft zu der Frage, wie nun die Verwirklichung und Ausprägung dieses Musters in und an der Materie möglich sei und sich thatsächlich vollziehe. Der Gedanke einer Entwickelung der Welt und der Dinge vom materiellen zum idealen Wesen liegt hier noch ganz in der Ferne.

Zu dieser einen Unzulänglichkeit der platonischen Grundanschauung hinsichtlich des Wesens der Idee tritt dann noch eine andere im Begriffe der Materie. Nach der ursprünglichen Fassung der Lehre sollten die Ideen das wahre Sein, die Sinnendinge aber ein Mittleres zwischen Sein und Nichtsein repräsentieren; nach der späteren dagegen bilden die letzteren eine Mittelwelt, die hervorgeht aus dem Zusammenwirken der absoluten Gegensätze, als welche sich auf der einen Seite die Ideen, auf der andern die Materie darstellen. Nach dieser Analogie fällt, wie das eigentliche Sein auf die Ideen, so das Nichtsein auf die Materie, und Platon hat nicht umhin gekonnt, die Berechtigung dieser Folgerung ausdrücklich zuzugeben. Wie aber mit dem Seienden das Nichtseiende in positive Beziehung, gleichsam in Wechselwirkung treten kann, ohne sich damit doch (im Widerspruch mit seinem Begriffe) gleichfalls als ein Seiendes, und noch dazu (im Vergleich mit der ihrer Natur nach sekundären Sinnenwelt) gleich den Ideen als ein primäres, ursprüngliches Seiende auszuweisen, bleibt schließlich eine offene Frage. So sind bei Platon am Ende weder die Sinnenwelt noch die Materie für die Erkenntnis zu etwas wirklich Begreiflichem geworden und damit scheint aus naheliegenden Gründen zuletzt auch die Lehre von der Ideenwelt den eigentlichen Stützpunkt ihrer logischen Berechtigung zu verlieren.

Das letzte Urteil über den Wert der platonischen Lehre ist mit der Heraushebung der bezeichneten Unzulänglichkeiten freilich nicht gesprochen. Wohl aber liegt in diesen der Hinweis auf die Motive für die Stellung, welche Aristoteles zu der Grundanschauung seines großen Lehrers einnahm. Zum ausreichenden Verständnis dieses Punktes selbst aber, mit dem wir in die Darstellung seines philosophischen Lehrgebäudes einzutreten haben, ist es erforderlich, zunächst die Persönlichkeit und das Leben des Aristoteles etwas näher vorzuführen.


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