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VI.
Kunsttheorie

1. Aristoteles' Verdienst um dieselbe. 2 Die ästhetische Wahrheit. 3. Die Einheitlichkeit des Kunstwerks. 4. Die ästhetische Wirkung der Tragödie.


1. Für die Philosophie der Kunst hat sich Aristoteles ebenfalls als bahnbrechender Denker erwiesen, und zwar in erster Linie dadurch, daß er zuerst mit Bestimmtheit und Bewußtsein die Aesthetik (wenn auch noch nicht unter diesem Namen) als eine besondere Disziplin und Aufgabe der philosophischen Betrachtungsweise aufzeigte. Neben den Werken der Natur und den Schöpfungen des Gemeinschaftslebens stehen ihm als ein Gebiet eigenen Charakters die künstlerischen Hervorbringungen, daher die hierauf bezügliche Wissenschaft sich von jenen beiden (der theoretischen und der praktischen) als die »poiëtische« (hervorbringende) unterscheidet. Ihre Betrachtung beginnt er nun nicht, wie die neuere Aesthetik, etwa mit der Analyse des Schönheitsbegriffs; denn er blickt, wie überall, so auch hier, nicht in erster Linie auf die gleichsam über den Gegenständen schwebenden Allgemeinbegriffe, sondern auf die Art und Weise, wie diese in den konkreten Dingen der Wirklichkeit verkörpert heraustreten. Die Frage, von der er ausgeht, ist die nach dem Wesen der Kunst, aus deren Wesensbestimmung sich ihm die Eigenschaften des Kunstschönen als darin eingeschlossen mit ergeben. Was er außerhalb dieses Gebietes gelegentlich von dem Wesen des Schönen sagt, das er seinem allgemeinen Begriffe nach noch nicht hinreichend weder von dem des Guten, noch andrerseits von dem des Zweckmäßigen zu sondern beflissen ist, kann hierneben außer Betracht bleiben.

 

2. Angeregt wahrscheinlich durch die ziemlich abschätzige Art und Weise, wie Platon den Wahrheitsgehalt der Dichterwerke als bloße »Nachahmungen« der sinnlichen Dinge zu dem der philosophischen Betrachtungen in Gegensatz stellte, erhebt Aristoteles zum ersten Male mit zielbewußter Erörterung die Frage von dem Wesen der ästhetischen Wahrheit. Die psychologische Wurzel der Kunst erblickt auch er in der Lust an der Nachahmung, die ihm im letzten Grunde eine Wirkung des Erkenntnistriebes ist, sofern wir im Bilde den dargestellten Gegenstand wiedererkennen. Die künstlerische Nachahmung hat als Unterlage nichts anderes, als die gewöhnliche, nämlich die gegebene Welt und Wirklichkeit, insbesondere aber den Menschen und sein Verhältnis zur beseelten und unbeseelten Umgebung. Dasjenige nun, wodurch die ästhetische Nachahmung über die gemeine Art des Nachahmens hinausgeht, besteht nach Aristoteles darin, daß sie die Abbilder der Dinge und Handlungen, die sie liefert, nicht als bloße Kopien oder Vervielfältigungen der Wirklichkeit hervorbringt, sondern als Darstellung des wahren Wesens: nicht so wie sie sind, sondern wie sie sein könnten oder sollten (οἷα ἂν γένοιτο). Sie giebt m. a. W. das Einzelne nicht in seiner individuellen Zufälligkeit, sondern geht auf das vollkommene gattungsmäßige Wesen des Dargestellten; sie reproduziert ebenso nicht den alltäglichen, von allerhand Zufälligkeiten gekreuzten und oft entstellten Ablauf von Handlungen und ihren Verkettungen, sondern den aus dem innern Wesen der Charaktere und Situationen geforderten Hergang und Abschluß. Dadurch erreicht sie in Bezug auf den Zuschauer, daß die Gefühle, die das Kunstwerk seiner Eigenart gemäß anregt, zum reinen und vollen Ausklingen gelangen. Die Kunst, insbesondere die Poesie, ist daher, wie Aristoteles hervorhebt, vorzüglicher und philosophischer als z. B. die Geschichte, weil sie nicht bloß wie diese, eine Reihe von unausweichlichen Thatsächlichkeiten, sondern allgemeine Gesetze und Werte erkennen lasse. Ein Kunstwerk insbesondere, wie die Tragödie, soll nicht bloß darauf ausgehen, zu zeigen, wie etwa ein ganz Schuldloser in Unglück gerät, oder ein ganz Schlechter glücklich wird. Ihre geeignetsten Objekte sind vielmehr Charaktere von einer gewissen sittlichen Mittelhöhe, die »durch eine große Verfehlung« (δι' ἁρματίαν μεγάλην) sich den Untergang bereiten.

 

3. Weiter als in den vorstehenden Umrissen geschehen ist, hat Aristoteles das, was wir jetzt als die Idealisierung der Wirklichkeit von Seiten der Kunst zu bezeichnen pflegen, wenigstens in den erhaltenen Schriften, nicht zu bestimmen unternommen. Ebenso grundlegend aber für die nachmalige Entwicklung der Aesthetik, wie jene Umrisse, ist dasjenige, was er als formales Prinzip der Kunstschönheit aufweist und als die Einheitlichkeit des Kunstwerks betrachtet. Wir sind allerdings auch hierfür darauf angewiesen, den allgemeineren Sinn seiner Ansicht aus den konkreten Vorschriften zu abstrahieren, die er in der Poetik betreffs der Einheit namentlich des Dramas gegeben hat. Die Einheit der Handlung in diesem besteht ihm nicht darin, daß die Begebenheiten sich in der Hauptsache um eine und dieselbe Person gruppieren, sondern daß sie ein in sich selbst ruhendes Ganzes ausmachen, d. h. ein solches, dessen Teile sich gegenseitig so zusammenschließen, daß keiner davon weggenommen oder umgestellt werden kann, ohne das Ganze als solches zu stören oder aufzuheben. Was durch sein Hinzutreten das Ganze nicht unmittelbar verständlicher macht, ist nicht als »Teil« desselben anzusehen. Hiermit im Zusammenhang steht die Geschlossenheit (Ueberschaubarkeit) der Handlung; sie giebt der Größe des Kunstwerks ein gewisses Maß, stellt die Teile in einer durch die Beschaffenheit des Motivs bedingten Ordnung zu einander, und läßt aus dem Anfange sich das Uebrige mit der in den dargestellten und vorausgesetzten Begebenheiten und Charakteren liegenden Notwendigkeit folgerichtig bis zum Ende entwickeln. Man erkennt unschwer, daß diese Vorschriften mutatis mutandis auch Geltung haben für die Werke der bildenden Künste (betreffs deren Aristoteles selbst bei Gelegenheit jener Erörterung auf die Malerei hinweist), ferner auf die Musik und überhaupt für alles, was in den Bereich irgend einer Kunst fällt. Das oberste Prinzip für das ästhetische Wesen des Kunstwerks bezeichnen sie allerdings erst dann, wenn man noch den Gedanken hinzufügt (der bei Aristoteles noch nicht zum Ausdruck kommt), daß in der ästhetischen Perzeption die gegenseitige Unentbehrlichkeit und Unantastbarkeit der Teile und ihrer Ordnung nicht von vornherein durch begriffliche Reflexion und überhaupt durch Ueberlegung erkannt, sondern daß sie schon in der unmittelbaren Anschauung gefühlt und genossen wird. Mit dieser Erweiterung aber läßt Aristoteles als wesentliche Bedingung des Kunstschönen (und schließlich des Schönen überhaupt) bereits diejenige Eigentümlichkeit erkennen, welche nachmals Kant vermittelst der Formel »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« auszudrücken versuchte, und welche dann Schiller zur durchsichtigen Auffassung brachte in der Lehre, das formale Kenn- und Wahrzeichen des Schönen liege in dem Eindrucke von »Freiheit in der Erscheinung«.

 

4. Bei Aristoteles selbst tritt diese Grundanschauung, wie gesagt, hauptsächlich in der Lehre von der Einheitlichkeit in dem Aufbau des Dramas heraus. Der Streit über die Frage, was alles nach Aristoteles unter der Einheit des Dramas zu verstehen sei, hat bekanntlich im 18. Jahrhundert in der Entwicklung unserer nationalen Litteratur durch Lessings Angehen gegen die französische Auffassung jener Lehre eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. Jener zufolge sollte die normale Beschaffenheit eines Dramas auf den drei Einheiten des Ortes, der Zeit und der Handlung beruhen. Lessing dagegen hat richtig und mit Erfolg gezeigt, daß Aristoteles nur die Einheit der Handlung verlangt. Ueber den Ort in der Tragödie findet sich bei ihm überhaupt keine Vorschrift, und in Betreff der Zeit nimmt er an einer bestimmten Stelle nur Veranlassung, die größere Abgeschlossenheit hervorzuheben, wodurch sich hinsichtlich dieser das Drama vom Epos unterscheide: die Tragödie suche meistens den Zeitraum eines Tages oder etwas darüber zu umspannen (Poet. Kap. 5). Wirklich maßgebend für die Technik des Dramas soll aber nach Aristoteles keine andere Einheit sein, als die der Handlung.

Die speziellere Bestimmung des Wesens der Tragödie entspringt für Aristoteles, wie wir gesehen haben, aus der Frage, wie ein Kunstwerk, das seiner Beschaffenheit nach zunächst Unlustaffekte aufrege, es fertig bringe, dem Zuschauer einen ästhetischen Genuß, also ein Lustgefühl zu bereiten. Und die Antwort gab er durch den Hinweis darauf, daß es möglich sei, die an sich beschwerenden (drückenden) Affekte der Furcht und des Mitleids durch den dargestellten Gang der Handlung zu läutern, d. h. nicht sie auszuscheiden, sondern sie in eine Art von Lustaffekten zu verwandeln (s. o. S. 91). Auf die weitere Frage, durch welche Mittel sie dies zuwegebringe, ist Aristoteles in der Poetik spezieller eingegangen. Eine völlig ausreichende Erklärung der Umwandlung von Furcht und Mitleid in Lustaffekte hat er in der psychologischen Thatsache ihrer erhöhten und andauernden Aufregung allein nicht gesehen; er hat vielmehr auch die künstlerischen Handhaben zu bestimmen gesucht, wodurch die Katharsis derselben ihren spezifisch ästhetischen Charakter bekommt. In dieser Richtung wirkt nach seiner Ansicht in erster Linie der Umstand, daß die Tragödie Nachahmungen jener Affekte vorführt, sofern dem Menschen von Natur eine Freude an gelungenen Nachahmungen eigen ist. Hierzu treten dann die Lustempfindungen, welche der dramatische Fortgang der Handlung als Kunstwerk mit sich führt; ferner die, welche durch die Anwendung von Rhythmus und Metrum, poetischer Diktion, Musik u. dgl. bedingt sind; weiter von seiten des Inhalts die Vorführung edler Charaktere, die überraschenden Wendungen, die Erkennungsscenen und was sonst noch zu den technischen Erfordernissen einer guten Tragödie gehört. Mehr in den Begriff der tragischen Katharsis hineinzulegen, als was durch die angeführten Bestimmungen umschrieben ist, dürfte, soweit die Ansicht des griechischen Philosophen selbst in Betracht kommt, nicht berechtigt sein, da für diesen die »Läuterung« der bezeichneten Affekte wesentlich auf der dramatisch-künstlerischen Komposition des Ganzen beruht und an diese gebunden bleibt. Die sublimierten Auffassungen der Katharsis, wie sie an der Hand der modernen Aesthetik so reichlich hervorgetreten sind, ihre Erklärung etwa als das Gefühl, worin der Mensch sich seiner Stellung zum All und dessen geheimnisvoll vergeltenden Gesetzen bewußt wird, oder als das Aufgehenlassen des eigenen kleinen Leides in dem Leiden der ganzen Menschheit u. dgl., geben allerdings bezeichnende Einblicke in die große Vertiefung, deren die aristotelische Auffassung des Tragischen fähig ist, und haben sich aus der historischen Weiterentwicklung der von ihm gegebenen Definition herausgebildet; ebenso unzweifelhaft dürfte aber sein, dass sie über den Rahmen desjenigen, was Aristoteles selbst mit jener Begriffsbestimmung sagen wollte, weit hinausgehen.


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