Mendele Moicher Sforim
Die Fahrten Binjamins des Dritten
Mendele Moicher Sforim

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Ende gut, alles gut

Es darf jedermann überlassen bleiben, sich die furchtbare Lage unserer armen Wanderer vorzustellen, die Qualen und Leiden, die sie durchzumachen hatten; wir können uns ihre Schilderung ersparen. Am Anfang waren sie völlig betäubt und begriffen ganz und gar nicht, was mit ihnen geschehen war. Alles war ihnen entsetzlich fremd: die Kaserne, die Soldaten, die Sprache und die Befehle, die man ihnen erteilte. Der Soldatenmantel hing wie ein Sack um ihre Leiber und sah wie ein Weibergewand aus, und auch die Mütze, den Steinen sei's geklagt, saß auf ihrem Kopf wie eine Haube. Wenn man sie sah, mußte man denken, das Ganze sei ein Spaß, es hätten sich zwei Juden verkleidet, um das Soldatenwesen zu verspotten, als äfften sie alles nur nach, um so recht vor aller Augen sichtbar zu machen, wie unsinnig und närrisch das ganze militärische Wesen sei. Ein trauriges Schicksal hatte das Gewehr, das in ihre Hände geraten war, es wirkte wie ein Schürhaken. Wenn sie damit hantierten, sah es aus wie Männerarbeit am Herd und am Backofen. Beim Exerzieren vollführten ihre Arme und Beine derartige Kunststücke, daß es die reinste Komödie war. Es versteht sich, daß es auch an Schlägen nicht fehlte. Aber gibt es in der Welt ein Leid, an das der Mensch sich schließlich nicht gewöhnt? Und nicht nur der Mensch, das gleiche gilt auch von anderen Geschöpfen. Was lebt freier als ein Vogel, und doch gewöhnt er sich allmählich, sobald man ihn gefangen und in einen Käfig gesteckt hat, pickt munter seine Körner, hüpft und singt, als sei die ganze Welt mit Feldern, Wäldern in seinem Käfig mit eingefangen. So gewöhnte sich auch Senderl immer mehr an seinen Zustand, beobachtete beim Exerzieren, wie es die andern Soldaten machen, und versuchte auf seine Weise, es ihnen gleichzutun. Es war ein Spaß zu sehen, wie Senderl für sich selbst das Exerzieren wiederholte: er strammte sich wie eine Saite, riß den Kopf hoch, blies die Backen auf wie ein Held, schwang die Beine und stolzierte im Marschtritt daher wie ein aufgeplusterter Truthahn, machte die Schwenkungen, bis er über seine eignen Füße stolperte und hinfiel. Dahingegen konnte Binjamin sich unter keinen Umständen gewöhnen. Er gehörte seiner Natur nach zu den Vögeln, die man Wandervögel nennt, die jedes Jahr im Spätsommer davonfliegen, um fern im Süden zu überwintern. Der Wandertrieb ist in ihnen so mächtig, daß, wenn sie um diese Zeit im Käfig gefangen sind, ihnen das Leben verleidet wird, sie fressen und trinken nicht, klettern an den Wänden hoch und suchen einen Spalt, um zu entrinnen. Die Sehnsucht, in die fernen Länder zu gelangen, hatte sich zu tief in Binjamin eingefressen, war ihm gleichsam zur zweiten Natur geworden, ihr zuliebe hatte er Weib und Kind verlassen, und sie ließ ihm auch jetzt keinen Augenblick Ruhe. Sie bohrte, stach ständig in seinem Kopf, sie trieb und schrie in ihm: Binjamin, mach dich los und zieh fort, fort!

Darüber verging der Winter und unser Binjamin hatte schrecklich auszustehen.

Eines schönen Tages – es war nach Ostern – als Senderl auf seine Weise für sich exerzierte, trat Binjamin zu ihm und sprach:

»Wahrhaftig, Senderl, du bist kindisch! Du spielst und machst da Kunststücke wie ein Halbwüchsiger! Was soll das Ganze für einen Zweck haben? Denk doch daran, daß du, gepriesen sei Sein Name, ein verheirateter Mann bist, dazu doch auch ein Jude! Was für einen Sinn hat es, daß du dich mit dergleichen abgibst und deinen ganzen Kopf daran wendest? Was ist für ein Unterschied, ob du mit dem linken oder mit dem rechten Bein die Schwenkung machst, wie sie es nennen, was liegt daran?«

»Was weiß ich«, erwiderte Senderl, »man befiehlt Rechtsum, soll sein Rechtsum, was habe ich dagegen?«

»Und unser Reiseplan? Hast du ihn schon vergessen? Denk doch um Gottes willen, unsere Reise in die Ferne – oh, Lindwurm, Maulesel, Vipernatter . . .«, erhitzte sich Binjamin immer mehr.

»Marsch, marsch, marsch«, machte Senderl und schwang die Beine.

»Weh über dich und deinen Marsch, Senderl, pfui, schämen sollst du dich! Sag mir doch lieber, du Kindskopf, wann wollen wir unsere Reise fortsetzen?«

»Meinetwegen gleich und mit Vergnügen, sobald sie uns nur lassen.«

»Was brauchen wir sie, und was brauchen sie uns?« rief Binjamin aus, »überleg doch, Senderl, und sag selbst, so wahr du ein Jude bist, gesetzt der Feind rückt, behüte, an, werden so zwei wie wir ihm entgegentreten können? Und wenn du ihm tausendmal zurufst: geh fort, sonst mach ich pfiff-pfaff! wird er denn auf dich hören? Im Gegenteil, er wird sich auf dich stürzen, und du wirst von Glück sagen dürfen, wenn du seinen Händen lebend entrinnst. Glaub mir, ich beteure dir, so wie ich die Sache ansehe, sind wir hier ganz überflüssig, und auch sie würden uns gern loswerden. Hab ich doch selbst gehört, wie es dem Ältesten einmal entfahren ist, wir seien eine wahre Schickung, und wenn es nach ihm ginge, hätte er uns längst zu allen Teufeln gejagt! Und in der Tat, was brauchen sie uns? Ich sag's dir, Senderl, ganz offen, das Ganze war von Anfang an eine schiefe Sache und keine passende Partie. Wir taugen für sie nicht, und sie nicht für uns. Die Juden, die uns in ihre Hände gespielt, mögen ihnen wohl erzählt haben, daß wir gewaltige Helden seien und das Kriegshandwerk von Grund auf verstünden. Was können aber wir dafür, daß die Juden sie betrogen haben? Freilich haben sie auch uns auf die gemeinste Weise gefoppt! Wir waren doch in der Absicht hierhergekommen, etwas Geld zu sammeln und unsere Wanderung fortzusetzen, von Kriegshandwerk ist überhaupt keine Rede gewesen. Ich will im Gebetmantel und Sterbehemd einen Eid darauf schwören, daß so etwas überhaupt nicht erwähnt worden ist. Einen Menschen einfach zu entführen, das gilt nicht, wo bleibt da die Gerechtigkeit, da hört doch alles auf! Kurz, sie können nichts dafür, daß wir hereingefallen sind, und wir nichts dafür, daß man sie betrogen hat. Schuldig allein sind nur jene Juden, die Verbrecher, die beide Parteien belogen haben. Sie allein, Senderl, tragen die ganze Schuld.«

»Was meinst du also, daß wir tun sollen, Binjamin?« fragte Senderl.

»Ich will«, erwiderte Binjamin, »daß wir bald unsere Reise fortsetzen. Wir machen einfach die Partie rückgängig. Ich glaube, das kann uns niemand verwehren, nach Recht und Billigkeit darf uns niemand zurückhalten. Wenn du aber Angst hast, daß man uns doch nicht läßt, so gibt es dagegen ein einfaches Mittel: wir machen uns in aller Stille davon, wer braucht's zu wissen? Wir brauchen ja von niemand Abschied zu nehmen.«

»Auch ich bin der Meinung, daß Abschiednehmen überflüssig ist. Haben wir doch, als wir Haus und Heim verließen, zu niemandem, nicht einmal zu Weib und Kind auch nur: ›Ihr könnt uns . . .‹ gesagt!«

Seit dieser Unterhaltung begannen unsere Helden Fluchtpläne zu schmieden. Binjamin wurde von großer Unruhe umhergetrieben, er war erregt, wie eine Henne, die es im Frühjahr treibt, ihre Eier auszubrüten. Wenn er aus Zerstreutheit einen Vorgesetzten nicht grüßte und dafür eine Ohrfeige oder einen Schlag erhielt, verzog er keine Miene. Die Kommandorufe beim Exerzieren drangen nicht einmal durch seine linke Schläfenlocke. Er beachtete dergleichen so wenig, wie die Cernowitzer die Vorlesung der Megilla Esther. Er war besessen von seiner Reise, und sein ganzes Sinnen und Trachten war weit, weit weg. Einmal spät in der Nacht, als die ganze Kaserne in Schlaf versunken war, näherte sich Binjamin auf Fußspitzen Senderls Lagerstatt und fragte flüsternd:

»Bist du bereit, Senderl?«

Senderl nickte nur, faßte Binjamins Rockschöße, und beide schlichen sich leise in den Hof hinaus.

Draußen blies ein warmer Wind. Schwarze und braun-blaue Wolkenballen jagten am Himmel hintereinander her, als führten tausend Schiffer in großer Eile ihre mit Waren hochbeladenen Kähne dahin, um rechtzeitig zur Messe im Himmel anzukommen. Der Mond folgte dem sonderbaren Zug wie ein Aufseher, steckte von Zeit zu Zeit den Kopf heraus, als wolle er nachsehen, was draußen geschehe, dann verbarg er sich wieder und lag eingekuschelt unter seiner schwarzen wie mit Teer bestrichenen Wolkenbettdecke. Unsere Helden stahlen sich im Dunkeln über den Hof, krochen auf einen Holzstapel, von dem aus es nicht mehr schwer war, auf die Palisade zu gelangen. Plötzlich fuhr Senderl zusammen und flüsterte Binjamin ins Ohr: »Ach, Binjamin, ich habe unsern Sack vergessen! Soll ich umkehren?«

»Gott bewahre!« sagte Binjamin, »umkehren ist schlimm. Wenn Gott uns helfen will, hilft er auch ohne Sack!«

»Jetzt fällt mir wieder ein«, sagte Senderl, »wie mein Großvater Reb Senderl, Friede seit mit ihm, mich im Traum gewarnt hat. ›Steh auf, Senderl‹, sagte er, ›und lauf davon, wohin dich die Augen tragen!‹ Möchte uns sein Verdienst jetzt beistehen. War er doch ein Jude, was man einen Juden nennt. Einfach, ohne Kunststücke. Die Großmutter, Friede sei mit ihr, pflegte zu erzählen.«

Doch bevor Senderl erzählen konnte, was seine Großmutter vom Großvater zu erzählen pflegte, ließ sich die Stimme des Wachtpostens vernehmen. Unsere Helden drückten sich an den Zaun, hielten den Atem an, rührten sich nicht und sahen aus wie zwei große alte Kleiderfetzen. Etwas später, als es wieder still geworden war, gaben die Kleiderfetzen aber Lebenszeichen von sich und ließen sich langsam vom Zaun hinab. Sie krochen auf allen vieren weiter, bis Gott ihnen half, den Posten zu umgehen und in ein Seitengäßchen zu gelangen. Hier richteten sie sich auf, blieben, um Atem zu schöpfen eine Weile stehen und blickten sich mit vor Freude leuchtenden Augen an.

»Die Großmutter, Friede sei mit ihr, pflegte zu erzählen«, hub Senderl wieder an, »wie der Großvater Reb Senderl, Friede sei mit ihm, zu seinen Lebzeiten stets von der Absicht sprach, nach Erez Israel zu reisen. In seiner Todesstunde ließ er sich aufsetzen und sprach folgende Worte: ›Konnte ich von Gott die Gunst nicht erlangen, nach Erez Israel zu reisen, so bin ich doch sicher, daß eines meiner Kinder hingelangen wird.‹ Mein Herz sagt mir, daß er mich gemeint hat. Möchte es doch aus meinem Munde in die Ohren des Höchsten gelangen.«

Es gelangte jedoch in andre Ohren. Kaum hatte Senderl seinen Wunsch geäußert, als plötzlich jemand auf moskowitisch: Wer da? fragte, und als keine Antwort erfolgte, rasch näherkam und die Frage wiederholte.

Unglücklicherweise steckte der Mond gerade den Kopf durch die dunkle Wolkenschicht und beleuchtete unsere armen Helden, die vor dem schrecklich erzürnten und bedrohlich auf sie einredenden Vorgesetzten sprachlos und totenbleich dastanden und sich von ihm unflätig beschimpfen ließen. Einige Minuten später saßen sie bereits als Arrestanten auf der Hauptwache.

Wir haben nicht genug Worte, um die Leiden zu beschreiben, die unsere Helden im Gefängnis auszustehen hatten.

In einem Raume des Militärkommandos saßen einige Tage nach diesem Vorfall eine Anzahl Offiziere in Paradeuniform, unter ihnen der General und der Oberst. Dicht an der Tür standen zwei Soldaten mit gesenkten Köpfen, die wie eben aus der sauren Milch gezogene Mäuse aussahen. Die Offiziere betrachteten die Soldaten, musterten sie von Kopf bis Fuß, dann unterhielten sie sich wieder miteinander, wobei sie lächelten.

»Hörst du, Senderl«, sprach leise der eine Soldat, während die Offiziere in ihre Unterhaltung vertieft waren, »und wenn ich wüßte, daß es mein Tod ist, muß ich ihnen die ganze Wahrheit sagen. Ich bin geladen!«

»Von mir aus, sag ihnen die Wahrheit, Binjamin«, antwortete der andre, willst du so, so soll es so sein! Was habe ich dagegen?«

»Seid ihr die Leute, die in dunkler Nacht sich aus der Kaserne geschlichen haben?« fragte der General streng. »Wißt ihr auch, was darauf steht?«

»Wenn schon, wenn schon!« – begann Binjamin und legte beherzt und auf gut Glück halb jüdisch und halb russisch mit einer Rede los, daß Chaikel, der große Redner von Tunejadowka, sich dagegen in ein Loch hätte verkriechen dürfen.

Der General wandte sich lachend ab, winkte mit der Hand, worauf der Oberst statt seiner fortfuhr:

»Ihr seid eines schweren Vergehens schuldig und habt eine schwere Strafe zu gewärtigen!«

»Euer Hochwohlgeboren!« schoß Binjamin hervor, »Menschen mitten am hellen Tag greifen und wie Hühner auf dem Markt verkaufen, das darf man, versuchen aber die Armen sich zu retten, so nennt man das ein Verbrechen! Wenn dem so ist, dann ist die Welt wahrhaftig rechtlos. Und ich verstehe nicht mehr, was erlaubt und nicht erlaubt noch bedeuten sollen. Trotzdem, laßt uns doch die Menschen, die hier sitzen, befragen, wer der Schuldige ist. Gesetzt, man hätte Euch von der Straße weg entführt und mit Gewalt in einen Sack gesteckt und Ihr machtet dann alle Anstrengungen, aus dem Sack herauszukommen – wäret Ihr da, bewahre, schuldig? Ich erkläre Euch hier ausdrücklich, daß es von Anfang an eine erzwungene Sache war, ein Betrug – schuldig sind nur jene Juden. Wer weiß, was sie Euch eingeredet haben! Wir bekennen hier – sprich, Senderl, was stehst du wie ein Götze da, trau dich mit der Wahrheit heraus, wie Gott befiehlt, ohne Furcht und Zagen, und sprich zusammen mit mir: wir geben Euch kund und zu wissen, daß wir die ganze Kriegskunst nicht gekannt haben, nicht kennen und auch nicht kennen wollen. Wir sind, gepriesen sei Sein Name, verheiratete Männer, haben andre Dinge im Kopf und können uns mit dergleichen überhaupt nicht befassen, es geht uns nicht einmal in den Sinn ein. Was also braucht Ihr uns? Ich denke, Ihr selbst müßtet froh sein, uns loszuwerden.«

Und Binjamin hatte in der Tat recht. Man wäre sie schon lange gerne losgeworden. Als die Vorgesetzten sich unsere Helden, ihr Gehaben, ihre Sprache, ihr Marschieren näher besahen, merkten sie bald, mit was für sonderbaren Vögeln sie es zu tun hatten, und hielten sich oft die Seiten vor Lachen. Die Absicht dieser Sitzung war, sie einem Verhör zu unterziehen, sie zu prüfen, um es endgültig festzustellen. Binjamin und Senderl bestanden das Examen, gepriesen sei Sein Name, glänzend, man konnte es sich gar nicht besser wünschen. Die Offiziere lachten und hatten viel Vergnügen an ihnen.

»Nun, Doktor?« fragte der General einen Offizier, der sich lange mit unseren Helden abgegeben hatte. Der Arzt tippte an seine Stirn und schüttelte den Kopf, als wolle er sagen:

»Hier ist etwas nicht ganz richtig!«

Das Ergebnis, nachdem die Offiziere sich beraten und ein Schriftstück aufgesetzt hatten, war der Befehl, unsere Helden aus dem Dienst zu entlassen.

»Geht«, wurde ihnen bedeutet, »geht in Frieden!«

Binjamin verabschiedete sich mit großem Anstand mit einer Verbeugung und zog ab, Senderl setzte die Füße wie ein Soldat und folgte ihm im Marschtritt.


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