Mendele Moicher Sforim
Die Fahrten Binjamins des Dritten
Mendele Moicher Sforim

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Hurra, Rote Juden!

»He-hi-hot!« rief vom Bock eines Plachenwagens mit heiserer Stimme der Fuhrmann und hätte mit der Deichsel zwei Weiber fast umgerannt, die mitten in der lebhaftesten Straße von Glupsk, ihre Einkaufstaschen voll Fleisch, Rettich, Zwiebeln und Knoblauch am Arm, einander ihr Herz ausschütteten, mit einem Stimmaufwand, daß man sie meilenweit hören konnte. Sie stoben nach beiden Seiten auseinander und versuchten schreiend ihre Unterhaltung über die in langer Reihe vorbeiziehenden Plachenwagen, Droschken, Lastwagen hinweg fortzusetzen, da es unmöglich war, die Straße zu überschreiten.

»Sieh bloß, Chassje-Beile, was ist dort für ein Auflauf? Sicher brennt es wieder! Das ist heute schon der zweite Brand!«

»Man hört doch nicht die Glocken läuten! Bei einem Brand läuten sie doch! Wart, da kommt die Maklerin, ich will sie fragen! Sime Dwosche, was ist dort für ein Zusammenlauf?«

»Weiß ich's, ich hörte was von Roten Juden. Sie schreien da: Rote Juden!«

»Was, Rote Juden sind angekommen? Aj, ajaj. Da muß man doch hingehen und solch Wunder besehen!« riefen alle drei und stürzten mit Hast auf den Menschenhaufen zu.

»Hurra! Vipernatter! Lindwurm! Hurra, Rote Juden!« schrien die Gassenjungen aus der immer dichter zudrängenden Menge.

Die Roten Juden waren niemand anders als unsere Helden Binjamin und Senderl, die, kurz nach dem Ereignis auf dem Steig, in der Stadt Glupsk eingetroffen und im Laufe einiger Wochen bereits stadtbekannte Gestalten waren. Es fanden sich viele fromme Juden, für die sie ein wahres Ergötzen bildeten, fast so, wie der Schuster, der sich durch seine Wundertaten als ein »Verborgener« enthüllt hatte.

Tölze und Traine, zwei stadtbekannte alte Weiblein, fromme Seelen, hatten es sich zur Regel gemacht, an jedem Vorabend ihre Sabbatgewänder, die seidenen Jacken, die perlengestickten Stirnbänder anzulegen und vor die Stadt zu ziehen, um dem Messias entgegenzugehen. Sie waren die beiden Glücklichen, die eines Abends dort unseren Wanderern auf ihrem Marsch von Teterewka begegneten und ihnen zu einer vom Glück begünstigten Stunde das Geleit gaben. Schon beim ersten Zusammentreffen mit ihnen wußten sie, wen Gott ihnen da gesandt hatte. Tölze und Traine sahen sich überrascht in die Augen und stießen sich an. »Nun, Traine! Nun Tölze!« flüsterten sie, »haben wir nicht gleich geahnt, daß das keine gewöhnlichen Menschen sind!« Die alten Frauen blühten ordentlich auf, waren wie verjüngt, ihr Herz hüpfte vor Freude, als sie von der geplanten Reise vernahmen, immer wieder stießen sie sich vergnügt an und fragten lächelnd: »Nun, Traine? Nun Tölze?« Tölze stopfte ihnen die Socken, Traine besserte ihnen die Hemden aus, sie nähten Bändchen und Knöpfe an und waren überglücklich, wie zur Brautzeit in ihrer frühen Jugend. Kurz: unsere Wanderer fanden Verständnis in Glupsk.

Folgendermaßen schildert Binjamin diese Stadt:

»Kommt ihr in Glupsk durch die Teterewka-Straße an, dann bequemt euch gleich, eine Pfütze zu überspringen, weiterhin eine zweite, noch weiter eine dritte, die größte, in der sich, mit Verlaub, verschiedene Rinnsale vereinigen, die allerhand mitführen, jeden Tag etwas anderes und je nach der Substanz an Farbe und Geruch Verschiedenes. Dadurch ist es leicht festzustellen, welcher Tag in der Woche gerade ist. Ergießen sich, zum Beispiel, sandführende gelbliche Bächlein vom Bodenwaschen herrührend, und bringen sie Fischschuppen, Geflügelfüße, Hühnerköpfe, Haarbüschel mit verbrannten Hufstücken mit, dann wißt ihr, daß es Freitag ist. Ergreift Birkenbesen und Wasserschaff und eilt ins Bad! Seht ihr aber Eier-, Zwiebel- und Rettichschalen, Sehnen von Leber, Heringreste und große ausgehöhlte Markknochen, dann: ›Gut Schabbes euch, Juden, wohl bekomm euch die Kiggelspeise!‹ Sind aber die Rinnsale fast ausgetrocknet, kaum daß sie noch sickern, und liegen nur Reste von angebrannter Buchweizengrütze, vertrocknete Teigstücke, ein zerrissener Scheuerlappen und Teile eines zerfallenen Ofenwischs herum, so beweist das, daß es Sonntag ist: der Wasserfahrer hat noch kein Wasser gebracht, mit den letzten Resten im Faß hat man mit Mühe die Schalettöpfe und die großen irdenen Schüsseln notdürftig ausgewaschen. Und so hat an jedem Tage jede Pfütze ihr besonderes Aussehen und ihren besonderen Geruch. Seid ihr da glücklich hinübergelangt, so kommt ihr an einem stattlichen Misthaufen vorbei, der als Andenken an ein abgebranntes Haus übriggeblieben ist. Oben steht eine Kuh, als halte sie eine Predigt, bewegt gemächlich widerkäuend ihr Maul und blickt einfältig auf das Gewimmel der Juden herab, die wie Besessene mit dicken und dünnen Stöcken und Schirmen vorbeihasten, manchmal schnaubt sie, als seufzte sie über das ganze armselige Getriebe und auch über sich selbst, die das Mißgeschick traf, hierher zu geraten. Seid ihr an diesem Berg vorbei, dann geht nur weiter geradeaus, und wenn ihr ohne Unfall und gebrochenes Bein die im Wege liegenden Steinhaufen überwunden habt, gelangt ihr auf einen großen Platz, das ist der Kern von Glupsk. Heißt die Teterewka-Gasse mit Recht der Magen, so ist dieser Platz das Herz von Glupsk, das Tag und Nacht schlägt, der Mittelpunkt seines Lebens. Dort sind die Läden, Stände, Buden, auch die bekannten Hehlerstände, wo die Handwerker ihren ›Überschuß‹ verkaufen: Stoffreste, Borten, Bänder, Samt- und Pelzstücke. Dort ist ein gewaltiger Betrieb, es wimmelt und krabbelt von sich drängenden Juden, die von allen Seiten mit Deichselstößen traktiert werden. Die Ärzte behaupten, wenn man einen Glupsker Juden seziert, finde man eine Deichselstange in seinem Leib. Doch ist auf die Glupsker Ärzte kein Verlaß, die Bader spielen dort eine viel größere Rolle. Hier hört man zerlumpte Halbwüchsige unausgesetzt singend ausrufen: ›Heiße Bohnen, Juden! Zu mir her, heiße Buchweizenfladen, Knoblauch, Zwiebeln!‹ Hier wird man an manchem Vorabend zum Abendgebet gepreßt, mit Geschrei wird der junge Mond gefeiert, dabei jeder Vorübergehende mit ›Friede sei mit Euch, Onkel!‹ angebrüllt. Hier stehen Lastträger herum mit ihren groben Stricken, ausgediente Soldaten mit alten Stiefeln und abgetragenen Mänteln, Altkleiderhändler mit alten Hosen, Kapoten, Westen und allerhand Lumpen. Mittendrin steht der christliche Wächter und verzehrt mit Genuß ein Stück jüdisches Weißbrot, das er am Sabbat für das Lichterlöschen bekommen hat, und gibt höllisch acht, daß ihm beim Abbeißen keine Krume zu Boden falle. Ein Mädchen, ungewaschen, mit zerzaustem, wirrem Haar, stürzt plötzlich laut weinend herbei, fleht mit geborstener Stimme um Almosen, hält jeden an den Rockschößen fest, schluchzt röchelnd, als habe man sie mißhandelt und beraubt. Ein Haufen Gassenjungen verfolgt mit Geschrei einen Verrückten in einer zerdrückten Kopfbedeckung, der, halb jüdisch halb polnisch traurige Lieder singt. Dort steht ein junger Mann mit einem Kasten, die Leute sehen durch ein Guckloch, während er mit großer Zungenfertigkeit seine Sprüche dahersagt. ›Das ist London! Der Papst reitet in roten Hosen vorbei, und alle stehen mit entblößten Köpfen da! Hier seht ihr, wie Napoleon mit seinen Franzosen gegen die Preußen kämpft, und die Preußen laufen auseinander, wie die Küchenschaben! Hier ist dargestellt, wie Eine mit dem Sultan in der Equipage fährt, der Großvezier hält die Peitsche und treibt die Pferde an. Der Sultan ist aus dem Wagen gestürzt, hat sich recht weh getan, und sie versucht eilig zu entwischen! Schluß jetzt! Genug gesehen für einen harten Groschen!‹ Dort sitzen reihenweise Weiber mit Holzmulden vor sich, voll mit Bündeln Knoblauch, Gurken, Kirschen, Stachelbeeren, Johannisbeeren, Erez-Israel-Äpfeln, Kolniddre-Birnen und andrem Grünzeug. In einer Ecke des Platzes steht auf dünnen Pfählen, wie auf Hühnerfüßen ein altes windschiefes Schilderhaus ohne Tür und Fenster. Ganz alte Leute wissen zu erzählen, daß dort früher ein alter Wächter postiert war, und die ganze Stadt hinlief, um das Häuschen und den Soldaten wie ein Wunder zu begaffen.

Von den Juden – so lautet eine uralte Mär –, die der König Salomo auf Schiffen nach Ophir ausgeschickt hatte, um Gold und andre ausländische Waren nach Jerusalem zu bringen, sind viele aus den verschiedensten Gründen dort geblieben. Mit der Zeit begründeten sie in Indien große Geschäfte und Handelsunternehmungen, eröffneten Läden mit allerhand Kostbarkeiten, machten gewaltige Einkäufe bei den Deutschen dort, hatten einträgliche Agenturen und machten eine Zeitlang glänzende Geschäfte. Dann wandte sich das Rad, unsre Handelsherren wurden bankrott und mußten das Land verlassen. Ein Teil von ihnen ging in der Wüste zugrunde, ein andrer kam glücklich über die Grenze, stieg auf Schiffe und segelte die Pjatignilowka, die damals noch unmittelbar ins Meer fiel, stromaufwärts. So segelten sie eine Zeitlang, bis ein schrecklicher Sturmwind sich erhob und Wellen bis zum Himmel aufrührte, die das Schiff zertrümmerten und die Reisenden ans Ufer warfen. Dort bauten sie eine Stadt und nannten sie Glupsk. Die Altertumsforscher, die in ihrer Weisheit aus nichts eine Muskatkugel zu machen verstehen, wenden ihre ganze Wissenschaft auf, um zu beweisen, daß in der Legende ein wahrer Kern stecke. Sie begründen ihre Ansicht damit, daß erstens: die Bauart der Häuser sonderbar und auf uralte Vorbilder zurückzugehen scheine, als die Menschen noch in Zelten und Höhlen hausten; zweitens: aus den Sitten der Einwohner sei heute noch zu ersehen, daß sie von den Heiden stammen, unter denen sie in alter Zeit gelebt haben. Schreiben und Rechnen sind hier fast unbekannt, so daß alle Gemeindeangelegenheiten und die Geschäfte der Vereine ohne Bücher geführt werden, die Vorstände legen keine Rechenschaft ab. Drittens: die Kasten. Die Menschen zerfallen hier nämlich in verschiedene Kasten, wie früher in Indien, und zwar: in die Kaste der ›Griffigen Finger‹, das ist die Creme der Gesellschaft, die mit starker Hand regiert, dann in die Kaste der ›Einverstandenen‹, der Würdenträger und Krieger, die ihnen durch dick und dünn folgen und die Widersacher der ›Griffigen Finger‹ auf Tod und Leben bekämpfen, wofür sie gewisse Entlohnungen und gratis Fleischrationen einheimsen. Ferner in die Kaste der ›Glitsche-Glatten‹, die andre aufs Glatteis führen und selber zu entschlüpfen wissen. Diese wieder zerfallen in die sieghaften ›Führ-uns-hoch-hinaus‹, das sind weltliche Leute, die im Handel das große Wort führen, und in schwarz eingefärbte Raubvögel, ›Heilige Geräte‹ genannt, die in Glaubenssachen zu entscheiden haben. Zu unterst die Kaste der ›Dumm-feig-sprachlos-Habenichtse‹, das ist das gemeine Volk, das den höheren Kasten ganz und gar unterworfen ist und vor ihnen wie Espenlaub zittert. Als vierten Beweis führen sie die Münze an, die beim Graben des Abflußkanals gefunden wurde. Die eine Seite dieser Münze war sehr verwischt, man sah da undeutlich so etwas wie einen an einem Stock befestigten Schürzenfetzen, darunter ein backtrogähnliches Etwas, aus dem Köpfe hervorguckten. Die andre Seite war fast glatt gescheuert, nur bei sehr scharfer Prüfung konnte man eine Reihe von Buchstaben in archaischer Schrift erkennen. Die Gelehrten zerbrachen sich die Köpfe über die Inschrift, und jeder gab seine eigne scharfsinnige Deutung. Die einen vertraten die Meinung, die Buchstaben am Anfang und am Ende der Inschrift seien gar keine Buchstaben, sondern Reste eines Blumenschmucks, der verschwunden ist. Drum lasen sie die Inschrift als Baum und Zweig, was eben der Stock und die Schürze sein sollten. Andre wieder erklärten es auf andre Weise und erregten damit Aufsehen, bis einer kam, der darin nur die Initialen des Satzes erkannte: Juden von Ophir [oder aus Indien], die hierher [oder nach der Stadt Glupsk] kamen und sich am Fluß Pjatignilowka niederließen. Der Stock mit dem Schürzenfetzen und der Backtrog mit den herausragenden Köpfen erklären sich daraus ungezwungen als ein Segelschiff mit Menschen darin. Der Gelehrte hat ein dickes Buch darüber verfaßt, in dem er sich an die Welt mit der Bitte wendet, man möge den Fluß reinigen, man werde dann sicher antike Reste finden, die über die Vergangenheit der Glupsker Juden reichlich Aufschluß geben könnten. Doch die Bewohner dieser Stadt scheuen davor zurück, den Dreck wegzuschaffen. Was alte Zeiten angehäuft haben, muß bleiben, sagen sie. Man hüte sich in das Verborgene zu dringen.

Im übrigen wird Glupsk in finsteren Nächten von einer armseligen Laterne beleuchtet und von einigen Wächtern bewacht. Trotzdem passiert es, daß man im Dunkeln stürzt und sich Schaden zufügt, auch Diebstähle kommen häufig vor, obwohl die Wächter wachen. Daraus ist zu ersehen, daß man sich vor nichts bewahren kann. Was einem bestimmt ist, das kommt, dagegen helfen weder des Menschen Weisheit noch alle seine List.«

»Darum«, sagt Binjamin, »müssen wir die Augen schließen und mit Gottvertrauen vorwärts schreiten. Er wird seinen Engeln gebieten, uns zu behüten und auf den Händen zu tragen. Es fällt kein Sperling vom Dach, ohne daß es vorgesehen ist. Kann man denn« – fügt er hinzu, »seinen Gebetmantel- und Betriemensack sicherer verwahren, als ich es tat, indem ich sie im Bethaus auf das Wandbrett legte? Trotzdem, da Gott es nicht verhüten wollte, sind sie uns zusammen mit den übrigen Sachen auch von dort gestohlen worden.«


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