Mendele Moicher Sforim
Die Fahrten Binjamins des Dritten
Mendele Moicher Sforim

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Binjamin bewirkt eine Umwälzung in der Politik

In einem der kleinen Bethäuser von Teterewka waren die Gemüter aus Anlaß des damaligen Krimkrieges bis zur Siedehitze erregt. Die Ofenbank zerfiel in mehrere Parteien, jede mit ihrem Präsidenten und ihrer politischen Richtung. Chaikel der Denker und seine Gefolgschaft hielten leidenschaftlich zu Tante Vite, präsentierten sie wie auf dem Teller und enthüllten ihre Absichten und Hintergedanken aufs klarste. Chaikel war einmal so etwas wie ein Uhrmacher gewesen, er besaß eine große Geschicklichkeit darin, Mazzot mit dem Rädchen zu bearbeiten, niemand verstand es so gut wie er, eine Sukka zu bauen, in keiner waren das Nudelbrett, die Schaufel, die milchige Bank, das Schaletbrett und die zerbrochene Hühnerleiter so kunstvoll eingebaut, wie in seiner. Wenn daher die Rede auf Maschinen kam, hatten die Leute Respekt und sagten, das sei Chaikels Sache, das verstehe er. Chaikel selbst pflegte solche Wunderdinge von den sonderbarsten englischen Maschinen zu erzählen, daß den Zuhörern sich die Haare auf dem Kopf sträubten. Unterbrach ihn aber jemand mit einer Frage nach der Ursache, nach dem Sinn, dann erklärte Chaikel kurz und bündig: das ist so eine Art kunstvoller Sprungfeder, weiter nichts. Dabei verzog er das Gesicht so lieblich und überlegen, als habe er ein schwieriges Problem gelöst und dem Fragenden geradezu die Augen geöffnet. Mit dieser Sprungfeder erklärte Chaikel alles, die Uhr, den Telegraph und die Spieldose und was es sonst nur an Erfindungen geben mag. Itzig den Deuter befriedigte Chaikels Sprungfeder durchaus nicht. Er hielt sie für eine Art Freigeisterei und spottete: »Es fehlt nicht viel und Chaikel wird den Golem und noch solche Wunder ebenfalls mit seiner Sprungfeder erklären. Nein, nein, sein ganzes Gerede ist, nehmt es mir nicht übel, ein Nichts, lauter Unsinn!« Und da Chaikel der Denker auf Seiten Vites stand, hielt Itzig der Deuter, Chaikels ständiger Widersacher, zu Tante Roßja und setzte sich mit aller Kraft für sie ein. Jede dieser beiden Parteien war eifrig bemüht, die anderen Gruppen zu sich herüberzuziehen. Fast gelang es Chaikel mit Schmulik Boksor [Johannisbrot], dem Präsidenten der türkischen Partei, sich zu verständigen und mit Berl Franzos, dem glühenden Anhänger Napoleons, zum Ausgleich zu kommen, da machte Itzig eine Diversion und brachte Tobias Mak, Österreichs Vertreter, auf seine Seite. Botschaften und Depeschen langten von allen Seiten an, jeder begründete seinen Standpunkt, alles war in Aufruhr, und das kleine Bethaus wankte in seinen Grundfesten. Gerade zu dieser Zeit, mitten in diese hochgehende Bewegung waren unsere Helden in Teterewka angekommen und hatten das kleine Bethaus zu ihrem Absteigequartier erwählt.

Senderl mit seinem sanften nachgiebigen Charakter war auch in politischen Dingen nicht eigensinnig und ließ jeden gewähren, so wie er zu sagen pflegte: du willst es so, was habe ich dagegen, soll es so sein. Er machte sich dadurch beliebt und gefiel allen wohl. Schon nach der ersten Begrüßung stellte man fest, Senderl habe keine Galle, er sei ein guter einfacher Mann, dem jeder Starrsinn fernliegt. Vertrug sich Senderl mit allen ohne Unterschied, so war Binjamin dagegen wählerisch. Ihm gefiel am besten Schmulik Boksor, dem er sich immer mehr anschloß, bis er ganz vertraut mit ihm wurde. Er entdeckte ihm den ganzen Plan seiner Reise, wovon Schmulik sehr beeindruckt war. Er wieder besprach ihn mit Chaikel. Der vertiefte sich in die Sache, und schließlich leuchtete sie ihm ein. In einer Sitzung mit Berl, dem Franzosen, und mit Tobias Mak wurde der Plan gründlich durchgenommen. Dabei ergaben sich Dinge, die einen in der Tat stutzig machen konnten. Binjamin, fanden sie, sehe eigentlich gar nicht wie ein gewöhnlicher Mensch aus, er sei zerstreut, als befände er sich gar nicht auf dieser Welt. Manchmal versinke er in Gedanken, starre vor sich hin und lächle. Das alles beweise, daß er ganz fern von uns auf einer anderen Stufe stehe, kein Mensch wie alle andren sei, es müsse etwas in ihm stecken, so einfach sei das alles nicht, wer weiß, am Ende sei Binjamin gar nicht Binjamin, möglich sei alles . . .

Als Binjamin und Senderl nach dem Vorfall mit der Eierfrau schwer atmend ins Bethaus zurückkehrten, war dort ein erschrecklicher Lärm. Unsere Politiker befanden sich in heftigster Auseinandersetzung mit Itzig, dem Deuter, der mit heiserer Stimme alle überschrie. »Seht doch, was hier im Josephus steht«, schrie Itzig und wies mit dem Finger auf eine Stelle im Buch, das er in der Hand hielt: ›Als Alexander von Mazedonien auf seinem Zuge zu den Kindern Jonadab ben Rechabs bis zu den ›Bergen der Finsternis‹ gelangt war, konnten er und seine Helden von dort überhaupt nicht weiterkommen. Ihre Füße versanken bis über die Knie, weil dort die Sonne nicht scheint und der Boden stark versumpft ist.‹ Begreift ihr nun, wenn Alexander, der große Alexander, der von einem Adler sich tragen ließ, und vor den Toren des Paradieses gestanden hatte, das ›Gebirge der Finsternis‹ nicht überschreiten konnte, wie erst euer Mann, ein Männlein wie der! Da hilft ihm nicht einmal Chaikel mit allen seinen Sprungfedern!« »Du verstopfter Kopf!« schrie Chaikel auf und puffte Itzig mit dem Daumen, »wo bleiben deine Augen, lies doch, was da weiter steht. Es heißt da, daß Alexander die Vögel dort griechisch sprechen hörte, ein Vogel sagte ihm wörtlich folgendes: ›Deine Bemühung ist vergeblich, weil du in Gottes Haus, in das Haus seiner Knechte, der Kinder Abrahams, Jitzchoks und Jaakobs willst!‹ Nun, begreifst du, du Dummkopf, warum Alexander von Mazedonien dort nicht weiterkam?«

»Doch, was dann, mein großer Denker, wenn es so wäre, wie von andrer Seite behauptet wird, daß nämlich die Zehn Stämme mit den Roten Juden, oder die Bne Mosche gar nicht dort, sondern ganz wo anders, in der Umgebung des Priesters John wohnen? Nun, vielleicht bist du so freundlich und findest mir das Land des Priesters John? Jawohl, zeig mal das Kunststück!«

»Dummheiten, Itzig, wahrhaftig, du redest nur Unsinn.«

»Wart nur, mein Philosoph – außerdem ist noch der Sambatjen da. Was macht er mit dem Sambatjen, der die ganze Woche Steine schleudert? Laß uns sogar annehmen, daß er das ›Gebirge der Finsternis‹ überschritten und in das Land des Priesters John gefunden hat, nun steht er vor dem Sambatjen! Halt! heißt es da, es regnet Steine, unmöglich den Fuß dorthin zu setzen, da hilft ihm nicht einmal deine Vite, und wenn sie sich auf den Kopf stellt!«

»He-he, jetzt fällt er gar über Tante Vite her. Sieh bloß, wohin er sich verlaufen hat!«

»Was ist das in der Tat für eine Art, Itzig, ohne jeden Anlaß die Königin zu verhöhnen!« griff beleidigt Berl der Franzos ein, »wir reden doch hier von Binjamin, schimpf auf ihn meinetwegen, aber laß, ich bitte dich, die Königin aus dem Spiel!«

»Warum aber über Binjamin schimpfen?« ließ sich Tobias Mak vernehmen, »Binjamin, sollte man meinen, geht einen rechten Weg, es kann daraus Erlösung für alle entsprießen!«

»Ach, Mak, Mak«, sagte Itzig betrübt und schüttelte den Kopf, »von dir, mein Lieber, hätt' ich wahrhaftig nicht erwartet, daß du zu denen hältst und so viel von Binjamin dahermachst. Was hast du an ihm ersehen?«

»Hört doch, ich bitte euch, wie ein Mensch nur reden kann? Was hast du an ihm ersehen?« äffte Schmulik Boksor ihn höhnisch nach, »bist du bei Sinnen, Itzig, oder was ist in dich gefahren? Seine Geistesabwesenheit, seine Versunkenheit, sein Blicken, sein Sprechen, sein ganzes Gehaben – sagt das alles nicht deutlich genug, wer er ist? Das Antlitz des Menschen ist sein wahrer Spiegel, und wenn das dich nicht überzeugt, dann weiß ich wahrhaftig nicht, was bei dir ein Mensch sein heißt! Da kommt er selbst, sieh ihn, ich bitte dich, an und sag selbst, ob du bei Verstand bist? Seht nur, die eine Backe steht wie in Flammen, und drei gelbe Streifen zeichnen sich wie ein Schein auf seinem Gesicht ab. Nun, Itzig, was sagst du jetzt?«

Itzig trat näher an Binjamin heran, betrachtete ihn vom Kopf bis zu den Füßen, spuckte aus und wandte sich zornig ab. Seit dieser Unterhaltung über Binjamin bekam die Politik einen völlig veränderten Aspekt. Schmulik Boksor und Berl Franzos schlossen sich eng an Chaikel an, die Tante »Vite« sandte Schiffe übers Meer, mit Maschinen ausgestattet, die Schrecken verbreiteten; Onkel Ismael überschritt den Pruth, und Napoleon beschoß Sewastopol mit Bomben; Tobias Mak stand schwankend da, wie auf einer Waage, drehte mit der Zunge und kannte sich nicht mehr aus, und Itzig der Deuter blieb vereinsamt, wie ein Schiffbrüchiger. Er zerriß sich fast vor Eifer, fuhr schier aus der Haut; man denke, einer gegen alle! Er ließ es Binjamin entgelten: seitdem fiel er ihn immer an und kränkte ihn, wo er nur konnte. »Gott ist mein Zeuge«, erzählt Binjamin an einer Stelle, »daß ich mich in die Politik nicht eingemischt habe, denn erstens, was nützt es, zweitens, was hat es mit Juden zu tun? Von mir aus hätte es so und auch anders sein können, mir wäre es gleich. Auch Senderl hat sich um alle diese Angelegenheiten nicht gekümmert, ich schwöre es, und trotzdem hat mich Itzig nicht in Ruhe gelassen, er plagte mich Tag und Nacht.«

Den größten Teil des Tages waren unsere Gesellen mit ihrer Nahrungsbeschaffung befaßt. Sie klapperten der Reihe nach die Häuser von Teterewka ab und erlangten dadurch einen solchen Ruf, daß man mit Fingern auf sie wies, ihnen mit einem Scherz oder mit einem Lächeln begegnete. Andre an ihrer Stelle wären ob solcher Ehrungen eitel geworden und hätten von ihrem Ruf in der Welt, kein böser Blick möge ihnen schaden, viel Wesens gemacht; sie hätten erzählen können, wie die Gesichter bei Binjamins Erscheinen aufleuchteten, wie man preisend seine Worte wiederholte, mit welch freundlichem Lächeln er empfangen und zur Tür hinausbegleitet wurde. Doch unsere Helden machten, wie gesagt, nicht viel Wesens von sich, und die großen Ehrungen ließen sie unberührt. Binjamin war zu sehr mit seinen eigenen Angelegenheiten befaßt, und Senderl hatte nur eins im Sinn, daß der Sack gefüllt war und in der Tasche einige Groschen für das Notwendige klimperten. Ob du mit einem freundlichen oder unfreundlichen Gesicht gibst, ist einem Juden gleich, wenn du nur gibst.

Heute ist Pirem
Morgen ist aus,
Gebt mir 'nen Groschen
Und werft mich hinaus!

Dies wohlbekannte Liedchen gibt am besten ihre Unbefangenheit, ihre Demut wieder, und Senderl pflegte es unterwegs oft leise vor sich hinzusummen.


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