Mendele Moicher Sforim
Die Fahrten Binjamins des Dritten
Mendele Moicher Sforim

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Das Verdienst der Väter erweist sich an unseren Helden

Traurig ist es, in der Lebensgeschichte großer und berühmter Männer zu lesen, wie sehr sie ihr Leben lang unter der Verständnislosigkeit der Welt litten, der sie ihre Tage und Jahre geopfert und die sie mit großen nützlichen Entdeckungen, der Frucht ihres Genius, beschenkt haben. Die Welt ist wie ein Kind, das sich an die Rockschöße der Mutter klammert und sie keinen Augenblick losläßt; wie ein Kind, das am liebsten die alten dummen Geschichten wiederholen hört, die ihm Ammen und alte Weiber hundertmal am Tage erzählen, und das glaubt, nichts gehe über sein Spiel, in dem es alle Weisheit verborgen wähnt. Und wenn der Gehilfe des Lehrers erscheint, es in den Chejder zu holen, wo ihm etwas Vernünftiges beigebracht werden soll, brüllt es, als wolle man es schlachten. Die Welt lebt gern, wie sie es gewohnt ist, jedes Neue erscheint ihr verrückt, sie gerät darüber außer sich und erniedrigt und beschimpft den, der es erfunden. Erst wenn das Neue sich eingelebt hat und handgreiflich Nutzen erweist, reißt man sich darum, genießt es und vergißt den Armen völlig, der es im Schweiße seines Angesichts geschaffen hat. Genug, wenn die Welt sich seiner erinnert, um ihm ein Denkmal zu stiften. Millionen Menschen leben heute glücklich und frei in Amerika, während Kolumbus viel Leiden auszustehen hatte, als er den Gedanken faßte, Amerika zu entdecken. Die Welt hielt ihn für verrückt und verspottete ihn. So erging es auch unserem Binjamin aus Tunejadowka. Man brauchte ihn nur anzusehen, um ihn für wahnsinnig zu erklären. Die Reden über seine Reise brachten die Leute nur zum Lachen, man trieb mit ihm seinen Spaß, jeder Beliebige durfte ihn zum Narren halten. Zum Glück verstand Binjamin das nicht einmal, sonst hätte es ihn verbittert, ihn, Gott behüte, krank gemacht und am Ende gar bewogen, seine Pläne aufzugeben.

Wir übergehen viel von dem, was man ihm angetan, damit wir nicht auf ewig und mit Schande in die Weltgeschichte eingehen, und kehren zu unserer Erzählung zurück.

»In Teterewka«, so berichtet Binjamin, »gibt es eine große Gemeinde von Juden, mögen sie fruchtbar sein und sich mehren. Wer sie sind und woher sie stammen, das wissen sie selbst nicht zu sagen, und sollte man sie dafür mit dem Bann belegen – sie haben es nur von ihren Vätern, Großvätern und Urgroßvätern überliefert, daß sie von Juden abstammen. Und wie man zum Teil aus ihren Sitten und Gebräuchen, aus ihrer Kleidung, Sprache, ihrem Handel wohl auch schließen darf, dürften sie wohl Juden sein, doch zusammengelaufene, von verschiedenen Stämmen losgerissene, denn keiner kümmert sich um den andern. Manche von ihnen kennen die Zigeunersprache und verstehen aus der Hand zu lesen, das heißt sie blicken einem in die Hand, und davon leben sie; sie verstehen außerdem noch andre Künste: als Lampenmacher und Drechsler sind sie einzig. Man muß nur staunen, wie sie es verstehen, einem ein Licht aufzustecken und gar wunderbar ein Ding zu drehen. Auch haben sie vom lieben Gott die Gabe erhalten, wenn auch noch so leise, Sprüche von sich zu geben, daß einem die Augen übergehen und die Seele aus dem Leibe herausgequält wird. Es heißt, sie stammten angeblich von dem ›Mischmasch‹ ab, der aus Ägypten mitgezogen ist, sie seien vom Stamme der Kaftorim. Im allgemeinen aber«, sagt Binjamin, »sind die Einwohner brave gute Menschen, sie empfingen mich jederzeit mit einem Lächeln und schienen sich sehr zu freuen; man konnte deutlich sehen, welches Wohlgefallen sie an mir fanden, ich wünsche ihnen von ganzem Herzen, daß Gott und die Menschen mit ihnen ebenso zufrieden seien, Amen!«

»Sehr aufgefallen ist mir«, erzählt Binjamin weiter, »und ich fand es sonderbar, daß man in der dortigen Gegend manchmal Gestalten begegnet, die einigermaßen wie Schweine aussehen. Man sieht es auf den ersten Blick. Manche meinen, daß sie so von Natur sind, andre wieder schreiben es dem Einfluß der Umgebung zu.« Binjamin will darüber nicht entscheiden, das ginge die Gelehrten an, mögen sie nachforschen und es erklären. »Doch wie immer es sei«, meint Binjamin, »ist an sich die Tatsache nicht neu, der alte Mathisjahu Delecarti, der vor langer, langer Zeit gelebt hat, schreibt in seinem Werk ›Schatten der Welt‹ folgendermaßen: In Britannia gibt es ein Volk, das hinten einen Schwanz hat wie bei den Tieren, auch gibt es da Weiber, hochgewachsene und starke, wie die Riesen, und mit Borsten bewachsen, wie Schweine. In Frankenland sah man Menschen mit Hörnern. Auf jenen Bergen gibt es krumme Weiber, und je krummer, als desto schöner werden sie befunden. Genau so, wie man auch heute bei uns vielen Weibern begegnet, die krumm erscheinen, infolge des, mit Verlaub, stark hervortretenden Hinterteils und des langen Schweifes, der sich bauscht und den sie am Boden nachschleifen. Was gewesen ist, heißt es in der Heiligen Schrift, wird auch sein, und es gibt nichts Neues unter der Sonne.«

»Teterewka« – erzählt Binjamin – »ist groß, hat schöne Bauten und lange Gassen. Sieht man es zum erstenmal, so glaubt man, es sei sehr belebt, es koche da und brause vor Leben. Hat man sich aber eine Weile daran gewöhnt, dann merkt man, daß es im Grunde nur ein vergrößertes Tunejadowka ist. Seine Einwohner essen, legen sich zur Ruhe, stehen täglich zur selben Zeit auf. Die Zeit wird dort nach den Mahlzeiten gerechnet. Vom Morgenimbiß bis zum Mittagessen, vom Mittagessen bis zum Abendessen. Denn Imbiß, Mittag- und Abendessen sind die drei Stationen ihres Lebens. Jeder strebt nur darnach, möglichst bald diese Erholungsstationen zu erreichen, wie einer, der seine Zeit mit Nichtstun in der menschenleeren Einöde verbracht hat. Es ist, als mache die Luft von Teterewka träge, kraftlos und schläfrig. Gerät dorthin ein Mensch mit Mut, mit der Lust zu wirken, so schwindet ihm in kurzer Zeit jeder Unternehmungsgeist, und es bleibt in ihm nur der Wunsch, zu essen, zu schlafen, aufzustehen, wieder zu essen und zu schlafen.«

Binjamin erfuhr es an sich selbst, er hatte mit der Zeit auch aufgehört, etwas andres zu tun, sogar die Reiselust war ihm fast verflogen. Damals befand er sich in der großen Gefahr, wie ein Schiff zu versinken, das in den Stillen Ozean geraten ist, und sein ganzes Leben zu verschlafen. Zum Glück für ihn und auch für die Welt ereignete sich etwas, das ihn mit Gewalt hinaustrieb und wieder in Fahrt brachte.

Der Haß Itzig des Deuters auf Binjamin steigerte sich von Tag zu Tag. Zuletzt bohrte er sich wie eine Zecke in ihn und ließ nicht locker, hörte nicht auf, sich mit ihm über seine Reise auseinanderzusetzen und ihm Steine aufs Herz zu wälzen. »So wie auf dieser Handfläche Haare wachsen werden, so wird er den Sambatjen erreichen, und wie er seine Ohren sieht, so wird er die Roten Juden zu sehen bekommen«, das war sein ständiger Spruch. Binjamin aber ließ sich nicht in die Suppe spucken und bewies, daß es einen Schöpfer im Himmel gibt, der die, die auf ihn vertrauen, nicht verläßt. Er werde mit Gottes Hilfe und Kraft, den Feinden zum Tort, dort hingelangen – und sobald Binjamin bei solcher Erörterung in Hitze geriet, flammte er auf und warf schreiend mit Worten wie Vipernatter, Lindwurm, Esel, Maulesel um sich, was soviel bedeutete: bellt soviel ihr wollt, ich bin schon weit fort, irgendwo in der Wüste und wandre, wandre, wandre. Itzig pflegte darauf dreimal auszuspucken und zu sagen: »Er ist einfach verrückt, man muß ihn zum Tataren bringen.« Er trieb es schließlich so weit, daß, sobald sich Binjamin nur auf der Gasse zeigte, die Gassenjungen ihm wie einem Verrückten nachliefen, Steine warfen und ihm »Vipernatter! Lindwurm!« nachriefen.

Eines Nachmittags ging Binjamin mit Senderl über die Gasse, als sie wieder von einer solchen wilden Horde wie von Heuschrecken überfallen wurden. Sie setzte ihnen dermaßen zu, daß sie in eine Seitengasse flüchten mußten. Durch ein enges Gäßchen bergab laufend, gerieten sie auf einen langen schmalen Steig und stießen just in der Mitte mit einem Mann zusammen, der ihnen entgegenkam. Es war an dieser Stelle unmöglich auszuweichen.

»Ah, Friede mit Euch, Binjamin!« rief der Entgegenkommende, ärgerlich und erfreut zugleich. »Es trifft sich ja günstig, wie gewünscht!«

»Friede mit Euch, Reb Aisik David«, erwiderte Binjamin mit einer fremden Stimme und sehr verwirrt.

Der Mann war niemand anders, als Reb Aisik David aus Tunejadowka.

»Ihr seid mir feine Leute«, sagte er aufgebracht, »man fährt so von zu Hause fort, heimlich, mir nichts dir nichts! Es muß doch alles seine Ordnung haben, seine natürliche Art! Was soll das heißen, einfach davonzulaufen und die armen Weiber ohne viel Federlesens zu ewig Verlassenen zu machen! Ja, was soll das heißen? Aber gut, lassen wir das alles beiseite, doch frage ich noch einmal, wieso? Warum? Im Gegenteil, sagt ihr mir, was macht ihr hier? Auch dich meine ich, Senderl, macht nichts, ich sehe dich, wenn du dich auch hinter ihm versteckst! Dein Weib wird es dir schon beibringen, fein wird sie dich empfangen, sie wird dich wie einen Hering zerreißen, wütend wie sie ist. Ihr Herz aber hat es geahnt, daß ihr hier seid, hat's geahnt, dein Weib, sie wollte auch durchaus hierher fahren, nur hierher wollte dein Weib mit mir.«

»Ist er da?« schrie hier eine Frau auf, die hinter Reb Aisik David herbeigestürzt kam. Senderl, als er an der Stimme seine Erwählte erkannte, stand entgeistert und schreckensbleich da, er mußte mit beiden Händen nach Binjamins Rockschößen fassen, um nicht vom Steig zu stürzen, so schwindlig wurde es ihm. Er fühlte sich schon von ihr ergriffen, fühlte das Gewitter von Ohrfeigen sich über ihn entladen.

»Seht euch nur die Gestelle, die feinen Gestelle an, umkommen sollen sie zur Sühne für uns alle! Ha, wo steckt er, der Meinige, der . . . sein Name soll ausgetilgt werden! Laßt mich nur näher zu ihm, laßt mich nur! Ich will ihm schon zeigen, wo Gott wohnt!« schrie außer sich Senderls Weib und versuchte Reb Aisik David wegzudrängen.

»Bloß kein Geschrei, keinen Lärm«, bat Reb Aisik David, »laßt Euch nur Zeit, Ihr habt so lange gewartet, wartet noch ein wenig. Eine Verlassene werdet Ihr mit Gottes Hilfe nicht mehr sein, eine Verlassene. Und wiederum, wie heißt es doch? Weib bleibt Weib, zwar klug und doch ein Weib. Betrachten wir einmal die Sache von der anderen Seite: warum der Lärm? Es ist ja nur der Verdruß. Einfach so davonlaufen, mir nichts dir nichts, es muß doch alles seine Art haben, versteht Ihr. Doch wenn es schon einmal so ist, so ist es eben so, und wenn es so ist, darf man doch wieder fragen: wozu das Geschrei? Die Antwort darauf aber, nehmt es mir nicht übel, bleibt: ein Weib bleibt, vergebt mir, ein Weib.«

Reb Aisik David war aber noch lange nicht fertig, er hätte, wie es seine Art war, die Sache noch einmal von dieser und dann wieder von der anderen Seite betrachtet und mit Pfeffer und Zwiebel gewürzt. Es standen aber an beiden Enden des Steigs Haufen Menschen, die sich inzwischen dort angesammelt hatten. Die waren sehr erbost über das Verkehrshindernis, da der Steig so schmal war, daß einander Begegnende nicht ausweichen konnten. So mußten Senderls Weib und Reb Aisik David umkehren, das gleiche taten Binjamin und Senderl, und die Wartenden fingen an hinüberzugehen.

»Ich bitte dich, Senderl, was stehen wir da und warten?« rief Binjamin, der zuerst zu sich kam, »jetzt ist Zeit, daß wir uns retten!«

»Richtig, so wahr ich ein Jude bin«, sagte Senderl froh, wie einer, der sich aus einer Klemme befreit hat, »schnell, Binjamin, wenn du willst, daß ich ihr nicht in die Hände falle! Das war kein Steig – das Verdienst der Väter hat uns hier beigestanden!«

Rasch machten sich unsere Helden auf die Socken und befanden sich wenige Augenblicke später in einer ganz anderen Stadtgegend. Sie machten nicht viel Umstände, griffen nach ihren Bündeln und nahmen Abschied von Teterewka.


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