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XI

Anderntags, sehr früh am Morgen, bat Bichette Fec um die Besorgung eines gewissen Toilettegegenstandes.

Als Fec von diesem Gang, während dessen er, sich erinnernd, Laugier telegrafisch um Geld gebeten hatte, ins Hotel zurückkehrte, wurde ihm, nicht ohne leisen Spott, mitgeteilt, daß Madame Thaller vor einer halben Stunde mit ihren Koffern zum Bahnhof gefahren sei.

Fec, der mehr darüber erstaunt war, wie ruhig er diese Mitteilung aufnahm, als über sie selbst, sah auf die Uhr. Es war neun Uhr. Der Zug nach Genua, den er mit Bichette hatte benützen wollen, ging eine Stunde später ab. Es war kein Zweifel: Bichette hatte den Rapide nach Paris genommen.

Fec betrat ganz langsam sein Zimmer. Seine Augen flogen über alle Gegenstände hin: kein Brief, kein Zettel.

In einer Ecke standen seine beiden Koffer.

Er setzte sich auf den größten, nahm sich eine Zigarette und wunderte sich durchaus nicht mehr, daß er sich nicht wunderte. Es war ihm, obwohl er es sich nicht hatte deutlich werden lassen, während seines Beisammenseins mit Bichette immer die Möglichkeit gegenwärtig gewesen, sie könnte ihn verlassen wie alle seine Vorgänger. Und er erinnerte sich, daß er in Monte Carlo, in der Nacht vor dem Coup, kaum daß Bichette zur Tür hinaus war, ihre Worte ›Du bist – duschnock‹ halblaut sich wiederholt und dabei das Gefühl hatte, irgendetwas Entscheidendes gehört zu haben. Es war ihm jetzt, als hätte er damals schon gewußt, daß Bichette ihn verlassen würde. Auch ihn.

Er lächelte trübe, ja gelangweilt. Das also sollte das Ende sein? Das sein letztes Abenteuer? Er wußte ja, daß es enden würde wie alle Abenteuer. Er empfand es nach allem, was vorhergegangen war, banal, daß Bichette nicht nur ihren Schmuck mitgenommen hatte, sondern auch alles Geld; und grotesk, daß sie hinterrücks abgereist war.

Mit einem Mal aber stand er auf. Bichettes unhemmbarer Hang zum Vagabondieren, ihre natürliche Grausamkeit und Niedertracht kamen ihm, wenn er an gewisse Gespräche dachte, als Erklärungen gleichwohl lächerlich vor, so lächerlich, daß sein sonst stets auf Letztes gefaßtes Mißtrauen, das Bichette gegenüber allerdings sehr müde gewesen war, hoch aufschnellte: diese Abreise konnte ein ganz feiner Schachzug sein, irgendein ganz besonderer Truc ...

Doch schon griff er sich grinsend an die Schläfen. ›Nein, das ist es nicht. Ich will es bloß nicht wahr haben. Ich will mein letztes Abenteuer. Ich will, daß es anders ende ...‹

Aber er wollte auch, was er sich wiederum nicht deutlich werden ließ, nicht der Verlassene, der Unterlegene sein. Er wollte, daß es so ende, wie er wollte. Ja, wie wollte er denn, daß es ende? Was wollte er denn?

Er ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. Eine dumpf hämmernde Wut hatte ihn ergriffen. Mit rasender Geschwindigkeit ließ er alle Gespräche mit Bichette, jedes Wort, das ihn getroffen, jede Geste, die ihn erregt hatte, alles Unausgesprochene, Verworrene, alle Zärtlichkeiten, alle Roheiten, kurz alles noch einmal an sich vorüber.

Endlich blieb er stehen, schlug sich knallend die Hand auf die Stirn und murmelte: »Und ich finde doch auch nichts weiter als meine Photographie. Nichts weiter. Was will ich denn nur noch? Bin ich denn verblödet? Ver-blö-ö-det?«

Nach etwa fünf Minuten kam in sein Gesicht tatsächlich ein blöder Ausdruck.

Erst als der Zimmerkellner ihm die Depesche Laugiers brachte, auf welcher die erbetenen dreitausend Francs angewiesen wurden, fiel alles in sich zusammen: vor der Tatsache, daß er ohne dieses Geld nur noch hundertfünfzig Francs besessen hätte.

»Bestellen Sie mir sofort einen scharfen Tourenwagen nach Paris!« Er wollte bei ›Léon‹ sitzen, wenn Bichette eintrat, er wollte ihre Augen sehen, wenn sie ihn sah, er wollte ...

*

Gegen zehn Uhr abends passierte das Auto die Porte de Vincennes.

Um zehn Uhr fünfzehn hielt es in der Rue l'Ecluse, einer Seitenstraße des Boulevard des Batignolles, vor dem kleinen Hotel de l'Europe.

Und ein viertel vor elf erschien Fec bei ›Léon‹.

Mit einem einzigen Blick hatte er das ganze Lokal abgesucht. Kein bekanntes Gesicht war zu sehen. Sogar Jean war nicht da.

Als Fec auf die Straße trat, um einem Taxi zu winken, brach seine Handbewegung jäh ab: ihm war, unbegreiflicher Weise erst jetzt, Ralix eingefallen. Die Möglichkeit, daß dieser Mann mit Bichettes Abreise in Verbindung stand, war groß. Pimpi konnte sie gewarnt haben. Sie war vielleicht gar nicht in Paris, sondern ... Hier eine wahrscheinliche Kombination zu finden, war schwer. Am sichersten schien immerhin, daß Bichette in Paris war. Fec gab es deshalb auf, mit weiteren Überlegungen sich herumzuschlagen; umsomehr als er hoffte, von Pimpi über alles Aufschluß zu erhalten.

Vor dem Hotel Fécamp, auf der Place de Budapest, ließ er das Taxi halten.

Pimpi wohnte im fünften Stock. Obschon der Portier behauptete, Monsieur Pimpi sei nicht zuhause, stieg Fec die fünf steilen Treppen hinauf. Unterwegs erfaßte ihn auf einem Treppenabsatz, so sehr hastete er, ein leichter Schwindel. Er griff, um nicht an die Wand zu torkeln, in einen alten durchlöcherten Vorhang, der ihn mit Schwaden Staubes überschüttete.

Endlich vor Pimpis Tür, hielt er atemlos inne. Seine Ungeduld, die er verwünschte und trotzdem von Minute zu Minute wachsen fühlte, ließ ihn bereits erwägen, ob es nicht klüger wäre, den Besuch zu verschieben.

Doch da hatte er schon geklopft.

Er riß eine Grimasse und bemerkte gequält, während er fieberhaft lauschte, daß es sehr säuerlich nach Staub und Spülicht roch.

Jemand schlurfte von innen an die Tür, machte sich einige Zeit an ihr zu schaffen, brummte etwas und öffnete sie schließlich langsam ein wenig.

Pimpis hageres faltiges Gesicht erschien in der Türspalte. Die pomadisierten Haare waren teils aus der Stirn geschoben, teils standen sie steif weg.

»Good day, Pimpi. Wie geht es?« Fec mißriet der Ton so völlig, daß er abermals erwog, ob es nicht doch klüger wäre, unter einem Vorwand sich wieder zu verabschieden.

»Warst du schnell zurück aus dem Wälder.« Pimpi rieb sich die Bartstoppeln und hörte auf, mit dem Kopf zu wackeln. »Und ohne schöner Mädchen, jo?«

»Hast du sie ... Hast du, wie ich vermute, nicht vielleicht Gaby in den letzten Tagen gesehen?« Aus Freude darüber, daß er sich doch nicht verraten hatte, wurde Fec redselig. »Man sagte mir vor einer halben Stunde, daß sie ...« Er sprach noch etwa fünf Minuten, bevor Pimpi Gelegenheit fand, ihm zu sagen, daß Gaby bei dem Sturz aus dem Fenster bloß beide Unterschenkel gebrochen habe und keine Gefahr für ihr Leben bestünde.

»Jo, bist du elegant.« Pimpi unterbrach Fec, der neuerdings ins Reden gekommen war. »Woher hast du der Sachen?«

»Wir waren in Nizza.« Fec sah, sich selber unbegreiflich, an Pimpi vorbei.

»Jo, jo.« Pimpi lachte in seiner angenehmen Art, jedoch mit unverkennbarer Unsicherheit, die Fec infolge seiner Nervosität nicht wahrnahm. »Aber machst du Gesicht ... Sieht es aus wie hineingestürzt.«

»Wie eingestürzt?« wiederholte Fec verwundert. Es war jedoch offensichtlich, daß er es gedankenlos tat. Dann lächelte er schnell. »Die Reise war nicht angenehm.«

Pimpi knarrte mit der Tür, die er immer noch in der Hand hielt. »Warum denn bist du retour gekommen? Staubigem Reise.« Er klopfte ihm, tunlichst jovial, den Staub von den Kleidern.

Fecs Stirn zuckte kurz: irgendetwas an Pimpis ganzem Gehaben war ihm neu. So daß er seine ursprüngliche Absicht, sich ihm anzuvertrauen, welche er anfangs ohne besondere Überlegung nicht ausgeführt hatte, jetzt endgültig aufgab. Er antwortete so ruhig wie er nur konnte: »Eh ben, du weißt doch, was ich mit Gaby hatte. Ich möchte wissen, wo sie liegt.«

»Wo sie ... Jo, im Spital Lariboisière.«

Fec kam plötzlich der skurrile Einfall, Bichette könnte Gaby vielleicht bereits besucht haben, und er verabschiedete sich überhastet.

»Was ist mit dir?« Pimpi verzog spaßhaft das Gesicht. »Wo ist Bichette?« Seine Ohren bewegten sich leise.

»Ich habe ein Taxi unten.« Fec eilte zur Treppe, wütend darüber, daß er nicht zu lügen gewußt hatte.

»Und ich keinem Sou.« Pimpi legte die Zeigefinger an die Ohren und wimmerte komisch.

Fec warf ihm eine Banknote zu, die erste, die ihm in die Finger kam, und rannte die Treppe hinunter.

Hinter ihm erscholl Pimpis Negerlachen.

*

Im Hospital gelang es Fec mit großer Mühe und nur mit Hilfe von zwanzig Francs, Gaby noch zu sehen.

Sein so unerwarteter Besuch überraschte sie derart, daß ihr vor Erregung Tränen in die Augen traten.

Auf dem Tischchen neben ihrem Bett stand ein Glas mit Fresien.

Fec, der es sofort bemerkt hatte, fragte, an Bichette denkend, ungestüm: »Von wem hast du diese Blumen?«

Gabys Augen erweiterten sich freudig. »Von Schwester Madelon ... Was glaubtest du?«

»Wann wirst du denn wieder gesund sein?« Fec, der nur, um seine Frage zu verwischen, diese noch dümmere getan hatte, hielt sich ärgerlich den Hals zu.

Gabys Schulter bewegte sich eckig nach vorn. »Ich falle auch nie richtig.« Sie feixte trübselig. Ihre blutleere Hand tastete in den Haaren. Die andere streichelte scheu Fecs Knie. »Sehr schön ist der Complet.«

Fec erblickte die Narbe von Bichettes Biß und senkte unwillkürlich den Kopf.

Gaby, die seinen Blick gesehen hatte, nahm seine Hand. »Hat sie dich also doch auch ...« Sie wagte es augenscheinlich nicht, den Satz zu beenden. Dann sagte sie leise: »Sie ist schon ein prachtvolles Ding. Aber ich glaube nicht, daß sie ...«

Fec wartete ein wenig, bevor er drängte: » ... daß sie ...«

»Jedenfalls danke ich dir sehr, daß du gekommen bist. Du bist der Einzige. Du bist überhaupt der Einzige.« Gaby grub das Gesicht in die Kissen und begann zu schluchzen.

Während Fec sie mechanisch liebkoste, überlegte er, ob es auch angezeigt wäre, sie auszufragen. Seine Neugierde aber siegte über seinen Kopf. »Hast du Ralix gesehen?«

»Fec!« schrie Gaby plötzlich und richtete sich steil auf. »Ich, Fec, ich ...« Sie stammelte. Ihre weißlich schimmernden Augen rundeten sich fischartig. Sie keuchte: » Ich habe den Japaner geholt, ich ... O, ich war ... Laß mich! So laß mich doch! Geh doch schon! Geh doch zu ihr, du ... du ... Auf mich brauchst du keine Rücksicht zu nehmen, du Esel ... du Esel ... O, blöd ist das, hé? O, so hundemäßig blöd ...«

Da einige Kranke im Saal erwacht und unruhig geworden waren, umklammerte Fec Gaby mit beiden Armen und zwang sie langsam ins Bett zurück.

Als sie wieder lag, schloß sie die Hände um seinen Hals, drückte ihre Wange an die seine und flüsterte ihm mit fliegender Stimme, unter Lachen und Schluchzen, ins Ohr: »O, Fec, ich würde dich ja so sehr lieben, so sehr ... Ich würde sogar das Coco lassen, wenn du es willst. Ich weiß, daß du es nicht magst ... O, ich hatte damals so fürchterliche Angst, es könnte dir was passieren. Aber ich schwöre dir, daß ich es eigentlich nicht war. Ich wußte ja gar nichts von diesem Japaner. Aber als Jean mich damals losließ, damals, als Bichette mich in die Hand biß ... Ich rannte auf die Straße, sah euch aber nicht mehr, lief wie verrückt herum, durch ein paar Cafés und dann traf ich in der Rue Véron Loute, die sofort sah, daß was mit mir los war, und mich mitnahm und fragte und ich Gourde erzähle ihr alles und heule und schimpfe und drohe und ... Loute hat nämlich einen ganz furchtbaren Haß auf Bichette, weil Ralix sie laschiert hat und mit Bichette ging und weil sie weiß, daß Ralix nur wegen Bichette geklemmt wurde. Das glaube ich ja nun nicht. So was macht sie ja doch nicht ... O, du hast mich ja nach Ralix gefragt. Ich weiß nicht, ob er schon draußen ist. Aber wenn er draußen ist, dann soll sie sich nur in acht nehmen. Denn Loute wird ihm sicherlich beibringen, daß Bichette es war, und dann ... Fec, ich sag dir da etwas, was ich dir eigentlich nicht sagen würde, wenn ich so wäre wie die andern. Ich sag dir, daß du Bichette warnen sollst. Und ich kann dir deshalb auch sagen, daß du ihr nicht ... Laß sie doch, wo sie ist! Mit der ist noch jeder hineingefallen. O, Fec, ich würde ja alles machen, was du nur willst. Übrigens, weißt du, daß Pimpi ihr Vertrauter ist? Mit dem muß sie was Besonderes haben. Denn mit dem sieht man sie immer wieder ... Fec, ich würde für dich laufen, wenn du es willst, ich würde ... O, Fec ... Bitte glaub mir doch, ich schwöre dir, es war Loute. Dieses Frauenzimmer, diese Bringue, hat sich ganz einfach meine Aufregung zunutze gemacht und schleppte mich in ein Café, wo der Japaner saß, und da erzählte sie alles. Ich hab dort gar nicht den Mund aufgemacht. Aber als dieser schreckliche Kerl dann plötzlich abschob, da ahnte mir schon nichts Gutes und ich wollte es dir sagen. Den ganzen Tag rannte ich herum. Wo warst du denn nur? Am nächsten Tag erst erfuhr ich von Jean, wie du den Japaner gerollt hast und wollte ... Wo warst du denn nur? Das hat mich verrückt gemacht, daß ich dich nicht fand ... O, das hat mich ...« Ihre Brust warf sich. Sie konnte vor Schluchzen nicht mehr sprechen.

Nachdem er sie, mühsam genug, beruhigt hatte, überließ Fec sie der Krankenschwester, die eingetreten war, um den nächtlichen Besuch endlich zu beenden.

*

Fec fuhr in sein Hotel, wusch sich, kleidete sich um und ging ziellos auf die Straße.

Nach wenigen Schritten kehrte er um, eilte in sein Zimmer zurück und vertauschte den eleganten Cutaway mit seinem alten grauen Anzug und dem dunkelgrünen Tuch. Es ärgerte ihn, den Mantel nehmen zu müssen, um nicht den Verdacht der Patronne zu erregen.

Den Rest der Nacht verbrachte er mit bekannten Kokotten in kleinen Bistros. Weder hier noch anderswo vermochte er das Geringste über Bichette zu erfahren; auch nicht, ob Ralix gesehen worden sei.

Gegen sechs Uhr morgens ging er, völlig betrunken, abermals zu ›Léon‹.

Jean war da und begrüßte ihn überschwenglich. Aber auch er wußte nichts.

Später, als er auf der Place Blanche an einem Haus lehnte, beschloß Fec, die nassen Lippen in verbissener Wut auf einander gepreßt, weder über den Grund von Bichettes Abreise weiter nachzudenken, noch über ihren möglichen Aufenthalt, sondern sie ganz einfach zu suchen. Überall. Tagelang. Wochenlang. Er würde sie schon finden. Unter allen Umständen. Er mußte sie finden. Dieses selbstgesetzte Muß wurde ihm Zweck und Sinn.


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