Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Einförmig geht alles Tägliche in Sureiken seinen Gang. Der See war gefroren, dann ist das Eis mit Krachen geborsten. Es war Schnee gefallen, und das weiße Gehäufe am Wege ist wieder geschmolzen. Es ist Regen gekommen und Sturm, und einmal ein Tag mit etwas Sonne, daß man stehenblieb, um die Luft auf der Haut zu prüfen. Es war noch Winter, aber nun gab es ein paar Stunden Sonne und sekundenlang huschte ein Lufthauch weicher über das Gesicht.

Im Februar stieg schon der Saft in den Bäumen.

Jakob Kloth stand von dem knappen Wintertisch auf und löste das Boot.

Lüßmann besann sich darauf, daß dieser und jener Nachbar irgendeine Verbesserung an seinem Hause haben wollte. Wenn er auch noch nicht mit Hammer und Säge kam, so sprach der Tischler doch schon mit vor und machte die Zeit aus, in der alle diese Arbeiten vorgenommen werden sollten.

Dan Lebbers gab seine Bestellungen mit in die Stadt. Die Geschäftsreisenden kamen und legten ihre Muster vor. Dan Lebbers prüfte und wählte. Er hatte in dieser Zeit vielerlei im Kopf. Man mußte rechtzeitig darauf bedacht sein, das Fehlende wieder zu ergänzen. Auch waren neue Artikel einzuführen, wie es sich für einen Kaufmann gehört, der sich der Zeit nach jeder Richtung hin anpaßt.

Weihnachten war gewesen. Der Punsch zu Silvester getrunken. Das Fest der kleinen Schützengilde gefeiert. Aus Thorde waren Musiker gekommen, denn Bolk weigerte sich noch immer, die Geige anzurühren.

Wenn bei den Sonntagstänzen das Geld zu verdienen gewesen wäre, das die Musikanten aus Thorde für ihr Spiel verlangten, hätte Dan Lebbers sie jeden Sonntag kommen lassen. Aber er wußte genau, daß er sein gutes Geld dabei zusetzen würde. Darum blieb er hartnäckig, wenn die Jugend ihn anging. Nun liefen sie, wie früher die Eltern, Sonntags nach Thorde zum Tanz.

Was wäre von diesem kleinen Dorf zu erzählen? Es ist das gleiche Leben heute und morgen. Es wird übermorgen nicht anders sein als vorgestern. Wie es im nächsten Jahre nicht anders sein kann als zehn Jahre zuvor.

In den stillen Wintermonaten ereignet sich nichts Absonderliches. Man wartet kaum darauf, daß etwas geschieht. So wenigstens ist es bisher gewesen. In diesem Winter glaubte man, mit allerlei rechnen zu können. Es waren Anzeichen da, daß sich ein Schicksal vielleicht gewaltig und mitleidlos vollziehen würde. Was hätte vor dem Zorne des alten Iben Kars bestehen können? Doch der Alte war still geblieben, und man hatte es aufgegeben, an eine Abrechnung zwischen ihm und Christian zu glauben, wie man auch nicht mehr damit rechnete, daß er wenigstens der Frau die Türe weisen würde.

Nein, es gab nichts, was das Gleichmaß der Tage unterbrach. Was blieb anderes übrig, als sich mit den Erzählungen des Nachtwächters zu begnügen. Tonnis hatte die Bücher, die Sparre, der Kuhhirt, hinterlassen hatte, nun durchstudiert. Alles war darin haargenau verzeichnet, die Marmortreppe und die goldene Lampe vor dem Palast des reichen Bruders. Auch die adlige Schwester war zu erkennen, und der Graf, der einen roten Leibrock trug. Das alles konnte nun Tonnis berichten. Er wußte auch noch mehr. Aus einem verschmutzten Notizbuch, das zwischen den Büchern lag, hatte er herausbuchstabiert, daß Sparre vor vielen Jahren eine Molkerei in der Stadt besessen hatte.

Ja, eine Molkerei ist es gewesen, ein massives Gebäude mit wohlerhaltenem Wohnhaus. Nein, nicht alles war gelogen, was Sparre erzählt hatte. Wie konnte Tonnis das alles begreifen? Ein Mensch hat alle Schranken durchbrochen, ist wieder Nomade geworden, Hirte, wie in Urväterzeiten, treibt die Kühe über die Hütung, schläft in einer Mooshütte und stirbt im Stall beim Tier.

Groß ist das Leben des Menschen, und es ist klein. Was jedoch ist groß und was klein? Nicht alles konnte Tonnis begreifen. Er geht reihum und erzählt, was er nun von Sparre weiß. Man hört ihm zu, froh über diese kleine Abwechslung.

Hast recht, Tonnis. Er ist ein putziger Mensch gewesen, dieser Sparre, und dann mußte es ihm noch passieren, als alte Frau begraben zu werden. Das war eine fröhliche Geschichte, über die man viel lachen wollte. Man lacht gern beim Bier. Laabs, der Schuster, lacht, und Patzke, der Gärtner. Doch beim zehnten Glas hört Patzke auf zu lachen, ja, beim zehnten oder zwölften Glas lacht er nicht mehr. Er steht vor dem Tisch in Dan Lebbers Laden und sagt: »Sterben ist mein Gewinn.«

Ein paarmal hat Laabs, der Schuster, auch Leder aus Thorde geholt. Dann war in seinem Hause ein Lärm in der Nacht, bis Tonnis ihn mit brummelndem Lied beschwichtigte.

Ach ja, es blieb in diesem Winter alles beim alten in Sureiken. Wenn es zu kalt war, um die Ziege im Stall zu lassen, durch dessen Fugen die Kälte fuhr, holte Miele Wulk das Tier an den Herd. Sie wußte, daß man ihr darum nicht mehr den Doktor schicken würde, und auch nicht mehr den Pastor. Manchmal saßen sie ganz friedlich beisammen, Miele Wulk, die Ziege und Tonnis, der Nachtwächter. Es war ein gutmütiges Tier, und wenn sie auf den Steinfliesen lag, konnte man getrost die frierenden Füße unter ihr warmes, glänzendes Fell schieben.

Nein, es ereignete sich nichts Besonderes.

Eines Tages jedoch bekam Frau Dahl einen Brief von der Tänzerin.

Herr Quandt, der Posthalter von Sureiken, stand vor der Tür. Er war den Seitenpfad entlang gekommen, zwischen Lüßmanns Haus und dem Garten des Sattlers Kuhse. Darum hatte Frau Dahl ihn vorher nicht gesehen. Sie saß am Fenster nach der Straße hin und strickte.

Herr Quandt gab den Brief ab. Er tat das immer mit einer kleinen Feierlichkeit.

»Ein Brief?« fragte Frau Dahl erstaunt.

An diesem Tage fiel ein kalter Regen und Herr Quandt war durchnäßt. Er hatte ein lahmes Bein und oftmals siel ihm der Weg schwer. Aber er trug gewissenhaft seine Briefe aus in Wind und Wetter. Trotz des steifen Beines kam er schneller vorwärts als mancher Gesunde. Das alles ist Übung. Abends saß er am Ofen und las Bücher über Alexander und Napoleon.

Herr Quandt verriet nie eine Neugier, wenn er seine Briefe abgab. Manchmal fiel es ihm schwer, wenn die Handschrift des Absenders ein gefälligeres Leben verriet als das durch klobige Schriftzeichen angedeutete harte Leben der Menschen vom Lande. Dann blieb Herr Quandt noch einen Augenblick stehen. Er erkundigte sich nicht nach dem Brief. Er sagte nur: »Heute schneit es«, oder: »Morgen werden wir Wind haben.« Er machte kleine Andeutungen über das Wetter, zögerte etwas und überließ es dem Empfänger, mit seiner Neugier über den unerwarteten Brief herauszuplatzen.

»Der Regen geht durch«, sagte Herr Quandt zu Frau Dahl.

»Sieh einer an«, antwortete sie, »sieh einer an.«

Sie hatte den Umschlag aufgerissen. Es war ein Brief von der Tänzerin.

»Von Fräulein Emita«, sagte Frau Dahl erfreut.

»Der Tänzerin?« lachte Herr Quandt und versuchte, das lahme Bein zu schwenken.

»Nein, so was!« rief Frau Dahl. Sie lief in das Haus, um den Brief zu lesen.

Noch immer lachend ging Herr Quandt weiter.

»So vergnügt?« fragte der Sattler Kuhse. Er hatte eine heisere Stimme, als säße ihm immer etwas Seegras in der Kehle. Er war auch ein mürrischer Mensch und konnte eine ärgerliche Verwunderung nicht unterdrücken, wenn er einen Menschen sah, der es fertig bekam, auf dieser Welt noch zu lachen. Manchmal unterhielt sich Herr Quandt mit ihm über Napoleon. Es stand nicht fest, ob der Sattler Kuhse im Bilde war, von welchem Napoleon Herr Quandt sprach.

»Er war ein großer Geist«, konnte Herr Quandt schwärmen.

»Wir haben ihm die Jacke vollgehauen«, antwortete Kuhse gereizt.

»Ja«, sagte dann Herr Quandt mitleidig, »er mußte einsam auf Sankt Helena sterben.«

»In Wilhelmshöhe«, verbesserte ihn der Sattler.

Herr Quandt versuchte dann den Irrtum aufzuklären. So sprachen sie oft über Napoleon.

Herr Quandt konnte dieses Mal die Neuigkeit nicht für sich behalten. Er sagte: »Frau Dahl hat einen Brief bekommen von der Tänzerin.«

»Ach, von der?« krächzte Herr Kuhse.

Herr Quandt lachte nicht mehr. Er sah dem Sattler ärgerlich nach. Beim Gärtner Patzke beschwerte er sich über ihn.

»Es ist ein Mensch ohne Freude«, sagte Herr Quandt.

Patzke hörte gar nicht hin. Ein Brief war gekommen von der Tänzerin außer der Zeit. »Das ist eine frühe Schwalbe«, rief Patzke. Er konnte seine gute Laune nicht verbergen. Leider wußte Herr Quandt ihm nicht zu sagen, was in dem Brief stand.

Patzke sagte zu seiner Frau: »Du mußt Frau Dahl die Kuchenform wiedergeben. Was soll sie von dir denken?«

»Das hat Zeit«, antwortete Frau Patzke verwundert.

Er bestand darauf, daß sie sofort das Geliehene zurückgab.

»Es regnet«, wendete Frau Patzke ein.

»Das wird dich nicht fortschwemmen«, erwiderte Patzke.

Die Frau kam unverrichteter Dinge nach Hause. Sie hatte Frau Dahl nicht angetroffen, und zu Patzkes Ärger die Kuchenform auf die Bank vorm Haus gestellt.

»Was ist das für ein Einfall«, zankte Patzke. »Du wirst nachher nochmal hingehen.«

Am Nachmittag kam Frau Dahl von selbst. Sie kam nicht allein, sie brachte Frau Bolk mit. Die drei Frauen hatten viel zu überlegen. Der Brief der Tänzerin lag auf dem Tisch.

»Sie will jetzt schon kommen«, sagte Frau Dahl nachdenklich.

»Kann ich den Brief lesen?« – »Ja, lies nur.« – »Was sie für eine Handschrift hat, ein Buchstabe wie der andere.« – »Ja, sie hat eine schöne Hand.« – »Was schreibt sie denn?« – »Lies doch, du wolltest doch selber lesen.« – »Ach, wo ist denn meine Brille?« – »Ich kann dir auch sagen, was in dem Brief steht.« – »Nein, ich will es selber lesen. Hier ist schon die Brille.«

»Sie hat etwas auf dem Herzen«, sagte Frau Seba, »man merkt es durch. Der Brief will lustig sein, aber sie hat was auf dem Herzen.«

»Ja, was sollte es wohl sein?« – »Wer kann das wissen? Was schreibt sie da?« – »Ich habe Ruhe nötig, schreibt sie. Eine Zeitlang möchte ich jetzt schon nach Sureiken kommen.« – »Was soll das wohl heißen?« – »Das schreibt sie doch, sie will Ruhe haben. Man kann das verstehen.« – »Natürlich kann man es verstehen, wenn so ein Mädchen Abend für Abend tanzen muß.« – »Sie wird's mit den Nerven haben.« – »Warum sollte sie es denn mit den Nerven haben? Sie ist jung. Ich hab nichts von Nerven bei ihr gemerkt.«

»Vielleicht hat sie was Schweres durchgemacht«, sagte Frau Seba, »vielleicht ist es eine Liebesgeschichte. Ein reicher Mann, und sie ist nur ein armes Mädchen. Wer heiratet heute eine Tänzerin?«

»Auf was für Gedanken du kommst.« – »Ich sag's ja, man muß sie nur fragen. Sie weiß immer gleich eine Geschichte.« – »Aber so dumm ist das gar nicht. Es könnte schon so etwas auf sich haben.« – »Du meinst, sie will den Mann vergessen?«

»Sollte es das sein?« erschrak plötzlich Frau Dahl.

»Was meinst du denn?« – »Ach nichts.«

Frau Patzke lachte: »Sie weiß gar nichts. Du bist schon eine. Da tut sie so, als wäre ihr was eingefallen.«

Frau Seba sah Frau Dahl an. Frau Dahl nickte ihr nachdenklich zu. Da begriff Frau Seba, was Frau Dahl meinte.

»Um Gottes willen«, sagte Frau Seba, »das arme Mädchen. Es ist bestimmt ein Graf gewesen.« Sie schlug ihre großen Schmiedehände zusammen.

Frau Patzke saß sprachlos da. Sie sah Frau Dahl an und sah Frau Seba an, die Schmiedsfrau.

»Das arme Mädchen«, schluchzte Frau Dahl. »Daß ihr das auch passieren muß.«

Nun ahnte auch Frau Patzke, weshalb die Tänzerin nach Sureiken kommen wollte, noch ehe es Frühling war. Sie saß hilflos da und sagte: »Ach Gott, es ist aber auch so bei dem Beruf. Wenn ich eine Tochter hätte, dürfte sie niemals Tänzerin werden, lieber ließe ich mich begraben.«

Sie hörten, daß Patzke nach Hause gekommen war. Er zog die Pantoffeln an, die seine Frau ihm winters an den Herd stellte. Die schweren Schuhe schob er immer unter die Ofenbank. Daran hörten die Frauen, daß er nun da war.

»Wir wollen vorher nichts davon sagen«, bat Frau Seba, »es braucht keiner zu wissen.«

»Wie werde ich es ihm wohl sagen!« antwortete Frau Patzke.

»Wir wollen sagen, sie kommt, weil sie's mit den Nerven hat«, schlug Frau Dahl vor.

»Sie hat diesen Winter zuviel getanzt. Sie hat ein großes Engagement gehabt, das wollen wir sagen«, nickte Frau Seba.

*

Nun wußte schon jeder, daß die Tänzerin kam. In acht Tagen würde sie eintreffen und wieder bei Frau Dahl wohnen. Es ist noch Winter, doch die Tänzerin kommt. Sie hat es zwar mit den Nerven und wird sich schonen müssen. Doch ist es eine Abwechslung. Eine Abwechslung? Ein großes Ereignis ist es. Noch hängt Schnee in der Luft und schon trifft der erste Gast ein. »Eine frühe Schwalbe«, sagt Patzke überall. Es ist kein gewöhnlicher Gast, nicht irgend so ein Mensch, wie er zu Hunderten über die Straße läuft. Eine Tänzerin ist es, ein zierliches Geschöpf, nicht schwerer als eine Feder. So fliegt sie im Tanz durch die Luft. Man könnte sie einander zuwerfen. Wie einen leichten, springenden Ball. Es wird eine Lust sein, sie wiederzusehen. Sie geht wie ein Reh, wie ein Vogel singt sie, sie lacht, als klänge eine süße Glocke an, und sie tanzt, ach, sie tanzt, wie nur so ein Wunder tanzen kann.

»Du kannst mir ihre Schuhe geben«, sagt Patzke zu Frau Dahl. »Die kleinen Schuhe kannst du mir geben, du hattest sie doch gut fortgestellt.«

»Kein Tüpfelchen ist daran gekommen«, antwortet Frau Dahl.

»Wir wollen ihr die Schuhe hinstellen, ich werde sie mit etwas Grün schmücken. Ich hab Ilex im Garten, weiter gibt es jetzt nichts. Es ist schade, daß noch nichts blüht. Der Krokos hat noch seine sechs Wochen.«

Patzke ist ganz unglücklich, daß nichts in seinem Garten blüht. Wenn Fräulein Emita wie jedes Jahr im Sommer gekommen wäre, würde sie ihre Schuhe in einem großen Blumenstrauß gefunden haben. Nun ist nicht einmal der Postmeister da, der kleine Lieder zu dichten versteht. Nicht einmal mit einem Vers kann man Fräulein Emita begrüßen.

Patzke würde es gern selber versucht haben, doch geniert er sich vor den anderen. Ein paar Reime hat er sich zurechtgesucht, aber sie sind schwerfällig und gefallen ihm nicht. Es müßte schon ein Gedicht sein, mit dem man Fräulein Emita empfängt. So muß Patzke sich mit den harten Blättern des Ilex begnügen. Ein paar rote Beeren findet er noch, die wird er dazwischen tun. Man muß schon so zufrieden sein.

Über die bevorstehende Ankunft der Tänzerin hat Frau Dahl alles andere vergessen. Sie will es ihr so bequem wie möglich machen. Darum stellt sie auch den Lehnstuhl in die Stube. Immer findet Frau Dahl noch eine Kleinigkeit, die das Zimmer wohnlicher machen könnte. Oft steht sie auf der Türschwelle und prüft ihr Werk. Man muß sagen, es ist ein gemütliches Zimmer. Das große weiße Bett und der Lehnstuhl am Fenster. Auch der alte Schrank, unter dem morgens das feine, gelbe Mehl des Holzwurms liegt. Auch die Messinguhr und der kleine Tisch mit der roten Decke, ein wenig wacklig zwar, aber doch mit gedrehten Beinen. Man sieht, daß es Mahagoni ist.

An der Wand hat immer ein Bild gehangen, das einen fliehenden Hirsch darstellt, der dem todbringenden Blei des Jägers zu entkommen trachtet. Dieses Bild vertauscht Frau Dahl mit einem lockigen Kinderkopf. Es ist ein billiger Öldruck, doch muß jeder zugeben, daß es kein hübscheres Kind in der Welt geben könnte als dieses da, mit dem lockigen blonden Haar, den blauen Augen und dem Mund, der röter ist als eine Kirsche.

Frau Dahl hängt dieses Bild so, daß es vom Bett aus zu sehen ist. Wenn Fräulein Emita einschläft und aufwacht, immer wird ihr Blick dieses Kinderbild erhaschen.

Über alle diese Vorbereitungen ist Frau Dahl nicht zu anderem gekommen. Sie hat vergessen, daß Frau Drees mit Arbeit auf sie wartet. Wollte sie nicht zum Nähen kommen? Schürzen waren anzufertigen und auch ein Kleid. Tatsächlich, daran hat Frau Dahl nicht mehr gedacht. Ein paar Tage später fällt es ihr ein.

›Daß ich das vergesse‹, wundert sich Frau Dahl und läuft am Abend nach dem Hof am See.

Unter der Lampe sitzt Emilie mit einer Stickerei. Eine Tischdecke wird es mit roten und gelben Rosen und grüner Blätterranke. Frau Dahl kann sich nicht genug tun, die feine Art zu bewundern. Wieviel Arbeit das macht! Aber wenn man an den eigenen Hausstand denkt, hat man sein Vergnügen an derlei Zwirrerei. Emilie lächelt etwas. Es ist ein trauriges Lächeln, beinahe trostlos ist es, dieses Lächeln. Frau Dahl fühlt, wie es ihr in das Herz schneidet.

Wenn sie jetzt nicht Frau Dahl wäre, sondern jemand, der ein Recht hätte, ohne Aufforderung seinen Stuhl an den Tisch zu stellen, würde sie Emilie leise das Haar streicheln. Gutes Kind, würde sie sagen, und einige Trostworte hinzufügen. Sie würde auch sagen: Laß nur, es wird alles noch gut werden. So aber ist sie Frau Dahl, die bei schlechtem Wetter ihre Holzschuhe draußen vor der Türe stehen läßt und auf Strümpfen in die Stube kommt. Frau Dahl, die immer nahe der Wand stehenbleibt, und wenn man sie an den Tisch bittet, erst bescheiden einige Einwendungen hat.

So findet sie auf Emiliens unglückliches Lächeln keine Antwort. Erst nach einem Weilchen, als Emilie aufsteht, um die Schere zu holen, sagt sie:

»Ich glaube, Sie sind noch gewachsen, Fräulein Emilie. Nein, wie Sie sich herausgemacht haben. Als Sie ankamen, waren Sie nicht halb so viel.«

Sie hätte gerne gesagt: ›Sie sind auch viel schöner geworden, Fräulein Emilie.‹ Das jedoch wagte sie nicht.

Emilie antwortet nicht darauf. Frau Dahl erklärt nun, weshalb sie gekommen ist. Daß man das auch vergessen konnte, die Schürzen. Doch nun kommt in ein paar Tagen die Tänzerin, Fräulein Emita – Emilie hätte es wohl schon gehört? Sie wissen es alle im Dorfe.

»Eigentlich ist es eine traurige Geschichte«, sagt Frau Dahl, und ist drauf und dran, ihre Vermutung zu erzählen. Dann besinnt sie sich, wird etwas verlegen und schweigt. Emilie seufzt. Ach, die Liebe ist nicht immer ein Paradies oder doch, sie ist das Paradies, daraus der zornige Engel mit dem Flammenschwert das liebende Herz vertreibt. Grausam hält er Wache vor der heiligen Pforte, erbarmungslos hat er seine Augen auf die Menschen gerichtet, die sich vor ihm im Staube mühen müssen. Er muß blind sein, wie könnte er sonst diesen Anblick ertragen.

Frau Dahl ist unruhig geworden vor Emiliens Seufzer. Sie steht hilflos da, möchte trösten und weiß nichts zu sagen. Schließlich sagt sie:

»Ich habe die Stube schon eingerichtet. Nun steht ein Lehnstuhl darin und an der Wand hängt das Kinderbild.«

Emilie hat rote Seide genommen und grüne, sie hat gelbe Seide genommen und kann sich nicht entschließen. Rosen will sie sticken und herrliche Sommerblätter. Sie zögert und wirft dann alles zusammen, und mit einem fast feindseligen Ton, als trüge auch Frau Dahl an allem schuld, die gute unschuldige Frau Dahl, sagt sie:

»Frau Drees ist mit ihm nach Thorde.«

Sollte man es glauben, sie sind nach Thorde. Bei diesem kalten, feuchten Wetter sind sie nach Thorde. Selbst Herr Quandt, der Posthalter, der an jedes Wetter gewöhnt ist, hat sich heute beklagt. Der Regen kommt durch, hat er gesagt. Sie sind wohl gar in dem offenen Wagen nach Thorde. Dabei könnte man sich ja den Tod holen, bei dieser Witterung.

Es ist auch schon spät, und sie sind noch nicht zurück. Es geht schon auf neun. Eigentlich hätte Frau Dahl gar nicht so spät mehr kommen dürfen, doch war ihr das mit den Schürzen erst im letzten Augenblick eingefallen. ›Vielleicht sind sie aus dem Seehof noch wach‹, hatte sie gedacht. Nun sind sie nicht einmal da, in Thorde waren sie, abends spät, und bei solchem Wetter.

Frau Dahl ist ängstlich geworden. Was soll das werden? Damals hatte er aus Thorde ein Tuch mitgebracht und sie hatte es Lisa bringen müssen. Sie wollte es nicht tun, aber was sollte sie machen? Nun gut, sie hatte Lisa das Tuch gegeben.

Jetzt war er mit Frau Drees in Thorde. Was dachte er sich dabei? Hier sitzt das Mädchen und weint. Ein junges Mädchen, das ihn lieb hat. Man sieht es ihr doch an. Ja, man sieht, daß sie leidet. Früher war sie viel frischer im Gesicht. Ach Gott, da sitzt nun das junge Mädchen.

Wie soll das alles werden? Nun ist auch Frau Dahl unglücklich. Sie sagt ein paarmal vor sich hin: »Ach Gott, ach Gott.«

Emilie hat es gehört. Sie wendet den Kopf zu ihr. Da ist Frau Dahl erschrocken. Emilie wird doch nicht böse sein. Es ist ihr so herausgefahren, dies: »Ach Gott.«

Aber Emilie ist gar nicht böse. Einsam muß sie sich fühlen, einsam und niedergeschlagen, denn auf einmal hat sie ihren Arm um Frau Dahls Schulter gelegt, ihren Kopf geneigt und schluchzt.

Das tut Emilie. So groß ist ihr Schmerz, daß sie sich nicht mehr beherrschen kann. Sie hat keinen Menschen im Dorf, zu dem sie gehen könnte. Nun neigt sie sich zu einem, der zufällig da ist, zu Frau Dahl neigt sie sich in ihrem Leid.

»Liebes Fräulein«, sagt Frau Dahl. Immer wieder sagt sie: »Liebes Fräulein.«

»Warum tut er das?« klagt Emilie.

Was soll Frau Dahl darauf antworten? Er wird es wegen des Hofes tun, denkt sie. So etwas wäre zu verstehen. Er ist kein junger Mensch mehr, er muß wissen, unter welchen Tisch er seine Füße setzen kann. So wird es sein, doch Frau Dahl will das nicht sagen. Es müßte Emilie zu tief treffen.

Daß es anderes sein könnte, kann Frau Dahl sich nicht denken. Liebe war für sie nicht mit Hemmungen und Überlegungen verknüpft. Eines Tages war der Bäcker Hermann Dahl gekommen, sie waren zusammengezogen und bald schon kam das Kind. Frau Dahl war mit der Liebe zufrieden gewesen.

Emilie spürt, daß Frau Dahl ihr wenig zum Trost sagen kann. Sie zieht den Arm zurück und geht um den Tisch. Sie setzt sich auf das Sofa.

»Es ist ja noch nicht zu spät«, sagt nun Frau Dahl. »Was ist denn geschehen? Sie sind zusammen nach Thorde gefahren. Nun, sie werden dort ihre Geschäfte haben.«

»Sie wollten zum Notar«, sagt Emilie. »Sein Geld soll auf das Grundstück geschrieben werden.«

»Sehen Sie«, antwortet Frau Dahl und ist wieder guten Mutes. »Natürlich, das müssen sie tun. Ich kann's ihnen nicht verdenken.«

»Sie haben's gesagt«, erwidert Emilie zweifelnd.

Anscheinend glaubt sie es nicht. Das ist nicht recht von ihr. Sie darf dem Manne auch nicht mit zuviel Mißtrauen begegnen. Bäcker Dahl ist auch öfter in Thorde gewesen. Es ist eine harmlose Geschichte und davon macht sie so viel Wesens.

Frau Dahl beginnt nun von ihrem Mann zu erzählen. »Er ist oft in Thorde gewesen«, sagt sie. »Da ist er auch nicht immer allein gefahren. Es war noch Platz auf dem Wagen. Einmal war sogar ein junges Mädchen dabei. Nein nein, das will nichts sagen. Man kann natürlich nie wissen, was geschieht.«

Frau Dahl erzählt von ihrem Mann. Groß ist er gewesen und kräftig, und man hätte schon Sorge haben können, wenn er mit einem jungen Ding nach Thorde fuhr. Aber nein, das hat er nicht getan. Man muß sich auf den Mann verlassen können, den man gern hat. Natürlich ist das solche Sache, denn, wie gesagt, man ist nicht immer dabei, aber dann muß man eben Vertrauen haben.

»Vertrauen«, sagt Frau Dahl und nickt Emilie zu. »Christian Kars ist ein guter Mensch. Man sieht's ihm an. Es wird zwar viel geredet, aber über wen schwatzen die Menschen nicht? Das hab ich auch durchgemacht. Ich sage immer, die Wespen suchen sich keine mulsche Birne aus.«

Frau Dahl kann nun auch vorbringen, was sie schon lange auf dem Herzen hat. Darum war sie ja schon vor Wochen gekommen, um mit einem guten Wort zu Emilie alles in das rechte Geleis zu bringen. Nun setzt sie dem jungen Mädchen auseinander, wie sie mit dem Bäcker Dahl bekannt geworden ist.

»Er war ein empfindlicher Mensch. Mein Gott, konnte er penibel sein. Anfangs hab ich mich in manches schicken müssen, aber was tut man nicht, wenn der Rechte kommt. Sehen Sie, Fräulein Emilie, nun wo der Rechte da ist, dürfen Sie's ihm auch nicht zu schwer machen. Ich glaub ganz und gar, Sie haben sich das dumme Gerede in den Kopf gesetzt. Darauf dürfen Sie nichts geben. Nein nein, Fräulein Emilie, Sie dürfen's ihm nicht zu schwer machen.«

Emilie hört sich das alles mit an. Sie kommt gar nicht zum Nachdenken, Frau Dahl redet noch immer. Sie mag recht haben, die gute Frau. Ich hätte mir nichts draus machen sollen aus dem Geschwätz. Was geht mich die andere an – und Emilie meint Lisa.

»Ich glaube, Sie haben recht, Frau Dahl«, antwortet sie leise.

»Sehen Sie«, sagt Frau Dahl erfreut, »ich wollt es Ihnen schon immer einmal sagen. Nun ist's gut, daß wir darüber gesprochen haben. Sehen Sie, so schickt es sich gerade, daß er nach Thorde ist. Sonst wären wir gar nicht dazu gekommen. Nun werden Sie all das dumme Zeug vergessen, und morgen früh werden Sie freundlich zu ihm sein. Sie haben so liebe Augen, Fräulein Emilie, passen Sie mal auf!«

Nun ist Emilie zwischen Lachen und Weinen. Ja, sie lacht schon, ein bißchen zaghaft noch, aber sie lacht. Sie hat die Augen mit dem Zeigefinger getrocknet. So rasch hat sie sich trösten lassen, weil sie, ach, so lange schon, auf einen Menschen wartete, der ihr ein Wort zum Trost sagen würde.

»Setzen Sie sich doch, liebe Frau Dahl«, sagt sie nun.

Frau Dahl sieht nach der Uhr, aber sie setzt sich doch. Über der Lampe ist ein großer gelber Schirm.

»Es ist ein gemütliches Licht«, sagt Frau Dahl.

Auf einmal ist draußen im Flur ein Lachen und Prusten, ein Türzuschlagen und Schritte.

Emilie hat das Lachen verloren. Sie richtet sich aus dem Sofa auf, sie beugt sich ängstlich vor.

Frau Dahl sieht sie erschrocken an, wendet den Blick und starrt auf die Tür.

»Nun sind sie da«, sagt sie gezwungen.

Dann ist das Lachen und Sprechen im Zimmer. In der Türe stehen sie beide, Frau Drees und Christian, naß vom Regen, die Kragen hochgeschlagen, ihre Gesichter sind rot von der harten Luft.

»Wir haben dir was mitgebracht«, lacht Frau Drees. Aus der Tasche holt sie einen Schokoladenhund in Silberpapier gepackt. Sie stellt ihn mitten auf den Tisch. »Er beißt nicht«, lacht sie.

Christian versucht zu bellen. Er lacht und bellt. Sie haben Bier getrunken, Likör, und vielleicht auch Wein. Sie sind in Thorde gewesen, am Hafen, und haben den Leuchtturm gesehen. Christian konnte nicht genug bekommen. ›So haben wir gelebt‹, hat er gesagt. ›Es lebe die Seefahrt, prost, Milda, trink doch, der Wirt hat noch mehr. Heute sind wir mal raus aus dem Nest. Ich hab noch Geld in der Tasche. Zwei Wacholder, Frau Wirtin! Was kostet die Welt!‹

›Mein Gott, wie wild der Mann ist‹, dachte Frau Drees. ›Ich bin auch kein Duckmäuser, tausend Mark hat damals die Hochzeit gekostet, tausend Mark und noch mehr.‹ Prosit, Christian! Es ist gut, daß man mal was anderes sieht, immer dies Dorf und immer dies Dorf. Und dazu die Sorgen. Davon wollen wir heute nicht reden. Heute einmal wird gelebt. Ich hab noch Geld in der Tasche, Christian. Wo ist die Speisenkarte? Herr Wirt, die Karte! Die Karte, Herr Wirt.

Sie reden und lachen. Auf dem Wagen in der Dunkelheit haben sie sich aneinander gehalten. Dieser aufgeweichte Landweg. Daß auch der Regen nicht aufhört. Wenn das Pferd sich bloß nicht den Fuß bricht! Wer hat uns die Laterne ausgeblasen? Laß doch, wir finden schon so nach Haus. Es ist nur gut, daß das Rad am Wagen kreischt. Ich wollt es immer schon ölen. Das ist schon gut, daß ich's vergessen hab. Nun hört man das Rad in der Finsternis. Das kreischende Rad, Achtung, wir kommen!

Sie haben Bier getrunken, Likör, und vielleicht Wein. Sie reden und lachen. »Das war ein Weg«, sagt Frau Drees. »Du hast's gut«, sagt sie zu Emilie, »du sitzt in der warmen Stube. Ich bin ganz durchfroren. Jetzt wird Tee gekocht. Tee gibt es und ein Butterbrot. Einen Hunger hab ich, einen Hunger!«

Emilie sagt nichts dazu. Ohne ein Wort steht sie auf und geht in die Küche. Sie wird Tee kochen und ein Brot zurechtmachen. ›Ich will gut zu ihm sein‹, denkt sie, ›ich will trotzdem gut zu ihm sein.‹

Wo ist denn Frau Dahl geblieben? Sie hat dort auf dem Stuhl gesessen, nahe am Tisch, noch im Lichtschein der gelben Lampe. Nun ist der Stuhl leer. Frau Dahl steht auch nicht an der Wand. Auch in der Küche ist sie nicht mehr. Heimlich hat sie sich aus der Türe gedrückt. Frau Drees hatte sie gar nicht bemerkt.

*


 << zurück weiter >>