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Es ging zum Herbst. Der See duftete. Die Luft hing voll Regen. Über die breiten Rücken ruhender Kühe hin waren die ersten Dächer des Dorfes sichtbar.

Unbeweglich stand Sparre, der Kuhhirt, unter dem Weidenbaum. Über ihm, im wirren Geäst, hockte eine Krähe, und ihm zu Füßen lag schläfrig der Hund.

Dann war der rostige Schlag einer Kirchuhr.

Die Krähe stob davon, der Hund reckte sich, und Sparre schob umständlich den Fuß vor.

Vom Weg her kam jetzt ein Lachen und Rufen. Die letzten Sommergäste fuhren ab. Lüßmanns Wagen war vollgepackt mit Menschen und Koffern.

Vor den Türen standen Frauen und Kinder und winkten. Auch einige Männer waren unter ihnen, Laabs der Schuster, Dan Lebbers der Kaufmann und der Gärtner Patzke, der den Sommer über den Badestrand zu beaufsichtigen hatte.

Segelfahrten gibt es in Sureiken und Waldwanderungen. Groß ist der See, und die Wälder ziehen sich weit in das Land hinein. Das hatte man am Meere nicht. Da war nackter steiniger Strand. Quallen kamen und schmieriger Tang, so sagten die Gäste. Das Meer ist unberechenbar. Es hat plötzliche Tiefen. Die Steine werden einem unter den Füßen fortgerissen. Dann ist nur noch Wasser, das nach dem Herzen greift. Stürme brechen jäh auf. Gewitter können tagelang über dem Meer sein. So sagen die Gäste. Aber in Sureiken ist der Sommer angenehm. Man kann im weichen Gras am Ufer liegen, in einem Boot im Schilf ausruhen. Wenn man ins Wasser steigt, ist eine gleichmäßig ruhige Bewegung. Es gibt nichts Lieblicheres als ein Bad in dem See bei Sureiken, sagen die Gäste.

Nun geht es zum Herbst und alles ist Abschied.

Die Leute von Sureiken stehen da, haben kleine Fähnchen in der Hand, die sie hin und her schwenken, und vom Wagen her ist ein Tücherwehen.

Ein kleines seidenes Taschentuch wird am heftigsten geschwenkt. Das gehört der jungen Tänzerin.

Dann ist das große rote Taschentuch des Postmeisters, der jedes Jahr kommt, einen viereckigen weißen Bart trägt und lustige Verse zu dichten versteht. Und es flattert groß zum Abschied der bunte Bademantel der Frau Wullke, die als letzte im Wagen sitzt, weil sie es da am bequemsten hat.

Das ist ein langes, langes Wehen von Tüchern und Fähnchen. Worte flattern dazwischen. Lebe wohl und auf Wiedersehen.

Dann hob Lüßmann die Peitsche. An der Schnur baumelte ein kleiner Blumenstrauß, den die Tänzerin noch schnell gepflückt hatte.

Lüßmann hob die Peitsche, die Pferde zogen an, und der Sommer fuhr aus dem Dorf.

Die Frauen standen noch ein Weilchen und schwatzten.

»Sie war diesmal gar nicht so lustig«, sagte Frau Dahl, »wenn ich dran denke, im vorigen Jahr.«

Sie meinte die Tänzerin.

»Aber sie hat getanzt, viel getanzt und schön getanzt«, schwelgte Frau Laabs.

Frau Dahl bekam Tränen in die Augen: »Nun kommt der Winter.«

Sie war die erste, die nach Hause ging, neugierig, was die junge Tänzerin, die bei ihr gewohnt hatte, dieses Mal vergessen haben könnte.

Im vorigen Jahre war es ein gesticktes Täschchen gewesen, das den ganzen Winter hindurch einen feinen Duft ausströmte. Sonntags hatte Frau Dahl es immer aus dem Kasten genommen, vor sich auf den Tisch gelegt und an die lustige Zeit gedacht, als die Boote noch mit bunten Laternen auf dem See fuhren, als der Mohn überall zwischen den Halmen stand, und die junge Tänzerin abends vor der Laube tanzte.

Der Gärtner Patzke war noch zu Dan Lebbers in den Laden getreten. Er trank sein Glas Bier und ließ sich eine Zigarre geben. Vor dem Ladentisch stand der Stuhl, auf dem täglich der alte Postmeister gesessen hatte.

»Ja ja«, sagte Patzke, und blickte auf den leeren Platz. Er dachte wohl daran, daß ihn nun vorläufig kein Mensch mehr Himmelhund nennen würde. Er hätte es auch jedem anderen übel genommen, nur der Postmeister durfte sich das erlauben.

›Komm her, Himmelhund, trink!‹ – ›Auf Ihr Wohl, Postmeister!‹ – ›Sauf, Himmelhund, die Böttcher machen neue Fässer.‹ – ›Und die Küfer sind auch nicht faul!‹ – ›Das soll sein! Prost, Himmelhund!‹

So war das Gespräch jeden Vormittag gewesen, jeden Nachmittag und jeden Abend.

Patzke nahm die Mütze ab, die blaue Schirmmütze mit Flagge und Anker auf schwarzem Band.

»Die käme nun also wieder in den Schrank«, sagte er. Auch das Messinghorn, das er an der Seite trug, und das Fernglas. Das waren die Zeichen seiner Würde als Badewärter. Mitte Mai wurde das alles aus dem Kasten hervorgeholt, durfte sich ein paar Monate im Sonnenlicht spreizen und verschwand wieder im Schrank, wenn Lüßmann mit den letzten Gästen davonrumpelte.

Dan Lebbers verpackte einige Badeschuhe, die keinen Käufer gefunden hatten. Auch ein paar übriggebliebene Badekappen tat er hinzu. Das alles wurde nun fest verschnürt und auf Lager gestellt bis zum nächsten Jahre.

»Ein guter Sommer«, sagte Dan Lebbers, »man kann zufrieden sein.«

Die Sommerstuben waren alle vermietet gewesen und auch sonst hatten die Gäste nicht gespart. Der Kaufmann stellte das mit einem Blick auf die leeren Regale fest. Das Dorf würde nun leidlich über den Winter kommen.

Es fiel jetzt ein feiner Regen.

»Nun werden sie noch naß«, bedauerte Dan Lebbers. Lüßmanns Gefährt war ein offener Wagen, ein altmodischer Jagdwagen für zwölf Personen. Die beiden letzten Sitze ragten hoch über den anderen heraus. In gleicher Höhe mit ihnen war der Kutschbock, so daß die übrigen Sitze wie in einem Tal gebettet schienen. Lüßmann hatte den Wagen einmal billig gekauft. Er wollte immer schon ein neues Gefährt anschaffen, aber die Sommergäste waren auf diese alte Kalesche ganz versessen, die schließlich genau so zu den Eigentümlichkeiten des Dorfes gehörte wie das Rauchhaus und die Feuerspritze mit ihrer behäbigen Wassertonne.

Über dem See lag milchig grau der Regen. Das jenseitige Ufer war verhangen, man sah kaum die dunklen Boote. Der Regen fraß sich auch in die Bäume, schob sich wie blasser Nebel gegen die Häuser, breitete sich wie ein engmaschiges Netz über die Dorfstraße und lief in dünnen Fäden an den Fenstern hinab. Es war ein wehmütiger Regen, ein Regen, der ohne Ende schien. Da war nun der Herbst.

Patzke ging nachdenklich nach Hause. Er trug Fernglas und Messinghorn in der Hand. Er ging an dem Kirchhof vorbei, der von der Straße nur durch eine niedrige Steinmauer getrennt war. So waren die Toten kaum von den Lebenden geschieden. Die Gräber lagen wie Häuser an der Straße. Abends stand man an der Mauer und erzählte. Da konnten die Toten hören, was sie einmal in ihrer Jugend angestellt hatten. Mitternachts gingen Verliebte zwischen den grünen Gräberreihen. Der Tod hatte nichts Schreckhaftes für sie, er war nur ein anderes Leben. Wenn man bei Dan Lebbers einkaufen wollte, ging man, um den Weg abzukürzen, über den Kirchhof. Der Schulweg der Kinder führte hier entlang und Sonntags der Weg zum Tanz. Dieser Friedhof umgab etwas verwildert die Kirche, deren spitzer Turm weithin sichtbar war. Von der Kirche zum Pfarrhofe mußte man auf Holzbrücken über eine kleine Insel gehen, auf der sich eine gewaltige Eiche erhob. Nach dieser Stelle hatte das Dorf seinen Namen – Sureiken, saure Eiche. Es heißt, daß Mönche vor Zeiten, um die Allmacht ihres Gottes glaubhaft zu machen, auf dieser Insel eine uralte Eiche in wenigen Tagen verdorren ließen. Der alte Baum war gestürzt, aber ein neuer wuchs auf, nicht minder kräftig, unter dessen schattigen Ästen sich die Toten des Dorfes bargen.

Das Dorf selbst war eine lange Straße. Die Häuser der einen Seite wurden vom See begrenzt, die der anderen von weiten Feldern. Nach der Straße hin lagen die Gärten. Im Sommer war es ein bunter blühender Weg. Jetzt standen noch ein paar Sonnenblumen und ein paar Malven und einfarbige Astern, die sich im Regen duckten.

Frau Dahl saß am Fenster und hielt Patzke ein Paar Sandalen entgegen. Holzsandalen mit knallroten Leinenbändern. Es waren die Schuhe der Tänzerin. Frau Dahl klappte sie aneinander. Klapp klapp, das klang wie im Takt.

»Was sie für kleine Füße hat«, rief Frau Dahl.

Patzke trat heran und stellte den einen Schuh in seine Hand. Er lachte. Im Regen stand er da und freute sich an dem kleinen Schuh der Tänzerin. Es war wie eine Erinnerung an eine lang vergangene Zeit und war doch erst gestern gewesen, daß diese Schuhe hier zum letzten Male vor der Laube im Takt sprangen.

»Die mußt du gut aufheben«, sagte Patzke.

»Ich wickle sie ein«, antwortete Frau Dahl.

»Daß bloß nichts herankommt«, sagte Patzke noch einmal besorgt.

Dann ging er schmunzelnd weiter.

»Sie hat natürlich die Schuhe vergessen«, sagte er zu Haus.

»Ach Gott«, erschrak sich Frau Patzke. Sie wußte nicht, was ihr Mann meinte, aber es ist schlimm, wenn man die Schuhe vergißt.

»So klein«, lachte Patzke und zeichnete beim Essen mit der Gabel einen winzigen Fuß auf den Tisch.

»Was denn?«, fragte Frau Patzke. Er antwortete nicht darauf. Er sah über den Tisch fort zum Fenster hinaus. Draußen fiel noch immer der Regen.

*

Gegen Abend kam Lüßmann von der Bahn zurück. Er hatte einen Mann mitgebracht, ein Fahrrad und einen Rucksack.

»Das gehört zusammen«, sagte er zu Dan Lebbers.

»Ein später Gast?« wunderte sich der Kaufmann.

»Er will bleiben«, berichtete Lüßmann.

»Wieso?« erkundigte sich Dan Lebbers.

»Jawohl«, nickte Lüßmann. Er wußte wohl nichts Genaues.

»Nanu?« sagte Lebbers und blickte nachdenklich zu dem Fremden hinüber.

Lüßmann besann sich. »Er hat wohl ein bißchen Geld.« Dan Lebbers lachte: »Also was zu verlieren!« Sein Lachen war etwas gezwungen. Ein Mann kommt mit Geld nach Sureiken? Er will bleiben? – Was will der Mann? Vielleicht ein Konkurrent.

Der Gast, von dem sie sprachen, bemühte sich währenddessen, das Fahrrad vom Wagen zu heben und zu prüfen, ob es nicht Schaden genommen hätte. Dann kam er langsam zu Dan Lebbers in den Laden.

»So eine Bahnfahrt macht einen doch müde, wenn man an Luft gewöhnt ist«, sagte er, »ich hätte lieber mit dem Rad fahren sollen.«

»So ist's«, bestätigte Lebbers.

»Ich kann es wohl im Flur stehenlassen?« fragte der Fremde.

»Hier gibt's Gott sei Dank noch keine Langfinger«, sagte Dan Lebbers. Er war ärgerlich über die Frage.

»Es ist nicht überall so gemütlich in der Welt«, antwortete der Fremde und setzte sich mit einiger Umständlichkeit. Den Rucksack legte er neben den Stuhl.

Dan Lebbers war hinter den Ladentisch getreten und musterte den Gast, der seinen Blick über die Eßwaren schweifen ließ, die in einem Glaskasten aufbewahrt lagen.

»Man hört so allerhand«, nahm der Kaufmann das Gespräch wieder auf.

»Das soll sein«, bekam er zur Antwort.

Dan Lebbers lachte: »Dem alten Pittelkow haben neulich in der Stadt die fixen Mädchen hundert Mark abgenommen. Vorher hatte er mit ihnen getrunken. Da hat er nun seine Schweine umsonst gefüttert.«

»Wenn's weiter nichts ist«, sagte der Fremde gleichmütig.

»Eine Stange Geld!« betonte Dan Lebbers und setzte sich zu ihm an den Tisch. Er wollte noch mehr von Pittelkow erzählen.

Der Gast unterbrach ihn. Er bestellte zu essen und zu trinken.

Dan Lebbers erhob sich mißmutig und holte das Gewünschte. Darauf zog er sich hinter den Ladentisch zurück und hantierte an den Flaschen herum.

Der Fremde sollte nicht glauben, daß er ihn ausholen wollte. Schließlich aber dauerte es dem Wirt doch zu lange.

»Schlechtes Reisewetter heute«, begann er wieder, »die Sommergäste können einem leid tun. Heut sind die letzten abgefahren.«

»Dann fände man hier wohl leicht eine Stube«, meinte der Fremde. »Ihr wißt, daß ich hierbleiben will. Der Mann, der mich herfuhr, hat es Euch wohl erzählt.«

»Ihr habt verflucht seine Ohren«, sagte Dan Lebbers etwas verlegen.

»Ich hab's zwar nicht gehört«, antwortete der Fremde, »aber ich konnt es mir denken. Der Mann – wie heißt er doch –«

»Lüßmann«, warf Dan Lebbers ein.

»Richtig, Lüßmann«, sagte der Fremde, »er ist alles in einer Person, hat er mir erzählt, Tischler, Fuhrunternehmer und Totenfrau.«

»Jawohl, er wäscht auch Leichen«, bestätigte Dan Lebbers. »Wovon soll der Mensch in Sureiken leben? Da hat jeder noch seinen Nebenberuf. Sommers werden die Wohnungen an Gäste vermietet und man wohnt selbst im Schuppen nebenan. Nein nein, hier ist kein Geld zu machen.«

»Es ist überall das gleiche«, sagte der Fremde, »entweder gelingt's einem oder nicht. Mancher kriegt aus zehn Kiefern bloß Brennholz, aber bei manchem langt eine zum Haus.«

»So rasch laufen die Hasen nicht«, lachte der Wirt, »auch in Sureiken gehört mehr dazu.« Er seufzte: »Ihr könnt mir's glauben, man hat's hier nicht leicht. Da kann ich Euch ein Lied singen. Überall soll man Kredit geben. Fragt mal hier herum. Beim Schuster, beim Schneider, beim Schmied. Den ganzen Tag quält man sich und es kommt nichts bei raus.« Er setzte sich wieder zu dem Fremden an den Tisch, legte ihm die Hand auf den Arm und fragte: »Ein Wort im Vertrauen, wie seid Ihr denn ausgerechnet nach Sureiken gekommen?«

Der Fremde hatte den Teller beiseite geschoben und sah den Wirt an.

»Einfach auf blauen Dunst«, sagte er lustig, »ich hab's an den Knöpfen abgezählt.«

»Da habt Ihr Euch aber schön verzählt, Herr«, bemitleidete ihn der Wirt. »Zählt lieber noch einmal!«

»Habt Ihr Angst um Euer Geschäft?« lachte der Fremde.

»Ich, wieso? fuhr Dan Lebbers auf. »Das Geschäft besteht schon seine sechzig Jahre. Vorher war's ein Kramladen, ich hab was daraus gemacht. Seit zwanzig Jahren hab ich den Laden. Nein, uns hebt keiner so leicht aus dem Sattel. Sehen Sie, hier ist das Geschäft, und nebenan das Pensionshaus, das gehört auch dazu. Eine kleine, aber prima Wirtschaft: drei Kühe, acht Schweine. Na, wie steht man da?«

»In Sureiken ist also doch etwas zu verdienen«, meinte der Fremde.

Dan Lebbers sah betroffen aus. »Wenn man hinterher ist«, gab er zu.

»Also bleiben wir in Sureiken«, entschied der Mann, zahlte und stand auf.

»Wo wollt Ihr denn über Nacht bleiben?« fragte der Wirt erstaunt.

»Ich hab hier Verwandtschaft«, sagte der Gast.

»Also darum«, antwortete der Wirt, »und wen, wenn man fragen darf?«

»Weshalb nicht? Es hängt keine Unehre daran. Ich hab hier einen Oheim. Kars –«

»Den alten Iben Kars?« unterbrach ihn Dan Lebbers.

»Derselbe«, bestätigte der Fremde.

»Da will ich Euch was sagen«, riet Dan Lebbers, »geht lieber erst bei Tag vorbei und fragt an, ob's genehm ist. Zur Nacht könnt Ihr ihm nicht ins Haus fallen.« Dan Lebbers lachte.

»Das müßt Ihr schon deutlicher machen«, sagte der Gast.

Der Wirt blickte ihn erstaunt an. »Wißt Ihr nicht, daß er vor kurzem erst wieder geheiratet hat?«

»Kein Wort«, murmelte der Fremde. Er setzte sich wieder.

»So ist's«, fuhr Dan Lebbers fort, »seine Magd hat er geheiratet, die Lisa. Ein gutes, zuverlässiges Mädchen. Sie war schon, ehe die Frau starb, bei ihm im Dienst. Ausgang Juni haben sie geheiratet. Ich weiß nicht, ob sie schon vorher was miteinander gehabt haben.«

»Der alte Kars hat geheiratet? Er geht doch schon auf die Siebzig«, wunderte sich der Fremde.

»Achtundsechzig, aber so!« sagte der Wirt und schlug mit der Faust auf den Tisch. Dann ließ er die Hand durch die Luft schnellen und pfiff dazu. »Damit war er immer rasch bei der Hand. Er hat manche Klage deswegen gehabt. Nun, Ihr werdet ja Euren Onkel kennen!«

»Bloß vom Hörensagen«, antwortete der Gast. »Mein seliger Vater hat mir manches von ihm erzählt. Ich selbst war noch nie in Sureiken.«

»Eben«, meinte der Wirt nachdenklich, »dies Gesicht ist mir doch ganz fremd, aber jetzt, wo Ihr sagt, daß Ihr der Neffe seid, möchte ich meinen, es wäre eine gewisse Ähnlichkeit. Aber der alte Kars ist gut seinen Kopf größer, das heißt, Ihr seid auch nicht klein.«

Bei diesen Worten hatte Dan Lebbers zwei Gläser mit Bier gefüllt und lud den Fremden ein.

»Da seid Ihr also nicht fremd hier«, sagte er, »darauf wollen wir trinken.«

Sie stießen an. »Ich will Ihnen einen Rat geben, Herr Kars, so darf ich wohl sagen?«

Der Gast nickte. »Christian Kars«, sagte er.

»Also Herr Kars, wenn ich Ihnen einen Rat geben kann, ich werde oben für Sie ein Zimmer zurechtmachen lassen, und Sie bleiben die Nacht hier. Morgen können Sie dann weiter sehen.«

Dan Lebbers hatte auf einmal Interesse an dem Fremden.

»Übrigens, wissen Sie, hab ich Ihren Vater gekannt. Hieß er nicht – warten Sie mal – Jürgen? Richtig, Jürgen Kars! Sehen Sie! Er war vor ein paar Jahren mal hier zu Besuch. Hatte er nicht so etwas wie eine kleine Bootswerft? An der Weichsel, glaub ich, stimmt's? Sehen Sie, na, da kenn ich ihn ganz genau. Er hat hier oft vorm Ladentisch gesessen. Ein guter, freundlicher Mann. Nun ist er also auch hinüber. Ja ja, das ist Menschenlauf. Wann hat er denn das Zeitliche gesegnet?«

»Vor drei Jahren schon«, sagte Christian Kars.

»Also das war ja dann gleich nachher. Er sah damals auch schon kränklich ans. War's nicht Rheumatismus? Das legt sich leicht aufs Herz. Also vor drei Jahren. Eine kleine Ewigkeit. Nun dürfen Sie's mir aber nicht übelnehmen, Herr Kars, wie sind Sie denn auf die Idee gekommen, ich meine, hier mit Ihrem Onkel?«

»Ich bin jahrelang auf See gefahren«, antwortete Christian Kars.

»Na ja, natürlich«, unterbrach ihn der Wirt. »Nun haben Sie's satt, die Seefahrerei! Natürlich, man kommt in die Jahre, wo man gern vor Anker geht. Wissen Sie, ich kenn einen Haufen Seeleute! Wenn die Ischias kommt, machen sie 'ne Kneipe auf. Na ja und natürlich, man geht dann nicht gern in ein wildfremdes Nest. Sie denken nun, Sie haben hier Ihren Oheim. Man setzt gern den Fuß zuerst auf eine bekannte Schwelle, ist's nicht so? Besonders, wenn man sich in der Welt rumgetrieben hat.«

»Stimmt«, antwortete Christian Kars, »fährst nach Sureiken, sagte ich mir, dahin bist du verwandt. Mein Vater hielt große Stücke auf den alten Kars. Er hat mir viel von ihm erzählt.«

»Ihr Vater war eine Seele von Mensch«, sagte Dan Lebbers, »das kann ich mir denken. Er wird bloß Gutes von Iben Kars gesagt haben. Ihr Vater hat von allen Menschen das Beste gedacht. Glauben Sie's mir, Herr Kars, ich weiß es. Ich entsinne mich jetzt ganz deutlich. Hier hat Ihr Vater gesessen. Wir haben oft zusammen gesprochen. Er war ein Mensch, den man nicht wieder vergißt. Sie sehen ja, er ist mir noch ganz gegenwärtig.«

»Dann wird sein Gedächtnis mir wohl eine gute Aufnahme schaffen«, sagte Christian Kars.

»Selbstverständlich, ganz ohne Frage«, fiel der Wirt ein. »Aber kennen Sie die Menschen? Aus den Augen, aus dem Sinn, und wenn einer ganz und gar tot ist –! Wissen Sie, Herr Kars, mein Vater sagte immer, du darfst von den Menschen nicht zuviel verlangen. Es ist schon genug, wenn sie dir auf 'nen Taler richtig rausgeben. Wenn's Ihnen auf meinen Rat ankommt, Herr Kars, ich steh Ihnen natürlich zur Verfügung. Man kennt hier Land und Leute! Wer kauft schließlich nicht bei Dan Lebbers! Also auf mich dürfen Sie schon rechnen. Wie ich vermute, wollen Sie sich hier eine Existenz gründen?«

»Stopp«, lachte Christian.

Der geschwätzige Wirt überhörte den Einwurf – »Ich will mir die Sache durch den Kopf gehen lassen. Vielleicht kann ich Ihnen was Gescheites vorschlagen. Lachen Sie nicht, Herr Kars. Auch ein Gastwirt kann mal einen guten Einfall haben, und wenn er ganz und gar noch Kaufmann ist. Hahaha! Schließlich sind wir ja keine Fremden. Ihr Vater hat schon hier gesessen. Also Sie bleiben die Nacht da, Sie sind mein Gast!«

»Davon kann keine Rede sein«, wehrte Christian.

»Dann gut«, antwortete Dan Lebbers, »sagen wir, 'nen halben Taler. Das ist doch nicht zuviel?«

Er war schon mit dem Kopf aus der Tür und gab seine Anordnungen nach draußen. »Berta«, rief er, »Zimmer fünf!«

Christian Kars überließ sich der Fürsorge des Wirtes. Er begann sich gemütlich zu fühlen, ging langsam durch den Laden, betrachtete prüfend dieses und jenes und nahm schließlich die Zeitung.

Es wurde jetzt auch lebendig bei Dan Lebbers. Patzke kam, um sein abendliches Bier zu trinken, und Ebers, der Photograph, war bei ihm. Auch er wäre schon heute abgefahren, aber es gab noch ein paar Aufnahmen zu entwickeln und mit der Post zu versenden.

Ebers war ein kurzatmiger runder Mann, der in der Welt herumgekommen war. Während der Sommermonate wohnte er bei dem Fischer Kloth. Er hatte sich dort ein kleines Atelier eingerichtet. Seit sieben Jahren kam er schon nach Sureiken. Ein paar Tage, ehe die ersten Sommergäste eintrafen, erschien Ebers mit Kasten, Stativ, Platten und Säuren. Er war verliebt in die Landschaft. Jeden Tag ging er mit dem Apparat an den See, um endlich eine Aufnahme zu machen. Aber jedesmal kam er unverrichteter Dinge zurück. »So schön wird's auf dem Bild doch nicht«, sagte er, »es ist Sünde.«

Nun setzten sich die beiden Männer zu Christian Kars. Es stand nur der eine Tisch im Laden.

»Diesmal hat sie die Schuhe vergessen«, sagte Patzke zu Ebers, »so klein.« Er zeigte die Größe mit Daumen und Zeigefinger. »Ich hab zur Dahl gesagt, daß bloß nichts dran kommt.« Dann lachte er: »Hab mir schon was ausgedacht fürs nächste Jahr. Ich werde die Schuhe in einen Blumenstrauß stecken und der Postmeister soll mir einen Vers machen. Das gibt 'nen Spaß.«

»Wenn sie bloß vorher nicht um die Schuhe schreibt«, sagte Ebers.

»Das wird sie doch nicht!« Patzke war ganz erschrocken. Dann wendete er sich zu Christian Kars und erklärte ihm:

»Sie ist Tänzerin. Sie tanzt sogar in der Hauptstadt. Das Mädchen kann was. Sie nennt sich Emita, in Wirklichkeit heißt sie Rosa. Es ist ihr Künstlername. Hast du nicht ein Bild da?« fragte er Ebers.

Ebers zögerte. Er überlegte, ob er das Bild, das er zwischen Versicherungsscheinen und Geschäftsbriefen in der Seitentasche trug, hervorholen sollte. Er hatte sich heimlich einen Abzug gemacht. Den trug er nun bei sich, wie man eine letzte Sommerblume in ein Buch legt. Eigentlich hatte er die Tänzerin um ihre Unterschrift bitten wollen. Sie würde es ihm sicher nicht abgeschlagen haben, aber dann hätte er zugeben müssen, daß er ohne ihr Wissen sich das Bild verschafft hatte. Das aber wollte er nicht eingestehen. Ein Geschäftsmann muß korrekt sein, damit die Kundschaft das Vertrauen behält.

So sagte Ebers jetzt: »Ich hab leider kein Bild von ihr zurückbehalten, aber im nächsten Jahre wollen wir sie darum bitten. Es ist doch schön, wenn man eine Erinnerung hat.«

Christian Kars interessierte sich nicht für die Tänzerin. Er hatte auf Patzkes Erklärung nicht geantwortet. Patzke ärgerte sich darüber:

»Es war auch eine Frau Wullke hier, die wog zwei Zentner.« Er sagte das so, als wollte er damit andeuten: vielleicht interessiert dich das.

»Der Mensch kann nichts dafür, wenn er Leib hat«, sagte Ebers, »ich war früher auch schlank wie 'ne Tanne.«

»Das sollte auch nicht gesagt sein«, erwiderte Patzke. Er wartete darauf, daß Christian Kars sich an dem Gespräch beteiligen würde. Er hätte ihn wohl auch gerne nach Woher und Wohin gefragt. Aber Christian verhielt sich still hinter der Zeitung.

»Es ist schön hier in Sureiken«, wandte sich nun Ebers zu ihm, »ich bin weit herumgekommen, aber ich sage immer, Sureiken bleibt Sureiken. Wenn hier so ein goldner Sommerabend ist und drüben das Ufer, – da geht nichts drüber. Ich bin immer wieder von neuem entzückt, trotzdem ich doch allerlei gesehen habe. Auch mal ein Nordlicht auf der Insel Ösel. Es war wie ein Dom von Licht.«

Patzke wollte ihn unterbrechen. Er hatte diese Schilderung schon oft gehört. Doch Ebers war begeistert:

»Zuerst war es bloß ein heller Schein, aber dann wölbte er sich und strahlte in allen Farben. Man stand darin wie in einem großen Raum.« Seine Stimme klang gerührt über so viel Schönheit. Auch schienen ihm Tränen in die Augen zu treten. Patzke stieß gegen sein Glas und sagte: »Prost!« Er atmete auf, weil Berta, das Mädchen, hereinkam und in Ebers' Schilderung hineinrief: »Das Zimmer ist fertig!«

Patzke sah neugierig auf Dan Lebbers.

»Herr Kars übernachtet hier«, erklärte der Wirt.

»Kars?« rief Patzke, »Kars? Doch nicht etwa –«

»Allerdings«, sagte Dan Lebbers, »der Neffe!«

»Was, der Neffe? Der Neffe vom alten Kars? Wie kommen Sie denn hierher?« Patzke war in Aufregung geraten. Das war ein größeres Ereignis als die Abreise der Gäste.

»Herr Kars will in Sureiken bleiben«, berichtete Dan Lebbers. Man merkte ihm die Genugtuung an, eine solche Nachricht verbreiten zu können.

»Ei du Donner«, erstaunte Patzke. Er rieb sich ein Weilchen die Nase. Dann sagte er zu Christian Kars: »Sie müssen den Alten wie ein rohes Ei behandeln. Er hat keine Kinder, und da könnte er denken –«

Weiter kam Patzke nicht, Christian Kars hatte sich erhoben und sagte: »Guten Abend.« Er ließ sich den Zimmerschlüssel geben und ging.

»Nun, wenn der Mensch keinen Rat annehmen will!« Patzke zuckte die Schultern.

»Ich fürchte auch, daß er's sich leichter denkt«, sagte Dan Lebbers, »der Alte ist das Mißtrauen selbst, besonders, wenn man mit leeren Händen kommt. Nach Geld sieht der Neffe nicht aus. Er hätte zwar ein paar Ersparnisse, hat Lüßmann vorhin gesagt, aber was gilt ein Fingerhut bei vollen Säcken! Er will sich hier eine Existenz gründen. Ich meine, man kommt nicht mit 'nem Batzen Gold nach Sureiken. Das kriegt man auch woanders klein.«

»Selbständig will er sich hier machen?« fragte Patzke, »hat er sich denn näher darüber ausgedrückt?«

»Er scheint noch nicht zu wissen, was«, antwortete Dan Lebbers »er hat mich um Rat gebeten. Schließlich kennt man hier Land und Leute.« Mit einem Augenzwinkern fügte er hinzu: »Da ist gerade das Wetzelsche Grundstück zu kaufen. Man könnte da eine Gärtnerei anlegen. Gemüsebau, so was rentiert sich immer.«

Er trank Patzke zu. Dabei stieß er Ebers in die Seite: »Paß auf, jetzt geht der kleine Gärtner hoch!«

»Damit bringst du mich nicht aus dem Häuschen«, erregte sich Patzke. »Eine Gärtnerei? Er hat keine Frau, die Kränze binden kann wie meine. Sie hat in ihrer Jugend in einer städtischen Gärtnerei darauf gelernt. Aber was meinst du, Ebers, wir könnten hier noch einen Kaufladen gebrauchen, was? Ohne Konkurrenz wird der Mensch übermütig.« Patzke strich sich den Mund. »Und jeden Tag Freibier!« sagte er.

Er trank Lebbers zu und sie stritten sich noch ein Weilchen.

»Ich wüßte, was ich täte«, sagte Ebers. »Wenn ich nicht Photograph wär, würde ich einen Eierhandel anfangen. Rundum würde ich Eier aufkaufen. Die Bauern sind froh, wenn sie ihre ständigen Abnehmer haben. Sie wissen, Mittwochs kommt Ebers und holt die Eier!«

Dan Lebbers überlegte. Das war kein schlechter Gedanke. Vielleicht könnte er dies Geschäft mit Christian Kars Hand in Hand aufziehen. Er hatte auch schon Pläne darüber hinaus, aber er legte erst einmal die Stirne in Falten und sagte:

»Was wäre schon daran zu verdienen? Bleib lieber bei deinem Leisten, Ebers. Ihr Photographen habt Phantasie! Eier! Die paar Pfennige, die daran zu verdienen sind.«

Ebers widersprach. Er wollte einen Zettel haben und den Verdienst überrechnen. Bei einem Ei so viel Pfennige, bei zehn Eiern so viel, bei hundert – was sagst du nun, Lebbers?

»Nichts«, antwortete der Kaufmann. »Du hast nämlich an der Stiege Eier höchstens so viel!« Er verbesserte, über den Tisch gelehnt, mit einem langen Zimmermannsblei, das immer neben seiner Kasse lag, die Zahlen, die Ebers aufgeschrieben hatte.

Patzke amüsierte sich: »Der Kars wird schon wissen, was er will. Das mit der Existenz ist bloß pro forma, im Grund rechnet er wohl damit, beim alten Kars auf den Hof zu kommen.«

»Warum soll's ihm nicht glücken?« meinte Ebers. »Ein Sohn ist nicht da. Ich hab mich immer gewundert, daß da keine Kinder sind.«

»Die Frau war eine schwache Person«, sagte Dan Lebbers, »aber er hat sie auf Händen getragen, wie man so sagt.«

»Daß die Ehe gut gegangen ist«, wunderte sich Patzke. »Er ist wie ein Stier.«

»Darum fuhr er auch oft in die Stadt«, lachte Dan Lebbers. Er fügte ernst hinzu: »Die Frau wußte es, aber sie hat nichts gesagt, weil sie doch immer leidend war. Und zu ihr, alles was recht ist, war er wie ein Vater. Sie hatte nichts bei ihm auszustehen.«

»Ja ja, wo die Liebe hinfällt«, meinte Patzke, nachdenklich über diese Erkenntnis. »Dazu kann man nichts sagen. Ich glaube, es kommt ihm nicht leicht an, daß keine Kinder auf dem Hofe sind. Vielleicht denkt er, daß Lisa ihm noch den Erben bringt.«

»Das kriegt er fertig«, platzte Dan Lebbers heraus, »er steckt uns noch alle ein.«

Christian Kars stand am Fenster der kärglich eingerichteten Logierstube. Er hörte das Gelächter der drei Männer aus dem Laden. An den Sommergast, der bis vor kurzem hier gewohnt hatte, erinnerte noch ein vergessener Fahrplan.

Christian konnte über den See blicken, der blaß in der Dunkelheit lag, lautlos und ohne jeden Wellenschlag. Es war ein großer See, der, wie Lüßmann sagte, seine Stürme hatte und im Winter das Donnern des Eises.

Über viele Meere war Christian Kars gefahren, und sein Schlaf war von Rauschen und Dröhnen umklungen gewesen. Nun stand er an dem offenen Fenster und horchte hinaus gegen die weite Fläche des Sees. Aber das Wasser blieb still.

Ab und zu, gleichmäßig, huschte ein weißes Licht über den Himmel, kaum wahrnehmbar, und nicht größer als der fahle Flügel eines Vogels. Es war das Licht des Leuchtturms Thorde, weit weg am Meer.

Am nächsten Morgen schien das Dorf aus den Kopf gestellt zu sein. Auf allen Zäunen lagen rote und gestreifte Betten und Kissen ausgebreitet. Es war ein sonniger Vormittag, der seine gesunde Wärme in die Daunen und Federn tragen sollte. Aus den Höfen standen auch Möbelstücke umher. Man war dabei, die Wohnungen der Sommergäste nun wieder für den eigenen Bedarf gemütlich einzurichten. Die Straße glich einer großen Auktion, Stühle, Bilder, Sofas und Waschschüsseln waren herausgekommen, um sich zu präsentieren. Die Frauen hantierten mit Besen und Bürsten. Sie hatten Tücher um das Haar gebunden und die Ärmel weit aufgekrempelt. Zwischen ihnen lief der Sattler Kuhse herum, der hier und da Beschädigtes in Ordnung bringen sollte. Auch Lüßmann, der nun wieder als Tischler zu Ehren kam, hatte alle Hände voll zu tun.

Die Klopfer sausten lustig auf die Inletts nieder. Sie wollten das fremde Leben austreiben, das sich ein paar Monate lang darauf breitgemacht hatte. Der letzte Spuk der Sommergäste wurde verscheucht. Nun begann wieder das eigene Leben. Fast ein halbes Jahr lang hatte man sich selbst aufgegeben, sich fremden Wünschen eingeordnet, besorgt, jede Unzufriedenheit anderer aus dem Wege zu räumen. Man hatte, um das Geld für den Winter zurücklegen zu können, jede Art Unbequemlichkeit auf sich genommen, war vom eigenen Herd verdrängt gewesen und hatte sich wie ein Knecht mit dem Geringsten begnügt. Nun wurde man wieder sein eigener Herr. Das bekundete der weite Schwung der Arme, die Heftigkeit der Bewegungen und die lauten Worte, die von Hof zu Hof über die Nachbarzäune flogen. Auch die Kinder kamen wieder zu ihrem Recht, sie durften tollen und schreien.

Bei diesem geschäftigen Wirrwarr entging den Frauen der Fremde, der langsam über die Dorfstraße schritt. Es fiel ihnen nicht einmal auf, daß er hier und da stehenblieb, den Hantierungen zusah und dann unschlüssig weiterging, als wüßte er nichts Rechtes mit seinem Weg anzufangen.

Als Christian Kars am Morgen mit Dan Lebbers am Frühstückstisch gesessen hatte, mußte er eine lange Geschichte über seinen Ohm Iben Kars mit anhören.

»Iben Kars? Ein Hüne, sag ich Ihnen. Das Dorf könnte schon seine Vorteile durch ihn haben, aber er ist ein Querkopf, ein richtiger Bauer. Das dürfte er gar nicht hören. Unterm Großbauer tut er's nicht. Hofbesitzer. Jawohl, darauf hält er. Was er braucht, kauft er in Thorde. Das heißt, Sie dürfen nicht denken, Herr Kars, daß ich Ihnen das nachtrage. Nein nein, Dan Lebbers besteht auch ohne Iben Kars. Natürlich, manchmal tut es einem leid. Weiß Gott, ich würde 'ne Flasche Wein spendieren, wenn der Alte mal herfände, und wenn er bloß 'ne Zigarre kaufte. Es ärgert einen doch! Aber wissen Sie, ich glaube, da ist nichts zu machen. Er hält sich eben vom Dorf zurück. Was können wir Männer dafür, wenn die Frauen Redereien machen. Was kann ich als Wirt dafür, wenn meine Gäste beim Glas Bier ihre Gedanken austauschen. Schließlich muß man bedenken, Sureiken ist ein kleines Nest, da nehmen sie jeden mal zwischen die Zähne. Aber der Alte tut so, als hätte er 'ne Krone auf. Natürlich haben sie ihn in den Gemeinderat gewählt. Erster Schöffe ist er. Das Schulzenamt hat er abgelehnt. Was hat er gesagt? Ich will mir nicht allen Dreck ins Haus tragen lassen. Ja ja, so ist Ihr Onkel! Na, Sie werden ihn ja noch kennenlernen. Vorsichtig, sag ich, Herr Kars, besonders in Ihrem Fall, wo Sie so – entschuldigen Sie – so plötzlich auf die Rampe springen.«

Das und mehr hatte Dan Lebbers gesagt. Wenn Christian Kars auch den Worten des Wirtes nicht allzuviel Bedeutung beimaß, so sah er doch ein, daß Iben Kars ein Mensch war, mit dem sich nicht leicht verkehren ließ.

Je mehr sich Christian dem Hofe des Oheims näherte, um so langsamer wurde sein Schritt. ›Er wird mich nicht erkennen, ich war noch ein Junge, als er mich das letztemal sah. Wenn er hartmütig ist, könnte er mich wie einen Fremden behandeln. Verlohnt's, sich dem auszusetzen? Aber er könnte erfahren, daß der Sohn seines Bruders hier ist und es übel vermerken. Also was hilft's, man soll nicht an der Schwelle umkehren.‹

Keine Zwiesprache ist umständlicher, als das Gespräch mit sich selbst. Man dreht sich im Kreise und ist bald wieder am Beginn. Schließlich geht man ohne Überlegung gradaus.

Christian Kars war nach Sureiken gekommen, um für das Geld, das er in den Jahren seiner Seefahrten hatte zurücklegen können, etwas Land zu kaufen. Er hoffte wohl, daß sein Onkel ihm im Anfang mit Rat und Tat zur Seite stehen wurde. Vielleicht hatte Christian Kars auch an das Erben gedacht. Iben Kars ist alt. Er geht auf die siebzig. Er hat keinen Sohn, der einmal den Hof übernehmen könnte. Das hatte Christian sicher in seine Überlegungen mit hineinbezogen. Warum soll auch ein Mensch das nicht tun? Man macht sich viele Rechnungen. Manche gehen glatt auf, andere geben einen Rest, der einen ein Leben lang schmerzen kann.

Christian Kars hat sich nicht weiter den Kopf darüber zerbrochen, wie es mit seiner Rechnung stehen wird. Als Seemann ist er gewohnt, sich dem Schicksal zu überlassen. Man kann nichts weiter tun, als dem Schiff den rechten Kurs geben. Was Sturm und Wetter dazu sagen, liegt nicht in des Schiffers Hand.

Christian haderte mit sich, daß er dem schwatzhaften Dan Lebbers zu viele Worte gestattet hatte. Er ist unmutig, daß er überhaupt auf das Gespräch eingegangen war. Aber es ist wohl so, daß ein Seemann, der auf dem Wasser klar und eindeutig zu denken und reden vermag, auf dem Lande leicht übertölpelt wird, wie es auch den Seevögeln geschieht, diesen kühnen Schwimmern, die auf dem Strande jedem kläffenden Hund ausgeliefert sind.

Christian Kars war durch Felder gegangen und kam nun an die Chaussee. Hier begann das Anwesen des alten Iben Kars. Das Haus, das weiter zurücklag und von dem festen Gemäuer der Scheunen und Ställe umgeben war, stand inmitten eines geräumigen Wirtschaftshofes. Bis zu der Wielingschen Mühle, deren Flügel sich in der Ferne langsam drehten, reichten die Äcker und Wiesen des Iben Kars. In der Umgebung wurde das Besitztum seiner Lage wegen allgemein der »Chausseehof« genannt.

Es mußte eine stolze Freude sein, das alles sein eigen nennen zu können: Die Pferde, die mit breitem Schritt, harte Pflüge hinter sich, über das Land gingen. Die Kühe, die satt und trächtig in den Wiesen standen, mutwillige Schweine, die über die Furchen stoben, und schwere Gänse, plump, mit schlagenden Flügeln in großem Geschnatter. Dazwischen eifriges Hühnervolk, das im hastigen Fressen die Köpfe nicht vom Boden losbekam, und eine Schar friedlicher Enten, die wackelnd einem warmen Fleck in der Sonne zustrebte.

Christian Kars sah das alles mit aufmerksamen Blicken. Er nahm die Mütze ab und atmete tief den Duft des letzten Heus, darin noch einmal Klee und vielerlei würzige Gräser zu leben schienen.

Dann schritt er langsam auf das große Tor zu.

Es ging auf Mittag. Lisa, die junge Frau, besorgte das Essen. Unter der großen Schürze trug sie ein dunkles Kleid. Die Ärmel saßen ungeschickt, und auch sonst schien das Kleid nicht für sie geschaffen zu sein.

Lisa hörte den festen Schritt des Bauern im Flur. Sie beeilte sich mit ihrer Arbeit. Iben Kars war in die Stube gegangen, rückte den Stuhl mit großem Geschurr, prustete etwas und ließ dann ein behagliches Stöhnen hören.

»Wo bleibt's Essen?« rief er.

»Gleich«, antwortete hastig Lisa.

Während sie dann die Schüssel füllte, ging die Flurtüre. Ein Schritt war auf der Diele und darauf ein Klopfen.

Iben Kars rief: »Herein!«

Seine Stimme klang unwillig. Er liebte keine Störungen um die Mittagszeit.

Die Tür zwischen Stube und Küche stand offen, und Lisa sah nun einen Mann im Türrahmen stehen, nicht ganz so groß wie Iben Kars, aber doch breit und kräftig. Er mochte in den Dreißigern sein.

Sie hatte sein Gesicht vorher nie gesehen und überlegte, wo sie es in ihren Gedanken unterbringen sollte. Sie betrachtete es aufmerksam.

Plötzlich wandte sie sich verlegen ab, der Mann hatte den Kopf nach der halbgeöffneten Türe gewendet, doch konnte er von seinem Platz aus Lisa nicht sehen.

»Guten Tag, Ohm Kars«, sagte jetzt der Fremde.

Lisa horchte verwundert auf. Weil sie aber fürchtete, bemerkt zu werden, zog sie die Türe leise ins Schloß. Sie blieb dicht an der Türe stehen und wartete darauf, was Iben Kars antworten könnte. Doch schwieg er lange.

Sie war besorgt, wie der Alte den Ankömmling aufnehmen würde. Daß es nicht gleich eine große Freundlichkeit wäre, wußte sie. Sie wollte in die Stube gehen und dem Gespräch einen guten Anfang geben, aber sie scheute sich, war verwundert über solchen Einfall, und um jeden weiteren Gedanken abzuwehren, bewegte sie lauter die Teller und Schüsseln. Wer mag es sein, fragte sie halblaut hin und wieder.

»Guten Tag, Ohm Kars«, sagte Christian noch einmal. »Ich sehe, du kannst dich nicht auf mich besinnen«, fügte er hinzu.

»Nein«, erwiderte Iben Kars.

Zuerst hatte er nicht aufgesehen. Er dachte wohl, daß da irgend jemand um Arbeit vorsprechen wollte. Dann, als er sich angeredet hörte, schob er die Zeitung, die vor ihm lag, beiseite und begann langsam den Kopf zu heben.

Wenn ein Fremder ins Zimmer tritt, blickt man auf. Neugierig, gespannt, was es für ein Mensch sein könnte. Wie sieht er aus, was will er, woher kommt er? Solche Blicke sind schnell bei der Hand, flink wie Depeschenreiter, spähend und auf der Sucht nach Erkundigungen. Bei Iben Kars aber wird jeder Blick geboren. Er entfaltet sich umständlich. Unter solch einem schwer aufgehenden Blick sagt der Fremde:

»Ich bin dein Brudersohn Christian.«

»So?« antwortete Iben Kars, und mit einer kurzen Bewegung sagte er: »Da steht ein Stuhl.« Es war die Aufforderung, Platz zu nehmen. Christian setzte sich.

Die Arme aufgestützt, hatte sich Iben Kars vorgebeugt, sah Christian ein Weilchen an und blickte dann zum Fenster hinaus. Er tat, als erregte dort etwas seine Aufmerksamkeit, doch wollte er wohl nur Zeit gewinnen, um die Worte, die er sagen mußte, noch einmal zu überdenken. Er brummelte unwillig vor sich hin, aber das mochte sich auf den Vorgang auf dem Hofe beziehen. Er sagte dann:

»Das ist recht von dir, einmal mit vorzusprechen«, und ein wenig gesprächiger setzte er hinzu: »Du bist also Christian. Hier hat sich viel geändert. Die Frau ist gestorben.«

Er sagte nicht, daß er wieder geheiratet hatte.

»Das wurde mir erzählt«, antwortete Christian. »Es war ein harter Schlag für dich.«

»Ich hab sie allein begraben«, sagte Iben Kars, »das heißt, hier aus dem Dorf waren viele Leute mit, wie es sich gehört.«

»Ich hab's erst später erfahren«, erwiderte Christian. Er spürte in den Worten einen Vorwurf. »Ich war noch auf See«, sagte er.

»Richtig«, antwortete Iben Kars, als müßte er sich daran erinnern, »richtig, du dienst ja bei der Marine. Also da hat's nun Urlaub gegeben. Bist auf einen Sprung mal herüber gekommen. Du willst dich einmal nach dem alten Ohm umsehen. Nun, du siehst, es ist alles beiwege. Du kannst zu Mittag hierbleiben. Ich wills draußen sagen.«

Er erhob sich, öffnete die Türe ein wenig und rief hinaus:

»Da ist noch wer gekommen. Er bleibt zu Mittag hier.«

Christian fühlte sich wenig heimisch. Er wäre am liebsten gegangen. Auch war es ihm unangenehm, gerade um die Mittagszeit gekommen zu sein. Er hatte das vorher nicht berechnet, nun sah es beinah absichtlich aus.

»Ich will keine Umstände machen«, sagte er, »wir können auch ein andermal reden.«

»Willst du denn länger bleiben?« fragte Iben Kars.

»Ja«, antwortete Christian.

»Ich bin knapp mit Platz im Hause«, sagte der Alte. »Doch wird man schon Rat schaffen. Dein Vater war öfter hier. Dich hat man bisher nie gesehen.«

»Ich will euch nicht behelligen«, wehrte Christian.

Iben Kars horchte auf. »Du weißt, daß ich wieder geheiratet hab?«

»Lebbers erzählte es. Ich wohne bei ihm.«

»So? Dann wäre das in Ordnung. Du willst also länger bleiben?«

»Ich fahre nicht mehr auf See«, erwiderte Christian.

»Darauf hätt'st du früher kommen sollen. Seefahrt ist ein wankelmütiger Beruf. Es hat schon manchen verdorben. Im Land bleiben und arbeiten, damit hab ich's gehalten. Nun, jeder wie er will.«

Er erkundigte sich nicht weiter, was Christian nun anzufangen gedächte. Auch kam Lisa in diesem Augenblick herein mit Schüssel und Tellern.

Iben Kars wischte mit der Hand über den Tisch. Dabei sagte er:

»Das ist Christian Kars, der Sohn von meinem Bruder Jürgen. Der ist vor drei Jahren gestorben. Solange ist es doch wohl schon her?«

Er füllte umständlich seinen Teller.

»Langt zu«, sagte er dann.

Sie aßen schweigend.

Endlich sagte Iben Kars: »Er bleibt länger hier. Er wohnt beim Kaufmann.«

»Da wäre oben das Zimmer«, meinte Lisa zögernd.

»Die Äpfel sollen da rein«, antwortete Iben Kars. »Aber man könnte sie auch auf dem Boden lagern.«

»Macht Euch keine Umstände«, bat Christian. »Ich muß mir sowieso hier einen festen Platz suchen. Ich werde in Sureiken bleiben.«

Der Alte legte den Löffel hin und starrte ihn an.

»Bleiben? fragte er.

»Jawohl«, antwortete Christian, »so hab ich mich entschieden.« Aus diesen Worten war sein Ärger über die unwirtliche Art des Oheims zu spüren.

»Und was wird aus eurer Werkstatt, aus der Werft?«

»Die ist längst zum Teufel«, sagte Christian kurz.

»Das konnte ich mir denken.« Der Alte lachte grimmig. »Alles was mit dem Wasser zu tun hat, geht dahin. Das hat keinen Bestand.« Er spreizte die Hände und sah sie zufrieden an. »Das und Erde«, sagte er, »dein Vater ist immer ein Wirrkopf gewesen. Er wußte nicht, was er wollte. Bald dies, bald das. Wenn er hier saß, erzählte er Gottweißwas. Von Amerika und sonst woher. Er kannte sogar die Sterne.«

»Mein Vater war ein tüchtiger Mensch«, verteidigte Christian, »er hat die Welt kennengelernt. Er ist auf allen Meeren gefahren. Ich habe manches gute Wort von ihm für mich eingesteckt. Er hatte die Bootswerft gut im Zug, es war ein reelles Geschäft bis zu seinem Tod. Erst der Nachfolger hat's verschludert. Ich war damals noch auf See.«

»Darüber kann ich nicht urteilen«, sagte Iben Kars. »Aber ich weiß, daß er vielerlei im Sinn hatte.«

»Man hat's leicht, wenn man der Älteste ist«, antwortete Christian. Es war schon Zorn, was in seinem Wort saß.

Der Alte wollte auffahren, doch dann beherrschte er sich und sagte nur:

»Nicht das Erben ist's, sondern das Erhalten. Das solltest du auch schon wissen. Ich habe das Erbe verdoppelt, gut verdoppelt sogar.«

Lisa blickte ängstlich von einem zum andern.

Iben Kars sagte noch: »Bauer sein, ist leicht; aber Bauer bleiben, ist schwer.« Dabei strich er die Krümel auf dem Tisch zusammen und schüttete sie auf den Teller. Dann schob er den Teller beiseite und stand auf. Das war ein Zeichen. Auch Christian erhob sich, und Lisa tat die Überbleibsel in eine Schüssel.

»Du kannst dir den Hof ansehen«, sagte Iben Kars zu Christian. Die beiden Männer gingen durch die Ställe. Iben Kars blieb stehen.

»Die Leute reden viel«, sagte er, »sie sagen auch, ich hätte das Geld erheiratet. Das ist nicht wahr. Sie hatte nicht mehr als soviel.« – Er zeigte die flache Hand.

»Sie ist eine gute Frau gewesen. Ich hätte keine bessere finden können. Aber das muß ich doch zu meiner Rechtfertigung sagen. Sie war auch zeitlebens kränklich, und wir haben keine Kinder gehabt miteinander. Doch sie hatte ein gutes Herz und eine heitere Gemütsart. Ihren Schmerz hat sie immer verschlossen. Das hat sie getan. Ich habe viel Geld für sie zum Arzt getragen. Es kam nicht darauf an, aber es hat nichts geholfen. Man hat mir gesagt, der Älteste hat's leicht. Ich hab es nicht leicht gehabt. Die Erde wirft einem nichts in den Schoß. Man muß mit ihr kämpfen. Ich sage dir, man muß mit der Erde kämpfen. Jede Frucht muß man ihr abringen.«

Iben Kars ballte die Faust. In diesem Augenblick standen sich Bauer und Erde drohend gegenüber. Dann sagte er ruhiger:

»Ich hab genug Rückschläge gehabt, Mißernten und Verdruß. Nun gut, ich hab das Erbe verdoppelt. Ich hab's auch um die Frau getan, sie war krank und leidend, doch sollte sie ihre Freude haben.«

Er reckte sich und strich mit den Händen breit über die Brust.

»Nun hast du die andere gesehen. Sie heißt Lisa und war hier Magd. Das ist keine Schande. Nicht für sie und nicht für mich. Ich hab keinen drum zu fragen. Den will ich sehen! – Sie ist gut und zuverlässig, sie hat der Frau auch beigestanden in den letzten Stunden. Sie ist anspruchslos, wie sie es immer war. Sie trägt die Kleider der Frau auf.«

Das alles hatte Iben Kars gesagt, ohne Christian anzusehen. Nun wandte er sich zu ihm und sagte heftig:

»Ich hab sie geheiratet, weil ich einen Erben haben will. Nun weißt du alles.«

Er ging mit großen Schritten voran. Er mußte sich bücken, wenn er durch die Türen schritt. Vorher hatte er den Rundgang mit erklärenden Worten begleitet, doch jetzt sagte er nichts mehr über die Tiere und wie sie sich anstellten.

Hinter der Scheune war ein ärgerliches Geschrei. Zwei junge Knechte waren aneinander geraten. Es handelte sich wohl um ein Mädchen. Iben Kars riß die Türe auf, packte die beiden vor die Brust und schleuderte sie auseinander. Die Knechte schlichen geduckt davon.

Iben Kars aber ging über den Hof in das Haus. Er hatte Christian stehen lassen.

*

Ein paar Tage darauf zog Christian in das Haus des Fischers Kloth. Er wohnte jetzt in dem Zimmer, das der Photograph gehabt hatte. Ebers war mit Kasten, Platten und Säuren wieder in die Stadt zurückgekehrt. Am Abend vor seiner Abfahrt hatte es noch ein langes Beisammensein bei Lebbers gegeben. Ebers war gerührt über diesen Abschied. Im Verlaufe des Abends drückte er bei jeder Gelegenheit entweder Patzke oder Lüßmann die Hand. Auch mit Christian hatte er sich angefreundet.

»Es wohnt sich gut bei Kloth«, sagte er, »das werden Sie bald merken. Zwar sind viele Kinder da, aber je mehr Kinder, je mehr Vaterunser. Abends, wenn die Straßenlaterne brennt, werfen die Grabkreuze große Schatten auf die Hauswand. Als ich es das erstemal vor Jahren sah, habe ich mich erschrocken. Sie werden sich auch daran gewöhnen. In Sureiken gehören die Toten zu den Lebenden. Das werden Sie bald merken. Die alte Frau Vedder sitzt oft bei gutem Wetter mit dem Strickstrumpf am Grab ihrer Tochter. Das Mädchen ist schon vierzig Jahre tot. Es ist mit achtzehn Jahren gestorben. Sie wäre heute auch schon eine alte Frau. Nun reden die beiden Alten zusammen, die Tote und die Lebende.«

Lüßmann, der sonst manches oberflächliche Wort gebrauchte, wurde ernst, wenn man vom Tod sprach, denn er sorgte ja dafür, daß die Toten sauber und gut gekleidet ihren letzten Weg antraten.

Er saß jetzt nachdenklich neben Ebers und sagte zu dessen Worten: »Früher soll sogar die alte Kirsten ihrem seligen Mann zum Geburtstage immer ein Stück Kuchen in den Efeu gesteckt haben. Das fraßen dann die Vögel und die Mäuse.«

»Sterben ist mein Gewinn«, lachte Patzke dazwischen. Er hatte die Kränze zu liefern und stellte auch die Lorbeerbäume für die Kapelle. »Sterben ist mein Gewinn«, lachte er.

»Tod gibt Tränen«, sagte Ebers vorwurfsvoll gegen Patzke.

»Manchmal ist es ganz gut, wenn einer abfährt«, bemerkte Dan Lebbers obenhin. »Vorhin war Frau Drees hier bei mir im Laden. Jetzt fängt sie an sich zu erholen.«

»Drees ist aber auch ein Satan gewesen«, sagte Patzke.

»Nicht doch«, antwortete Lüßmann, »Drees hat immer Pech gehabt, zeitlebens Pech, da soll man schließlich kein Satan werden.«

»Der Hof ist verschuldet«, meinte Lebbers, »ich möchte wissen, wie die Frau ihn hält.«

Zu Christian Kars fügte er erklärend hinzu: »Es ist der letzte Hof am See. Iben Kars soll ein paarmal mit Geld eingesprungen sein, aber das war auch bloß ein Tropfen auf heißem Stein. Wo die Schwelle verhext ist, wird alles faul, was man rüber trägt.«

Lüßmann setzte das näher auseinander. Einen der früheren Besitzer hatte man um einen Schuldschein betrogen. Es handelte sich um eine große Summe, die nun zweimal gezahlt werden mußte. So kam der Besitzer unverschuldet in Not und man fand ihn eines Morgens erhängt am Türrahmen. Als man den Toten löste, standen seine Füße noch einmal schwer auf der Schwelle. Nun konnten sich die späteren Besitzer des Hofes die Hände wund arbeiten, sie brachten es zu nichts. Einer nach dem andern ging arm aus dem Haus. Drees war vorher gestorben, ehe man ihm Schrank und Truhe verkaufte. Die Frau, die Milda hieß, biß die Zähne zusammen und arbeitete wie ein Mann. Es ging mit dem Hof nicht voran, aber auch nicht weiter zurück. Sie mußte schon damit zufrieden sein. Manchmal glaubte sie sogar, als wäre der Fluch erloschen, nun wo eine Frau das Regiment führte.

Dieser Hof am See hatte den Leuten ans Sureiken schon oft Kopfschütteln gegeben. Es war das einzige Gehöft, an dem eine Geschichte hing. Alle anderen Häuser und Höfe, auch die Wielingsche Mühle, waren zuverlässige Stätten, die das Leben ihrer Bewohner hüteten. Auch die Gräber in Sureiken waren zuverlässige Kameraden. Aber der Seehof war ein tückischer Kobold, der sich an jedem Quartalsersten, wenn Zins und Steuer fällig waren, klein machte, um den Besitzern aus den Fingern zu springen. Immer mußten die Bauern vom Seehof den Hut bereit halten, um diesen Kobold wieder einzufangen. Wenn diese Zahltage heranrückten, vertauschten sie die Mütze mit dem Hut, zogen den Sonntagsrock an und fuhren nach Thorde. Sie hofften dort jemand zu finden, der ihnen die Summe vorstrecken könnte. Vielleicht der Kaufmann, vielleicht ein Notar, der Viehhändler oder eine vermögende Witwe. In Thorde gab es ein paar Villenstraßen. In jedem dieser Landhäuser wohnte dieser oder jener, der seine Lebensmittel vom Seehof in Sureiken bezog.

Wenn es auf Frühlingsanfang ging oder auf Sommersende, wußte man schon, daß der Bauer selbst die Butter bringen würde. Er stand draußen unschlüssig und verlegen vor der Türe. Es war nicht leicht für die Männer vom Seehof, wenn sie den Hut aus dem Schrank nehmen und betteln gehen mußten. Aber der Hof, dieser Kobold, war flinker als die Hände der reichen Leute in Thorde, wenn sie die Tasche aufknöpfen sollten. Er war davon, bevor die Summe aufgebracht war. Der Hof hatte ein gefräßiges Maul. Das Geld, das man hineinstopfte, schlang er gierig hinunter, und immer stand er wieder da, hungrig und lechzend nach blanken Talerstücken.

Nein, die Bauern vom Seehof hatten es nicht leicht. Als Drees, der letzte Besitzer, starb, wollte kaum einer mit zum Grabe gehen. Dieser Seehof war allen eine Bangnis. Eine düstere Wolke, die sich am Ausgang des Dorfes auftürmte, ein krankes Stück in der Herde, das man mied, um sich nicht anzustecken. Dazu kam, daß man dem Knecht, der unter Drees arbeitete, Siebensinniges nachredete.

Am Todestage des Bauern war der Knecht über den Hof gegangen, hatte an den ersten Bienenstock geklopft, die Mütze abgenommen und gesagt: »Bienen, steht auf, euer Wirt ist gestorben!«

Er klopfte an den zweiten, an den dritten Bienenkorb, ging barhäuptig weiter, sah in den Stall hinein und rief halblaut: »Der Bauer ist tot!«

Er sagte es den Kühen, den Pferden und den anderen Tieren, die auf dem Hofe gehalten wurden. Am dritten Tage, als man den Bauer zu Grabe gebracht hatte, verlangte er, daß das Stroh, darauf der Tote gelegen, verbrannt würde. Als Frau Drees sich weigerte, das gute Bett zu opfern, wurde der Knecht unwillig, kramte seine Sachen zusammen und verließ noch am gleichen Tage den Hof.

An derlei Brauch war man in Sureiken ungewöhnt, und es hatte sich bald herumgesprochen, was der Knecht an den drei stillen Tagen nach Abgang des Bauern angestellt hatte. Er war einige Zeit zuvor zugewandert und wollte wohl das, was er anderenorts gesehen und gelernt hatte, in Sureiken anbringen. Nun war er längst davon, und Frau Drees wirtschaftete alleine auf dem Hofe.

Lüßmann lobte sie. Er war der einzige, der den Hof am See verteidigte, wenn man bei Dan Lebbers darauf zu sprechen kam. Frau Drees holte ihn, wenn es dieses oder jenes Handwerkliche zu tun gab.

Vor kurzer Zeit war eine Nichte von ihr aus der Stadt gekommen, die ihr zur Hand gehen wollte. Aber das junge Mädchen mußte erst überall angelernt werden und man konnte nicht sagen, daß sie der Frau schon eine Hilfe wäre. Lüßmann hatte Emilie, so hieß die Nichte der Frau Drees, kennengelernt, und erzählte an diesem Abend bei Dan Lebbers, daß sie einen vorteilhaften Eindruck auf ihn gemacht hätte.

»Du wirst doch nicht –? blinzelte der Wirt.

Lüßmann erwiderte nichts darauf, auch in seinem Gesicht war keine Antwort zu lesen. Aber die forsche Bewegung, mit der er nach dem Glase griff, deutete an, daß er trotz seines Umganges mit den Toten einem hell aufspringenden Leben nicht abhold sein mochte. Er trank in langem Zuge das Glas leer. Dann setzte er es mit müder Hand hin und mit viel Ergebenheit.

Seine Frau hatte ein plattes Gesicht, und ihre flache Gestalt war mitgenommen von vielen Geburten.

Ebers drängte wieder zu Worte zu kommen.

»Wie gesagt, Sie werden sich bei Fischer Kloth wohlfühlen, Herr Kars«, sagte er unvermittelt.

»Keiner hat was gegen Kloth«, rief Patzke. Das Bier machte ihn immer lebhafter. »Kloth ist ein anständiger Kerl. Er sorgt für die Kinder, als wären es seine eigenen, dabei ist er mit der Hälfte seiner Kinder gar nicht mehr verwandt.« – Patzke wollte sich ausschütten vor Lachen. – »Sie heißen zwar auch Kloth wie er, aber das war ein anderer Kloth. Alle Fischer heißen hier Kloth. Auch die erste Frau hieß Kloth, und die zweite hieß auch Kloth. Da soll der Deubel draus klug werden.«

Das kleine Fischerhaus, das an das Grundstück des Dan Lebbers grenzte, wurde ursprünglich von einem Hermann Kloth bewohnt, der ein Mädchen namens Minna Kloth heiratete.

Aus dieser Ehe stammten fünf Kinder. Von der Geburt des fünften Kindes an blieb die Frau leidend. Sie erholte sich nicht wieder und starb im Jahre darauf. Da der Mann mit den Kindern nicht fertig werden konnte, zumal er oft lange mit dem Boot draußen war, heiratete er bald darauf die Kusine seiner verstorbenen Frau, eine junge Witwe, Emilie Kloth, die zwei Kinder mit in die Ehe brachte. Sie lebten gut miteinander und freuten sich, als ihre Ehe mit einem Jungen gesegnet wurde. Dann aber geschah das Unglück, daß Hermann Kloth in einem Sturm mit dem Boote umschlug, unter die Aalreusen kam und ertrank. Die Frau saß nun mit acht Kindern da und quälte sich vom frühen Morgen bis zum späten Abend, um das Geld zu verdienen, das notwendig war, die vielen hungrigen Mäuler zu stopfen.

Hermann Kloth hatte viel mit einem Fischer zusammen gearbeitet, einem gewissen Jakob Kloth, mit dem er trotz der Gleichheit des Namens nicht verwandt war, aber die beiden kannten sich schon von der Schulzeit her und waren auch während der Dienstzeit bei der Marine gute Freunde geblieben. Nun, wo Hermann Kloth tot war, fühlte sich Jakob verpflichtet, hin und wieder bei den vielen Kindern nach dem Rechten zu sehen. Er brachte der Witwe öfter Fische mit und half auch sonst im Hause. Schließlich fanden sie, daß es das Einfachste wäre, wenn sie heirateten. So kam der schweigsame Jakob Kloth zu einer Frau und acht Kindern. Er verkaufte sein Haus, weil er glaubte, daß es besser wäre, alle diese Menschenkinder unter dem Dach zu lassen, das sie bis jetzt beschirmt hatte. Daher zog er eines Tages, das Fischerzeug auf der Schubkarre, in das kleine Haus neben Dan Lebbers. Er lebte mit der Frau in gutem Frieden, und sie gebar ihm vier Kinder, von denen sie das älteste Jakob, nach dem neuen Hausherrn, nannten. Im siebenten Jahre der Ehe starb die Frau, und da die ältesten Kinder, zwei Mädchen, inzwischen so weit herangewachsen waren, daß sie für die Geschwister, für Haus und Küche sorgen konnten, verzichtete Jakob darauf, wieder zu heiraten.

Er war ein großer hagerer, schweigsamer Mensch, und die Kinder erfuhren wohl nur selten eine Liebkosung von ihm, aber wenn er abends inmitten der Kinder am Tisch saß, ging eine große Zufriedenheit von ihm aus. Sein Blick schweifte oft von einem zum andern, als zählte er die Kleinen, die dicht gedrängt saßen. Er schien sich vergewissern zu wollen, ob keines von ihnen über Tag abhanden gekommen war.

Die Kinder gediehen prächtig. Sie bekamen Fische zu essen und Ziegenmilch. Es gab viel Kartoffeln und Sonntags hin und wieder Brot. Im frühen Herbst sorgte Jakob schon für den Winter. Ein Teil der gefangenen Fische wurde im Ofen gebacken. Waren sie dann hart genug, daß man sie kaum brechen konnte, verpackte er sie sorgfältig und hob sie in der Scheune auf für die schweren Monate. Diese gebackenen Fische ließen sich dann wie Brot essen.

Unter den Kindern waren auch schon ein paar Jungens, die ihm beim Fischfang zur Hand gehen konnten. Die übrigen, noch zu klein zu ernster Beschäftigung, krabbelten für sich selbständig durch das Haus.

Es war erstaunlich, wie dieses kleine weiße Haus mit dem Strohdach die vielen Manschen fassen konnte. Doch sagt man, daß der geduldigen Schafe viele in einen Stall gehen, und so war es auch hier. Jeder wußte, wo er sein Fleckchen hatte, und alles rollte ordentlich ab. Es war sogar Platz genug, daß man eine Stube vermieten konnte. Der Erlös dafür kam Jakob sehr zustatten, denn es war immer einmal ein Kleidungsstück anzuschaffen, eine Segelwand, Stiefel oder ein Gerät für die Fischerei.

So war er ganz zufrieden gewesen, als der Photograph mit Christian Kars kam, um ihn als neuen Mieter in Vorschlag zu bringen.

Jakob Kloth ging sofort darauf ein. Da war Christian mit Fahrrad und Rucksack eingezogen und hatte nun statt des rauschenden Meeres das Hin und Her trappelnder Kinderfüße um sich.

*

Christian Kars ist jetzt viel unterwegs. Land und Leute will er kennenlernen. Er hat ja Sureiken dazu ausersehen, ihm eine Heimat zu werden. Er weiß, daß er auf den alten Iben Kars nicht rechnen kann. Vielleicht wäre es am einfachsten gewesen, sein Bündel zu schnüren und wieder abzuwandern in die Welt, irgendwohin, wo man nicht als Lästiger angeklopft hatte. Auf dem Heimwege damals von Iben Kars hatte Christian das erwogen, aber er verwarf diesen Gedanken sofort. Er wollte bleiben, um dem Alten zu zeigen, daß er auch ohne dessen Hilfe festen Fuß fassen könnte. Nun suchte er ein Stück Land zu kaufen mit Haus und Nebengelaß, ein Stück Eigentum, davon ein Mann, der keine besonderen Ansprüche stellt, sich nähren konnte.

Dan Lebbers riet ihm, mit diesem Kauf zu warten, weil die Möglichkeit bestand, zum Frühjahr billiger anzukommen, denn es hieß, daß einer der Abwohner im Ausbau von Sureiken sich nicht über den Winter würde halten können.

Um nicht müßig herumzusitzen und sein Erspartes anzugreifen, ging er auf einen Vorschlag, den Dan Lebbers ihm machte, sofort ein. Er fuhr von Bauernhof zu Bauernhof, kaufte dort die Eier auf, die Dan Lebbers dann an einen Händler in Thorde sandte, von wo aus sie mit gutem Gewinn weiter gingen. Noch etwas anderes hatte der geschäftstüchtige Wirt ausgetüftelt. Er instruierte Christian Kars eines Tages über landwirtschaftliche Maschinen, drückte ihm einen Katalog in die Hand und ermunterte ihn, bei den größeren Bauern sein Heil zu versuchen. Neben der Ladentür bei Dan Lebbers prangte nun auch ein Schild, das die Vertretung »landwirtschaftlicher Maschinen und Ackergeräte aller Art erster Fabriken« ankündigte.

Dieses Schild erregte viel Aufsehen, und es war eine große Genugtuung für Dan Lebbers, seinen Kunden klarzumachen, daß er drauf und dran wäre, den bescheidenen Rahmen seines Geschäftes zu sprengen. »Wir brauchen uns nicht hinter Thorde zu verstecken, wir wollen aus Sureiken etwas machen. Dazu muß jeder beitragen.«

Dan Lebbers vertrat auch den Standpunkt, daß man versuchen müsse, noch mehr Sommergäste nach Sureiken zu ziehen.

»Ihr plackt euch viel zu viel«, sagte er zu den kleinen Bauern, »ihr rackert euch zu Tode und habt nicht mal was fürs Begräbnis. Das erlebe ich doch nun schon Jahr für Jahr. Ihr müßt froh sein, wenn euch der Müller das Pferd zum Pflügen borgt, und wenn er ein Auge zudrückt, weil eure Kuh sich auf seiner Wiese mit satt frißt. Hier –« – dabei trommelte Dan Lebbers mit der Faust auf den Tisch – »gut abvermieten im Sommer! Wenn's geht, noch ein paar Stuben einrichten, und dann das Land in Pacht geben. Hier, Geld einkassieren, darauf kommt's an! Ein paar Ferkel großziehen, Schweine schlachten, den Winter lang übern vollen Tisch gucken! Wozu lebt denn der Mensch schließlich? Ich sag euch, es soll Ortschaften geben, wo die Menschen bloß vom Sommer leben. Und das könnt ihr auch haben!«

Auch im Gemeinderat hatte Dan Lebbers einmal versucht, diese Gedanken zu vertreten. Aber da war er von Iben Kars zurückgewiesen worden.

»Wer seinen Stuhl einem Fremden überlassen will und sich mit der Bank in der Waschküche begnügt, der mag's tun.«

Weiter hatte Iben Kars nichts gesagt, doch die anderen waren verlegen geworden und hatten geschwiegen. Aber im Sommer hatten sie alle ihre Stuben vermietet und waren in die Scheunen gezogen.

Jetzt sagte Dan Lebbers zu Christian:

»Ich weiß ja, wie der alte Kars drüber denkt, aber wenn man die Tasche voll Geld hat und die Truhen gefüllt, dann ist's leicht, vom alten Brauch nicht abzuweichen. Hier, die andern müssen erst mal sehen, wie sie ihre Mäuler satt kriegen.«

Der Fischer Kloth stand dabei und nickte. Er überlegte lange und sagte dann:

»Mein Vater hätt's auch nicht getan.«

»Aber du kannst das Mietsgeld gut brauchen!« triumphierte Dan Lebbers.

Das gab Kloth bedrückt zu. Zu Hause warteten zwölf Kinder auf Essen. Da konnte man nicht Anspruch darauf erheben, wie ein Herr im Eigenen sich breitmachen zu dürfen. Man hatte auf die beste Stube verzichtet und ging wie ein Fremder an deren Tür vorbei.

»Ja ja«, sagte Kloth, und stand wieder schweigend unter den anderen, die sich lärmend die Abbildungen der Maschinen ansahen und von Dan Lebbers immer wieder wissen wollten, ob er auch jede derselben herbeischaffen könnte.

In diesen Tagen sprach man nur von Maschinen in Sureiken, an deren Erwerb man nie denken konnte. Aber durch Dan Lebbers war man mit ihnen vertraut geworden, stritt sich über den Mechanismus und prahlte mit dem Traktor, der auf der Umschlagseite des Kataloges wie ein Sturm über das Land ging und von dem man viel mehr erwarten konnte als von dem alten Gaul, den man sich jedes Frühjahr vom Müller Wieling ausborgen mußte.

Jawohl, aus Sureiken würde schon noch etwas werden. Da, an Dan Lebbers Türe war das Schild.

*

Christian war auf den Höfen bald gut bekannt geworden. Er hatte sich zuerst nicht entschließen können, auch bei Iben Kars mit vorzusprechen. Da er jedoch Dan Lebbers in dem Glauben ließ, daß der Alte ihn freundlich aufgenommen hätte, so durfte er den Chausseehof bei seinem Handel nicht auslassen, um diese Darstellung nicht zu erschüttern.

Er fuhr also eines Tages dorthin und war froh, Iben Kars nicht anzutreffen. Er verhandelte alleine mit Lisa. Sie machten dann aus, daß Christian Anfang der nächsten Woche wieder mit vorbeikommen sollte. So war das Geschäftliche besprochen und Christian wollte gehen. Lisa bat ihn zu bleiben.

Ehe Christian ablehnen konnte, begann sie schon den Tisch zu decken. Sie stellte Milch und Brot hin und machte sich am Herde mit dem Kaffee zu schaffen.

Dabei begann sie ihn auszufragen. Er erzählte von seinem Leben. Wie er als Fünfzehnjähriger zur See gegangen, zuerst auf einem Segler und dann nach seiner Marinezeit auf Frachtschiffen gefahren wäre.

»Ich hab es immer vermieden, mich auf Schiffen mit fester Route anheuern zu lassen. Man sieht mehr von der Welt, wenn man als Seemann auf Schiffen fährt, die für bestimmte Ladungen gechartert werden. Da haben wir dann manchmal vierzehn Tage und länger in Häfen gelegen, um neue Fracht zu bekommen.«

»Ob's Ihnen da in Sureiken gefällt?« fragte Lisa, »Seeleute haben's bunt! Bei uns ist's schon langweilig!«

»Man hat seine Beschäftigung«, sagte Christian.

»Das schon«, antwortete Lisa. – »Da haben Sie ja allerhand erlebt«, lachte sie dann.

»Das kann man sagen«, erwiderte Christian. »Ich war in Lissabon und in Schanghai. In Schanghai hatten sie unsern Koch erstochen. Das war eine schlimme Geschichte. Ein Malaie war es, der ihm den Garaus machte. ›Du schieläugiger Lump‹, hatte der Koch gesagt. Da stak ihm das Messer in der Kehle. Der Malaie fuhr als Heizer auf einem Portugiesen. Als wir's dem Kapitän meldeten, sagte er bloß: ›Wer von euch kann kochen?‹ Ich verstehe mich etwas darauf. So bin ich den Rest der Reise als Koch gefahren.«

Er streckte die Beine weit aus und nahm ein Stück Brot.

»Sie können auch kochen?« wunderte sich Lisa.

»Was kann man nicht alles?« lachte Christian. »Ich hab sogar einmal geschneidert. Eine Hose hab ich genäht. Das war eine knifflige Arbeit. Aber was sollte ich tun? Wir hatten um zehn Grogs gewettet. ›So schlimm kann's doch nicht sein, eine Hose zustande zu bringen‹, hatte ich gesagt. Da nahmen sie mich beim Wort. ›Versuchs‹, meinte unser Steuermann. ›Das will ich tun! Also los! Zehn Grogs, abgemacht!‹ Die Hose sollte bis zum nächsten Vormittag fertig sein. Ich hab die ganze Nacht daran genäht. Es wurde auch eine Hose, aber sie paßte keinem. Doch war es eine Hose. Das mußte der Steuermann zugeben. Er hat die Wette auch bezahlt.«

»So ein Seemann hat schon Flausen im Kopf«, sagte Lisa. »Der eine Kloth, der dritte am See, war auch Matrose. Das ist schon Jahre her. ›Was du so immer erzählst, Karl‹, haben wir gesagt. Manchmal mußte man sich die Ohren zuhalten.«

Christian sah sie an. Sie wurde rot, aber sie blickte nicht weg.

»Also Karl hieß er«, zwinkerte Christian.

»Wie meinen Sie das?« fragte Lisa. »Sie sind schon einer! Neulich haben Sie kaum ein Wort gesprochen.«

Christian zog die Füße bis an den Stuhl zurück, saß noch ein Weilchen schweigend da und stand dann auf.

»Also Anfang der Woche«, sagte er.

Lisa erhob sich ebenfalls, verwundert über seinen schnellen Aufbruch.

An den Bäumen hingen pralle rote Früchte. An der Mauer aufgestapelt lagen dicke satte Kartoffeln. Von einem nahen Felde duftete es süß aus den gelben Blüten des Senfs.

Lisa brachte Christian noch bis an das Tor. Sie ging unschlüssig neben ihm her. Sie hatten weiter nichts miteinander zu sprechen. Lisa zögerte noch etwas und begann dann die Äpfel aufzusammeln, die von Zeit zu Zeit im steten Wind dumpf auf den Boden schlugen. Vielleicht dachte sie, daß er ihr beim Aufsammeln behilflich sein würde. Vielleicht wünschte sie, daß er noch ein wenig bliebe. Aber Christian ging fort. Sie hatte beide Arme voll Äpfel, und als sie eine Bewegung machte, als wollte sie ihm noch einmal die Hand geben, rollten die Früchte wie aus einem Füllhorn zur Erde.

An diesem Abend war Christian lebhafter bei Dan Lebbers. »So gefallen Sie mir schon besser«, sagte Patzke.

Der Wirt fuhr ihm dazwischen. »Wer mäkelt da? Von Anfang an hab ich gesagt: Christian Kars prima! Der Mansch muß sich bloß erst eingewöhnen. So ist's! Ist's nicht so?«

»Darauf wollen wir noch einen trinken«, rief Patzke. »Daß du bald zu 'ner Frau kommst! – Na na, nicht so von der Hand weisen, Herr Kars. Zum Leben gehören zwei, einer, der 's Geld verdient, und einer, der's ausgibt. Oder sind Sie ein Geizhals? Haha!«

»Wenn wir in unsern schmierigen Ölanzügen von Bord kamen, schenkten uns die Damen seidene Taschentücher«, sagte Christian. »In der Bar mußten die Herren von der Tanzfläche mit ihren Scherben in den Augen.«

»So ist's richtig, man muß es ihnen sagen«, rief Patzke. Er reckte sich, aber er sah um nichts größer aus. »Hier war auch mal so einer, ein anmaßender Kerl, die Badegäste beschwerten sich über ihn. Monookel und so weiter, na, ich hab ihm meine Meinung gesagt. Nach acht Tagen ist er abgefahren.«

»Nachher stellte es sich heraus, daß es der Rendant aus der Kreisstadt war, und Patzke hat ihn immer Herr Graf tituliert, dabei hieß der Mensch Schimmelkorn!«

Dan Lebbers wollte sich ausschütten vor Lachen. Er gluckste.

Patzke wurde feuerrot, er schrie: »Das tut nichts zur Sache. Trug er ein Monookel oder nicht? Er hatte auch Fräulein Emita belästigt, die Tänzerin. ›Wer sind Sie denn überhaupt, Herr?‹ hat sie zu ihm gesagt. Fragt mal den Photographen, wenn er wiederkommt. Er war dabei, er wollte ihm eine runterhauen. Es war Tanz, und Bolk spielte gerade den Donauwalzer.«

Manchmal, wenn Bolk der Schmied, der die Geige spielt, Zeit hat, ist Sonnabends Tanz in Sureiken. Hinter dem Pensionshaus hat Dan Lebbers einen Saal gebaut, eigentlich einen Schuppen, kahl und nüchtern, aber wenn Bolk die Musik macht, ist viel Lustigkeit darin und keiner stößt sich daran, daß die Dielen uneben und die Wände bloß weiß gekalkt sind. Vor den Fenstern stehen dann die Alten und sehen den Tanzenden zu. Als sie jung waren, mußten sie bis nach Thorde eine Stunde Chaussee, weil es noch keinen Tanzsaal gab in Sureiken. Der Jugend heute hat man es bequemer gemacht. Es ist auch ein verstimmtes Klavier da, das Dan Lebbers bedient. Allerdings kann er nur die Begleitstimme spielen, denn viel Fertigkeit hat er nicht, und was er hervorbringt, ist meistens nur ein stampfendes Gedröhn. So kann man nur nach der Geige tanzen, die Bolk spielt. Doch ist es schön, auch den Lärm dazu zu haben, den Lebbers auf dem Klavier hervorbringt.

Manchmal also, wenn Bolk Zeit hat, ist Tanz in Sureiken.

Vormittags kommt dann Frau Seba, die Schmiedsfrau, die wie ein Mann den Hammer schwingt. Schweißen kann sie und löten. Sie kommt vormittags zu Lebbers und sagt durch die halboffene Türe:

»Heut abend spielt der Schmied.«

Sie ist schon wieder davon, denn der Blasebalg wartet über der Esse oder die Zange, die das glühende Eisen packen soll, die Feile oder der Bohrer. Auf der Dorfstraße aber sagt sie es schnell noch dem jungen Volk, das unterwegs zu den Feldern ist, mit den Kühen kommt und den Pferden. Auch den jungen Fischern sagt sie es und den Mädchen, die ihnen bei den Netzen helfen.

»Heut abend spielt der Schmied«, sagt sie und läuft schon weiter.

An solchen Vormittagen ist ein Singen auf den Feldern, in den Ställen und an den Booten. Die Burschen lachen und kneifen die Mägde, und die Mägde kreischen.

Es ist tagsüber schon ein heimlicher Tanz in Sureiken, wenn abends der Schmied die Geige hervorholen will. Im Sommer kommen auch die Gäste dazu. Die hellen Kleider der Frauen wehen wie Fahnen. Sie sitzen zwischen den Fischern, aber sie tanzen nicht mit ihnen. Die Fischer fühlen sich auch ungemütlich und gehen zeitig. Nur ein paar Burschen bleiben, ein paar Burschen, ein paar Mägde und die Sommergäste. Schließlich sind die Gäste allein im Saal, tanzen und trinken. Sie beherrschen im Sommer Sureiken.

Aber wenn es zum Winter geht, regieren die Fischer den Tanzsaal. Sie und die Bauern, wenigstens die jungen, drehen sich bis in die Nacht im Tanz. Sie haben keinen hellen Kleidern Platz zu machen und keinen zierlichen Schuhen. Wenn sie irgendwo anstoßen, ist es der Tisch, auf dem die Gläser klirren, oder die Stühle, auf denen Mädchen sitzen an der Wand. Es ist ein derbes Atmen, wenn Bolk, der Schmied, spielt.

An diesem Abend, als Christian und Patzke beim Bier saßen, kam Bolk selbst. Er ließ sich selten sehen, und Dan Lebbers begrüßte ihn mit lauter Verwunderung.

»Ich spiel morgen«, sagte Bolk.

»Abgemacht«, rief Lebbers und stellte das Bier hin.

Morgen früh wird er die derben Gläser aus dem Schrank holen, die nicht gleich in Splitter gehen, wenn sie umgeworfen werden. Er wird auch den Humpen vom Rück nehmen und ihn putzen. Aus diesem Humpen wird Bolk, der Schmied, trinken. Das hat er sich ausbedungen, Drei Humpen voll und fünf gute Groschen, so ist es ausgemacht.

Aber heute trank Bolk aus gewöhnlichem Glas.

Er ist noch nicht der Geigenspieler, nach dessen Takt die Paare sich drehen, und von dessen Kunst Dan Lebbers viel hält. Er ist heute abend nichts weiter als der Schmied, der rußige Hände hat, ein Schurzfell und Rauch im Gesicht.

»Das wird morgen oho«, sagt Patzke. »Zum erstenmal wieder ohne Sommergast.«

»Tu nicht so, als ob's dich freut«, meint Lebbers. »Was macht ein Badewärter ohne Gäste?«

Patzke lacht nur darüber, er ärgert sich nicht mehr. Wenn er das zehnte Glas getrunken hat, kann ihn nichts mehr aus der Ruhe bringen.

»Ich bin die Sanftmut«, sagt er dann.

»Ich war heut in Thorde«, erzählt Bolk, »hätte ein Rad hinzubringen. Es war Hochzeit in Thorde. Klimsch, der Maler, hat geheiratet. Ich sollte bleiben, jedoch ich hatt' kein hochzeitlich Kleid. Du darfst mir die Ehr nicht abschlagen, sagte Klimsch, da blieb ich ein Stündchen. So wie ich war im Arbeitsrock. Ist schon ein gutes Kleid, sagte Klimsch, und erzählte den Verwandten, die aus der Stadt kamen, daß ich Bolk wäre, der Schmied. Warum hast du die Geige nicht mitgebracht, Schmied? fragte Klimsch. Er ist ein Meister darauf, sagte er zu den Verwandten aus der Stadt. Da wunderten sie sich und sahen meine Hände an. Ich kann auch ein Eisen damit biegen, sagte ich. Ich wollte es ihnen weisen, aber es war kein Eisen zur Stelle. Ihr könnt euch darauf verlassen, sagte Klimsch. Sie glaubten es, obgleich es wohl zweierlei Ding wäre, Amboß und Geige.«

»Sie waren in Thorde?« fragte Christian. »Bei Thorde ist ein Leuchtturm. – Das Meer ist bei Thorde«, setzte er noch hinzu.

Patzke unterbrach ihn: »Sie schwingen doch morgen auch das Tanzbein, Herr Kars?« rief er.

»Ich kenne hier kein Mädchen«, wehrte Christian ab. »Da wird schon jede ihren Tänzer haben.«

Darauf versprach Bolk, ihn mit Emilie bekannt zu machen, der Nichte der Frau Drees.

»Meine Frau ist mit ihnen weitläufig verwandt«, sagte er.

Nun stellte es sich heraus, daß Christian Emilie schon auf dem Seehofe gesehen hatte, daß man aber in der Eile der täglichen Arbeit kaum zu ein paar Worten gekommen war.

»Seitdem Drees tot ist«, sagte Bolk, »hat die Frau alle Hände voll zu tun. Auch Emilie muß tüchtig ran.«

»Im Sommer wird es ihr besser bei uns gefallen«, behauptete Patzke.

Da ist er wieder bei den Sommergästen. Seine Gedanken kommen nicht von ihnen los. Manchmal scheint es, als habe man in Sureiken kein eigenes Leben mehr. Alle Dinge sind von den Fremden berührt, und nun, wo die fort sind, klingen sie noch lange nach. Dieser Widerklang ist stärker als das Anschlagen des eigenen Herzens.

Am nächsten Abend spielt Bolk, der Schmied.

»Manchmal möchte ich wirklich mehr Zeit haben für mich«, sagt Emilie zu Christian.

Sie haben einen Tisch in der Ecke des Saales nahe dem Podium, auf dem Bolk, der Schmied, die Geige führt. Auch sein Humpen steht auf ihrem Tisch. Zwischen den Tänzen setzt er sich zu ihnen und trinkt. Er spricht nicht mit ihnen, so angefüllt ist er von Musik.

Nach dem ersten Humpen begann er die Walzer zu spielen, diese langsamen Geflüster für Liebende. Wenn der dritte Humpen zur Hälfte geleert ist, geigt er die wilden Tänze, die sie Chasse nannten und Galopp. Stets vor dem letzten Schluck kam Frau Seba. Es war kurz nach Mitternacht, wenn sie in der Türe des Saales auftauchte. Wenn Bolk sie sah, begann er den Donauwalzer zu spielen. Das war ihr Lieblingstanz. Sie hatten ihn nie zusammen getanzt, weil Bolk ja immer die Geige spielen mußte, und sie wünschte sich wohl nichts sehnlicher, als daß einmal ein anderer da wäre, der sich auf die Melodie verstünde, damit Bolk und sie sich danach drehen könnten. So stand sie allein im Saale und wiegte sich in den Schultern. Die Männer wußten, daß sie mit keinem anderen tanzte, und so baten sie Frau Seba nicht mehr um den Tanz.

Sie kam auch nicht etwa, um Bolk an die Zeit zu mahnen. Sie wußte, daß er sein Spiel über alles liebte, doch freute es sie, daß er nach dem Walzer die Geige hinlegte, die Hände an den Mund tat und über das junge Volk hinrief:

»Der Tanz ist aus!«

Frau Seba kam nur des Heimgangs wegen. Sie gingen umschlungen die nächtliche Dorfstraße entlang und Bolk nannte ihr jeden Tanz, den er gespielt hatte. Er verstand auch, die Melodien leise vor sich hin zu pfeifen. Dabei wiegten sich ihre Schritte und ihre Schultern liebkosten sich. So holten sie auf dem Heimwege die Tänze nach, die sie im Saale nicht tanzen konnten, weil Bolk für die anderen spielte. Oft waren Sterne über ihrem Heimweg und oft auch der Mond. Im Sommer hörten sie das Gelächter der Frauen und im Winter die derben Rufe der Burschen. Auch trafen sie regelmäßig Sparre, den Kuhhirten, der nach einem Gläschen Schnaps seinem Stroh zutrottete.

An diesem Abend nun setzte sich Frau Seba erst noch zu Christian und Emilie an den Tisch.

Emilie war den Abend über in gedrückter Stimmung gewesen. Erst zum Schluß heiterte sie auf. Sie hatte zu Christian über die viele Arbeit geklagt, die es auf dem Hofe gab. Der neue Melker war nach ein paar Tagen schon wieder davongelaufen. Wenn es mit der Arbeit zum Spätherbst auch stiller würde, so war doch noch dieses und jenes zu schaffen, das zu beschwerlich war für Frauenhände.

Emilie machte auch kein Hehl daraus, daß sie in der Stadt geblieben wäre, wenn sie gewußt hätte, wieviel Arbeit ihrer auf dem Lande wartete. Aber nun, wo sie hier war, wollte sie Frau Drees auch nicht im Stich lassen. Schließlich kann ein junges Mädchen nicht immer zu Hause herumsitzen.

Ja, so sind überall kleine und große Enttäuschungen. Aber nun ist Musik und man tanzt.

Ach ja, manchmal, wenn Bolk der Schmied Zeit hat, ist Sonnabends Tanz in Sureiken.

Alte Melodien sind es, die er spielt. Oftmals muß Emilie lächeln. Die Eltern haben schon danach getanzt. Wie kann Bolk der Schmied auch wissen, was die Musiker in den Städten zu Gehör bringen. Er steht tagsüber am Amboß, er hat den Hammer zu schwingen. Was er als Junge gepfiffen hat, spielt er nun als Mann auf der Geige. Wem es nicht gefällt, mag aus der Tanzreihe treten. Doch ist keiner im Saal, der von dem Schmied neue Weisen verlangt.

Christian versteht sich aufs Tanzen. Das muß man sagen. Emilie ist oft ganz außer Atem. Wenn sie wieder am Tisch sitzen, klopft noch immer heiß ihr Herz.

Nun sitzt auch Frau Seba bei ihnen. Sie wiegt sich ein wenig auf dem Sitz. Frau Seba liebt ein freundliches Wort, auch ein neugieriges. Aber wenn ihr Mann, Bolk der Schmied, spielt, schweigt sie und wiegt sich ein wenig.

»Besuchen Sie uns doch einmal«, sagt Emilie beim Abschied zu Christian. Er sagte für den nächsten Tag zu, aber am Morgen fiel ihm ein, daß er nach dem Chausseehof mußte. Lisa hatte geschickt, weil Iben Kars selbst mit ihm wegen des Handels sprechen wollte. So kam er nicht nach dem Hof an dem See.

Iben Kars nahm ihn freundlicher auf, als er es erwartete. Er ließ sich von Christian das Geschäft auseinandersetzen. Auch über die landwirtschaftlichen Maschinen und Apparate wollte er orientiert sein.

»So eine Verbindung zur Stadt, wie du es da vorhast, ist nicht schlecht«, sagte er. »Du erfährst alles über die neusten Erfindungen, und mancher kann hier daraus Nutzen ziehen. Für mich ist es nichts, ich bleib beim alten. Aber die Jungen geben mehr auf die Zeit.«

Christian freute sich, daß der Alte seinen Entschluß immerhin anerkannte, ihm auch nicht von vornherein jeden Erfolg absprach, im Gegenteil zugestand, daß Christian bei einiger Ausdauer es zu etwas bringen könnte.

»Warum sollen sie nicht auf dem Gut ein offenes Ohr haben«, sagte er. »Da werden ja oft Maschinen angeschafft. Ich kann dem Verwalter sagen, daß du aus meiner Verwandtschaft bist. Wir kennen uns schon viele Jahre.«

Das war mehr als Christian erwartet hatte. Iben Kars wehrte seinen Dank ab.

»Wo du nun schon hier bleibst, will ich auch, daß du vorwärts kommst. Es stünde uns schlecht an, wenn ein Kars hier herumlumpt.«

Christian verstand, daß der Alte nur seines Namens wegen ein Interesse an seinem Fortkommen hatte. Es ärgerte ihn, und er wurde wieder einsilbig wie am ersten Tage.

Später, als Lisa hinzukam, beherrschte er sich mehr. So kamen sie in ein Gespräch. Da er wußte, daß es Iben Kars verdrießen würde, erzählte er von dem Tanzabend bei Lebbers. Der Alte sah ihn an.

»Findst du Gefallen daran?« fragte er.

»Ich seh keine Sünde darin«, antwortete Christian.

»So?« sagte Iben Kars kurz und beteiligte sich nicht mehr an dem Gespräch.

»Emilie war auch da?« fragte Lisa. »Sie kommt aus der Stadt, sie will immer was herausbeißen. Dabei versteht sie nichts von der Arbeit.«

»Ich sollte heute zu ihnen kommen«, sagte Christian. Lisas Worte waren ihm unangenehm, und er wollte damit sagen, daß er nichts gegen Emilie hätte.

»So rasch ist sie bei der Hand«, lachte Lisa.

»Was geht's dich an?« warf eben Kars ein. Er ging aus der Stube.

»Sie müssen es ihm nicht übelnehmen«, sagte Lisa zu Christian. »Er ist alt und da wird man verdrießlich. Es waren wohl gestern viel Menschen bei Lebbers?« fragte sie dann.

»Lustig ist es gewesen«, erzählte Christian. »Auch Patzke war da. Beim ›Großvater‹ stellte er sich ein Glas auf den Kopf. Es fiel nicht herunter. So langsam konnte er sich drehen.«

»Man kommt hier gar nicht heraus«, seufzte sie.

»Wie wär's, wenn ich Sie mal abholte, Lisa?« Er nannte sie zum erstenmal bei ihrem Vornamen. Sie sah ihn überrascht an.

»Was würde Iben Kars dazu sagen?«

»Nun, es bleibt in der Verwandtschaft«, lachte er, »was meinst du, Tante Lisa?« fügte er scherzend hinzu.

»Da mußt du ihn fragen«, sagte Lisa. Sie war rot geworden und zupfte an den Ärmeln ihrer Bluse.

»Ich trage die Kleider bloß auf«, sagte sie, »im Haus bei der Arbeit sind sie noch gut genug.«

Christian ging, als er Iben Kars zurückkommen hörte. Sie sprachen sich beide nur kurz im Flur.

»Du kannst dann zweimal in der Woche kommen. Fünf Stiegen Eier wird's schon geben«, sagte der Alte.

»Es ist gut«, antwortete Christian.

Unterwegs sah er nach der Uhr, aber es schien ihm doch schon zu spät, um noch den versprochenen Besuch bei Emilie zu machen. Er glaubte, daß sie sich noch zu wenig kannten, um gleich das erstemal sich zur Abendbrotzeit einzustellen.

Als er nach Hause kam, war Emilie da. Sie hatte alle Kinder um sich und erzählte ihnen Geschichten. Jakob Kloth war auf den See gefahren. Er hatte Aalreusen gestellt.

Emilie war nicht im mindesten befangen, als Christian eintrat.

»Ich hab schon gehört, daß Sie zu Ihrem Onkel mußten«, sagte sie. »Es war mir zu langweilig auf dem Hof. Haben Sie ein Buch?«

»Nein, ich hab wenig Bücher gelesen«, gestand Christian, »aber ich kann Ihnen von Lebbers eins holen.«

Die Kinder schrien dazwischen. Sie wollten wissen, wie die Geschichte ausging, die Emilie zu erzählen begonnen hatte.

»Wie war's doch gleich?« fragte sie.

»Der Wolf machte das Maul weit auf«, sagte der kleine Jakob.

»Richtig! Und wollte die Großmutter fressen«, fuhr Emilie fort, »da kam der Jäger und schoß ihn mausetot.«

»Er hat aber die Großmutter gefressen«, berichtigte Emmi, die Achtjährige, »ich weiß es aus der Schule.«

Sie erzählte nun das Märchen so, wie sie es wußte. Es gefiel auch den Kindern viel besser, daß die Großmutter gefressen und später wieder befreit wurde. Auch daß der Wolf Steine in den Bauch bekam, gab ihnen viel Spaß.

»Wußtest du das nicht mehr?« fragte Emmi.

»Es ist zu schrecklich«, sagte Emilie.

»Schön ist es«, widersprach der kleine Jakob, »warum sagst du denn schrecklich? Die Großmutter lebt doch nachher wieder.«

»Und der böse Wolf stirbt«, rief Tinchen. »Was rumpelt in meinem Bauch herum? hat er noch gesagt.« Tinchen lachte darüber. »Rumpel, rumpel, rumpel«, sang sie, und die Kleineren schrien es ihr nach. Es wurde ein heilloser Spektakel.

Emilie hielt sich die Ohren zu. »Nun ist's genug«, bat sie. Aber die Kinder waren aus dem Häuschen, patschten auf den Tisch und sangen: »Rumpel, rumpel!« Sie klapperten mit den Löffeln gegen die Näpfe, darein ihnen die Älteste eingebrocktes Brot getan hatte. Sie aßen und sangen dabei.

Christian setzte sich zu den Kindern. Er hätte Emilie in seine Stube bitten können, aber er wagte es nicht.

»Ich wär gern noch zu Ihnen gekommen. Leider war es schon so spät«, sagte er.

»Die Hoftüre wird bei uns nie zugeschlossen«, lächelte Emilie. Dann wurde sie befangen und um den Satz zu erklären, sagte sie: »Manchmal kommt abends nach der Arbeit noch Bolk mit seiner Frau.«

»Er ist verwandt zu Frau Drees?« fragte Christian.

»Frau Bolk. Ihre Mütter waren Kusinen«, erklärte Emilie. »Es ist gut, daß es so ist. Bolk geht uns oft zur Hand. Tante Milda ist froh darüber. Es gibt nämlich viel Feindschaft im Dorf.«

Christian sah sie fragend an.

»Sie werden es noch selber erfahren«, antwortete sie rasch. »Lisa Kars zum Beispiel ist auch nicht gut auf uns zu sprechen.«

Christian entsann sich der Äußerung, die Lisa vorhin getan hatte.

»Was hat es denn für einen Grund?« fragte er.

»Das müssen Sie sich selbst einmal erzählen lassen.«

Christian lachte. ›Wenn Frauen es miteinander zu tun kriegen, ist meistens ein Mann daran schuld‹, dachte er und lachte darüber.

Emilie sah forschend auf. Sie wollte fragen, aber dann ließ sie es.

Inzwischen war ein Teil der Kinder nach dem See gelaufen, um nach dem Vater auszublicken. Nun gab es ein großes Geschrei vom Ufer her. Christian wußte, was diese Aufregung andeutete.

»Kloth ist gekommen«, sagte er.

Bald darauf trat Jakob Kloth in die Stube. Er hatte Neunaugen gefangen und war unzufrieden.

»Wenn die Neunaugen kommen, ist's mit dem Aal vorbei«, sagte er.

In den letzten Wochen hatte es manchen guten Fang gegeben, aber nun war der Aal davon durch den Zugang nach dem Fluß und an Thorde vorbei in das Meer. In seinem Wandertrieb war er ein unbändiger Gesell, der es verstand, sich über das Fangnetz zu schnellen und auf und davon zu gehen.

Jakob Kloth hatte etwas Geld zurücklegen können. Damit sollten alte Netzschulden abgedeckt werden. Er war froh, wenn er durch eine solche Abzahlung sein Anrecht an seinem Eigentum vergrößern konnte. Wenn auch das nächste Jahr gut wurde, hatte er seine Netze schuldenfrei, doch dachte er schon mit Sorge daran, daß das Haus einmal wieder neu mit Stroh gedeckt werden mußte. So gab es immer Ausgaben, und man kam nie glatt auf die Beine.

Emilie betrachtete die Neunaugen, die sich wie Schlangen im Bottich krümmten.

»Gebraten und sauer eingelegt, schmecken sie gut«, sagte Jakob Kloth. »Es ist nicht viel an ihnen sauber zu machen, sie sind blank innen und außen.«

»Da kann ich wohl meine Bestellung nicht ausrichten«, sagte Emilie, »wir hätten morgen gern Aal gehabt.« Und zu Christian fügte sie hinzu: »Deswegen bin ich nämlich gekommen!«

»Und ich dachte, Sie wollten ein Buch von mir haben«, sagte er enttäuscht.

»Da ginge ich wohl besser zum Lehrer«, neckte sie.

Christian machte ein Gesicht, wie ein betroffener Schuljunge.

»Nicht gleich weinen«, tröstete sie lachend.

Er hatte in gespielter Verlegenheit die Hand auf den Mund gelegt. Nun zog sie ihm die Hand fort, und er hielt die ihre ein Weilchen.

Auch auf dem Heimweg nahm er ihre Hand.

»Ich werde Sie ein Stück bringen, Fräulein Emilie«, hatte er gesagt.

»Es tut nicht nötig«, sagte sie, »es ist ganz hell.«

»Der Mond steht im Lichten«, warf Jakob Kloth ein, der mit vor die Tür gekommen war.

»Um so besser, dann kann ich Sie sehen«, rief Christian.

Er war erstaunt, daß ihm diese Wendung gleich eingefallen war, und er wiederholte die Worte noch einmal. »Dann kann ich Sie sehen, Emilie!«

»So galant?« antwortete sie.

»Er ist ein Weltmann«, sagte Jakob Kloth, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen.

Nun gingen sie Hand in Hand den Wiesenweg am See.

Sie sprachen von dem Leben in Sureiken.

»Es ist viel Wasser hier«, sagte Emilie.

»Aber es rauscht nicht«, antwortete er. »Es ist ein großer See, und manchmal sieht man kaum drüben das Ufer. Dann könnte man sich einbilden, man wäre am Strand. Aber man horcht und horcht und das Wasser bleibt still.«

Er erzählte nun von dem Meer.

»Da gibt's auch elektrische Fische«, sagte er, »man nennt sie auch Degenfische. Sie sollen ein Pferd töten können. Das ist anders als hier die Neunaugen. Dann sind wir mal in einen Schwarm fliegender Fische geraten. Sie schossen meterhoch an uns vorbei. Da könnte ich Ihnen noch viel erzählen.«

»Das dürfen Sie nicht vergessen«, antwortete Emilie, »im Winter sind die Tage hier lang genug. Dann hört man gern, was es alles in der Welt gibt. Ach ja, ich möchte auch schon reisen!«

»Wie wär's, wenn wir davongingen«, lachte er, »aber nun bin ich ja hier Kaufmann geworden«, setzte er ernst hinzu.

»Sind Sie damit zufrieden?« fragte Emilie.

»Das muß man alles abwarten«, antwortete er. »Ich glaube, es ist schon gut, wenn man was Eigenes hat.«

»Hoffentlich wird es Ihnen nicht zu eng hier«, sagte Emilie. »Eines Tages gehen Sie uns davon.«

»Würde Ihnen das leid tun?« fragte er.

»Ich weiß nicht«, antwortete sie und ging etwas schneller.

»Jetzt laufen Sie mir davon«, scherzte er. Er hatte sie eingeholt und seinen Arm um sie gelegt.

Sie machte sich leise los. »Es ist spät«, sagte sie verlegen.

»Einmal hatten wir eine Baßgans gefangen«, erzählte er, »das ist ein possierlicher Vogel, ein Tölpel. Sie sollen viele Eier legen. Zwanzigtausend Stück findet man manchmal auf so einer kleinen Insel. Damals wußt' ich noch nicht, daß es mein Handelszweig wird, sonst hätt' ich mir wohl solche Vögel mitgebracht.«

Sie gingen wieder Hand in Hand.

Im Hause war Licht. Man konnte durch das niedrige Fenster sehen. Frau Drees hatte Besuch. Bolk, der Schmied, war da. Seine Frau saß auf dem Sofa unter einem Männerbild, das einen Plüschrahmen hatte und den verstorbenen Alfred Drees darstellen mochte.

»Wollen Sie nicht mit hereinkommen?« fragte Emilie.

Christian zögerte.

»Ich hab schon von Ihnen erzählt«, gestand Emilie, »Sie kennen ja auch den Schmied.«

Christian nahm nun die Einladung an.

Frau Drees machte den Eindruck einer resoluten Frau. Sie nahm kein Blatt vor den Mund.

»Beinah wären wir verwandt geworden«, sagte sie, »der Alte ging hier auf Freiersfüßen, aber nachher dachte er wohl, 'ne Magd hält stiller als 'ne Frau.«

Sie sagte es im Scherz, aber man spürte doch deutlich den Ärger. Bolk wies sie zurecht:

»Iben Kars hat nie davon gesprochen«, sagte er.

»Das nicht! Aber jeden Tag machte er sich ein Gewerbe«, antwortete Frau Drees. »Auch gut, ich brauch ihn nicht. Die paar Groschen wird er schon mal wiederkriegen. Außerdem sitzt er im Fetten und braucht's nicht.«

Christian war diese Aussprache unangenehm, auch wenn Frau Drees zu ihm sagte: »Sie können ja nichts dafür!«

Er wandte sich zu Emilie, die verlegen ein Album zur Hand genommen hatte. Es waren Ansichten einer Hafenstadt. Drees hatte das Buch einmal von einer Reise mitgebracht. Er war stolz darauf gewesen, bis zu dieser Stadt gekommen zu sein. ›So weiß man wenigstens, wie's in der Welt aussieht‹, hatte er immer gesagt.

Christian war diese Stadt wohl bekannt, und er erklärte dem Mädchen die Bilder. Er verschwieg, daß es dort wilde Matrosenkneipen gab, in denen er öfter gesessen hatte, er erzählte lieber von dem Zoologischen Garten und von den seltsamen Tieren darin.

So saßen sie beide für sich in der Stube, die Gedanken eingesponnen in das verwirrende Leben einer fremden Stadt.

»Ich würde Ihnen gern das alles zeigen«, sagt Christian. In seiner Stimme liegt viel Zärtlichkeit.

Es ist lange her, daß er neben einem jungen Mädchen gesessen hat. Behutsame Geschöpfe sind sie, die leicht ein Wort vertreibt. Wenn man gewohnt ist, mit robusten Frauen umzugehen, muß man die Zunge doppelt hüten. Man ist täppisch wie in Jünglingsjahren und schließlich glaubt man gar nicht, welches Leben hinter einem liegt, wenn man erstaunt seinen eigenen Worten zuhört. Wenn das junge Mädchen eine Frage tut, ist man dankbar dafür, weil man fühlt, daß sie die Worte, die einem selbst wunderlich vorkommen, ernst und freundlich aufnimmt.

Später muß Christian lächeln, weil er ihr so viel von Tieren erzählt hat, von Degenfischen und Baßgänsen, und von den sonderbaren Geschöpfen im Garten.

»Es ist auch ein Restaurant da«, hatte er berichtet. »Man kann auf einer Terrasse sitzen. Es ist oft Musik und manchmal tanzt man im Freien. Dann sehen die Menschen wunderlicher aus als die Pinguine, die klug hinter dem Gitter stehen. Auch die Pelikane sehen zu und hin und wieder gehen sie und fangen sich einen Fisch.«

Das hatte er erzählt und vieles andere. Halblaut hatten sie miteinander gesprochen, um die Rede nicht zu stören, die Bolk mit Frau Drees führte.

»Der Knecht ist nun davon«, sagte Frau Drees, »es kann sich hier keiner beklagen, aber sie halten nicht aus. Ich weiß auch nicht, woran es liegt. Nun muß ich sehen, wo ich wen anders herkriege. All und jeden, der vorspricht, will man nicht nehmen. Es geht einem jetzt schon mehr aus dem Haus, als hereinkommt. Aber was soll ich machen? Das Schuppendach muß repariert werden, und wenn ich den Handwerker kommen lasse, kostet es wieder einen Haufen Geld. Dabei kann man's leicht selber schaffen, wenn eine Mannsperson da wäre.«

Sie wollte es wohl Bolk nahelegen, daß er vielleicht einmal nach seiner Arbeitszeit daran gehen könnte. Aber Bolk sagte:

»Wovon soll der Handwerker leben, wenn ihm jeder dazwischen pfuscht? Ich würde mich auch beklagen, wenn der Dachdecker anfinge, Pferde zu beschlagen.«

»Es ist gut, wenn man in jeder Tasche eine Ausrede hat«, zankte Frau Drees.

Frau Seba hatte hin und wieder einen Blick auf die jungen Leute geworfen. Es waren freundliche Blicke, und sie seufzte zuweilen dabei. Diese Frau, deren Hände schwielig und vom Schmiedefeuer gerötet waren, liebte es, sich weichen Empfindungen hinzugeben. Sie war stark wie ein Tier, und ihr Schritt klang laut über die Straße, aber ihr Herz war immer bereit, sich den Lichtblicken des kleinen Lebens zu öffnen, dem Lachen eines spielenden Kindes, den Träumen einer alten Frau oder dem Zärtlichtun Verliebter. Das alles wünschte Frau Seba mitzuerleben, und ohne sich einzudrängen, stand sie verschwiegen dabei, bekam weiche Augen und seufzte.

Nun war es ihr unangenehm, daß Frau Drees so laut wurde und daß Bolk ihr widersprach. Sie hätte lieber gesehen, wenn sie geschwiegen und nur auf das halblaute Flüstern gelauscht hätten, das aus der Ecke des Zimmers kam. Sie verstand kein Wort, das Christian sagte oder Emilie antwortete, aber jeder Laut, der an ihr Ohr klang, schien ihr wie ein zärtliches Geständnis vorbeizuhuschen. Alle Zuneigung, die sie im Herzen trug, breitete sie jetzt schon im stillen über die beiden. Sie wog ihre Erscheinungen gegeneinander ab, und zufrieden über das Ergebnis seufzte sie wieder.

»Wenn ich Zeit hätte, würde ich selber den Hammer nehmen«, sagte Frau Drees. Sie war noch immer bei dem Schuppendach, das wiederhergestellt werden mußte.

Christian hörte ihre letzten Worte. Er hatte Emilie alles erzählt, was mit der Hafenstadt im Zusammenhang stand. Nun war das Album geschlossen und lag wieder auf dem Tisch.

Sie waren aufgetaucht aus ihrer Versunkenheit und wandten sich wieder den anderen zu.

Christian mußte nun die Geschichte von dem weggelaufenen Knecht anhören.

»Vielleicht kann ich Ihnen etwas zur Hand gehen«, sagte er freundlich. Dabei drückte er leise Emilies Hand, als wollte er andeuten, daß sich ihm so Gelegenheit bieten würde, öfter und zwanglos in ihrer Nähe zu sein.

Frau Drees sah ihn überrascht an.

»Ich hätte schon Arbeit für Sie«, sagte sie dann lachend. Sie setzte ihm noch einmal die notwendige Reparatur des Schuppens auseinander.

»Warum nicht?« antwortete Christian, »da könnte man sich mal wieder ausarbeiten.«

Er erzählte nun, wie er früher öfter dem Schiffszimmermann geholfen hätte. Bolk hörte ihm mißmutig zu.

Auf dem Heimwege sagte der Schmied:

»Sie sollten das mit dem Schuppen nicht tun. Sie werden Ärger bekommen mit Lüßmann. Jeder hat sein Gewerbe. Sie Ihren Handel und er seine Werkstatt.«

»Lüßmann hat auch allerlei«, antwortete Christian. »Er ist noch Fuhrunternehmer und Totenbesteller. Man hat mir erzählt, daß in Sureiken jeder dreierlei Berufe hat.«

Dabei wollte er wohl auf Bolk selbst auch anspielen. Der Schmied überhörte den Vorwurf. Er sagte:

»Lüßmann tut's, weil er ein schweres Auskommen hat in Sureiken. Wenn er von Hobel und Säge leben könnte, würd er's zufrieden sein. Jedoch er hat viel Mäuler zu stopfen. Das ist mit Holz allein nicht getan. Auch könnte man sagen, wer den Sarg macht, sorge desgleichen für den Bewohner.«

Frau Seba hatte ihren Mann einige Male mahnend angestoßen. Nun sagte sie beim Abschied zu Christian:

»Emilien wird's schon behagen.«

Er drückte ihr vertraut die Hand, zufrieden, einen Menschen zu haben, der wußte, wie es in dieser Stunde um ihn stand. Sureiken war kein fremder Platz mehr, es begann, sich wie eine Heimat zu öffnen.

So trat Christian lustig ins Haus. Jakob Kloth war noch auf, saß neben dem Herd und rauchte seinen Tabak. Es war auch Besuch da, der Nachtwächter war für ein Weilchen eingetreten. Tonnis hieß er und war ein kleiner runder Kerl. Er ging Jakob Kloth bequem unter die Arme hindurch. Die beiden saßen da und schwiegen. Sie nahmen von Christian kaum Notiz. Einmal sagte der Nachtwächter: »Sparre.« Das ist der Kuhhirt.

»Sparre«, sagte er und lachte dazu, aber weiter erzählte er nichts.

Als er fortging, um seine Runde zu machen, war er noch immer belustigt. Tagelang war er vergnügt wegen Sparre.

Dann einmal, eines Abends, ging er von Kloths Haus den dunklen Seitenweg zum See. Er setzte sich auf den Rand eines Bootes und begann einzudruseln. Nach einem Weilchen fuhr er auf, weil er das Geräusch einer harten Säge vernommen hatte. Es klang nahe bei ihm, und er fürchtete, daß schlechte Hände sich an einem Fischkasten zu schaffen machten. Er erhob sich vorsichtig und blieb dann regungslos stehen.

Die Säge ist eine böse Waffe. Sie kann einem leicht ins Bein fahren. Auch will man seine Knochen, wenn man sie siebzig Jahre lang in Ehren gebraucht hat, nicht leichtfertig zu Markte tragen.

Es ist auch nicht viel Ehre dabei, sich mit Spitzbuben einzulassen. Am wenigstens für einen alten Mann, der einen guten Leumund hat.

»Wo Stehen keine Ehre ist, ist Laufen keine Sünd'«, sagte Tonnis und schlich behutsam davon.

Er klopfte Jakob Kloth heraus und sagte ihm, daß sich Burschen an seinem Fischkasten zu schaffen machten. Christian nahm die Fahrradlaterne, und so gingen sie zu dritt an den See.

Man leuchtete über die Boote hin und sah, daß Sparre, der Kuhhirt, in dem einen Boot lag und schlief.

»Er hat eine Säge im Leib«, brummte Tonnis ärgerlich.

Sparre wachte durch den Lichtschein nicht auf. Man ließ ihn schlafen.

In dieser Nacht mußte Tonnis noch mehr erleben. Es wird eine Nacht, an die er zeitlebens denken kann. Es ist eine große weite Nacht, mit so viel Dunkelheit, daß Tonnis seine Laterne dicht über den Weg halten muß. Es ist nichts weiter zu hören als sein langsamer, etwas schlurfender Schritt. Manchmal auch sein Gekrächz, wenn der Tabak zu dick in die Kehle läuft, manchmal auch sein gutmütiges Gekicher, wenn er an Sparre denkt.

So geht Tonnis langsam den Weg entlang. Da schlafen nun also alle in Sureiken. Rechts und links der Straße, alles schläft. Die Lebenden in ihren Betten, die Toten ihnen gegenüber unter den Hügeln.

Tonnis' Vorgänger hat noch ein Horn gehabt, mit dem er nachts die Stunden abblies. Es ist das Horn, das jetzt Patzke trägt, um während des Sommers die Schwimmer im See zu warnen, wenn sie an moorige Stellen kommen.

Es hat Tonnis immer verdrossen, daß er dieses Horn nicht erben durfte. Er muß der schweigsame Wächter sein, der durch die dunklen Straßen stapft, und nur hin und wieder mit dem Stock gegen einen Zaun schlägt, wenn ein Hund ihn zu laut ankläfft.

Man hat sich in Sureiken eine Neuerung ausgedacht. Es sind zwei Uhren angebracht, eine am Eingang des Dorfes, und eine am Ausgang. Jede Nacht muß Tonnis dreimal den Schlüssel in die Uhren stecken, damit der Herr Amtsvorsteher von einem Papierstreifen ablesen kann, ob Tonnis seine Pflicht getan hat.

Tonnis hat viel auf die Kontrolluhren geschimpft. ›Man hat kein Vertrauen mehr zu einem Menschen‹, sagt er, ›wie ist das bloß in die Welt gekommen!‹

In dieser Nacht wird Tonnis nicht mehr bis zu den Kontrolluhren kommen. Am nächsten Morgen wird der Amtsvorsteher zu ihm sagen:

»Die Uhr war nicht gesteckt«, und Tonnis wird darauf antworten:

»Es war wegen Sparre.«

Der Amtsvorsteher wird nicht im mindesten ärgerlich sein. Er wird nachdenklich sagen:

»Ja ja, der arme Sparre! – Stecken Sie sich 'ne Zigarre an, Tonnis.«

So freundlich wird der Vorsteher sein, obgleich Tonnis die Uhren versäumt hat.

Aber noch ist Nacht, und Tonnis weiß noch nichts davon. Er geht langsam dem Ende des Dorfes zu. Im Hause des Schusters Laabs ist es laut geworden. Man hört eine Frauenstimme, die zankt und sich nicht beruhigen lasten will.

Tonnis bleibt stehen und schüttelt den Kopf. Dann klinkt er die Tür auf und geht zu dem Schuster ins Haus. Das wiederholt sich alle Monat einmal, wenn Laabs nach Thorde gefahren ist, um Leder zu kaufen. Das Leder, das er mitbringt, hat seinen Gang wankend gemacht und seine Stimme zärtlich. Schon die letzten Schritte vor dem Haus beginnt Laabs dann jedesmal zu rufen.

»Miesekinn, Miesekinn«, ruft er und knurrt wie ein Kater.

Es ist das Wort, das sich seine Zärtlichkeit vor Jahren einmal für seine Frau ausgedacht hat. Sie kann das Wort nicht leiden, und an nüchternen Tagen wagt er auch nicht, es zu gebrauchen. Aber wenn er aus Thorde kommt, kündigt er sich damit an.

Während die Frau mit Scheltreden auf ihn einfährt, ist Tonnis in das Zimmer getreten.

Laabs sagt mit weinerlicher Stimme zu ihm:

»Sie will keine Vernunft annehmen«, und Frau Laabs fährt dazwischen:

»Ich mag ihn nicht ansehen. Sieh her, wie er aussieht!«

Laabs ist schmutzig am Ärmel und auch das linke Hosenbein ist weiß von Kalk.

»Ich bin wo angestreift«, sagt Laabs, »weiter nichts.«

Frau Laabs ist erschöpft vom Zank und fällt in den Stuhl. Sie ist kurzatmig, und man sieht, wie rasch ihr Atem geht.

»Er bringt mich noch unter die Erde«, sagt sie.

Tonnis weiß nun, was sein Amt ist. Er singt eintönig mit brummelnder Stimme:

»Hört ihr Herrn und laßt euch sagen,
Dem Herrgott mag kein Lärm behagen,
Bewahr euch Gott vor aller Pein,
Auch mag kein Wort verschwendet sein.
Lobet Gott den Herrn.«

Tonnis hätte nicht sagen können, wie er zu diesem Lied gekommen ist.

»Ich hab's mir selbst ausgedacht«, behauptet er manchmal, aber es heißt, daß der alte Kantor von Thorde das Liedlein einmal am Stammtisch auf seinen jungen Nachfolger gesungen hätte. So ist es wohl auch in Sureiken bekanntgeworden. »Das Nachtwächterlied«, nennt es Tonnis.

Zuweilen summt er nachts den Vers vor sich hin, er darf ihn ja nicht laut singen. Er ist traurig, daß es niemand hört. Nur bei Laabs kann er das Lied anbringen, jeden Monat einmal.

Wenn er mit seinem Mummelgesang fertig ist, sagt Frau Laabs jedesmal:

»So sollte es sein, weiß Gott, Tonnis, so sollte es sein.«

Und der Schuster Laabs versucht immer, sich in die Brust zu werfen:

»So ist's, so und nicht anders!«

Frau Laabs fühlt, wie ihr kurzer Atem freundlicher wird. Er setzt ihr nicht mehr so zu wie anfangs, sondern er schnurrt nun ganz gemütlich in ihrem Hals. Sie verpustet sich noch ein wenig, hat ein paar Tränen in den Augen, und während ihr diese Tränen langsam über die Backen rollen, steht sie auf und holt die Kleiderbürste. Sie geht zu dem Schuster, der schon anfängt einzuschlafen, und sie säubert ihm vorsichtig den Jackenärmel und das linke Hosenbein. Im Halbschlaf murmelt er zärtlich: »Miesekinn«, und sie nimmt es ihm nicht übel.

Wenn Tonnis geht, leuchtet sie ihm die Stiege hinab.

»Fall bloß nicht«, mahnt sie, »Gott, ist das dunkel! Es ist nur gut, daß er nach Haus gefunden hat.«

Dann geht die Türe zu und Tonnis stapft weiter. Ein paar Schritte hin fällt ihm die Geschichte mit Sparre ein. ›Was hat er sich in das Boot gelegt?‹ denkt Tonnis, ›er wird klamm werden. Es ist eine kalte Nacht. Warum bleibt er nicht in seinem Stroh? Ist's zu glauben, legt sich der Kuhhirt mitternachts in ein Boot! Er hat uns einen schönen Schreck eingejagt mit seinem Geschnarch‹, denkt Tonnis.

Und wieder ein paar Schritte hin fällt ihm ein, worüber er schon bei Jakob Kloth gelacht hatte. ›Ich hätte Sparre danach fragen sollen, es war gute Gelegenheit am Boot. Möcht schon wissen, ob's wahr ist, daß er früher mal Pferde zugeritten hat beim Grafen. Lüßmann hat er's erzählt. Eine bunte Jacke will er angehabt haben und eine bunte Mütze. Auch Kanarienhosen. Auch soll seine Schwester adlig verheiratet sein.‹

Tonnis lacht wieder, doch das Lachen vergeht.

›Vielleicht hat er Ärger gehabt mit dem Amtsvorsteher, daß er nun nachts im Boot liegt. Der Vorsteher ist ein strenger Mann, der kann einen schon vom Stroh jagen.‹

Auf einmal hat Tonnis Sorge um Sparre.

›Ich will nach ihm sehen‹, entschließt er sich, ›es sind bloß ein paar Schritt.‹ So macht er sich auf den Weg zu den Booten. Als er die Laterne hoch hebt, sieht er, daß Sparre auf der Ruderbank sitzt. Er hört ihn auch ächzen.

»Was hast du, Sparre?« fragt Tonnis.

»Ist gut, daß du da bist«, sagt der Kuhhirt. »Mir ist heute so leicht, daß ich wegfliegen möcht.«

»Das hört man gern«, antwortet Tonnis.

»So nicht«, klagt Sparre, »es ist alles ohne Halt. Ich dacht schon, die Wand würde einfallen. Darum bin ich vom Stroh gegangen.«

»Du hast das, was die Menschen Schwindel nennen«, erwidert Tonnis, »man hat das öfter, besonders wenn man zu Jahren kommt. Zwar ist's mir noch nicht zugestoßen.«

»Das könnte es wohl sein«, meint Sparre.

Sie sitzen dann ein Weilchen schweigend beieinander.

»Jetzt kommt es wieder«, sagt Sparre, »der Himmel dreht sich.«

»Er wird nicht einstürzen«, tröstet ihn Tonnis, »mach die Augen zu.«

»Es dreht sich noch immer«, sagt Sparre.

Auf einmal schreit er: »Nun falle ich!« Aber er fällt gar nicht, sondern sitzt nach wie vor auf der Ruderbank, doch ist ein Schütteln über ihn gekommen, das ihn hin und her reißt.

»Du bist krank, Sparre«, sagt Tonnis, »du solltest nicht hier draußen bleiben, es ist eine kalte Nacht.«

»Nun geht's schon vorüber«, antwortet Sparre.

Das Schütteln hat aufgehört, er sitzt ganz ruhig. Dann schweigen sie wieder. Nach einem Weilchen sagt Sparre:

»Man hat's nicht weit gebracht, das ist mir vorhin schon durch den Kopf gegangen. Man pfeift morgens die Kühe und abends laufen sie von selbst in den Stall. Manchmal denke ich, da wird man nun geboren.«

»Du mußt dir darüber kein Nachdenken machen«, sagt Tonnis. »Steh lieber auf und komm. Ich will dich aufs Stroh bringen.«

»Nein nein«, ruft Sparre. Es ist viel Angst in diesen Worten. »Ich bin gesund, Tonnis, es war bloß eine Anwandlung.«

»Man kann keinem Menschen Zwang auftun«, antwortet Tonnis, »so will ich dich hierlassen. Ich muß nun noch zu der Uhr.«

»Bleib noch ein bißchen«, bittet Sparre.

»Ich will noch zehn Minuten dran geben«, sagt Tonnis, »so kann ich dich auch gleich fragen.« Er bringt nun vor, was er von Lüßmann gehört hat. Er erzählt es umständlich, auch die kanariengelben Hosen erwähnt er, und die Peitsche mit dem silbernen Stiel, die ihm nachträglich noch eingefallen ist.

»Das alles hat seine Richtigkeit«, sagt Sparre.

»So hoch her also«, wundert sich Tonnis.

»Ich will dir alles erzählen«, antwortet Sparre hastig. »Ich fühl die Leichtigkeit wiederkommen«, fügt er ängstlich hinzu, »mein Herz will wegspringen.« Dann, nach einer Pause, beugt er sich zu Tonnis und beginnt zu sprechen. Seine Worte fliehen dahin. Nicht alle kann Tonnis einfangen. ›Was ist ihm?‹ denkt er nur, ›wie's doch den Menschen manchmal packt.‹ Auch wird Sparres Stimme immer leiser. Schließlich muß Tonnis mahnen:

»Sprich lauter, Sparre, man hat nicht mehr die jüngsten Ohren.«

Einmal wirft Tonnis ein: »Ist das denn wahr, Sparre?«

»Tu mir den Gefallen und glaub's«, bettelt der Kuhhirt, »es ist so, mein Bruder ist aufs Studium gegangen. Er ist ein großer Mann. Rechtsanwalt nennt er sich, auch Notar. Er bewohnt ein großes Haus allein, die Treppe ist von Marmor. Auch steht eine Figur am Eingang, die eine große Lampe hält. Die Figur ist – ich weiß nicht mehr, ich weiß nicht mehr, Tonnis, wie man den Stoff nennt. Es könnte wohl Gold sein. Du kannst das alles glauben, auch das mit der adligen Schwester. Der Graf diente bei den Ulanen, er trug einen roten Leibrock. Das alles stimmt. Meine Mutter – – –«

Sparre sprach nicht weiter. Er sank in sich zusammen, er war viel kleiner als vorher, man konnte ihn für ein Kind halten.

»Wir waren vierzehn Kinder und sind alle gestorben«, flüsterte er.

»Was sagst du da?« fragte Tonnis.

»Alle tot«, antwortete Sparre. Seine Stimme krächzte. Tonnis griff ihm nach der Stirn, hielt ihm die Lampe dicht vors Gesicht und sah ihn besorgt an.

»Das würde wohl Fieber sein«, meinte er. »Du mußt jetzt aufstehen, Sparre, ich will dich nach Haus bringen. Vielleicht riefe man den Arzt.«

Er versuchte den Kuhhirten aufzurichten. Sparre sträubte sich jetzt nicht, doch taumelte er so, daß auch Tonnis wankte. Sie kamen beinahe zu Fall.

»So wäre wohl auch Laabs aus Thorde heimgekommen«, sagt Tonnis. »Er hat Leder gekauft.«

Es war ihm klar, daß auch Sparre einen über den Durst getrunken hatte. Wie konnte ein Mensch sonst so reden? Das hat ihm die Zunge leicht gemacht. Tonnis muß lachen. Er kichert laut vor sich hin, aber er verstummt, weil Sparre anfängt zu lallen. Nun ist es schon kein Lallen mehr, sondern eher ein Gurgeln, und nun schon ein Röcheln, das in der Kehle sitzt.

»Sparre«, sagt Tonnis erschrocken und zieht ihn schneller mit.

Tonnis ist noch gut beiwege, er hat noch nicht viel Kraft eingebüßt bei seinem Alter. Wenn's darauf ankäme, würde er den Kuhhirten auch tragen. Nicht weit, aber doch ein paar Schritt. Er hat seinen Arm fest um Sparre gelegt und zerrt ihn neben sich her.

Sparre ist wieder zu sich gekommen.

»Was machst du denn?« sagt Tonnis. »Du hast mir einen Schreck eingejagt.«

»Tonnis«, sagt Sparre, »bring mich nicht aufs Stroh. Ich will in den Stall zu den Kühen.«

»Was ist das für ein Einfall?« antwortet Tonnis.

»Zu den Kühen«, ächzt Sparre. Dann ist schon wieder das Gurgeln da und das Röcheln.

»Sparre, Sparre«, schreit Tonnis.

»Sparre!« schreit er noch, als er mit ihm schon an einem Tor ist. Dahinter schlafen die Kühe von Dan Lebbers. Es ist der nächste Stall. Es ist überhaupt das nächste Gebäude am Weg.

»Hast recht. Sparre, hier rein. Sparre, was ist denn? Sparre!«

Der Kuhhirt ist in das Stroh gesunken, er liegt da wie ein Bündel. Eine Kuh ist aufgewacht und muht. Sie hat den Kopf hoch gereckt und ihr Atem geht warm über Sparre. Auch Tonnis fühlt, wie es warm von dem Maul der Kuh kommt. Sparre wälzt sich zur Seite, er liegt nun dicht neben der Kuh. In dem Schein von Tonnis' Laterne liegt der krumme Hirt und darüber das große Haupt der Kuh. Auch ein Stück ihres gewaltigen Nackens sieht man. Alles andere ist dunkel. Das Stroh, auf dem Sparre liegt, ist gelb und ein wenig feucht. Es riecht auch nach Dung.

Tonnis steht unschlüssig da mit seiner Laterne. Er will gehen, um Hilfe zu holen, denn er sieht nun, wie es um den Hirten steht. Doch da richtet sich Sparre auf, hat große Augen, als wollten sie den Lichtschein der Laterne fassen, große dunkle Augen hat Sparre, daß sein Gesicht nicht größer scheint als eine Handfläche. Er hat sich aufgerichtet und läßt seine Blicke noch einmal groß durch den Stall gehen, erst durch das Licht und dann durch die Dunkelheit. Darauf fällt er langsam zurück. Es ist kein Fallen, eher ein Sichhinlehnen. Nun liegt sein Kopf an dem warmen Körper der Kuh. Das Tier liegt still da und nur vom Schnauben des Atems zittert leise sein Fell. Nach einem Weilchen beginnt Sparre sich zu strecken. Ganz lang streckt er sich, Beine und Arme. Nun ist er kein ängstliches Bündel mehr. Er ist wieder groß und ein Mensch. Dann liegt er ohne Bewegung, die Augen noch immer weit auf.

Das alles hat Tonnis mit Schrecken gesehen. Nicht daß eine dieser Bewegungen ihm Furcht eingeflößt hätte. Es waren nicht die Bewegungen, sondern das Fremde darin, das Tonnis sich nicht erklären konnte.

›So legt sich ein Mensch in den Tod‹, denkt Tonnis. Er ist ängstlich geworden, und die Laterne in seiner Hand zittert. Rückwärts geht er aus dem Stall. Er läßt das Tor halb offen.

Er klopft nebenan bei Jakob Kloth an das Fenster. Dreimal, viermal muß er klopfen. Sie haben einen festen Schlaf.

Nur wenige Stunden hat Jakob Kloth Zeit zum Schlaf, aber in diesen Stunden schläft er tief und weit weg von allem.

Viermal klopft Tonnis, dann wacht eins der Kinder auf und schreit. Nun wird auch Jakob Kloth munter und hört das Geklopf. Auch Christian ist wach geworden.

Sie stehen nun zu dritt am Fenster, Jakob Kloth, Christian und eins der Kinder.

Das Fenster wird etwas geöffnet und Tonnis sagt:

»Der Kuhhirt liegt auf den Tod.«

Nun ist Jakob Kloth schon vor der Tür.

»Ich hol den Arzt!« ruft Christian und läuft nach dem Fahrrad. Er kommt angelaufen mit dem Rad, er springt im Laufen auf. Sein Lichtschein verweht zwischen den starren Bäumen. Christian fuhr nach Thorde zum Arzt.

Jakob Kloth und Tonnis gehen zu dem Sterbenden. Sie gehen ohne Hast. Ihre Schritte sind groß und schwer. Tonnis hält die Laterne wieder fest in der Hand. So gehen sie langsam auf das Tor zu.

Unter den hölzernen Pfosten hält Tonnis Jakob Kloth zurück. Er sagt umständlich: »Oft reckt sich der Mensch, aber dieser reckte sich anders.«

Dann treten sie zu dem Toten.

*

Christian hatte in Thorde Bescheid gesagt.

»Im Stall bei Lebbers?« fragte der Arzt und schüttelte den Kopf. Er ist durch die Glocke aus dem Schlaf gerissen und hat sich nun eine Zigarre angezündet mitten in der Nacht, um wach zu sein. Er läßt sich keine Zeit, er fährt gleich los. Noch auf der Straße in Thorde überholt er Christian. Das Licht des Wagens schiebt sich wie ein Kegel in die Nacht. Es blendet, leuchtet und schon huscht es weit weg. Ganz fern ist es schon wie ein Nebelfleck.

Christian fährt langsam. Er war außer Atem in Thorde angekommen, nun erholt er sich von der raschen Fahrt. Ganz langsam fährt er die Straße entlang. Zuerst fährt er auch ohne Gedanken. Alles liegt schwer in seinem Kopf. Nun richtet sich dieses und jenes auf. Ein Stück Weges hin hat die kühle Nachtluft ihm den Kopf frei gemacht. Der Reihe nach kommen die Gedanken wieder in Ordnung. Da ist Sparre. Christian kennt den Kuhhirten kaum, doch ist ihm erzählt worden, daß Sparre nie ohne ein Buch in der Tasche die Kühe austreibt. Nun wird das letzte Buch ausgelesen sein. Da ist auch Tonnis mit seinem runden Gesicht. Seine Augen sind noch erschrocken. »Der Kuhhirt liegt auf den Tod«, hatte er gesagt.

Der Kuhhirt liegt auf den Tod, wiederholt Christian. Das Wort ist nun schon wie eine Melodie während des Fahrens, ein langsames Auf und Ab: Der Kuhhirt liegt auf den Tod. Das ist nun schon wie eine Schläfrigkeit.

Im Gesträuch an der Seite des Weges schreit ein Vogel. Ein kleiner Vogel schreit in der Nacht. Vielleicht im Traum, vielleicht aus Angst. Christian lauscht. Nein, es ist kein Schrei aus Angst. Es ist eher ein klagendes Seufzen, ein Schluchzen voll Verlassenheit. Ein banger Ruf aus einem Traum. Es ist später Herbst, auch die roten Beeren sind schon fahl und der Sommer ist weit.

Der Kuhhirt liegt auf den Tod. Ein Mensch stirbt mutterseelenallein im Stall. Das war ihm wohl nicht an der Wiege gesungen. So einsam kann ein Leben enden.

Nun ist der Ruf des Vogels fort. Im dunklen Feld ist der Schlag einer Uhr. Über alle Wege hin sagt die Nacht mit ihrer großen Dunkelheit von einem Kirchturm her die Stunde an.

Unter dem Kirchturm schlafen die Häuser. In den Häusern ist ein geborgener Schlaf. In allen Ställen schläft das Vieh. Es ist gut an eine Nacht zu denken voll Schlaf. Da kommt eine liebe Heimlichkeit in das Herz.

›Auch sie schläft‹, denkt Christian, ›und sie träumt wohl gar.‹ – Und er denkt, sie könnte mir schon gefallen. Emilie, das ist ein verständiger Name.

›Frau Drees, werde ich sagen, da bin ich. Wo ist der Schuppen? Sie sollen sich wundern, Frau Drees, wie fix das geht. Aber es muß ein jemand die Bretter halten, er muß mir auch die Nägel zureichen. Wo ist denn Fräulein Emilie? – Da ist sie ja schon! Sauber sehen Sie aus, Emilie. Da kriegt man schon Appetit. Wie wär's mit 'nem Kuß? Sieh einer an, da sagt sie nicht nein.‹

›Wie lieb du bist, und wie gut du bist, ach Emilie. Dein Mund ist so rot und dein Haar ist so hell, ach Emilie. Ich hatte gerade von dir geträumt, da schlug mir der Kuhhirt den Traum entzwei. Ich hatte gerade an dich gedacht – nun fahr ich allein durch das dunkle Land, ach Emilie. Ich bin schon durch manche Nacht gefahren allein, durch viele Nächte, nun ist das vorbei. Bald bin ich bei dir, Emilie.‹

Christian singt vor sich hin.

In dem bleigrauen Himmel schwimmt ein verhängter Mond. Die Sonne ist noch nicht da, aber ein kleines, warmes Lied fährt über die Wege, und von den großen Lampen im Leuchtturm Thorde wandelt das Licht wie eine Schildwacht rastlos durch die dämmernde Stunde.

Christian lacht und singt. Da hinten ist der Leuchtturm Thorde und dahinter das Meer. Daran denkt Christian in dieser Stunde nicht, denn eine kleine Singweise ist da. Ungefüge Worte sind es nach einer dummen Seemannsmelodie. Ja, diese Melodie ist schuld daran, daß er das Meer vergißt und das kreisende Licht nicht sieht über Thorde.

Christian lachte und sang.

So töricht ist nun ein Mann. Dazu in einer Nacht, wo er den Arzt rief zu einem Sterbenden. Wenn ich nach Hause komme, denkt Christian, wird man mir davon erzählen. Jakob wird da sein und Tonnis, und sie werden vom Tod sprechen. Ich pfeif auf den Tod, ich will nichts von hören.

Und Christian fährt einen großen Umweg. Feldein fährt er und zurück nach Thorde und um Thorde herum durch das Holz. Aus einer Stunde werden zwei, werden drei. Zwischendurch ist er abgestiegen und hat sich in der Tür eines Schuppens ausgeruht, die Beine lang gemacht, die Hände unter dem Kopf, ein bißchen eingeschlafen und aufgewacht und weiter gefahren.

Sonnabend muß Bolk wieder spielen, da hol ich dich zum Tanz, Emilie. Da wollen wir nichts von Arbeit reden und nicht hören, was der Gastwirt sagt. Tanzen wollen wir, tanzen, Emilie. Und die Nacht gehen wir ganz alleine nach Haus. Ach wie lieb du bist, und wie gut du bist, Emilie.

Nun wird der Himmel schon etwas hell, die Kirchuhren schlagen wieder im Feld. Durch feuchtes Grau fährt nun das Rad.

So schlägt man sich eine Nacht um die Ohren, denkt Christian, als wär man so ein verliebter Fant. Das hätte mir einer sagen sollen, noch gestern hätt' ich ihm gesagt: du bist ein alter Schafskopp, Freund. Dazu kennt man die Weiber zu genau, als daß einem das passieren könnt. Wir haben die Welt auf Stützen gestellt, wir hängen uns keine Schürze an. Beim Himmel, das hätt' ich ihm gestern gesagt. Und heute? Heute, Emilie!

Durch den frühen Morgen fährt Christian nach Haus. Vor ihm rumpelt der Wagen der Molkerei, der die Milchkannen von den Höfen zusammenholt.

»Morgen«, schreit der Kutscher.

»Morgen«, ruft Christian, und sie fahren nebeneinander her. Christian hat die Hand auf das Kastenbrett des Wagens gelegt und läßt sich von den Pferden mitziehen. Er erzählt mit dem Kutscher. Nach Stunden einsamer Nacht tut ein Gespräch gut. Es stehen schon eine Anzahl Kannen auf dem Wagen, blanke Kannen sind es und gut verschlossen. »Bloß die von Otto könnte sauberer sein«, schimpft der Kutscher, »ich hab's ihm schon zehnmal gesagt, so was ist 'ne Schweinerei. Die Milch ist ein Nahrungsmittel, da muß man penibel mit umgehen. Aber er kann vor Dämlichkeit nicht geradeaus gehen. Eh der's begreift! – und seine Frau stirbt lieber, als daß sie sich umdreht. Aber so 'ne Art Menschen kommen auch durch.«

Der Kutscher erzählt noch mehr. Jede Milchkanne hat ihre Geschichte. Es ist so, als säße der Bauer dabei, dem sie gehört.

»Dreizehn Jahre fahr ich nun schon«, sagt der Kutscher, »da lernt man die Kannen kennen, die Kannen und die Menschen. Viermal am Tag fahr ich den Weg. Da ist man froh, wenn man Gesellschaft hat. Manchmal nehm ich die Kinder mit, wenn sie von der Schule kommen. Die machen immer ein Hallo, sag ich Ihnen. Schmeißt mir die Kannen nicht runter, ihr Bälger. Da setzt euch still hin, sag ich.«

Christian läßt sich das alles berichten. Er lacht darüber und fühlt sich froh.

»Kommen Sie denn auch nach dem Hof am See?« fragt er so nebenbei. Er denkt immer noch an Emilie.

»Jawohl«, sagt der Kutscher, »gegen die Kannen ist nichts zu sagen. Das Fräulein scheuert sie selbst. Da stehen sie.«

Er zeigt mit der Peitsche nach hinten und Christian betrachtet lächelnd die Kannen, die Emilie gescheuert hat.

»Ein tüchtiges Fräulein«, sagt er.

»Und freundlich«, meint der Kutscher, »sie ist schon ein paarmal mitgefahren.«

»Auf dem Wagen hier?« fragt Christian.

»Jawohl«, sagt der Kutscher, und Christian packt fester das Kastenbrett.

»Jetzt sind wir gleich bei Ihrem Onkel«, sagt der Kutscher, »er ist gestern in die Stadt gefahren, ich sah ihn auf dem Bahnhof.«

»So?« sagt Christian. Es liegt ihm fern, daß er kaum hinhört.

»So forsch möcht ich auch mit siebzig sein«, sagt der Kutscher.

Als sie vor den Chausseehof kamen, stand Lisa da. Sie war überrascht, Christian zu sehen.

»Ich war nach Thorde zum Arzt«, sagte er, »der Kuhhirt stirbt.«

Lisa hatte eine Bestellung für den Kutscher an die Molkerei. Darum wartete sie schon.

»Du bist ganz verklamt«, sagte sie zu Christian, »komm rein und wärm dich auf. Es ist nichts, so in der Nacht mit dem Rad.«

»Das ist keine dumme Idee«, antwortete Christian. Er ging mit in das Haus.

Christian kommt geradewegs aus Tau und dünnem Nebel in die Wärme einer behäbigen Küche. Das Brot liegt noch auf dem Tisch, herrliches braunes Brot, rund gebacken und schwer. Daneben im Tontopf die Butter. Ineinander geschoben stehen Teller da und Näpfe, so wie das Gesinde sie nach dem frühen Imbiß stehen ließ. Vor dem Fischkorb am Herd sitzt die Katze, unentschlossen und die Pfote, die schon nach dem Fisch langt, ängstlich wieder zurückziehend. Sie erhebt sich jetzt und streift schnurrend um die Füße des Mannes. Das Feuer im Herd knackt und kracht. Eine Magd schleppt den Kessel mit Kartoffeln herbei, um ihn auf die Glut zu setzen. Das Mädchen ist barfuß, ihre schweren Holzpantinen hat sie an der Küchenschwelle abgestellt. Sie hat ein dummes gutmütiges Gesicht, und jeder Mannsperson zugetan, lacht sie Christian an.

Lisa sah es und fuhr ihr mit einer unwirschen Frage über den Mund. Das Mädchen schlich betroffen hinaus. Christian war belustigt über diesen Zwischenfall.

»Guck einer die Kröte an«, sagte er.

»Es ist schon ein Jammer mit den Dingern«, zankte Lisa, »hinter jeder Hose sind sie her.«

»Sie ist jung«, begütigte Christian.

Lisa sah ihn an. Sie strich ihr Haar glatt. Der Ärmel hatte sich zurückgestreift, sie krempelte ihn um. Ihr Arm war voll und glatt.

Christian hatte ohne Aufforderung Platz genommen. Er saß auf der Bank hinter dem Tisch, schnitt Brot ab und schob große Stücke in den Mund.

»Du brauchst hier nichts trocken zu essen«, sagte Lisa. Sie fährt viel vor ihm auf, Speck, Wurst und kalten gebackenen Fisch.

»Wo soll ich denn das alles hinessen?« lachte Christian.

»Ein Mann verträgt schon was«, antwortete Lisa.

»Du weißt Bescheid, darin kommt der Verstand mit der Ehe.«

Zu diesen Worten nickte Lisa.

»Du solltest ihn essen sehen«, sagte sie, »wie einen Wagen packt er sich voll, das geht wie beim Heustaaken. Er ist in der Stadt, da hat er beim Anwalt zu tun. Es handelt sich um den Grenzweg an der Mühle. Der Müller hat uns darum verklagt. Er wollte auch zu seinem Schwager. Der ist ja da an der Steuer. Er besucht ihn jedesmal, wenn er in der Stadt ist, und bleibt bei ihm über Nacht. Es ist der jüngste Bruder. Er hängt an ihm als wär es sein eigener. Der einzige Verwandte ist's, der aus der Familie der Frau noch lebt.«

»Ich hab auch schon gehört, daß er gut mit ihr gelebt hat«, sagte Christian.

»Kein Wunder! Er konnte machen, was er wollte. Sie hat nie was gesagt.«

»Was sollte sie tun? Ich glaub schon, daß er seinen Kopf für sich hat«, erwiderte Christian.

Lisa regte sich auf:

»Mir hätte er nicht so kommen dürfen mit seinen Seitensprüngen.«

Christian sagte nachdenklich:

»Vielleicht hat sie ihn sehr gerne gehabt. So soll's wohl gewesen sein. Da wird sie ihm vieles nachgesehen haben. Es ist eben was Eigenes mit der Liebe.«

Lisa lachte abwehrend:

»Ihr Vater war ein kleiner Lehrer. Da wird sie froh gewesen sein, daß sie gut versorgt war.«

Christian ärgerte sich:

»Du redest eben, wie du's verstehst. Ich meine, es wird jede froh sein, wenn sie hier auf den Hof kommt.«

»Ach so, du denkst, deswegen hab ich's getan? Und wenn schon, dann ginge es noch lange keinen was an. Es hat vorher keiner nach mir gefragt, und jetzt braucht's auch keiner. Ich hab mich genug rumstoßen lassen müssen. Mein Vater ist als Holzfäller verunglückt. Eines Tags haben sie ihn zerschmettert nach Haus gebracht. Er war gleich tot. Damals war ich vier Jahre, aber ich hab's bis heut nicht vergessen. Ein Baum hatte ihn erschlagen. Meine Mutter hat für uns Kinder geschuftet, aber sie war lungenkrank, und es ging ihr bloß alles schwer von der Hand. Als ich noch keine zehn Jahr war, hab ich schon beim Bauer geholfen. Abgewaschen und Wasser geschleppt. Auch auf dem Feld, in den Kartoffeln und bei den Rüben. Nein nein, viel Freude hat man nicht gehabt, auch nicht als Kind. Da kann sich keiner so leicht reindenken. Wenn er auch von morgens bis abends arbeiten muß, hat er doch wenigstens seinen vollen Napf. Er tut's auch für's Eigene.«

»Nein nein«, sagte sie nochmal, »viel Freude ist nicht dran.«

»Ich hab's auch nicht leicht gehabt«, antwortete Christian.

Lisa schüttelte lachend den Kopf:

»Nun hör das einer an.«

Christian blickte betroffen auf: »Du glaubst es wohl nicht?«

»Nein«, sagte sie, »nein«, und lachte noch immer: »Also auch schwer gehabt?«

Sie wurde plötzlich ernst und sagte heftig:

»Du kannst dich wohl beklagen, die ganze Welt gesehen! Ich bin kaum aus diesem Nest rausgekommeu. Wenn du auf deinem Schiff herumgegondelt bist, habe ich hier auf dem Feld den Rücken krumm gemacht, immer auf dem selben Feld. Abends habt ihr mit euren Mädchen in den Kneipen gesessen. Dann bin ich hier todmüde aufs Stroh gefallen. Wie Gentlemänner seid ihr umherstolziert und ich mochte mich in meinen Lumpen nicht mehr sehen. Hier, was Hab ich hier an? Das alte Kleid. Ihr altes Kleid. Sie hat's während der letzten Krankheit getragen, ich ekle mich drin, aber er will's, daß ich's anziehe. Die Frau hat's angehabt, dann ist's wohl auch für dich gut, hat er gesagt. Jawohl, das hat er gesagt. Zehnmal war ich ihm schon weggelaufen, aber wohin?«

Sie schmiß sich in den Stuhl und fing an zu weinen. Sie zerrte an dem Rock, als wollte sie ihn abreißen.

»Hier hat man wenigstens sein Fressen«, brüllte sie.

Christian saß fassungslos da. Er zerkrümelte das Brot, das er in der Hand hielt, kein Wort fiel ihm ein. Schließlich stand er auf, ging zu der Weinenden und legte ihr die Hand auf die Schulter.

»Beruhige dich«, bat er, »draußen auf dem Hof kann man's hören.«

»Und wenn's alle hören«, schrie Lisa. »Soll er sich doch aufhängen, wenn er die Frau nicht vergessen kann. Ich bin doch auch ein Mensch und gesund! Sie hat's nicht mal zu einem Kind gebracht.«

Christian fuhr ihr tröstend über die Hand.

»Darum hat er dich genommen. Wenn erst das Kind da ist, wird er deine Person schon mehr respektieren.«

Sie sah ihn hilflos an.

»Es ist kein Leben mehr in seiner Kraft«, sagte sie tonlos.

Christian läßt ihre Hand los. Er geht mit großem Schritt durch die Küche. Er steht am Fenster. Sein Blick schweift über den Hof. Der Hof ist leer, das letzte Mädchen geht zum Feld.

Das sieht Christian durchs Fenster. Nun wendet er sich um. Da sitzt Lisa. Sie hat den Kopf in die Hände gestützt und weint noch. Eine trostlose Frau sitzt da. Sie hat viel gearbeitet. Ihre Hände sind hart und breit. Das Gesicht zwischen ihnen ist wie herbes Holz. Es ist kein schönes Gesicht, es ist auch nicht jung. Es ist das zeitlose Gesicht mühevollen Lebens. Dieses Gesicht ist wie eine hartschalige Pflanze am Weg. Wind und Wetter geht über sie hin, Dürre und Hagel. Aber diese Pflanze behauptet sich. Sie hat keine Blüte. Ihre Blätter sind von einem grauen Grün. Es ist niemand da, der sie pflückt, um sie seinem Strauße einzuordnen. Nur der Erfahrene weiß, daß ihre Blätter heilsam sind gegen Wunden und Fieber. Es ist eine zuverlässige Pflanze, doch man geht achtlos vorüber, weil es keinem Frühling gelingt, sie zur Blüte zu bringen.

In der Küche vor dem Tisch, auf dem das braune Brot liegt, das sie essen will, sitzt eine trostlose Frau. In ihrem Gesicht ist nicht viel von Jugend zu lesen. Auch nicht in ihren Händen.

Aber ihre Arme sind voll und frisch. Sie hat die Ärmel hoch gestreift. O ja, ihr Arm ist jung und glatt.

Christian hat sich umgewendet und sieht das alles. Ihr Gesicht, ihre Hände und ihre Arme. Er umfaßt das alles mit einem langsamen Blick.

Lisa hielt den Kopf gesenkt, aber es schien, als ob sie diesen Blick hörte. Sie hob den Kopf und lächelte Christian an. Es war ein Lächeln in Tränen. Ja, Lisa lächelt. Diese Frau hatte in ihrem Leben wohl noch nie gelächelt. Vielleicht hat sie einmal gelacht, vielleicht auch öfter. Gelacht, ja. Aber nun blühte ein Lächeln in ihrem harten Gesicht auf.

Plötzlich ist Christian hinter ihrem Stuhl, er packt ihre Schultern, er biegt sie zurück.

»Ja ja«, lächelt sie.

»Ja ja.«

Als Christian später auf das Rad steigt, sagt sie bittend: »Du wolltest mit mir mal zum Tanz gehen.« Sie streichelt seinen Arm. Unablässig streichelt sie das Leder seiner Jacke.

»Es bleibt beim Wort«, verspricht er. Von der Landstraße blickt er noch einmal zu ihr zurück. Sie steht noch immer da, die Hand ein wenig bittend ausgestreckt.

Weiter weg erschrickt er über das Geschehene. In seinen Gedanken steht Emilie, blond, jung und mit freundlichem Lächeln. – »Das wäscht kein Regen ab«, keucht er. Heftig ist sein Atem. Er steigt vom Rad. Er schiebt das Rad mühsam neben sich her.

*


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