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Einmal nach solch einer Fahrt trifft Christian Frau Dahl in der Küche.

Frau Drees war verwundert über diesen Besuch. Frau Dahl läßt sich selten sehen auf dem Hof am See. Eigentlich ist sie schon seit langer Zeit nicht mehr dagewesen.

Da sitzt sie nun in der Küche und erzählt. Es ist nicht viel Neues, was sie weiß. Man kann auch noch nicht ergründen, weshalb sie gekommen ist. Schließlich fragt sie, ob Frau Drees was zu nähen hätte. Deshalb also ist sie gekommen.

»Man muß immer sehen, daß man ein paar Groschen verdient«, sagt sie. »Hanni muß einen Mantel haben, und ich brauche Schuhe.«

Sie hätte doch bei Frau Kars zu tun, meint Emilie.

»Ja ja, das schon, aber der größte Teil wäre geschafft.« Frau Dahl muß sich noch nach anderer Arbeit umsehen.

»Wann soll denn das Kind kommen?« fragt Frau Drees.

Das hätte noch seine Zeit. Nein, vor dem Sommer könnte man nicht damit rechnen. Man hätte auch nur die stillen Wochen für die Näherei nehmen wollen. Nachher ist alles wieder mitten in der Arbeit.

»Es wird viel geschwatzt im Dorf«, sagt Frau Drees.

Darüber läßt sich Frau Dahl nicht aus. Sie antwortet nur:

»Der alte Kars freut sich.«

»Auf das Kind?« fragt Frau Drees.

Natürlich auf das Kind. Worauf denn sonst? Es ist immer sein Wunsch gewesen, so ein Kind. Hoffentlich wird es ein Junge.

Dann ist Frau Dahl gegangen. Man weiß doch nicht so recht, was sie eigentlich wollte. Ein paar Tage darauf spricht sie wieder mit vor.

Ob Frau Drees wohl schon Arbeit herausgefunden hätte?

Diese Anfragen kommen der Bäuerin ungelegen. Sie muß sparsam mit dem Geld umgehen. Beinahe ist es zu wenig, um überhaupt noch mit umgehen zu können.

Nun ja, sie braucht auch Neues. Ein paar Schürzen könnte sie schon gebrauchen. Wenn Frau Dahl nicht zu teuer wäre, möchte sie kommen.

Das ist nun abgemacht und Frau Dahl sagt zu, daß sie in vierzehn Tagen einige Abende kommen würde.

Doch bis dahin läßt sie sich noch mehrmals sehen. Sie hat immer eine kleine Anfrage. Welcher Stoff, welche Form. Sie will glauben machen, daß sie um diese Fragen extra käme.

Frau Drees merkt, daß sie auch noch anderes auf dem Herzen hat. Frau Dahl ist eine brave Frau. Sie wünscht sich, daß alle Welt zufrieden wäre. Daß es nicht so sein soll, schafft ihr Herzeleid. Sie hat herausgefühlt, daß Lisa nicht glücklich ist. Sie glaubt auch, daß in Iben Kars ein Argwohn lauert, der jetzt noch gebändigt, einmal aber aufspringen könnte.

Es ist gut, wenn man die Steine aus dem Wege räumt, an denen der Mitmensch sich stoßen kann.

Warum sollte das so schwer sein? denkt Frau Dahl in ihrer Beschränkung. Nun will sie aus sich die Wege regeln, die andere zu gehen haben. Sie denkt sich nichts Arges dabei, im Gegenteil, sie will alles so gut machen wie nur möglich.

Es wäre zum Besten, wenn alles schneller in Lauf käme. Man erzählt im Dorf, daß Christian auf Freiersfüßen geht. Noch ist es nicht ersichtlich, wie er sich entscheiden wird. Einige sagen, daß er es auf den Hof am See abgesehen hätte, andere meinen, daß es Emilie gälte. Nun will man in der letzten Zeit wissen, daß das junge Mädchen drauf und dran wäre, sich von Christian abzuwenden.

Man muß ein paar gute Worte finden, nicht plump, damit das Mädchen nicht noch launischer wird, sondern ganz nebenbei im Gespräch. Am besten, wenn man zusammen bei der Arbeit sitzt, abends, wo einem der Tag nichts mehr tut.

So denkt es sich Frau Dahl.

Darum kommt sie öfter und wartet auf die Gelegenheit, ihr gutes Wort anbringen zu können.

Einmal nun an so einem Abend trifft sie Christian. Er bringt viel Kälte von draußen mit in die Küche. Mit ihm scheint der Winter sich am Herd breitmachen zu wollen. Der Schnee ist schon vorüber, in der knitternden Luft kündet der Frost sich an.

Wie immer, wenn er von Thorde zurückkommt, ist Christian wortkarg. Kaum, daß er eine Frage hat nach Ohm Kars. Nach Lisa erkundigt er sich gar nicht. Zwischendurch im Gespräch geht er hinaus, man hört durch die Wand seinen Schritt im Anbau.

Als Frau Dahl geht und im Dunkeln vorsichtig am Zaun den Weg abtastet, steht Christian da.

Er sagt: »Ich habe das neulich mitgebracht. Wollen Sie es ihr geben?«

Und sie weiß, wen er meint.

»Es braucht keiner zu wissen«, sagt er noch.

Und sie weiß wieder, wen er meint.

»Ja«, sagt Frau Dahl etwas ängstlich. Nun hat sie es versprochen, und sie wird Lisa das Tuch geben.

Warum tut das Frau Dahl? Ihr Herz ist bekümmert darum und sie macht sich Vorwürfe. Da soll sie noch den Boten abgeben für eine große Verfänglichkeit. Frau Dahl sitzt zu Haus, weint und seufzt. Sie hat das bunte Tuch auf den Knien, das Christian aus Thorde für Lisa mitbrachte. Nun fallen ihre Tränen darauf, daß sie fürchtet, das Tuch könnte verderben, und so wickelt sie es wieder sorgfältig ein.

Ja, sie wird Lisa das Tuch geben.

Aus ihrer Angst heraus wird sie es tun. Es sind Kräfte am Werke, die Frau Dahl mit ihrem beschränkten Herzen nicht übersehen kann. Es ist nicht bloß Güte in der Welt, auch Böses ist da und Verdammnis, und wenn man es abwägt, weiß man nicht einmal, ob es so böse und so voller Verdammnis ist, wie es scheinen will.

Dann über Nacht ist der See bei Sureiken gefroren. In den Tagen darauf ist aus dem hauchdünnen Glas des ersten Eises eine starke Decke geworden. Nun kann man wie auf einer Straße über den See gehen. Mittwinter zieht herauf.

Frau Drees hat eine neue Sorge.

Wie alljährlich ist auf dem Hof am See zum Herbst ein Schwein geschlachtet worden, doch Frau Drees brauchte Geld, und so hat sie viel davon verkauft. Was essen zwei Frauen schon? Man kann sich einschränken und mit einer Kleinigkeit über den Winter kommen. Aber nun war Christian mit zu verpflegen. Er ist ein kräftiger Mensch in den besten Jahren und hat einen guten Appetit. Frau Drees steht, daß sie mit ihren Vorräten nicht auskommen wird. Es muß hausgehalten werden.

Sie nimmt vor Christian kein Blatt vor den Mund, und Christian lacht.

»Da muß ich mich selbst beköstigen«, lacht er.

Er holt die Angel hervor, die irgendwo in einer Ecke des Schuppens liegt.

Frühmorgens ist er schon auf dem See. Er hat ein Loch in das Eis geschlagen und die Schnur hineingeworfen. In diesen ersten Frosttagen ist der Barsch gefräßiger als je. Christian kommt mit manchem Fisch nach Hause.

Der Fisch wird gekocht und gebraten, immer abwechselnd, einmal gekocht, einmal gebraten.

Christian erinnert sich aus seiner Kindheit, daß man im Osten den Barsch auch räuchert. Er weiß noch, wie die Tagelöhner es machten. In einer Heringstonne, die auf drei Mauersteinen stand, zwischen denen ein Kienfeuer schwelte, bekam der Fisch seinen Rauch. Baumrinde tat man ins Feuer, fauliges und morsches Gezweig, damit das Feuer einen langsamen Weg fand.

Christian hat sein Vergnügen daran, diese einfachste Art des Räucherns auszuprobieren. Frau Drees ist besorgt, daß er Stall und Scheune in Gefahr bringen könnte. So sucht er sich einen alten Schuppen am See, aus dünnen Planken gebaut und in seiner Verfallenheit längst vom Besitzer im Stich gelassen. Dahin bringt Christian seinen dürftigen Räucherherd. Bald findet er soviel Gefallen daran, daß er Abend für Abend dort sitzt. Der schwelende Rauch beißt wohl in die Augen, aber die Wärme, die von der schwerfälligen Glut ausgeht, ist angenehm und voll von Behagen.

Hier ist Christian auch ganz ungestört. Frau Drees hat sich die Werkstatt nur einmal betrachtet und ist schnell davongelaufen. Den ganzen Abend über mußte sie husten.

Emilie vermeidet es, Christian in dem einsamen Schuppen aufzusuchen.

Aus Thorde hat Christian eine Handharmonika mitgebracht. Ganz billig hat er sie gekauft von einem Schiffer, dem die Ankerkette zwei Finger abgerissen hatte. Da war es für ihn aus mit der Musik.

Manchmal wenn Christian Freude hat, spielt er abends ein Lied. Durch die dünnen Wände des Schuppens klingt es hinaus in die Dunkelheit. Es ist aber niemand da, der zuhört.

*

Das Tuch, das Lisa von Christian bekommen hatte, war aus einem weichen Stoff und schmiegte sich warm um den Hals. Es waren auch leuchtende Farben darin, und so lag es wie ein Schmuck über der dunklen Bluse.

Lisa versteckte das Tuch nicht vor Iben Kars.

»Woher hast du das Tuch?« fragte er.

»Ich Hab es mir aus Thorde mitbringen lassen«, sagte sie leichthin, »ich muß mich jetzt vor Erkältungen in acht nehmen.«

Damit hatte sich Iben Kars zufrieden gegeben. Oder tat er bloß so? Einige Zeit darauf hatte er ein anderes Tuch besorgt, ein schweres wollenes Tuch mit schwarzen und grauen Streifen.

Lisa aber band den bunten Schal um.

»Die Wolle ist hart und kratzt mich«, sagte sie.

Iben Kars gab dem Händler, als er wieder vorbei kam, das wollene Tuch zurück.

»Die Frau hat einen zarten Hals«, sagte er.

Nun war der Fall erledigt. Es war der erste Sieg, den Lisa gegen Iben Kars errang. Aber vielleicht nahm er nur Rücksicht auf ihren Zustand; obgleich es noch bis zum Sommer seine Zeit hatte.

Lange leere Abende sind es, die Lisa verbringt. Einige Male noch kommt Frau Dahl, sie hat auch von der Räuchertonne erzählt.

Sie weiß, wie glücklos das Leben der Frau ist, und sie weiß, daß es nicht gut ist, wenn junge Frauen sich trüben Gedanken hingeben. Kein Wesen ist so empfindlich als der Mensch, ehe er in die Welt tritt. Vor dieser dunklen Pforte knüpfen sich alle Fäden des Schicksals. Im Ungeborenen schon sind alle Wege beschlossen. Empfindsamer ist er als jede Blüte. Jeder Atem, den er empfängt, wird ihn dereinst vorwärts treiben zu Heil oder Unheil.

Wie der Mensch getragen wird, so trägt er sich später, heißt es im Land.

Darum ist es gut, einer jungen Frau freundliche Worte zu geben. Es ist auch gut, ihr das von den Augen zu lesen, was sie gerne hören will.

Lisa hat nicht nach Christian gefragt, doch Frau Dahl erzählt von ihm. Nicht viel, nur soviel, als sie verantworten kann. Sie hat auch von dem verfallenen Schuppen gesprochen, auch daß er für sich alleine manchmal Musik macht.

Lisa fragt nicht weiter. Sie stellt überhaupt keine Fragen. Die wenigen Sätze jedoch, die Frau Dahl sagt, trägt sie weiter in ihren Gedanken. Das ist nun schon eine kleine Geschichte, diese Räuchertonne. Eine warme heimliche Geschichte ist es, darin man wohl selber einmal lesen möchte. Nicht hastig Blatt für Blatt umwenden, sondern langsam es in sich ausnehmen, langsam und mit viel Bedacht.

Darüber hinaus denkt Lisa noch mehr. Er wird Emilie heiraten, denkt sie, warum sollte er es nicht tun? Sie ist ein junges Mädchen, das seine Vorzüge hat. Es gibt Abende, an denen Lisa ganz ruhig darüber nachdenkt. Es sind aber mehr Abende, an denen ihr Herz zornig ist und ihre Gedanken böse sind gegen Emilie. Es wird aber nicht anders sein. Heiraten wird er, was kann er anderes tun? Er kommt langsam zu Jahren und muß sehen, daß er sein Haus gewinnt. Er hat nicht viel hinter sich gebracht und er ist nicht der Mensch, der ein Vermögen ersparen wird. Er ist ein Seemann, so, wie er vom Wasser kommt, das Leben ist ihm durch die Finger gelaufen, nicht viel ist darin zurückgeblieben. Was soll er nun tun, denkt Lisa, er muß natürlich zusehen, daß er seinen warmen Platz findet. Ich hab es ja auch getan, sagt sich Lisa. Aber was kann ein junges Mädchen wie Emilie ihm bieten? Nun, das wird Christians Sache sein, wenn er sich dahin entscheidet.

Manchmal denkt Lisa: nein, er soll nicht Emilie nehmen. Wenn es schon sein muß, mag er der älteren gehören, aber nicht der jungen. Lisa ist eifersüchtig auf Emilie. Sie hat Christian seit vielen Wochen nicht mehr gesehen. Wintertage schaffen Einöde. Der Schnee verschließt das Haus, der Frost und das Eis. Auch wenn die Tage zugänglicher gewesen wären, würde Lisa Christian kaum wiedergesehen haben. Die Wege sind ihnen vorgezeichnet, und jeder geht seinen. Die Wege haben sich berührt und sind auseinander gelaufen, nun sind die Wege schon weit auseinander. Manchmal an einer Krümmung aber blickt man zurück. Lisas Gedanken stehen jetzt oft an solchen Krümmungen. Auch scheint es ihr öfter nicht schwer, den Weg zurückzugehen bis zu dem Kreuzweg, daran er den anderen trifft. Wozu das alles aber? denkt Lisa.

Eines Abends jedoch lassen all diese Gedanken ihr keine Ruhe. Sie läuft aus dem Haus. Zu dem Mädchen sagt sie: »Ich hab Kopfschmerzen, ich will noch etwas an die Lust.«

Es ist eine stählerne Kälte. Die Sterne sind hell und sehr hoch. Es ist lange her, daß Lisa durch einen Abend ging. Sie geht um den See, sie will gar nicht so weit gehen, aber sie geht weiter.

*

Das ist keine gewöhnliche Bretterbude mehr, was Christian sich da gebaut hat. Die Fugen sind gut verstopft, damit keine Kälte mehr hereinkann, das Dach ist mit Teerpappe beschlagen und die Türe geht ordentlich in den Angeln. Eine Bank steht darin und ein Tisch, und von der Decke hängt die etwas tranige Gemütlichkeit einer Stallaterne. Christian hat sich einen Aufenthalt geschaffen, der ihn mehr lockt als die Stube im Anbau.

Es gibt jetzt nicht allzuviel auf dem Hof zu tun. Wenn das wenige getan ist, verschwindet Christian in seine Räucherbude. Hin und wieder nimmt er auch ein Buch mit und liest.

Frau Drees sieht das mit einiger Bedenklichkeit. Sie sieht ein, daß es keinen Zweck hat, Emilie immer die gleichen Vorwürfe zu machen. Dazu scheint das junge Mädchen nun doch unter der dörflichen Einsamkeit zu leiden. Ihre Freundinnen in der Stadt haben vielerlei Zerstreuung. Manchmal kommt ein Brief aus der Stadt, und Emilie ist dann noch unzugänglicher.

›Was hält sie überhaupt noch in Sureiken?‹ denkt Frau Drees. ›Soll sie doch abfahren, wenn es ihr bei uns nicht paßt.‹

Emilie schien sich jedoch mit dem Gedanken an eine Abreise gar nicht zu tragen.

›Also scheint sie sich doch auf Christian zu spitzen‹, stellt Frau Drees fest. ›Nun, da wird sie den Rauch der Wärme wegen leiden müssen.‹

Nach allem jedoch will Emilie glauben machen, als hätte sie für Christian nicht mehr viel übrig.

›Daß er es nicht über bekommt, ihr immer wieder ein freundliches Wort zu sagen‹, wundert sich Frau Drees. ›Das wird eine Zeitlang gehen, und dann ist mit einem Mal Schluß.‹

Nun geht Christian Abend für Abend nach dem Essen in seinen Schuppen. Die Abende, an denen man gemütlich zusammen in der Stube saß, sind fort, als lägen Jahre dazwischen. Jetzt ist Christian immer der erste, der aufsteht.

Einmal hat Frau Drees einen verwegenen Gedanken. Sie sagt zu Emilie: »Er hat die Schlüssel vergessen. Willst du sie ihm nicht hinbringen?«

Frau Drees denkt wohl, sicher wird er auf das Mädchen warten. Abend für Abend wird er auf Emilie warten. Warum soll ein Mann nicht hoffen, daß ihn die Liebste einmal besucht. Frau Drees ist eine vernünftige Frau, und sie würde nichts dabei finden, wenn es für beide zum Guten ausfiele. Doch Emilie gibt ihr eine Antwort, die ihr ein für allemal solche Vorschläge aus dem Kopf treibt.

Frau Drees beschäftigt sich zu viel mit den beiden Menschen. Sie denkt über Emilie nach und über Christian. Vielleicht denkt sie über Christian zu viel nach. Er ist etwas jünger als sie, nicht viel, ein paar Jahre nur. Er war Seemann und ist noch zu wenig geschickt für das Land. Aber er hat den guten Willen und wird auch schon mit dem Ungewohnten fertig werden. Er ist keiner von denen, die vorschnell die Flinte ins Korn werfen.

Frau Drees weiß, daß es von Jahr zu Jahr schwerer für sie werden wird, den Hof zu halten. Sie hat die Knechte immer gut behandelt, doch da sie eine Frau ist, die viel arbeitet, verlangt sie auch viel von den anderen. Darum laufen ihr die jungen Knechte bald wieder davon. Wenn ein tüchtiger Mann auf dem Hofe wäre, brauchte man kein Dienstvolk. Das alles sind Gedanken, mit denen Frau Drees sich oft beschäftigt. ›Ich sollte Emilie sein‹, denkt sie.

Seit ein paar Tagen ist sie freundlicher zu Christian. Sie ist immer freundlich zu ihm gewesen, und man würde kaum einen Unterschied merken. Es sind auch nur Winzigkeiten, die ihre Freundlichkeit wärmer werden lassen. Es ist auch nur der Tonfall und hier und da eine kleine Bewegung, ein Blick und eine gutmütige Berührung. So wenig scheint es zu sein, daß Christian gar nichts davon merkt, aber Emilie horcht auf.

Frau Drees hat ihr Tuch genommen und ist gegangen. Emilie sitzt in der Stube und schreibt an einem Brief. Was wird sie schreiben? ›Aus unserem Dorf kann ich dir nicht viel Neues berichten. Ein Tag ist wie der andere. Es ist kalt, und wenn man Lust dazu hätte, könnte man auf dem See Schlittschuh laufen. Man könnte auch Schlitten fahren, aber hier scheint kein Mensch auf den Gedanken zu kommen. Übrigens wohnt jetzt ein Mann bei uns im Anbau. Er ist von der See gekommen und will Landwirt werden.‹ So ungefähr wird Emilie schreiben.

Frau Drees geht am See entlang. Es ist gut, daß sie die dicke Wolljacke anhat und die warmen selbstgestrickten Strümpfe. Sie hat die Taschenlampe mitgenommen und hin und wieder leuchtet sie über den Weg.

Wenn Christian guter Laune ist, spielt er sein Instrument. Dann soll Musik durch die dünnen Bretterwände hinausklingen in den dunklen Abend, hat Frau Dahl gesagt.

Heute abend hört Frau Drees keine Musik. Doch durch das kleine Fenster, das Christian eingesetzt hat, – es ist nur eine Spanne breit – fällt der dösige Schein der Laterne.

›Da sitzt er nun und bläst Trübsinn‹, denkt Frau Drees. ›Nun, ich werde ihn schon auf andere Gedanken bringen.‹

Sie will die Türe öffnen, aber sie erschrickt. Sie läßt die Türe im Schloß. Sie steht im Dunkeln. Der Schein der Laterne berührt sie nicht mehr.

Plötzlich ahnt sie eine Gestalt über den Weg. Sie wendet sich jäh um, sie geht auf das Dunkle zu. Dann ist der kleine aufhellende Schein ihrer Lampe.

»Wir haben uns lange nicht gesehen, Iben Kars«, sagt sie beherrscht.

Er steht vor ihr, blinzelt in den Lichtschein und brummelt ein verwundertes Wort.

»Ich war beim Räuchern«, sagt Frau Drees, »Christian hat noch zu tun. Es ist eine gute Erfindung, die er sich da gemacht hat.«

Frau Drees hat die Lampe wieder verlöschen lassen. Iben Kars hat ein scharfes Auge. Er soll ihr wohl nicht ins Gesicht sehen. Der Alte zögert. Er weiß nicht recht, was er nun tun soll. Nun, wenn Frau Drees bei Christian war, würde ja alles seine Richtigkeit haben. Iben Kars atmet erleichtert auf. Sie gehen nebeneinander her. Frau Drees wundert sich, daß sie den alten Kars hier am See getroffen hat. Sie sagt so.

Was soll Iben Kars darauf antworten? Nichts antwortet er. Weshalb soll er der Frau Rede stehen? Es ist nicht seine Art, den Menschen Aufschluß über sein Handeln zu geben. Er tut, was ihm in den Kopf kommt und was er für richtig hält. Damit gut.

»Du mußt hier lang gehen«, sagt er zu Frau Drees.

»Es ist eine schöne Winternacht«, antwortet sie, »da kann man schon noch etwas Luft vertragen.«

Er macht keine Einwendungen. Er läßt es sich gefallen, daß sie ihn begleitet. Der Frost hat die Wege glattgemacht. Zuweilen muß Iben Kars sich schwer auf den Stock stützen. Wenn man gewohnt ist, durch weiches Ackerland zu gehen oder über rauhe Schollen, werden die Füße schwerfällig auf glattem Eis. Darum geht Iben Kars langsam und oftmals unsicher.

Wie kommt es, daß er nichts dazu sagt, als Frau Drees ihn kurzerhand unterhakt.

»So!« sagt sie kurz und bündig. Sie sagt weiter nichts als »so« und hat ihren Arm unter seinen geschoben.

Ist Iben Kars auf einmal so alt, daß er sich das ohne Widerspruch gefallen läßt? Es muß sein, denn er sagt kein Wort dagegen. Vielleicht gefällt es ihm auch. Man redet dem Alten allerhand nach. Wenn das wäre, würde er wohl eine Vertraulichkeit wagen. Doch das tut er nicht. Er geht still an ihrem Arm. Den Kopf hält er gesenkt. Sonst geht Iben Kars den Kopf hoch und vorgereckt. Oft hat er etwas Lauerndes, als wäre es gut, ständig nach Feinden auszuspähen. Oft liegt in seinem Gesicht viel Überhebliches. Auch ein verachtender Zug ist darin, als lohnte es nicht, sich mit den anderen abzugeben.

Nun geht er, den Kopf gesenkt, und scheint in Gedanken.

›Es wird ihm was mit Lisa nachgehen‹, denkt Frau Drees, ›wie kann sie das auch tun?‹ Frau Drees hat nur Vorwürfe für Lisa. ›Ein Mann nimmt, was ihm in den Weg läuft. Es ist nicht schön von Christian, aber es ist nun einmal so. Natürlich wird Iben Kars das nachgehen.‹

Sie will ihn auf andere Gedanken bringen und erzählt dies und das und fragt nach diesem und jenem. Sie bekommt keine Antwort. Da schweigt sie auch.

Iben Kars ist stehengeblieben und starrt vor sich hin. Dann gehen sie weiter. Nach einem Weilchen bleibt er noch einmal stehen. Und dann wieder. Ein paarmal ist er stehengeblieben, ohne Bewegung und ohne ein Wort.

Frau Drees hat nicht gefragt, sie ist jedesmal mit stehengeblieben und wieder mit ihm weitergegangen, sie tut nichts, als daß sie ihren Arm ihm läßt wie eine leise unaufdringliche Nähe.

Als sie an die Brücke kommen, die über den Grenzbach führt und an deren Ende ein Stein steht mit der Aufschrift »Maria«, weil an dieser Stelle einmal ein Bauer eine Magd von seinen Hunden hatte zerreißen lassen, weil sie ihm nicht zu Willen sein wollte, sagt Iben Kars auf einmal:

»Du bist ein gutes Kind.«

Was sind das für Worte aus Iben Kars' Munde? Fühlt er sich jetzt so alt, daß er Frau Drees, von der er doch im vorigen Jahre noch wünschte, daß sie seine Frau werden möchte, derart anredet?

›Ja, er fühlt, daß er alt ist‹, denkt Frau Drees, und in ihr Herz kommt eine große Rührung. Sie hat die Augen voll Tränen. Für eine Frau ist sie groß gewachsen. Sie ist die größte Frau im Dorf, doch reicht sie Iben Kars nur wenig über die Schulter. Sie muß den Kopf heben, wenn sie zu ihm aufsehen will. Sie hat den Kopf gehoben, sie würde kein Hehl aus ihren Tränen machen, auch wenn es nicht dunkel wäre und Iben Kars es sehen könnte. Sie hat nur den Wunsch, dem Alten vor ihr etwas Gutes zu sagen, doch fällt ihr kein Wort ein, denn Iben Kars ist stolz, und jedes weiche Wort zu ihm muß abgewogen sein. Nein. Frau Drees fällt ein solches Wort nicht ein. Aber sie nimmt seine alte Hand, streichelt sie und geht. In großer Verwirrung geht Frau Drees den Weg zurück. Ein paarmal wendet sie sich um, sie fühlt, daß Iben Kars noch an der Brücke steht, sie glaubt, seinen grauen Schatten neben dem Stein zu sehen.

Als Lisa zurückkommt, steht er noch immer an der Brücke. Er ist behutsam aus dem Dunkel herausgetreten, er will Lisa wohl nicht erschrecken. Sie ist auch gar nicht verwundert. Sie wartet seine Frage auch gar nicht ab. Ohne Aufhebens sagt sie:

»Ich war bei Christian.«

Ja, Iben Kars ist ein alter Mann geworden. Kann man es glauben, daß er diese Nachricht ohne Aufbegehren anhört? Nein, er fährt nicht auf, er schlägt Lisa nicht ins Gesicht. So alt ist er, daß er kein Wort findet, wenn seine Frau von einem anderen Mann kommt. Vielleicht denkt er in diesem Augenblick auch ganz anderes. ›Sie hat mich also belogen, denkt er, warum hat sie das getan?‹ Ach ja, er denkt an Milda. An Frau Drees denkt er, die nicht wie ihre Mutter Ulrike heißen durfte, sondern nach einer Tante genannt wurde, die an einen Kantor verheiratet war.

›Warum hat sie das getan?‹ denkt er.

Allmählich erst hört er auf das, was Lisa vor ihm redet.

»Schon deinem Namen ist er es schuldig«, sagt sie. »Im Dorfe redet man über ihn, weil er nicht weiß, was er will. Frau Drees bringt er ins Gerede und Emilie. Soll er sich doch endlich entscheiden.«

Lisa sagt noch mehr. Was hat sie da für Worte? »Wenn du dich nicht darum kümmerst, muß ich es tun. Ich hätte schon gern mit dir darüber gesprochen, aber weiß ich denn, woran ich bei dir bin. Heute bist du so zu mir und morgen so. Ich will nicht, daß alles ins Gerede kommt.«

Nun weint Lisa. Warum weint sie eigentlich, wo Iben Kars ihr doch gar keine Vorwürfe macht. Sie weint wohl, weil er ihr keine Antwort gibt, und weil sie noch nicht weiß, wie alles ausgehen wird.

Er hat Mißtrauen gegen sie. Natürlich ist er voller Mißtrauen. Wie wurde er ihr sonst hier im Dunkeln nachspionieren. Lisa weiß noch nicht, was er im Schilde führt. Oft ist Iben Kars jähzornig, oft aber langsam in seinen Entschlüssen und dann um so härter.

Darum weint Lisa. Nichts ist unergründlicher als das Schweigen.

»Ich wollte schon immer mit ihm reden«, klagt sie, »tags hab ich keine Zeit, und er kommt ja nicht mehr zu uns. Ein vernünftiges Wort vermag viel. Frau Drees wäre keine schlechte Partie für ihn.«

»Laß die Frau aus dem Spiel«, sagt Iben Kars hart. Es ist das erste, was er sagt.

Nun ja, der Name wird ihm nicht angenehm sein. Im Vorjahre hat er sich um sie bemüht. Sie hat ihn wohl abgewiesen, das wird es sein.

»Laß die Frau aus dem Spiel«, sagt Iben Kars nochmal, »sie hat mit Luderei nichts zu tun.«

›Was soll das heißen?‹ will Lisa fragen, aber sie hütet sich und verschluckt das Wort. Sie weiß nun, wie er gesonnen ist. Treibt er's zu arg, lauf ich ihm davon. Es wird ihm nicht angenehm sein, wenn er nicht weiß, wo das Kind ist. Deswegen wird er auch nicht wagen, mir etwas zu tun. Schon vor den Leuten kann er es nicht. Wie will er sich an mir vergreifen? Lisa fühlt sich sicher im Schutze des Ungeborenen.

Sie stehen noch immer an der Brücke. Lisa bemerkt das erst jetzt. Sie nimmt ihr Tuch fester zusammen und sagt: »Mir ist es hier zu kalt.«

Damit geht sie weiter. Das wagt Lisa. Sie läßt Iben Kars auf der Brücke stehen. Sie geht ganz ruhig, als hätte sie das Vorgefallene schon vergessen, und Schritte hin sind ihre Gedanken schon in anderes gewiegt.

Das also war der Schuppen gewesen und die Räuchertonne, von denen Frau Dahl erzählt hatte.

Inmitten allem Schweren fällt Lisa dieses Nebensächliche zuerst ein. Das war also die Räuchertonne und der Schuppen. Wie geschickt die Tür im Haken ging. Beinahe lautlos. So lautlos jedenfalls, daß Christian es zuerst gar nicht bemerkt hatte. Der Rauch, der über der Tonne aufstieg, biß in die Augen und kratzte sich in die Kehle. Lisa hatte husten müssen.

Heu, du?! Das ist ein geschickter Einfall. Weiß er es denn? – Natürlich weiß er es nicht. Das wäre eine schöne Bescherung, wenn er dahinter käme. – Er kann seine Augen nicht überall haben. – Bei mir hat er sie am wenigsten, Gott sei Dank. – Nun, da bist du also mal wieder, wir haben uns lange nicht gesehen. Also das Tuch hast du auch um, unter dem Überschlag selbstverständlich. Man braucht nicht alles gleich zu riechen. – Ich hätte mich noch wegen des Tuches zu bedanken. Beinah wär' es ärgerlich geworden, aber es ging noch mal glimpflich ab. – Hier ist die Bank, setz dich. Das ist bloß schwarz vom Rauch, das gibt keinen Fleck. Nun muß ich dich erst mal ansehen.

Ach ja, der Mann ist ausgehungert. Er hatte Lisa an die Schultern gefaßt und ihr die Arme getätschelt.

Laß das, sonst muß ich gleich gehen. Deswegen komm ich nicht. Das ist nun vorbei. – Was sollte das denn heißen? Also hast du nichts mehr mit mir im Sinn? Warum kommst du dann? – So wäre es nun auch nicht gemeint, aber jetzt schicke sich das nicht mehr. – Wieso das nicht? –

Darauf hatte Lisa nicht geantwortet. Es war gut, daß die Laterne schlecht brannte. Aber er sah, wie sie die Hände auf den Leib legte.

Ach so, nun, da täte es doch nichts mehr.

So roh kann ein Mann sein.

Was schwatzt du? Jetzt werde ich wirklich gehen, da bleibt's eben unbesprochen. – Was sie denn auf dem Herzen hätte? So, die dumme Geschichte mit Emilie. Darüber brauchst du dir keine grauen Haare wachsen zu lassen. Das ist sowieso aus. – Man hört es aber anders. Ob er wisse, was man im Dorf davon rede. – Nein, außerdem interessiere ihn das nicht. – Sag das nicht. Wir sind alle noch nicht zu Bett. Wenn es mit Emilie aus ist, wie sei es denn mit Frau Drees? Übrigens wäre es gut, daß er das junge Ding abgehängt hätte. Die mit ihrem Sonntagsblick. – Es ist nicht nötig, daß du über sie herfällst. So schlimm ist sie nicht. – Ach so, also ist es doch noch nicht aus. Nun ja, es wird schon stimmen, was die Leute sagen. Eine von beiden wird's werden, das Mädchen oder die Frau. Der Herr hat sich nur noch nicht entschieden. – Laß deine dummen Redensarten, oder bist du gekommen, um mich in Harnisch zu bringen. Ich hab sowieso schon meinen Kopf voll. Das ist nämlich eine ganz verfluchte Geschichte. Das kannst du dir doch auch denken, Da hab ich mein Geld in den Hof gesteckt. Viel ist es nicht, aber es sind doch meine ganzen Ersparnisse. Was lachst du denn? – Hätte man gedacht, daß ein Mannskerl so dumm ist. Also dein schönes Geld hast du hingegeben! Sie hat dich also geschoren. – Gar nichts hat sie, ich hab's aus freiem Willen getan. Schließlich ist es auch ganz gut so. – Dann wäre ja alles in Ordnung, wenn du zufrieden bist. Aber deine Rede höre sich doch nicht so nach Zufriedenheit an. – Es gäbe natürlich noch allerhand zu bedenken. Welcher Mensch ist wohl zufrieden? Mich ärgert's ja auch, was so geschwatzt wird. – Warum sollen wir lange hin und her reden? Ich wollte das alles einmal mit dir durchsprechen. Jaja, ich hab mir auch Gedanken gemacht. Man muß endlich aus allem Gerede herauskommen. Ich will dir sagen, was ich mir gedacht habe. Man hat uns beide hier in den Mund genommen. Das muß aus der Welt geschafft werden. Es soll keine Nachrede mehr sein, wenn das Kind da ist. Der Alte ist schon argwöhnisch. Er sagt zwar nichts, aber man merkt es doch. Am besten wär's gewesen, du hätt'st gesehen, aus Sureiken wegzukommen. Nun, wo du dein Geld angelegt hast, geht das nicht. Das sehe ich ein. Wie kann man auch so dumm sein und sein Geld weggeben? Also bleibt bloß die Heirat. – Behalt deine guten Ratschläge für dich. Es hat keiner darum gebeten. – Setz dich noch aufs hohe Pferd, so ist's richtig. Denkst du, ich will mich deinetwegen durch den Dreck ziehen lassen? – Was ist das für eine Sprache? So entpuppt sich nun der Mensch. – Ach so, du dachtest, ich war solche stille Emilie. Nun, da kennst du mich schlecht. Wenn die Suppe von uns beiden eingerührt ist, will ich sie nicht allein ausfressen, verstehst du? – So rum kommst du mir also, na warte! – Worauf soll ich denn warten? Bis es dir gefällt, was? Nein nein, Herr Christian, wir wollen reinen Tisch haben. – Schrei nicht so, du kannst auch ruhiger mit mir verkehren. – Das glaub ich, das hörst du nicht gern, nun, wo du mich reingerissen hast. Aber das sag ich dir, so kommst du nicht davon. Denkst du, ich lasse mich mit Schimpf und Schande vom Alten wegjagen, bloß weil du dickköpfig bist und das Gerede nicht abstellst. Ich wollte das alles in Frieden mit dir besprechen. Doch gehört ein grober Keil auf Unvernunft. – Ist ja alles gut und schön, was willst du denn eigentlich? – Ich will, daß du heiratest, und zwar bald. Noch ehe das Kind kommt. Es ist auch besser, daß es nicht das Mädchen ist. Was willst du mit solchem jungen Ding? Nachher hält sie dich noch zum Narren. Wenn sie erst dahinterkommt, nun das weiß man ja. – Jetzt halt das Maul. Ich hab genug. – Wer brüllt nun? Ich denke, wir wollen's mit der Ruhe halten. – Aber nicht, wenn du auf Emilie herumhackst. Das sag ich dir, laß das Mädchen aus dem Spiel. Sie hat dir nichts getan. – Nichts getan? – Warum weinst du denn nun? Hör auf, was hab ich denn gesagt? – Nichts, nichts, aber diese Emilie. Ach, wenn du wüßtest. – Nun beruhige dich doch. Tränen machen's auch nicht besser. Nun sei doch vernünftig. – Hast recht, aber diese Emilie. Nun ja, es wäre schon gut, wenn es nicht Emilie wäre. Du kannst mir glauben, die Frau paßt für dich viel besser. Es ist eine tüchtige Frau, die Frau Drees, ihr gehört auch der Hof. Da hast du dann dein Geld sicher. Weshalb überlegst du eigentlich so lange? Die Frau ist in den besten Jahren. Ja, sie ist fleißig. Wenn der Mann nicht solch Luder gewesen wär, dann hätte sie heute nicht solche Sorgen, die arme Frau. Man wünscht ihr im Dorf alles Gute, ich auch, das kannst du glauben. Warum besinnst du dich denn noch immer? Sieh mal, Christian, irgend was muß doch mit dir werden. Da hättest du dann deinen Hof, und so schlimm ist es nicht mit der Landwirtschaft. Das wird alles gelernt. Du hast einen hellen Verstand. – Jetzt muß ich aber lachen. Also du redest, das geht wie geschmiert. Das hast du dir fein ausgetüftelt. Aber so uneben ist es nicht, wenn man hinsieht. Ihr Frauen seid schon ein Volk. Na, siehst du, nun lachst du auch. Ich muß sagen, das ist gar nicht so übel, wenn man sich's anhört. – Siehst du, hab ich's nicht gesagt, überleg es dir nochmal. Mehr will ich ja gar nicht. Heute nicht. Aber nicht wahr, du siehst zu, daß du bald mit dir ins reine kommst. Du mußt auch Rücksicht auf mich nehmen. Wenn du nachher verheiratet bist, kräht kein Huhn und kein Hahn nach. Du hast es hier gemütlich. Frau Dahl hat mir davon erzählt. Also das ist die Räuchertonne und da werden nun die Fische reingehängt. Wie du dir das ausgedacht hast. Hübsch warm hast du's hier, aber der schreckliche Rauch. Man kriegt den Husten. – Hübsch warm, was, und gemütlich. Das ist hübsch, daß du mich mal besuchst, Lisa. – Nein, nicht, Christian, laß mich in Ruh. Ich wollte das bloß mal mit dir bereden. Nein nein, Christian, laß das. – Nun, wenn du's nicht willst. – –

Nein, es war nichts vorgefallen an diesem Abend. Lisa konnte vor Iben Kars bestehen. Wie könnte sie sonst auch gewagt haben, nichts weiter zu sagen als: »Hier ist es mir zu kalt«, weiter nichts zu sagen und fortzugehen. Mochte der Alte stehenbleiben, wenn es ihm behagte. Es sollte sowieso nicht ganz geheuer an der Brücke sein. Eine Bauersfrau, die nachtsüchtige Augen hatte, und der man vielerlei Wissen um das Unsichtbare nachsagte, hat hier einmal nachts eine große Kuh liegen sehen. Mitten auf dem Wege lag die Kuh, unbeweglich und mit dummen traurigen Augen. Die Bäuerin hatte noch Zeit, ihren Wagen vorher abbiegen zu lassen, sonst würde sie die große Kuh überfahren haben, und wer weiß, was dann alles geschehen wäre.

Mochte also Iben Kars sehen, wie er mit der Nacht an der Brücke fertig würde. Lisa war weitergegangen, und als sie in die Stube trat, war sie froh, das Licht anzünden zu können. Es ist gut, wenn ein helles Licht brennt in der Nacht.

Sie legte sich zu Bett und wartete, wann Iben Kars heimkommen werde. Sie mußte bis gegen Morgen warten. Es hatte sie ein leichter Schlummer überfallen und sie hörte nicht, als er die Türe öffnete. Sie sah nur später im Dämmer den Mann am Fenster sitzen. Er war nicht mehr zu Bett gegangen und wartete wohl darauf, daß es Tag werden möchte.

Aus Dunkelheit steigt das Leben des Menschen auf, wandelt seine Zeit und steht wieder am Rande einer Dunkelheit, die je nach der abgewandelten Zeit ihre guten Sterne hat oder bösen, ihre freundlichen Monde oder eine schluchzende Lichtlosigkeit. Ehe man aber in den letzten Weg, der zu ihr führen muß, eingeht, wird einem noch einmal das eigene Leben aufgezeigt. Was einem früher unbegreifbar schien, entwirrt sich und man sieht klar zwischen Schuld und Sühne.

Man ist stolz und stark seine Straße gegangen, doch plötzlich steht am Wegkreuz eine hohe unerbittliche Gestalt und läßt aus dem Sand ihrer Uhr eine Stunde rinnen, die wie ein Tier den Menschen anspringt. Auf einmal wird der Jäger der Gejagte.

Was hatte Iben Kars Böses begangen, daß ihm das Schicksal Schuldscheine aufzeigte, von denen er nichts wußte. Er hatte gelebt wie viele starke Männer seines Schlages. Jähzornig und hart, aber auch gut und milde, nicht oft, aber doch einige Male, und wenn er darüber nachsann, öfter als er es selbst gedacht hätte.

Er hatte seine Frau barmherzig behandelt. Sie war leidend gewesen Zeit ihres Lebens, doch hatte er sie geliebt und dafür gesorgt, daß ihr nichts abginge. Sie hatte oft heimlich geweint, ja, das hatte sie. Wenn er in die Stube trat, war sie oft verstört in ihrer Bewegung. Er hatte ihre Hand gestreichelt und gesagt:

»Ich muß nach Thorde. Ich habe dies oder jenes zu tun.«

Sie hatte ihn lächelnd bis zur Türe begleitet, und er war fortgefahren ohne sich umzusehen, weil er manchmal fürchtete, sich vor ihrem Lächeln schämen zu müssen.

In Thorde waren Frauen, und er war ein starker, gesunder Mann. Unzähmbar ist der Mensch in den Ausbrüchen seines Blutes.

Als seine Frau starb, hatte er vor ihrem Bett gelegen, ehe die Männer mit dem Sarg kamen. Er war aufgestanden, als er deren harten Schritt in der Diele hörte. Sie traten ein mit ihrer hölzernen Last, und er stand im Zimmer, aufrecht und ohne jeden Ausdruck eines Schmerzes.

Nun saß Iben Kars im Dunkeln am Fenster der Kammer. Er sah nicht auf das Bett, darin nun die Magd schlief, die er zur Frau genommen hatte, und die ein Kind im Schoße trug.

Es ist nichts schwerer als seine Gedanken so zu ordnen, daß man sie an den Fingern herzählen könnte. Eine Gestalt war vor Iben Kars aufgestiegen, ein Weib war es, ein Weib, wie es zu jedem Manne gehört, aber es hatte vielerlei Köpfe, und er wußte nicht, welchen Namen er ihm geben sollte. Es stand vor ihm und blickte ihn an aus vielen Augen, gutmütigen und enttäuschten, gleichgültigen und glücklosen. Viele Augen waren da und sahen Iben Kars an in der Dunkelheit. Alle diese Augen waren durch sein Leben gegangen. Er hatte sie auf sich weilen lassen, solange es ihm gefiel, und er hatte sie abgetan, wenn sie ihm zudringlicher schienen, als sie einem Manne begegnen durften, der Herr seines Lebens ist.

Zu vielen Frauen war Iben Karg gegangen. Manche hatten mehr erhofft, als die flüchtige Minute seiner Lust. Es waren gute und brave Geschöpfe unter ihnen gewesen. Sie waren wert, daß er sie besser behandelt hätte. Doch Iben Kars hatte für derlei Gutherzigkeit keinen Maßstab. Die Elle, die er anlegte, war zu kurz, um die freundliche Wärme zu ermessen, die in allen Wesen der Welt lebt.

Nie hatte Iben Kars sich sonderlich Gedanken darüber gemacht. Arbeit wartete auf ihn. Seine Hände waren nie müde. Mit Anerkennung sprach man im Dorf von ihm. Er war rüstig und stellte auf dem Felde die Jüngeren in den Schatten. Wo Iben Kars Zugriff, wurde die Erde willfährig. Wie kann er da Vergangenem nachdenken? Er lebt nur in den Stunden, die vorwärtsgehen.

Nun ist diese Nacht, die ihn verwirrt. Die Frau, die er aus kleinem Leben neben sich gehoben hat, ist aufsässig geworden gegen ihn. Wie kommt es, daß er sie nicht gezüchtigt hat? Sie trägt ein Kind, aber vermag das zu schützen vor einem jähen Zorn. Wo ist dein jäher Zorn geblieben, Iben Kars?

Viele Zweifel krochen zu dir. Sie haben deine Kraft gebunden. Nur wer schnell zuschlägt, nimmt der Schlange das Haupt. Das hast du nicht bedacht, Iben Kars. Nun schwankst du zwischen Gläubigkeit und Verdacht. Es würde ein Wunder sein, wenn ein Sohn deinem Alter geschenkt würde, und du möchtest an die Reinheit dieses Wunders glauben. So stark ist dem Verlangen, daß du jeden Zweifel umbiegen möchtest in Vertrauen. Du willst gut sein zu der Frau, die eine Magd war, und ihr Kind willst du als dein eigenes hinnehmen. Das alles hast du im stillen schon mit dir beredet. Nun aber hat die Schande einen dreisten Mantel umgenommen und das Unrecht geht mit zuversichtlichem Schritt. Es wäre an der Zeit, die letzte Kraft zu erproben.

Was aber ist Kraft, wenn die Stunde zu keinem Entschluß kommt. Iben Kars begreift, daß der Mensch von dem Schicksal gestaltet wird in unbarmherziger Laune.

Er hatte sich dazu angehalten, öfter in die Kirche zu gehen. In früheren Jahren hat er keinen Sonntag ausgelassen. Mancher Spruch ist in seinen Gedanken hängengeblieben. Im Laufe der Jahre hat er sie oft genug gehört, denn Pastor Lorentz weiß, daß es gut ist, der Gemeinde oft das gleiche zu Ohren zu bringen, damit es nicht vergessen wird. So hat er viel darüber geklagt, daß der Mensch nichts anderes wäre als Spreu und wie ein Rohr im Winde.

Iben Kars hat dieses Wort in sich bewahrt. Er hat es nicht seinem Herzen mitgeteilt. Wie man eine Merkwürdigkeit nicht vergißt, so hatte er dieses vergleichende Wort im Gedächtnis behalten. Was wußte Pastor Lorentz von Menschen, die stark auf dem Boden stehen, der ihnen gehört, daß er sie mit dem Rohre verglich, unter jedem Windhauch gebogen?

In dieser grauen Stunde zwischen Nacht und Tag entsann sich Iben Kars dieses Wortes. Er fühlte, wie er einer Erkenntnis zu unterliegen begann. Hastig bäumte er sich gegen sie auf.

Auf dem Tische in der Kammer, vor ihm steht eine Uhr. Es ist eine schwache Uhr, ein blechernes Ding, irgendwo her von einem Schützenfest, wert, daß sie längst beiseite gestellt wäre. Manchmal aber ist man mildtätig zu solchen Dingen und läßt sie gewähren.

In diesem Augenblick, wo Iben Kars aufbegehrte, griffen seine großen rücksichtslosen Hände nach dieser Uhr. Es mußte in dieser Minute etwas da sein, was sie zerbrechen konnten.

Er packte zu, doch seine Hand zitterte, und es gelang ihm nicht, das Gehäuse der Uhr zu zerdrücken.

Schwach war seine Hand geworden im Zittern. Sie vermochte nicht, um eine Uhr, die nicht der Rede wert war, sich zu schließen.

Gleichmütig tickte die Uhr.

Es war eine eintönig mahnende Stimme, die in ihr aus der Dunkelheit aufstieg, als wollte sie unerbittlich den Weg weisen wie der uralte Totensang: »Krup unner, krup unner, de Welt is di gram.«

Iben Kars erschrak. Sein Kopf sank nach vorn und sein Mund flüsterte: »Das meiste Brot wäre wohl nun gegessen.«

So alt war Iben Kars, und er begriff, daß er es war. Frau Drees verriet sich mit keinem Wort vor Christian. Sie schwieg darüber, daß sie Lisas Stimme bei ihm im Schuppen gehört hatte. Sie sah ihn nach wie vor freundlich an. Ja, er gefiel ihr, warum sollte sie sich schämen, das einzugestehen? Sie besprach nun mit ihm auch die Wirtschaft. Er bekam auch den Platz am Tisch, wo Drees einst gesessen hatte.

»Hier sitzt du besser«, sagte sie, »näher zum Herd.« Später sagt sie auch mal: »Da saß Drees immer.«

Sie spricht jetzt öfter über den toten Mann. Sie will wohl damit andeuten, daß es ihr nichts mehr ausmacht, seiner zu gedenken. Sie erzählt von seinen Angewohnheiten, von seinen Fehlern und von den wenigen guten Seiten, die er gehabt hatte. Sie spricht von ihm wie von einem Bekannten, dessen man sich zufällig erinnert.

Einmal sagt sie auch: »Es mußte alles groß hergehen bei ihm. Zur Hochzeit gab er noch tausend Mark zu. Es sollte ganz was Besonderes werden, diese Hochzeit. Später kam heraus, daß er das Geld geborgt hatte. Es mußte mit Zinsen zurückgezahlt werden. Wir hatten lange an der Hochzeit zu leiden.«

So also war Drees gewesen. Er hätte besser wirtschaften können, doch der Hof am See hatte eine böse Schwelle, und Drees, der es wußte, glaubte wohl, daß der Hof ihm doch unter den Händen weglaufen würde, ganz gleich, wie er haushalten möchte.

Davon allerdings erfuhr Christian nichts.

Frau Drees mußte jetzt auch öfter an Iben Kars denken. Er tat ihr leid, und sie konnte sich wundern, daß sie in Gedanken an ihn soviel Mitgefühl verschwendete.

Ja, Frau Drees schien verwandelt. Sie hatte gar kein so hartes Herz, wie sie oftmals glauben machen wollte.

Christian belohnte die Sorgfalt, mit der sie ihn nun umgab. Er ließ von seinen Abenden im Schuppen, blieb nach den Mahlzeiten am Tisch sitzen und wurde wieder gesprächiger.

Emilie sah das anfangs mit Verwunderung. Dann, eines Abends, begriff sie, wie diese Sorgfalt der Frau Drees zu deuten wäre.

Bestürzt blickte sie auf ihre Tante, sprang auf, lief in ihre Stube und weinte.

*


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