Heinrich Seidel
Kinkerlitzchen
Heinrich Seidel

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Pannemann's Memoiren.

Ich wusste ganz bestimmt, dass in dem Nachlass meines Freundes Pannemann sich seine Memoiren finden müssten. Er selber hatte oftmals davon gesprochen und auch brieflich ihrer erwähnt. Unser gemeinschaftlicher Barbier, Herr Siebentritt, hatte ihn einstmals betroffen, als er vor einem kleinen Wandschränkchen stand, in dem er eine Flasche Gilka für gewöhnliche und eine Flasche Daubitz für ausserordentliche Fälle stehen hatte. Im untersten Fache dieses Behälters hatte ein Manuscript gelegen aus Foliobogen, mit der grossen, etwas sperrigen Handschrift Pannemanns beschrieben. Dieser hatte einige der Blätter emporgehoben und wieder fallen lassen und gesagt; »Det sind meine Memoiren!« So wenigstens gab der Barbier diese Aeusserung wieder, obwohl es bei der grossen Bildung meines Freundes Pannemann unwahrscheinlich ist, dass er sich also im Dialect ausgedrückt hat. Herr Siebentritt schätzte den Umfang dieses Manuscripts auf etwa 2¾ Pfund.

Nun fehlte es aber nicht an gegentheiligen Stimmen, die einerseits behaupteten, Herr Pannemann habe aus Familienrücksichten diese Schriften schon bei Lebzeiten wieder vernichtet, während andrerseits die Sage ging, Frau Pannemann habe in ihrer Unkenntniss des Werthes dieser Blätter sie zum Fensterputzen, zum Feueranmachen oder sonst zu irgend geheimnissvollen Wirthschaftszwecken verwendet. Ja, es gab einige, und zu diesen gehörten die meisten Stammtisch-Genossen des Verewigten, die an die Existenz dieser Memoiren überhaupt nicht glaubten, sondern die ganze Sache für Mumpitz erklärten.

Eine Studienreise, unternommen für mein neuestes Werk: »Vergleichende Uebersicht aller deutschen Biere von Bedeutung«, hielt mich leider von Berlin fern, als mein Freund Pannemann starb und begraben ward, denn ich sass gerade in München und Umgegend in der tiefsten Arbeit und konnte diese, ohne Schaden für die rechtzeitige Vollendung meines Werkes, nicht unterbrechen. Sofort aber nach meiner Rückkehr machte ich mich auf, um die Angelegenheit mit den Memoiren auf jeden Fall klar zu legen. Ich kann wohl sagen, und der Leser wird mir Recht geben, dass ich in diesem Falle vom Glücke aussergewöhnlich begünstigt worden bin, denn machte ich mich nur einen Tag, ja ich möchte sagen eine Stunde später, ja eine Minute später auf den Weg, so wäre dies kostbare Manuskript wahrscheinlich auf ewig verloren gewesen. Als ich nämlich in die Nähe des Pannemann'schen Hauses gelangte, sah ich den jüngsten Sprössling Lude Pannemann aus der Hausthür treten, mit einem in Zeitungspapier gewickelten Packet unter dem Arm. Ich weiss nicht, aus welchem Grunde – aber wie ein Blitzschlag durchfuhr es mich: »Das sind die Memoiren!« Ich folgte dem Jungen, der in der nächsten Querstrasse die Treppe eines Gemüsekellers hinabstieg, ich zögerte eine Weile und ging ihm auch dorthin nach. Der Krämer hatte die Papiere auf der Wage liegen und auf den ersten Blick erkannte ich Pannemann's Handschrift.

»Knapp vier Pfund«, sagte er eben, »na, et sind scheene jrosse Bogen, hier haste drei Nickel, Ludeken.« Damit warf er das Geld auf den Tisch, der Junge nahm es vergnügt und rannte die Treppe hinauf. Ich habe später in Erfahrung gebracht, dass er diesen Erlös aus dem literarischen Nachlass seines Vaters in Cigarren und Murmeln angelegt und den Rest in Benno von Donat'schen Eisbonbons verprasst hat.

Ich hatte mich unterdess durch einen schnellen Ueberblick überzeugt, dass die wirklichen Memoiren vor mir lagen, und versuchte auf diplomatische Weise das Manuskript in meinen Besitz zu bringen. Ich wolle einen grossen Drachen für meinen Jungen bauen, sagte ich, und die schönen festen Schreibpapierbogen schienen mir wohl geeignet für meinen Zweck. Allein, meine Gier auf den Erwerb dieser Blätter musste doch wohl zu sehr durchgeblickt haben, denn der Mann machte unverschämte Forderungen. Wir handelten wohl eine Viertelstunde lang, doch als ich zuletzt einen neuen Käufer die Treppe hinabkommen hörte, griff ich schnell zu, und für 2 Mark 80 Pf. gingen die werthvollen Blätter in meinen Besitz über. Der Grünkrämer rief mir mit einer gewissen Ironie nach: »Na, wenn Sie mal wieder was brauchen!« allein, er wusste nicht, dass ich gern 4, ja 5 Mark für dieses Manuskript gegeben hätte, wäre es nicht anders zu erlangen gewesen. Zwar wurde ich bei der Durchsicht etwas enttäuscht, denn ich hatte Aufklärungen erwartet über gewisse kommunale Angelegenheiten, in denen der Verewigte eine Rolle gespielt hatte, ich hatte nähere Nachrichten erwartet über das Verhältniss zu seinem Onkel, dem bekannten Neumann, der die sieben Häuser und keine Schlafstelle hatte, auch glaubte ich aus diesem Manuskript Näheres zu erfahren über gewisse mystische Vorgänge in dem Kegelklub »Sandhase«, die vor Jahren so viel Staub aufwirbelten, allein von allen diesen Dingen war in den Memoiren nichts zu finden. Auch über seine unglückliche Liebe zu seiner Kusine, Karoline Piefke, die später einen reichen Bierbrauer mit sieben Kindern heirathete und dann bald, theils an gebrochenem Herzen, theils an der Wassersucht starb, fand sich keine Zeile. Das Manuskript enthielt nur Nachrichten über die Jugendzeit des Verewigten bis etwa zum zwanzigsten Jahre, dann hatte der leider so unerbittliche Tod dem Schreiber die Feder aus der Hand genommen. Ausserdem fehlen einundzwanzig Blätter am Anfange der Memoiren, die wie aus späterer Bezugnahme hervorgeht, von den Pannemann'schen Ahnen und von bemerkenswerthen Ereignissen vor und während seiner Geburt gehandelt haben. Durch meine Nachforschungen ist festgestellt, dass diese Blätter gelegentlich von Frau Pannemann in der Wirthschaft verbraucht worden sind; zu welchen Zwecken konnte ich nicht mehr in Erfahrung bringen.

Möge es mir nun vergönnt sein, ein besonders anziehendes Stück aus den Memoiren meines verstorbenen Freundes Pannemann hier zum Abdruck zu bringen, und ich hoffe, dass den geschätzten Leser in Folge dieser Probe schon nach mehr gelüsten wird.

Die rothe Mieze.

Als ich die rothe Mieze kennen lernte, waren wir beide vierzehn Jahre alt. Man hatte ihr diesen Namen gegeben wegen ihrer Haare, die so roth waren, als seien sie mit dem Blute der Pferde gefärbt, die ihr Vater schlachtete. Ich lernte sie bald sehr schätzen, denn Pferde-Knackwurst war mein Leibgericht, und sie hatte immer einige für mich in der Tasche. In den Gebäuden, die den Hof des Schlachthauses umgaben, waren viele einsame und verschwiegene Winkel, wo man diese guten Dinge ungestört verzehren und sich allerlei erzählen konnte.

Die rothe Mieze war sehr dünn und schlank gewachsen, weshalb sie auch den zweiten Beinamen »die lange Latte« führte; ihre Stimme war etwas rauh und verschleiert, und in meinen späteren Jahren wurde ich immer an sie erinnert, wenn ich die dicke Hulda, deren fünfundzwanzigjähriges Biermamsellen-Jubiläum ich noch mit gefeiert habe, reden hörte. Aber die Stimme der rothen Mieze hatte immer was seltsam Ergreifendes für mich, besonders wenn sie sang. Sie wusste eine grosse Menge der schönsten Volkslieder auswendig, z. B.: »Friederika, Friederika, komm' mit mir in's Gras«, oder »Von Hamburg geht's nach Ritzebüttel«, oder »Ich bin der kleine Postillion«. Besonders aber rührte es mich, wenn sie das schöne Lied sang:

»Röschen hatte einen Piepmatz
In dem kleinen Vogelhaus . . . .«Dieses Lied muss demnach viel älter sein, als man gewöhnlich annimmt.   Anm. d. Herausgeb.

Ach, wir hatten ein so inniges Mitleid mit dem armen Röschen, weil ihr der kleine Vogel weggeflogen war und nicht wieder kommen wollte, und als die rothe Mieze eines Tages einmal so recht ergreifend schloss:

»Lieber Vogel komm doch wieder!
Doch der Vogel kam nicht mehr.«

Da fielen wir uns um den Hals und schluchzten und weinten wohl eine Stunde lang, dass unsere Thränen vereint wie ein Bächlein aus zwei Quellen auf die Erde flossen, und wir uns nachher einen anderen Platz suchen mussten, weil wir sonst nasse Füsse bekommen hätten.

Die rothe Mieze wusste auch schöne schauerliche Geschichten zu erzählen, denn in dem Hause ihres Vaters gab es allerlei Spuk. Besonders in finstern Winternächten schlichen die Geister der geschlachteten Droschkenpferde um das Haus herum, und waren diese Thiere im Leben schon von kümmerlicher Figur gewesen, so sahen ihre Gespenster nun gar erbarmungswürdig elend aus. Sie blickten mit mattglühenden Augen aus finstern Höhlen hervor und standen oft lange an eine Wand gelehnt, um sich zu erholen. Sie schnoben hungrig durch die Ritzen der Fensterladen und knabberten kraftlos an den Thürklinken, und ihre Zungen hingen ihnen vor Mattigkeit lang aus dem Maule. Sie waren nur zu verscheuchen, wenn man ihnen mit dem grossen Schlachtmesser drohte. Dann lösten sie sich langsam in einen traurigen grauen Nebel auf und kräuselten sich matt um die Ecke.

Am liebsten aber hörte ich folgende Geschichte, die die rothe Mieze mir, wer weiss wie oft, erzählen musste. Als sie etwa acht Jahre alt war, wurden grosse Vorbereitungen zu einem Feste im Hause gemacht, obwohl sonst der Vater keine Gesellschaft bei sich sah, sondern es vorzog, mit seinen Freunden in der Weissbierstube von Kuleke zu verkehren. Es ward ein köstliches Festmahl, bestehend aus Nudelsuppe, Erbsen, Sauerkohl und Eisbein, und einer geschmorten Füllenkeule mit Brühkartoffeln zubereitet und für reichliche Vorräthe von Weissbier, Gilka, »Luft« und altem Korn Sorge getragen. Um die Mittagsstunde kam dann eine Anzahl von behäbigen Männern mit rothen Gesichtern auf Schlächterwagen vorgefahren; es waren die sämmtlichen Pferdeschlächter von Berlin, und es war bemerkenswerth zu sehen, wie so lebensmüde und dürftige Schlachtopfer, gleich den ihren, diese Männer doch augenscheinlich sehr wohl zu ernähren vermochten.

Sie setzten sich behäbig zu Tische, sprachen nicht viel, aber assen und tranken sehr tapfer und nach Tisch verschwanden sie in ungeheuren Wolken von Tabaksrauch, indess weise Gespräche und erfrischende Getränke ihnen die Zeit gar lieblich kürzten. Dies dauerte bis um die Zeit der Dämmerung. Dann ward die rothe Mieze von ihrem Vater in ein Nebenzimmer geschickt und eingeschlossen. Sie hörte nun, wie die Männer sich alle bedächtig auf den Hof hinausbegaben, und voller Neugier spähte sie so lange, bis sie in dem geschlossenen Fensterladen einen Ritz fand, der ihr gestattete hinauszublicken. Ein Schauer überlief sie, als sie bemerkte, was dort geschah. Einer der Männer grub unter dem alten Hollunderbaum mit grosser Emsigkeit ein Grab. Dann brachte der Vater feierlich einen schmalen und länglichen Kasten, mit schwarzem Bande umwunden und wie ein kleiner Sarg anzusehen. Diesen that er in die Grube, und nun ward diese eilfertig wieder geschlossen. Sodann bildeten die Männer einen Kreis um diesen Ort, zogen sämmtlich ihre langen Schlachtmesser hervor und schärften sie taktmässig mit dem vierkantigen Stahl, den jeder Schlächter an einem langen Riemen an seiner Seite trägt. Dann spiessten sie die Messer in einen Kreis um das Grab, ergriffen eine bereitstehende Weisse und hielten einen feierlichen Umtrunk. Der letzte goss den Rest auf das Grab. Ein Jeder zog sein Messer nun wieder hervor, und diese vor sich hertragend, kehrten sie in feierlichem Zuge in das Haus zurück, wobei sie sangen:

»Ruhe sanft, und nicht gemuckt!
Blut hast Du genug geschluckt!«

Die rothe Mieze hatte lange nicht gewagt, Jemanden um diese seltsame Zeremonie zu befragen, bis sie endlich die alte Grossmutter darum anging. Diese erklärte ihr, dass dort das Schlachtmesser begraben liege, mit dem der Vater 1000 Pferde geschlachtet habe. Messer, die so viel Blut getrunken haben, werden gefährlich, weil die Gewohnheit des Mordens eine wilde Blutgier in ihnen erzeugt, so dass sie den Leuten die sich ihrer bedienen, selbstständig in die Arme oder Beine fahren. Dieses Messer hat in der letzten Zeit sich an seinem Nagel an der Wand stets unruhig bewegt, wenn draussen ein Droschkenpferd vorbeikam, ja die alte Grossmutter wollte einmal bei solcher Gelegenheit ein leises blutgieriges Wiehern von ihm gehört haben. Das Letzte erscheint mir aber unwahrscheinlich, denn die gute Frau war stocktaub.

Das war die Geschichte von dem begrabenen Schlachtmesser, und ich sehe die rothe Mieze noch immer vor mir, wie sie diese Geschichte erzählte. Sie machte dabei ihre grünen Augen so gross wie Ostereier und ihre Stimme klang noch weit heiserer als gewöhnlich und so rauh wie ein erkältetes Reibeisen.

Später, als ich in die Buchbinderlehre kam, wo ich Gelegenheit fand, mir meine hervorragende Bildung anzueignen, habe ich die rothe Mieze aus den Augen verloren. Nachher erfuhr ich, dass sie aus angeborener Liebe zur Musik einen Orgeldreher geheirathet hat, mit dem sie das deutsche Reich und die umliegenden Länder zum Zweck der Ausübung ihrer Gesangskunst bereist.


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