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Sechstes Kapitel.

Nach dem Weggang des Polizeibeamten hatte sich Hanna in ihr Zimmer eingeriegelt. Sie wollte niemand sehen, auch Dr. Bertolinescu wurde abgewiesen.

Aber auch nach der Verhaftung Denkandis sollte sie noch nicht zur Ruhe kommen.

Wenige Stunden später war schon die Staatsanwaltschaft mit ihrem Stabe zur Stelle. Endlose Protokolle wurden aufgenommen, und die Leiche ihres Vaters, der Schreib- und Arbeitstisch von verschiedenen Seiten photographiert. Später wurde die Leiche Dr. Seylers, auf die der Staatsanwalt vorerst Beschlag legte, abgeholt, um seziert zu werden.

Neben dem Schmerz um den tragischen Verlust ihres Stiefvaters, verließ Hanna der Gedanke an den armen Denkandi nicht, der ihrer innersten und festesten Überzeugung nach an dem ihm zur Last gelegten Verbrechen ebenso unschuldig war, wie sie selbst.

Dann sprangen ihre Gedanken auf Juan über.

An ihn hatte sie in der Aufregung des Tages überhaupt nicht mehr gedacht. – Was mochte sein sonderbares Benehmen heute morgen zu bedeuten haben? – Noch nie hatte sie den sonst so ruhigen und ernsten Mann in einer so furchtbaren Erregung gesehen, wie heute morgen. Erst seine Hast und Eile, Ihren Vater kennenzulernen, und dann das spurlose Verschwinden aus der Wohnung in der Liebigstraße, war zum mindesten recht seltsam.

Hanna ging langsam zum Fenster, das sie weit öffnete.

Außer ihr und Frau Martens war niemand in der Wohnung, denn Professor Bertolinescu war in das nicht allzuweit entfernte Hotel Imperial am Opernplatz übersiedelt. – –

Unten brannte die Mittagssonne auf dem vor Hitze flimmernden Asphaltpflaster. – Bei Gott –! Es war kein Vergnügen, sich in dieser Glut ins Freie zu wagen. Und dennoch – – Sie mußte Juan aufsuchen, und zwar unverzüglich. – Sie wollte Aufklärung über sein seltsames Benehmen von heute vormittag fordern.

Zu ihrem Schrecken teilte die Besitzerin der Pension Sylvana Hanna mit, daß Herr de Souza Miranda schwer erkrankt sei. Gegen Mittag sei er mit schwerem Fieber in die Pension zurückgekehrt und habe ganz irre gesprochen, doch verstand niemand recht, was er wollte, da er sich in seinen Delirien der spanischen Sprache bediente. Ein eilends herbeigerufener Arzt ordnete seine sofortige Überführung nach dem städtischen Krankenhaus an, und das Sanitätsauto habe ihn vor ungefähr zwei Stunden geholt. »Ob Hanna eine Verwandte des Argentiniers sei?« fragte die Pensionsinhaberin. Und als das Mädchen, unfähig, ein vernünftiges Wort hervorzubringen, nur schweigend nickte, händigte ihr die Frau den Schlüssel zu Juans Zimmer aus. Da Herr de Souza Miranda die Miete für zwei Monate im voraus bezahlt habe, bliebe das Zimmer natürlich zu seiner Verfügung.

Mit der elektrischen Bahn fuhr Hanna sofort nach der Paul-Ehrlichstraße, um Juan im Krankenhaus aufzusuchen, doch wurde sie nicht vorgelassen. – Der Arzt habe jeglichen Besuch aufs strengste verboten. –

Zu einer direkten Gefahr gäbe das Befinden des Argentiniers keine Befürchtung, doch sei sein Zustand, es handle sich voraussichtlich um ein schweres Nervenfieber, immerhin nicht unbedenklich.

Hanna gab ihre Karte ab, erklärte, sie sei selbst Medizinerin und Herr de Souza Miranda ihr Bräutigam. – Sie bat, daß man sie sofort von einer eventuellen Veränderung in seinem Befinden, sei es zum Guten oder zum Schlimmen telephonisch in Kenntnis setzen möge. – –

Halbtot, wie gerädert, kam Hanna wieder zu Hause an, und legte sich, nachdem sie das Zimmer verdunkelt hatte, angekleidet auf ihr Bett.

Zu allem Unglück kam nun auch noch die Krankheit Juans.

In der weiten, großen Stadt hatte sie niemanden, keinen Freund, keinen Bekannten, mit dem sie sich hätte aussprechen können, und ihr Bruder Hartwig konnte vor morgen abend nicht hier sein.

Der einzige, der ihr hätte raten können, war Denkandi, und der benötigte selbst am allerdringendsten der Hilfe. – Armer Denkandi! Er war bestimmt unschuldig, und sie konnte ihm nicht helfen.

Hatte sie denn wirklich niemand, keinen Freund, dem sie sich anvertrauen, der ihr raten und beistehen könnte – –?

Mit fiebrigen Augen starrte Hanna auf die Deckenmalerei, die sich in dem verdunkelten Zimmer undeutlich von ihrem helleren Untergrunde abhob.

Und da erschien plötzlich ein ernster, schöner Männerkopf mit wohlgepflegtem Vollbart vor ihrem Geiste. Die großen, etwas schwärmerischen Augen sahen Hanna vorwurfsvoll an. – – Professor Delacoste – –! Ja, er hatte recht, Hanna Vorwürfe zu machen. Warum hatte sie nicht sofort an ihn gedacht.

Was hatte er ihr vor wenigen Tagen beim Abschied in Lausanne gesagt – –?

»Ihr Leben liegt klar und heiter vor Ihnen und Ihrer sonnigen Jugend, chere demoiselle, aber es kommen vielleicht auch einmal düstere Tage; und wenn es Sie jemals nach einem treuen Freund und Ratgeber sehnt, dann verfügen Sie voll und ganz über Ihren alten Professor und treuen Freund Delacoste. – –«

Ja –! Professor Delacoste mußte ihr raten. – Er würde sie nicht im Stiche lassen. – –

Sie sprang auf, und zog die Jalousien in die Höhe, daß das helle Sommerlicht ins Zimmer flutete. Dann setzte sie sich schnell an ihren Schreibtisch.

Die Worte flossen ihr nur so in die Feder, und in dem großen langen Brief nach Lausanne schrieb sich Hanna die Last und das Leid von ihrer Seele. Je länger sie schrieb, desto ruhiger wurde sie, desto freier fühlte sie sich. – Sie wußte, daß die herzlichen Abschiedsworte Delacostes keine hohlen konventionellen Phrasen waren, in deren Gebrauch gerade die Franzosen Meister sind, sondern die Worte ihres verehrten Professors, der sich ihr Freund nannte, mußten aus dem Herzen gekommen, mußten ernst gemeint gewesen sein. –

Und ihr Vertrauen sollte tatsächlich nicht getäuscht werden.

In Frankfurt hatte sich in den nächsten Tagen nichts Neues ereignet. Denkandi schmachtete noch immer in Untersuchungshaft und Juan war noch schwer krank, so daß eine persönliche Aussprache mit ihm noch nicht möglich gewesen war. – Bertolinescu, gegen den Hanna, ohne sich über den Grund Rechenschaft geben zu können, eine starke Abneigung verspürte, weilte auch noch in Frankfurt, und ihr Bruder Hartwig, der zwei Tage vorher von Wilhelmshaven angekommen war, hatte seinen Kommandeur um Nachurlaub gebeten, da die Leiche seines Vaters immer noch in der großen Halle des Sachsenhäuser Friedhofs lag, und von der Staatsanwaltschaft noch nicht zur Bestattung freigegeben worden war.

Endlich lief die sehnlichst erwartete Antwort Delacostes ein.

Hanna hatte den Brief selbst in Empfang genommen und sich mit ihm in ihr Zimmer zurückgezogen.

Vor ihrem Schreibtisch sitzend überflog sie die engbeschriebenen Seiten feinen Überseepapiers, welche die leichten, feinverschnörkelten, typisch französischen Schriftzüge Delacostes trugen.

Der Brief gab ihr Trost und neue Hoffnung zugleich.

In seiner herzlichen, verbindlichen Art, versicherte sie Delacoste seiner aufrichtigsten, innigstgefühltesten Teilnahme, und bedauerte, daß es die weite Entfernung verbiete, zu ihr zu eilen und ihr die Hand drücken zu können. – –

»Ich bedauere es um so mehr, chere demoiselle Hanna,« schrieb er, »fern von Ihnen zu sein, als Sie niemanden haben, der Ihnen in diesen schweren Tagen mit Rat und Tat zur Seite stehen kann, und bin glücklich, Ihnen einen guten Freund empfehlen zu können, bei dem Ihre Angelegenheit in den besten Händen ist, falls Sie sich entschließen wollten, ihn zu konsultieren, wozu ich Ihnen aber dringend raten möchte, denn er ist der einzige, der Ihnen unter den gegebenen Umständen helfen kann.

Der Herr ist Privatdetektiv in Frankfurt am Main und heißt Doktor Karl Egon Lutz. Seine genaue Adresse finden Sie im Telephonverzeichnis oder Adreßbuch Ihrer Stadt.

Mit Herrn Doktor Lutz bin ich von Lausanne her gut bekannt und befreundet, er hat hier bei Courvoisier und Reiß Jurisprudenz und Kriminalistik studiert.

Begabt mit einem ganz phänomenalen Scharfsinn und einer Intelligenz, die ihn die aussichtslos scheinendsten Kriminalfälle zu einem glücklichen Ende führen ließ, dazu mit dem Benehmen eines vollendeten Gentleman, ist Herr Doktor Lutz unbedingt die geeignetste Persönlichkeit für Sie.

Zwecks Vermeidung, daß er aus Gründen allzustarker Inanspruchnahme Ihnen eventuell seinen Beistand verweigern könne, habe ich es für empfehlenswert erachtet, ihn durch einige Zeilen, die mit gleicher Post abgehen, auf Ihren Besuch vorzubereiten, und ihm streng anbefohlen, meinen lieben, kleinen Schützling ebenso herzlich und freundschaftlich aufzunehmen, wie mich selbst; getreu dem Grundsatz: › Les amis de mes amis sont mes amis.‹ – –«

In tiefe Gedanken versunken saß Hanna eine ganze Weile in ihrem Sessel versunken da.

Sollte sie wirklich einen fremden Herrn mit ihren Nöten behelligen.

Sie hatte wohl selbst schon daran gedacht, einen Anwalt oder Detektiv zu Rate zu ziehen, war aber immer stets davor zurückgeschreckt, diesen Weg zu beschreiten.

Aber durch ihr Zögern kam Denkandi nicht frei, und die Indizien waren zu gravierende, um bei einem Richter, der sich nur von den Tatsachen bestimmen und nicht durch Gefühle leiten ließ, Zweifel an des Türken Schuld aufkommen zu lassen.

Juan war krank, schwer krank, und konnte ihr weder raten, noch vor allem Aufklärung geben über sein eigenes, seltsames Benehmen.

Bertolinescu war selbst zu sehr von der Schuld Denkandis überzeugt, um irgendwelche Schritte in dessen Interesse zu unternehmen, und auch an ihrem Bruder hatte Hanna keinen großen Rückhalt.

Er durfte sogar nicht einmal etwas davon erfahren, daß sie einen Detektiv zu Rate zu ziehen beabsichtigte, sie war überzeugt davon, daß er in seinem verfeinerten Ehrgefühl einen solchen Schritt nicht billigen würde. Höchstwahrscheinlich würde er sogar das Motiv verkennen, das Hanna trieb, Schritte in der Angelegenheit des Türken zu unternehmen.

Nein – –! Sie mußte die Sache allein ausfechten und beschloß, unverzüglich Doktor Lutz aufzusuchen.

Sie hatte das Telephonverzeichnis vom Vorplatz geholt und blätterte nach der Adresse.

»Luther, Lüthi –, Lüttke –, Lutz Adam, Lutz Friedrich –, Lutz, Georg, – hier – Lutz, Karl Egon, Dr. jur., Privatdetektiv, St. Margarethenstraße 8, Telephon Amt Hansa 14 736.

Sie notierte sich die Adresse und sah auf die Uhr, dann setzte sie den Strohhut auf, nahm ihre schwarze Autolacktasche unter den Arm und ging.

Denkandi konnte verlangen, daß sie nichts unversucht ließe, um ihn aus seiner entehrenden Haft zu befreien.

Sie sah das blasse Gesicht und die großen schwermütigen Augen des Türken im Geiste vor sich. Er, der seit über einem Jahre treu zu ihrem Vater gehalten hatte, trotzdem es ihm manchmal schwergefallen sein mochte, sich den Launen des alten Herrn zu fügen, er, der um das körperliche Wohlergehen seines alten Kollegen besorgt war, wie um seinen leiblichen Vater, sollte zum Mörder an ihm geworden sein? Nein –! Hanna konnte es nicht glauben.

Schnellen Schrittes hatte sie ihren Weg verfolgt.

Sie war die Bockenheimer Landstraße hinaufgegangen und bog nun links in die Hohenzollernstraße ein. Dort unten, in unmittelbarer Nähe des prächtigen neuen Polizeipräsidiums, zweigte die St. Margaretenstraße ab.

Denkandi mußte unschuldig sein. – Wer aber war der Mörder?

Hanna konnte auf diese Frage, die sie sich in den letzten Tagen unzählige Male vorgelegt hatte, keine befriedigende Antwort finden.

Wer konnte überhaupt an dem Tod des alten Mannes, der wenig Freunde, aber auch keine Feinde hatte, ein Interesse haben?

Trotz des vorgefundenen Zettels war sie noch gar nicht überzeugt, daß überhaupt ein Verbrechen vorlag.

Bertolinescu hatte den Verdacht geäußert, und der Kriminalkommissar begreiflicherweise den Gedanken sofort aufgegriffen. Einen Vorwurf konnte man ihm dafür gar nicht machen, denn das gehörte schließlich zu seinem Geschäft.

Der Gerichtsarzt, der mit dem Untersuchungsrichter später erschienen war, hatte zwar auch die Ansicht vertreten, daß Seyler einem Verbrechen zum Opfer gefallen sei, mußte sich aber die Beweisführung bis nach erfolgter Sezierung der Leiche aufheben.

Nun war Hanna an ihrem Ziele angelangt. Herr Doktor Lutz würde schon Licht in die dunkle Angelegenheit bringen.

Sie setzte das größte Vertrauen in den von Delacoste empfohlenen Detektiv, bevor sie ihn überhaupt gesehen hatte.

Hanna betrat das Haus und stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf.

Auf einem kleinen Messingschild las sie den Namen Dr. Karl Egon Lutz. – Dort zog sie die Klingel.

Eine Frau öffnete und hieß sie in eine Art Salon eintreten.

Der Raum, der mit vornehmer Eleganz möbliert war, hatte gar nichts von dem Durchschnittswartezimmer eines Juristen an sich. Einige wenige, aber kostbare Stiche, meist aus der griechischen Mythologie, hingen an den Wänden. Auf dem großen runden Eichentisch in der Mitte des Zimmers lagen mehrere in Leder gebundene Bücher. Gedichte von Heine, Rückert, Eckstein.

Während Hanna einen herrlichen Stahlstich, das Urteil des Paris darstellend, betrachtete, öffnete sich von unsichtbarer Hand, fast lautlos, die Tür zum Nebenzimmer und eine männliche Stimme rief:

»Darf ich bitten –!«

Überrascht griff Hanna nach ihrer Handtasche und betrat das Zimmer.

Was ihr sonst in die Augen fiel, waren die vielen, vielen Bücher, die ringsum die Wände bedeckten. Außerdem bemerkte sie zu ihrem Erstaunen eine Anzahl kostspieliger Instrumente, wie sie Mediziner und vielleicht auch teilweise Chemiker zu benutzen pflegten. Dann erst fiel ihr Blick auf einen Herrn, der sich bei ihrem Eintritt von einem großen Schreibtisch erhoben hatte.

Er deutete auf einen Sessel neben dem Schreibtisch und sagte höflich:

»Darf ich bitten, Platz zu nehmen, Fräulein Brentano. – –«

Überrascht sah Hanna auf den jungen Herrn, der sie mit dem Namen angeredet hatte.

Er mochte kaum die Zwanzig überschritten haben, war gut, sogar elegant gekleidet und hatte ein bartloses, ausdrucksvolles Gesicht, das an einen Schauspieler erinnerte.

Hanna hatte der Aufforderung, Platz zu nehmen, Folge geleistet. Sie sah ihr Gegenüber etwas unsicher an und sagte zögernd:

»Verzeihung, ich möchte gern Herrn Doktor Lutz sprechen. –«

»Der steht vor Ihnen –«, sagte der Herr lächelnd. »Ich gehe doch nicht fehl, wenn ich Fräulein Brentano in Ihnen vermute?«

Hanna betrachtete ihr Gegenüber nun aufmerksamer.

Bei genauem Zusehen merkte man doch, daß Herr Doktor Lutz etwas älter war, als er schien, immerhin, so jung, er mochte im günstigsten Falle achtundzwanzig Jahre zählen, hätte sich Hanna den Detektiv nicht vorgestellt.

»Wollen Sie nicht Platz nehmen?« forderte sie Lutz noch einmal auf. »Sie scheinen überrascht zu sein, daß ich, ohne Ihre Namensnennung abzuwarten, bereits wußte, mit wem ich die Ehre habe. Da Ihre Tasche die deutlich sichtbaren Initialen H. B. trägt, und ich Ihren Besuch heute morgen erwartete, war dieser Rückschluß nicht allzu schwer. –«

»Sie haben auf meinen Besuch gerechnet?« fragte Hanna, die es sich inzwischen in ihrem Lehnsessel bequem gemacht hatte.

»Jawohl, gnädiges Fräulein. Ich erhielt heute vormittag einen Brief meines Freundes Louis Delacoste aus Lausanne, worin mir Ihr Besuch avisiert wurde. Ich bin aus diesem Grunde auch zu Hause geblieben, denn Ihre Geschichte interessiert mich.«

»So kennen Sie bereits den Zweck meines Besuches?«

»Ich vermute ihn wenigstens. Er dürfte mit dem Tod Ihres Stiefvaters in Zusammenhang stehen.«

»So ist es, Herr Doktor«, sagte Hanna, die zu der ruhigen, bescheidenen und doch sicheren Art des Detektivs Vertrauen zu fassen begann. »Herr Doktor,« fuhr sie fort, »wenn Sie durch die Zeitungen, oder vielleicht auch durch Ihre Beziehungen zu der Polizei über die Umstände, unter denen der Tod meines Vaters erfolgt ist, orientiert sind, so ist Ihnen sicher auch bekannt, daß die Kriminalpolizei den Assistenten meines Vaters unter dem Verdacht des Mordes festgenommen hat. – Diesem Herrn gilt eigentlich mein Besuch bei Ihnen. – Ich lege jedoch besonderen Wert auf die Betonung der Tatsache, daß ich zu dem Assistenten meines Vaters in keinen näheren Beziehungen stehe, und die Bitte um Ihre liebenswürdige Hilfe nur meinem Gerechtigkeitsgefühl entspringt, denn obgleich alle Umstände gegen diesen Herrn Doktor Denkandi sprechen, so bin ich persönlich an seiner völligen Unschuld an dem gemeinen Verbrechen, das ihm die Polizei zur Last legt, überzeugt. –«

Lutz lächelte leise, » Qui s'excuse s'accuse«, dachte er, laut sagte er:

»Gnädiges Fräulein, zur Vereinfachung dürfte es sich vielleicht empfehlen, wenn Sie mir die Tatsachen von Anbeginn an erzählen würden. Nachher werde ich Ihnen dann sagen können, ob ich Ihnen dienen kann oder nicht. –«

Hanna nickte zustimmend und begann langsam mit ihrem Bericht.

Sie fing mit ihrem Zusammentreffen und der Unterredung mit Denkandi in Basel an, schilderte dann eingehend die Vorgänge, die sich vor und nach der Auffindung der Leiche abspielten, die erregte Debatte Bertolinescus mit Denkandi und die Untersuchung des Kriminalkommissars, die mit der Verhaftung des Türken endete. Sie schloß mit der nochmaligen Versicherung, daß sie Denkandi trotz aller Indizien für unschuldig halten müsse, schon aus dem Grunde, daß sie kein stichhaltiges Motiv für eine derartige Handlungsweise finden könne.

Lutz unterbrach den Bericht Hannas mit keinem Wort. – Er hatte die Hände leicht über seinem rechten Knie verschränkt und mit gesenkten Augenlidern aufmerksam zugehört.

Nachdem Hanna geendet hatte, stand er langsam auf und trat zum Fenster. Dort verharrte er, die Hände über der Brust verschränkt, einige Sekunden in stillem Schweigen.

Hanna hatte inzwischen den Detektiv aufmerksam beobachtet, sie glaubte, daß er nun eine größere Anzahl Fragen an sie richten würde, sah sich jedoch zu ihrem Erstaunen getäuscht.

Lutz hatte nur einen kleinen Notizblock aus seiner Tasche gezogen und machte sich eine kurze Notiz.

»Der Nervus rerum der ganzen Sache ist,« sagte er nachdenklich, »daß die Polizei in dem vorgefundenen Zettel eine Anklage gegen Herrn Denkandi herauszulesen glaubt, und dann natürlich ganz folgerichtig zu seiner Verhaftung schreiten mußte. Dem unbefangenen Beurteiler werfen sich nun zwei Fragen auf, eine so bedeutungsvoll und wichtig wie die andere.

Erstens: Lautet der Inhalt tatsächlich so, wie ihn der Kommissar zu entziffern glauben mußte?

Zweitens: War Ihr Herr Vater der Schreiber des Zettels?«

»Leider dürfte an der einseitigen Deutlichkeit des Inhalts nicht zu zweifeln sein –«, meinte Hanna. »Ich habe den Zettel selbst gelesen und einen anderen Sinn als: Mörder Denkandi Ben der Orientale, läßt das Papier kaum zu. – Und daß mein Vater selbst der Schreiber war, ist zwar nicht erwiesen, aber die Schriftzüge ähneln jedenfalls meines Vaters Handschrift derart, daß jeder objektive Beurteiler, der sich nicht durch Sentiments beeinflussen läßt, an die Schuld das Türken glauben wird. – Ich fürchte in der Tat, daß es um den armen Denkandi schlimm steht. –«

» Jezce Polska nie zgjnela – –«, sagte Lutz halblaut.

»Was bedeuten diese Worte, Herr Doktor?« fragte Hanna.

»Das ist Polnisch, und heißt auf Deutsch: Noch ist Polen nicht verloren. – Auf unseren Fall übertragen, noch ist Denkandi nicht verurteilt. – – Könnten Sie mir«, fuhr Lutz nach einer kleinen Pause fort, »eine Handschriftprobe Ihres Herrn Vaters verschaffen?«

Hanna kramte in ihrer Handtasche. »Ich habe zufällig einen Brief bei mir, den mir mein Vater vorige Woche nach Lausanne gesandt hat.«

»Das ist gut«, meinte Lutz befriedigt, nahm mit der rechten Hand den Brief in Empfang und griff gleichzeitig mit der Linken nach dem Hörer des auf dein Tisch vor ihm stehenden Telephons.

»Entschuldigen Sie, bitte, einen Augenblick, Fräulein Brentano«, sagte er.

Das Amt meldete sich.

»Fräulein,« rief Lutz in den Apparat, »bitte, das Polizeipräsidium –!«

Kleine Pause, dann kam das Polizeipräsidium.

»Bitte, die Abteilung sieben.«

Wieder eine Pause.

»Hier Doktor Lutz. – Ist Herr Kommissar Fischer anwesend?«

Wieder dauerte es eine kleine Weile, bis der Verlangte erschien.

»Hier ist Lutz. – Herr Fischer, ich möchte Sie gern sprechen. – – Jawohl, es ist eilig. – – Wie bitte –? – – Jawohl, ich komme sofort hinüber. – – Wie bitte – –?« Lutz lachte. »Sie haben es erraten. Es handelt sich um den Fall Seyler. – – Das erzähle ich Ihnen alles persönlich, ich habe gerade Besuch. – – In zehn Minuten bin ich drüben. – Auf Wiedersehen. – –«

Lutz hängte den Hörer ein und wandte sich wieder an Fräulein Brentano.

»Die Sache ist eingeleitet, gnädiges Fräulein«, sagte er. »Den Brief behalte ich mit Ihrer Erlaubnis hier und heute nachmittag komme ich zu Ihnen. – Paßt es direkt nach dem Essen –?«

»Ich bleibe den ganzen Tag zu Hause«, antwortete Hanna. »Sie sind jederzeit willkommen. – –«

Bei diesen Worten reichte Hanna dem Detektiv die Hand, die dieser herzlich drückte, nahm ihre Tasche unter den Arm und ging. – –


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