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Viertes Kapitel.

Am Donnerstagvormittag reiste Juan de Souza Miranda ab. Hanna hatte ihm bis zum Bahnhof das Geleite gegeben und versprach ihm nochmals, ihn sofort nach ihrer Ankunft in Frankfurt aufzusuchen.

Die folgenden Tage benützte sie, um ihre Abschiedsbesuche zu machen. Bei Delacoste und den übrigen Professoren, bei ihrer Freundin Delers und einigen anderen guten Bekannten. Inzwischen kam auch der Tag ihrer Abreise heran. Alle Formalitäten, auch die Abmeldung bei den verschiedenen Behörden, waren erledigt. Am Samstagabend erhielt sie einen Brief von Juan, der den Tag vorher in Frankfurt aufgegeben war. Seine Ankunft hatte er ihr bereits telegraphisch mitgeteilt.

Er hätte sich in einer vornehmen Pension im Westendviertel einlogiert und war von der Reinlichkeit, der modernen Bauart und dem eleganten und starken Straßenverkehr der ersten deutschen Großstadt, die er kennenlernte, aufs angenehmste überrascht.

Auch die Altstadt von Frankfurt, wo jedes Haus ein Stück mittelalterliche Geschichte verkörperte, den Römer, wo die deutschen Kaiser gekrönt wurden, den Saalhof, den Rebstock und Goethes Geburtshaus hatte er aufgesucht und freute sich aufrichtig auf den internationalen medizinischen Kongreß, der am Samstag stattfinden sollte. Seine Sehnsucht nach Hanna sei unbeschreiblich, und er erwartete sie noch am Dienstagnachmittag in seiner Pension. Er bliebe den ganzen Tag zu Hause.

Am Montagvormittag trat Hanna die Heimreise an. Leonie Delers brachte sie zur Bahn. Der Schnellzug führte sie über Freiburg, Bern nach Basel, wo sie am Spätnachmittag ankam. Sie ließ ihr Gepäck am Bahnhof und machte einen Rundgang durch die Schweizer Grenzstadt. Basel hat noch nie viel geboten, und auch auf Hanna machte der Ort einen toten, langweiligen Eindruck. Gegen 7 Uhr suchte sie, getreu der Instruktion, die sie von ihrem Vater bekommen hatte, das Hotel Jura, gegenüber dem Bundesbahnhof auf.

Als sie beim Portier ein Zimmer bestellte und ihren Namen nannte, erhob sich aus einem der Sessel im Vestibül ein kleiner, schwarzer Herr im Gehrock, der mit einer Zeitung dort gesessen hatte. Er verbeugte sich höflich vor Hanna.

»Ich habe wohl die Ehre mit Fräulein Brentano aus Lausanne?« fragte er in reinstem Deutsch. »Gestatten Sie, daß ich mich Ihnen vorstelle, Doktor Denkandi-Benvenisti. Auf Wunsch Ihres Vaters habe ich Sie hier erwartet.«

Hanna sah in ein glattrasiertes, jugendliches Gesicht mit stark semitischen, doch nicht unschönen Zügen. Die klugen, dunklen Augen waren durch eine Brille mit runden, dicken, konkaven Gläsern geschützt.

»Seien Sie mir herzlich willkommen, Herr Doktor, sagte Hanna freundlich und reichte dem Assistenten ihres Vaters die Hand. »Haben Sie schon lange auf mich gewartet?«

»Seit fünf Uhr, gnädiges Fräulein«, antwortete der Türke. Er hatte eine weiche, sympathische Stimme. »Nachdem Sie mit dem Einuhrzug nicht angekommen sind,« fuhr er fort, »mußte ich annehmen, daß Sie den Schnellzug benutzen würden, der gegen fünf Uhr hier eintrifft.«

»Ihre Rechnung stimmt, Herr Doktor. Ich kam um fünf Uhr an und habe nur einen Spaziergang durch die Stadt gemacht. Wie geht es Papa?«

Denkandi hatte Hanna nach dem Lesezimmer geleitet, wo beide Platz nahmen.

»Soweit ganz gut, gnädiges Fräulein. Er ist etwas abgespannt, was leicht begreiflich ist, denn in den letzten Wochen hat er sich Tag und Nacht keine Ruhe gegönnt, um das Serum noch bis zu dem Kongreß fertigzustellen.«

»Und ist ihm sein Vorhaben gelungen?« fragte Hanna gespannt.

Ein düsterer Schatten flog über des Türken Gesicht.

»Leider nein«, erwiderte er traurig. »Die Sache war trotz anstrengendster Tätigkeit noch nicht soweit gediehen, daß sie als abgeschlossenes Ganzes vorgeführt werden konnte.«

»Armer Papa«, sagte Hanna. »Er hat so große Hoffnungen darauf gesetzt.«

Der Türke spielte nachdenklich mit seiner Uhrkette. »Ja, ja«, sagte er. »Die Enttäuschung hat Ihrem Herrn Vater auch einen großen Stoß versetzt. Meine Bemühungen, ihn zu trösten und zu beruhigen, haben nicht viel zu bezwecken vermocht. Ich hoffe, daß Ihre Anwesenheit ihn im günstigen Sinne beeinflußt.«

»Hoffentlich wird mein armer Vater nicht krank?« fragte Hanna beunruhigt.

»Nein, nein, gnädiges Fräulein,« rief Denkandi schnell aus, »hierzu liegt nicht die geringste Befürchtung vor. Herr Doktor Seyler hat trotz seines Alters eine vorzügliche Konstitution, lediglich seine psychische Verfassung gefällt mir nicht, wie ich Ihnen ganz offen zugestehen muß, und als Arzt erhoffe ich viel von Ihrer Anwesenheit, die sicherlich eine günstige Einwirkung auf ihn auslöst.«

»Herr Doktor,« sagte Hanna ernst, »Sie verheimlichen mir etwas. Vergessen Sie nicht, daß ich erstens Ihre Kollegin und zweitens auch kein Kind mehr bin. Reden Sie offen. Meinem Vater ist doch, Gott behüte, nichts zugestoßen?«

»Befürchten Sie nichts, gnädiges Fräulein«, sagte der Türke ruhig. »Der physische Zustand Ihres Herrn Vaters ist, wie ich Ihnen schon sagte, so vorzüglich, wie er bei seinen Jahren gar nicht besser sein könnte. Nur seine Gemütsverfassung gibt mir zu denken. Als sich die Fertigstellung des Serums bedauerlicherweise verzögert hatte, bedurfte es meiner größten Anstrengungen, um ihn überhaupt zum Besuch des Kongresses bewegen zu können. Schließlich ging er hin, nachdem ein Kollege aus Bukarest, der bei Ihrem Vater wohnt und erst am Mittwoch abreist, mich in meinen Bemühungen tatkräftig unterstützt hat. Der Kongreß tagte am Samstagvormittag, und Ihr Herr Vater kam in einer unbeschreiblichen Gemütsverfassung aus der Versammlung zurück, in einem Zustand, der mir direkt Angst einflößte. Er rührte beim Mittagessen kaum einen Bissen an und war unter keinen Umständen zur Teilnahme an dem Festessen, das abends im Zoologischen Garten stattfand, zu bewegen. Am Sonntagvormittag empfing er höchst überflüssigerweise noch den Besuch eines Kollegen, nach dessen: Weggang er sich in sein Arbeitszimmer einschloß und niemand, mich einbegriffen, vorlassen wollte.«

»Wissen Sie, wer der Herr war?« fragte Hanna nun ernstlich beunruhigt.

»Nein«, antwortete Denkandi. »Ich selbst habe ihn nicht gesprochen, aber die Haushälterin Ihres Vaters, die ihn flüchtig sah, glaubt, daß es ein Italiener oder Rumäne gewesen ist.«

Hanna erhob sich von ihrem Sessel. »Ich muß so schnell wie möglich nach Hause«, sagte sie. »Können wir heute abend noch fahren?«

»Nein gnädiges Fräulein«, antwortete der Türke. »Vor elf Uhr geht kein Zug mehr, und den zu benützen wäre zwecklos, da er spät in der Nacht ankommt, und da Sie bis zur Abreise des Herrn Doktor Bertolinescu aus Bukarest doch in einem Hotel absteigen müssen, könnten Sie Ihren Herrn Vater heute nacht gar nicht mehr sprechen. Außerdem liegt zu einer Befürchtung auch gar kein direkter Grund vor. Ich hätte Ihnen dies alles gar nicht erzählt, wenn ich nicht wüßte, daß ich außer zu der Tochter auch zu einer Kollegin, einer Medizinerin, sprechen würde. Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte, dann benützen wir morgen früh den Schnellzug um sieben Uhr, mit diesem sind wir gegen Mittag schon in Frankfurt. Ihr Herr Vater erwartet Sie auch gar nicht früher. Wenn ich Ihnen raten darf, gnädiges Fräulein, so lassen wir die Sache nun auf sich beruhen und denken an das Abendessen, denn nach der Reise und in Anbetracht des heißen Sommertages werden Sie hungrig und auch abgespannt sein.«

Am nächsten Vormittag fuhren Hanna und Doktor Denkandi über Freiburg, Karlsruhe, nach Frankfurt am Main, wo sie kurz nach 12 Uhr mittags ankamen.

Für das prächtige Großstadtbild, das der weite, belebte Bahnhofsplatz bot, hatte Hanna kaum einen Blick. Es drängte sie, nach Hause zu kommen, denn trotz aller Beruhigungsversuche Denkandis machte sie sich ernstliche Sorgen über ihren Vater.

Sie ließ ihre großen Gepäckstücke vorläufig an der Bahn und mietete sich für eine Nacht in einem der großen luxuriösen Hotels auf dem Bahnhofsplatz ein.

Während Denkandi im Lesezimmer des Hotels wartete, machte Hanna in ihrem Zimmer etwas Toilette, wechselte die Bluse und steckte sich das Haar frisch auf, dann bestieg sie mit ihrem Begleiter ein Auto, das sie in wenigen Minuten nach der Wohnung ihres Vaters, der die erste Etage eines modernen Hauses in der Liebigstraße bewohnte, brachte.

Während Denkandi den Chauffeur entlohnte, flog Hanna mehr als sie ging die teppichbelegten Treppen hinauf und klingelte im ersten Stock. Eine Frau in mittleren Jahren öffnete.

»Guten Tag Frau Martens«, sagte Hanna und schüttelte der langjährigen Haushälterin ihres Vaters herzlich die Hand.

»Grüß Gott, Fräulein Hanna«, rief die Frau erfreut aus. »Sind Sie nun endlich da. Wir haben mit dem Mittagessen auf Sie gewartet. Der Herr Doktor ist in seinem Arbeitszimmer«, fuhr sie fort, den fragenden Blick Hannas auffangend. Sie nahm dem Mädchen den Hut und die leichte gestrickte Seidenjacke ab und wies auf die Türe des Zimmers, hinter der sich Hannas Vater befand. Diese klopfte und trat schnell ein.

Es war das alte, ihr bekannte Arbeitszimmer ihres Vaters. Rechts vom Eingang, neben dem Kamin, stand der große Nußbaumschreibtisch mit Büchern, Papieren, Zeitschriften und Präparaten überladen. Keine ordnende Hand durfte den Schreibtisch nach dem strengen Verbot ihres Vaters berühren. Die Bücherregale rings an den Wänden waren dicht gefüllt. Dickbauchige Folianten mit gepreßten Lederrücken standen neben unscheinbar aussehenden gehefteten Broschüren. Der lange, glatte Holztisch vor den beiden Fenstern war mit Flaschen, Tiegel, Retorten und anderen wissenschaftlichen Geräten und Instrumenten bedeckt. Neben einem großen Mikroskop ein Behälter mit Bazillenkulturen. In diesem Glaskasten tummelten sich einige weiße Mäuse mit roten Augen. Diese Tiere benötigte Dr. Seyler für seine Versuche.

Am Fenster stand ein hochgewachsener alter hagerer Mann in einem weißen Operationskittel. Vor ihm, auf einer Glasplatte, lag zuckend ein weißes Kaninchen ausgestreckt.

Als sich die Türe geöffnet hatte, legte er, ohne sich umzuwenden, schnell einen Finger auf den Mund, was Hanna veranlaßte, langsam, auf den Fußspitzen, nach einem Stuhl zu gehen und sich still und schweigend niederzusetzen.

Der alte Mann vor ihr, der im Interesse der Wissenschaft die Todeszuckungen des armen Tieres so aufmerksam verfolgte, war ihr Vater. Sie hatte Muße, ihn genau zu betrachten. Alt war er geworden. Sehr alt, in den eineinhalb Jahren, in welchen sie ihn nicht gesehen hatte. Seine hohe Gestalt schien ihr bedeutend gebückter. Graue Haarsträhne fielen über seine hohe, von vielen Falten durchfurchte Stirne, und selbst die scharfen blauen Augen, die bisher noch keiner Brille bedurft hatten, schienen Hanna trüber und umflorter geworden zu sein.

Nun drehte sich Seyler um und erblickte Hanna. Ein kurzes Aufleuchten zuckte über sein faltiges Gesicht.

»Papa! Mein lieber, alter Papa«, rief Hanna aus, dann hing sie an seinem Halse und brach in Tränen aus. Warum sie weinte, darüber wußte sie sich eigentlich selbst keine Rechenschaft zu geben. »Nun bin ich wieder bei dir, mein guter Papa!« schluchzte sie, »und verlasse dich nie wieder.«

Seyler strich leise über den dichten, blonden Scheitel seiner Stieftochter.

»Laß dich ansehen, Kind«, sagte er kurz, aber nicht unfreundlich. Rührungsszenen lagen ihm nicht.

»Groß bist du geworden! Wie alt bist du jetzt, Hanna?«

»Ich werde neunzehn, Papa«, antwortete Hanna immer noch unter Tränen.

Seyler hatte langsam und schwerfällig auf seinem Schreibtischsessel Platz genommen.

»Du siehst kummervoll aus, armer Papa. Bist du krank? Die blaurote Farbe deines Gesichtes gefällt mir gar nicht.«

Seyler machte eine abwehrende Handbewegung.

»Hat dich der Hasenfuß Denkandi auch verrückt gemacht?« knurrte er unwillig. »Ihm wäre es natürlich am allerliebsten, wenn ich mich in die Klappe legen würde und die Decke über die Ohren zöge. Quatsch! Ich bin nicht krank, und mein Serum muß fertiggestellt werden. Nachher kann mich meinetwegen der Teufel holen.«

»Du sollst nicht so reden, Vater«, sagte Hanna und beobachtete gespannt das nervöse Gesicht Seylers, in dessen Mundwinkel scharfe Falten eingegraben waren.

»Ich soll dir auch Grüße bestellen von Professor Delacoste in Lausanne«, fuhr sie in gesucht heiterem Tone fort. »Er hat deine Krebsabhandlung mit großem Interesse gelesen und wünscht dir zu deinen weiteren Arbeiten, besonders zu dem Serum, von Herzen Glück.«

Seyler nickte. »Wo ist Denkandi?« fragte er.

»Er wird wohl drüben sein. Er ist mit mir angekommen.«

»Dann laß uns zum Essen gehen. Die Martens hat mit dem Anrichten auf dich gewartet. Über deine weitere Zukunft sprechen wir heute abend. Wo hast du dich für heute nacht einlogiert?«

»Im Carlton-Hotel, Papa.«

»Es tut mir leid, daß ich dir die Unbequemlichkeit, im Hotel schlafen zu müssen, nicht ersparen konnte.«

»Das macht gar nichts, lieber Papa. Ich wohne gerne in diesen modernen Luxushotels.«

»Geschmacksache«, brummte Seyler. »Ich fühle mich zu Hause wohler. Nun, es ist ja nur für eine Nacht. Da mein Kollege Bertolinescu morgen reist, wollte ich ihn für eine Nacht nicht ausquartieren. Komm zum Essen.«

Das Mittagessen, an dem auch Denkandi teilnahm, verlief schweigend. Kaum daß Seyler den Dessertlöffel aus der Hand gelegt hatte, war er auch schon wieder in seinem Arbeitszimmer verschwunden.

Kopfschüttelnd sah ihm der Türke nach. »Wie fanden Sie Ihren Herrn Vater?«

»Er gefällt mir gar nicht, lieber Herr Doktor«, sagte Hanna traurig. »Ich finde ihn sehr nervös.«

»Gebe Gott, daß er das Serum bald fertigstellt,« meinte Denkandi, »vorher kommt Ihr Herr Vater nicht zur Ruhe.«

Aus dem Arbeitszimmer ertönte die Stimme Seylers, der in ziemlich zornigem Tone nach dem Türken rief. Dieser stand auf und legte ruhig seine Serviette zusammen. »Sie entschuldigen mich, gnädiges Fräulein. Ihr Herr Vater verlangt nach mir.«

Hanna reichte Denkandi seufzend die Hand. Es war kein Vergnügen, mit ihrem Vater arbeiten zu müssen, und es gehörte wirklich die Engelsgeduld und der Gleichmut eines Orientalen dazu, sich in das mürrische, launenhafte Wesen des alten Mannes widerspruchslos zu fügen.

Da Hanna sich völlig selbst überlassen blieb, beschloß sie auszugehen und Juan aufzusuchen. Sie ging zu Fuß die Bockenheimer Landstraße hinauf nach der Pension Sylvana, in der der Argentinier abgestiegen war. Zu ihrer größten Überraschung war Juan aber nicht anwesend. Er sei vor einer halben Stunde ausgegangen, hieß es, und wüßte nicht genau, wann er wiederkäme. Falls sie jedoch Fräulein Brentano sei, so läge ein Briefchen für sie bereit, das Herr de Souza Miranda zurückgelassen habe.

Kopfschüttelnd und ein wenig enttäuscht erbrach Hanna den Umschlag und überflog den Brief, der nur wenige Zeilen enthielt.

Juan teilte ihr in seiner flüchtigen, schlecht leserlichen Handschrift mit, daß er seines Koffers wegen auf das Zollamt bestellt worden sei, auch für den Rest des Tages müsse er sich leider entschuldigen, da er mit seinem Landsmann Sarmeinto, der um zehn Uhr Frankfurt verlassen würde, noch gerne einige Stunden zusammen wäre. Er erwarte jedoch Hanna bestimmt am kommenden Vormittag und bliebe den ganzen Tag zu Hause. Er bedaure unendlich, daß Hanna den Weg nach seiner Pension umsonst gemacht habe und hätte ihr auch gerne einige Zeilen und ein paar Blumen in ihre Wohnung gesandt. Mangels einer Adresse sei ihm dies aber unmöglich gewesen, denn einen Doktor Brentano habe er weder im Adreßbuch noch auf dem Einwohnermeldeamt ermitteln können.

Etwas verstimmt verließ Hanna die Pension Sylvana und schlug den Weg nach dem Zentrum der Stadt ein. Sie ging über den Opernplatz durch die Goethestraße, lies sich von der Menge auf der Hauptwache treiben und kehrte, nachdem sie eine Stunde in einer Konditorei auf der Kaiserstraße verbracht hatte, langsam nach der Wohnung ihres Vaters in die Liebigstraße zurück.

Ihr Vater und Denkandi waren noch im Arbeitszimmer beschäftigt, und um die Herren nicht zu stören, ging Hanna in das Wohnzimmer und schloß sich den Bücherschrank auf. Ihr Blick schweifte über die Titel der Bände. Meistens Klassiker in guten, alten Ausgaben, einige philosophische Werke und Romane, die noch von ihrer Mutter stammten. Marlitt. Heimburg. Eschstruth.

Im untersten Gefach des Schrankes stand ein Kasten aus gepreßtem Leder. Diesen nahm Hanna heraus und begann den Inhalt, lauter Photographien, durchzusehen. Sie nahm ein Brautbild ihrer früh verstorbenen Eltern zur Hand. Die zarte, blonde Frau war ihre Mutter. Der schöne, stattliche Artillerieoffizier mit dem lang ausgezogenen Schnurrbart ihr Vater, der Oberleutnant Brentano, den ein widriges Geschick in der Blüte seiner Jugend hinweggerafft hatte. Das war Hanna selbst, als Kind von zwei Jahren, im Evakostüm auf einem weißen Felle liegend, und hier ihr Bruder Hartwig in Kadettenuniform und als Leutnant im Seebataillon. Hanna hatte die Bilder wieder in den Kasten gelegt und ein ziemlich schmutziges, abgegriffenes Kabinettbild zur Hand genommen. Das war ja ihr Stiefvater als mexikanischer Kapitän. Er mußte doch früher ein stattlicher Mann gewesen sein. Die adlerscharfen Augen blitzen kühn unter dem breitrandigen Panamahut. Der schwere Kavalleriesäbel und die mit Metallschnüren überladene Uniform wirkten zwar ein wenig operettenhaft, machten sich aber an der großen, schlanken Figur doch recht dekorativ.

Hanna sah nach der Firma des Photographen. Rivalda y Gia, Montevideo, las sie in der rechten Ecke des Kartons.

Montevideo war aber doch die Hauptstadt der südamerikanischen Republik Uruguay? Bisher war Hanna stets der Ansicht gewesen, ihr Vater sei in mexikanischer Uniform photographiert. Uruguay war aber auch die zweite Heimat Juans. Das war interessant. Sie nahm das Bild an sich und beschloß, es morgen Juan zu zeigen.

Und noch eine Photographie fand sie, die für Juan sicher von Interesse sein mußte.

Es war die Aufnahme eines Mannes in mittleren Jahren, in der Tracht der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts. In Napoleonspose stand er an einen kleinen Marmortisch gelehnt; das scharfgeschnittene Gesicht hatte um die dunklen Augen einen lauernden raubtierartigen Zug.

Auf der Rückseite des Bildes befand sich eine Widmung in spanischer Sprache. Sie lautete in deutscher Übersetzung:

 

»Seinem Freund und Waffengefährten
in dankbarer Erinnerung für geleistete treue Dienste.

Lopez Jordan.«

 

Hanna steckte die Bilder zu sich und verschloß den Kasten wieder an seinen alten Platz. Dann holte sie aus einem Gefach des Bücherschrankes die Lieder des Mirza Schaffy und vertiefte sich in die herrlichen Gedichte Bodenstedts, bis es langsam Zeit wurde, an das Abendessen zu denken.

Im Nebenzimmer, dem Arbeitszimmer ihres Vaters, vernahm sie plötzlich erregte Laute. Sie unterschied neben der kurzen, scharfen Stimme ihres Vaters und dem weichen, ruhigen Organ Denkandis einen tiefen Baß, der ihr unbekannt war.

Einer Eingebung des Augenblickes folgend, öffnete sie die Türe und trat ein.

Ihr Vater saß mit hochrotem Kopf am Schreibtisch und warf schnell einige chemische Formeln auf ein Stück Papier. Denkandi, eine kleine Injektionsspritze in der linken Hand, hielt ein Reagenzglas über die kleine, blaue Spiritusflamme, eines Glaslämpchens, während ein dritter, Hanna unbekannter Herr, von ungefähr 40 Jahren, mit einem schwarzen Vollbart, neben dem Türken stand und dessen Tätigkeit aufmerksam betrachtete.

Mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung warf Seyler die Feder weg. Gespannt drehten sich die beiden anderen Herren neben ihm um, und während Denkandi das Reagenzglas in einem kleinen Holzgestell unterbrachte, richtete er seine Augen fragend auf Seyler.

»Nun?«

In diesem einen Wörtchen lag eine ganze Welt von Spannung.

»Fertig«, sagte Seyler und strich sich aufseufzend die weißen Haarsträhnen aus der Stirne. »Die Formel ist gefunden.«

Die beiden anderen Herren traten mit freudig überraschten Mienen auf Seyler zu und schüttelten ihm die Hand, dann sagte Denkandi zu Hanna gewandt: »Gratulieren Sie Ihrem Herrn Vater, gnädiges Fräulein. Das Serum ist entdeckt.«

Ein Lächeln huschte für einen kurzen Augenblick über Seylers ernste Züge, als ihm Hanna um den Hals fiel und auf beide Wangen küßte. Er zitterte am ganzen Körper vor Erregung und mußte sich wieder niedersetzen.

Der Herr mit dem Vollbart war inzwischen auf Hanna zugetreten.

»Mein Name ist Bertolinescu«, sagte er in einem etwas hartklingenden Deutsch, das den Ausländer erraten ließ. »Gestatten Sie, mein Fräulein, daß ich auch Ihnen gratuliere. Als Medizinerin wissen Sie vielleicht, was die Entdeckung Ihres Vaters für die Wissenschaft bedeutet.« Hanna reichte dem Herrn schweigend die Hand. Dieser fuhr fort: »Wollen Sie gleichzeitig vielmals entschuldigen, wenn ich Sie aus Ihrem eigenen Zimmer vertrieben habe. Aber mein Freund, Ihr Vater, duldete es auf keinen Fall, daß ich abreiste, bevor sein Serum fertiggestellt sei. Nun kann ich morgen befriedigt die Heimreise antreten.«

»Sie sind in Rumänien zu Hause?« fragte Hanna.

»Zu dienen, mein Fräulein. Ich bin Gerichtsarzt der Staatsanwaltschaft in Bukarest.«

Denkandi hatte inzwischen einige Tropfen einer bräunlichen Flüssigkeit in ein Glas Wasser gegossen das er Seyler hinreichte. »Nehmen Sie einige Tropfen Valeriana«, sagte er. »Sie sind in großer Erregung. Und wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf, Herr Kollege, dann schließen Sie jetzt Ihr Arbeitszimmer ab, werfen uns alle hinaus und legen sich für eine Stunde nieder.«

»Quatsch! Denkandi!« sagte Seyler. »Was Sie nur immer mit Ihren falsch angebrachten Ratschlägen wollen. Ich bin körperlich so gesund wie ein fünfzigjähriger.«

»Zugegeben. Aber Ihr psychischer Zustand gefällt mir nicht«, antwortete Denkandi bedenklich.

Ein Schatten flog über Seylers Gesicht. »Sie sehen Gespenster«, sagte er unwillig. »Mir fehlt nichts. Gar nichts.«

Er hatte auf eine Klingel gedrückt. Frau Martens erschien unter der Türe. »Ist das Abendbrot bereit?« fragte er.

»Jawohl, Herr Doktor.«

»Dann lassen Sie anrichten, und stellen Sie zwei Flaschen Burgeff kalt.«

In den Zügen der Haushälterin malte sich eine freudige Überraschung.

»So darf man endlich gratulieren, Herr Doktor?« fragte sie.

»Ja, ja«, meinte Seyler abweisend. »Macht doch kein solches Aufhebens von der Sache.«

Das Abendessen verlief in heiterster Stimmung. Selbst Seyler war lustig und aufgeräumt und sprach den Speisen und Getränken wacker zu, sehr zur Freude Denkandis, der, als er gegen 11 Uhr Hanna nach ihrem Hotel geleitete, auch seinen freudigen Gefühlen unumwunden Ausdruck gab. Er hatte sich über Seylers Zustand ernstliche Gedanken gemacht und war glücklich, ihn heute abend in gehobener Stimmung verlassen zu haben. An der Entdeckung des Serums halte er wohl ziemlich den gleichen Anteil wie Seyler selbst, aber die Genugtuung die er darüber empfinden mußte, trat bei ihm zurück, gegen die Freude, endlich seinen Mitarbeiter wieder in halbwegs annehmbarer Gemütsverfassung verlassen zu haben.

Am folgenden Morgen erhob sich Hanna frühzeitig und suchte Juan in der Pension Sylvana auf. Ein junges Mädchen geleitete sie nach dem Zimmer des Argentiniers, der sie bereits erwartete.

Juan de Souza Miranda war ungeduldig in seinem Zimmer auf und ab gegangen. Als Hanna eintrat, warf er seine Zigarette weg, schloß sie stürmisch in seine Arme und bedeckte ihr Gesicht mit wilden Küssen.

Hanna befreite sich sanft aus seiner Umarmung.

»Was ist dir, Juan?« sagte sie, ein wenig erstaunt über diesen spontanen Gefühlsausbruch.

»Nichts, nichts!« sagte er, »ich bin so glücklich, daß du bei mir bist.«

Hanna hatte ihren Hut abgelegt und nahm neben Juan auf dem Sofa Platz. Verstohlen musterte sie ihn von der Seite. Er war heute morgen so sonderbar. Seine ungewohnte Erregung fiel ihr auf.

»Ich war gestern nachmittag schon einmal hier. Weißt du?« fragte sie.

»Ja, ja, ich weiß«, antwortete er kurz. »Es hat mir so leid getan,« fuhr er fort, »daß ich dich verfehlte, es ließ sich aber nicht abwenden. Ich mußte unbedingt auf's Zollamt. Bei der Verzollung der Reptilien war meine persönliche Anwesenheit unerläßlich.«

Hanna stand schweigend auf und trat zu dem Schreibtisch vor dem Fenster.

Neben einem großen Stoß medizinischer und chemischer Lehrbücher stand ein Glaskasten, der durch einen Deckel aus grüner Drahtgaze verschlossen und mit einem kleinen Messingschloß gesichert war.

In einem Gemisch von Grauen und Neugier betrachtete sie die drei Schlangen, die faul und schläfrig am Boden lagen.

Es waren lauter giftige Ophidien, aus der Neuen Welt.

Sie kannte sie alle diese drei, zum Teil noch nicht völlig ausgewachsenen, aber nichtsdestoweniger höchst gefährlichen, giftigen Reptilien.

Die prachtvoll zinnoberrot gefärbte, mit schwarzen Querstreifen versehene Schlange, war die in Mittel- und Südamerika vorkommende Korallenotter ( Elaps corallinus); die Rötlichgelbe, mit den schwarzen Rautenflecken, die Lachesis muta, der gefährliche Surucucu Brasiliens, und die Ophidia, welche bei der Annäherung Hannas den häßlichen dreieckigen Kopf gehoben hatte und wütend zu züngeln anfing, war die Schauerklapperschlange ( Crotalus horridus), deren Biß ein Pferd in wenigen Minuten tötet.

Juan war neben Hanna getreten und betrachtete gleichfalls die Tiere. –

»Du hattest doch vier Schlangen, wenn ich nicht irre –?« fragte Hanna. – »Ich vermisse die Lanzenschlange. –«

»Die Lachesis lanceolatis – –?« meinte Juan gleichmütig und spielte mit seiner Uhrkette. –

»Ja. – –«

»Die ist tot – –«, sagte Juan. – »Ich habe sie dem Lausanner Museum vor meiner Abreise geschenkt. –«

»Ich wünschte, du hättest mit den anderen Schlangen das gleiche getan. – Pfui –! Was sind das für ekle Tiere. –«

»Aber für manche Zwecke recht brauchbar – –«, meinte Juan ernst. –

Hanna war vom Tische hinweggetreten und sah zum Fenster hinaus. »Du kannst mir übrigens gratulieren, Juanito«, meinte sie. »Mein Vater hat sein Serum gestern fertiggestellt. – Gib acht, deine kleine Juanita wird Karriere machen, denn der Erfinder des ›Serums Seyler‹ ist ihr Vater. – –«

Der Argentinier wollte Hanna glückwünschend die Hand reichen; nun ließ er sie aber langsam sinken und sah Hanna zweifelnd an. »Seyler – –?« fragte er erstaunt. – »Wieso Seyler – –? Du heißt doch Brentano – –?« fuhr er, das Mädchen unsicher ansehend, fort.

Hanna lachte. »Jawohl, ich heiße Brentano,« sagte sie heiter, »wenn du aber im Adreßbuch einen Doktor Brentano suchst, dann wirst du wohl wenig Glück haben, denn meine Mutter hat sich zum zweiten Male verheiratet, und mein Stiefvater ist der Bakteriologe Doktor Seyler. – – Du darfst mir deshalb doch ruhig gratulieren. – – Übrigens«, fuhr sie lustig fort, »scheint mein Papa in deiner Heimat bekannt zu sein. Ich habe gestern eine Entdeckung gemacht und dir hier etwas mitgebracht, das wird dich vielleicht interessieren. – –« Und ohne Juan weiter zu beachten, der sie ganz erstaunt anstarrte, sprang sie leichtfüßig zum Sofa, nahm ihre Handtasche auf und reichte dem Argentinier die beiden Photographien hin, die sie gestern eingesteckt hatte.

Dieser nahm fast willenlos, wie geistesabwesend, die beiden Bilder in Empfang und sah bald Hanna, bald die Photographie in seiner Hand ungläubig an.

» Valga me dios – –!« stöhnte er endlich. »Das soll dein Vater sein – –? Non es possible. – – Unmöglich – –! Das – kann nicht sein – –!« Die letzten Worte schrie er beinahe.

Hanna wurde unruhig. »Ich verstehe dich nicht, Juan –«, sagte sie. »Warum soll das nicht möglich sein. – Drehe doch das Bild einmal um. – – Nicht das in Uniform, das Zivilbild. – –«

Der Argentinier gehorchte mechanisch, starrte kopfschüttelnd das Bild an und las die Widmung auf der Rückseite.

»Lopez – –!« stöhnte er. »Lopez Jordan – –!« Dann sprang er auf und riß seinen Strohhut vom Garderobeständer.

»Ich muß deinen Vater sofort sehen – –!« rief er. Seine Stimme klang rauh und unnatürlich. – Hanna hatte gleichfalls unwillkürlich nach ihrem Hut gegriffen und richtete ihre Augen erschrocken auf den Argentinier, der zur Tür rannte.

»Aber Juan – –! Juanito – –!« rief Hanna nun wirklich besorgt aus. »Ich verstehe dich gar nicht – –!«

Doch dieser antwortete nicht, er war aus dem Zimmer gestürzt, und Hanna folgte ihm, ohne zu wissen, wie ihr geschah.

Auf dem Westendplatz, vor der Pension Sylvana, war ein Halteplatz für Autodroschken. – Juan riß den Schlag des ersten besten Taxameters auf, Hanna rief dem Chauffeur schnell die Adresse zu, und fort sauste der Wagen. –

Kaum, daß das Auto wenige Minuten später ratternd an seinem Ziel hielt, sprang der Argentinier heraus, stürzte, ohne sich um Hanna zu kümmern, in das Haus und eilte die Treppe hinauf.

Konsterniert, wie geistesabwesend, folgte das Mädchen.

Die Tür zu ihres Vaters Wohnung stand weit offen. Auf dem Tisch, im Vorplatz lag ein Panamahut neben einem geöffneten Kasten mit Instrumenten, deren Bedeutung Hanna nur zu bekannt waren.

Der Kasten enthielt das Besteck eines Arztes.

Durch die halbgeöffnete Tür ihres Vaters Arbeitszimmers hörte sie eine fremde Männerstimme und das halblaute, unterdrückte Schluchzen einer Frau.

Ohne sich nach Juan, der, am ganzen Körper zitternd, aus einen Stuhl gesunken war, umzusehen, riß Hanna die Tür weit auf und stürzte in das Zimmer.

Denkandi, den sie zuerst bemerkte, trat schnell auf sie zu. – Ein Blick in seine verstörten Züge machte ihr klar, daß ein Unglück geschehen sein müsse. – Neben dem Schreibtisch stand Frau Martens, sie hatte ihre Schürze vor das Gesicht geschlagen und weinte leise vor sich hin. – Doktor Bertolinescu saß verstört auf dem Schreibtischsessel ihres Vaters, und ein fremder Herr, von dem sie nur den Rücken sah, hatte sich über einen menschlichen Körper, der auf dem Boden lag, geneigt.

Nun erhob sich der Herr, und trat langsam auf Hanna zu, die unfähig, sich zu rühren, in Denkandis Arm lag.

»Gnädiges Fräulein,« sagte er ernst, sich vorstellend, »Doktor Meister –, ich vermute in Ihnen die Tochter. – – Ich habe Ihnen eine traurige Mitteilung zu machen – –,« fuhr er ernst fort, »Ihr Herr Vater ist soeben verschieden. – – Apoplexie cerebri. – – Ein Schlaganfall. – –«


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