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Zehntes Kapitel.

Was ein Vaterunser vermag. – Paris, und was Franzkarl von dort berichtet. – »Ich will und ich muß!« – Warum Angelika eine große Angst überkommt. – Zwei treue Freunde hinter einer Säule. – Von ungarischen Tänzen und einer Geige, die jauchzt und weint. – Die zerrissene Saite.


»Wissen Sie denn, Frau Stadtpfarrer, daß Angelika und Gottlob gegenwärtig mit Frau Janauschek in Paris sind? Ich komme zu Ihnen, weil ich durch Franzkarl Nachrichten über sie habe, die aber leider nicht so gut klingen wie die bisherigen.«

Es war Frau von Werder, die im Stadtpfarrhaus Besuch machte, und, nachdem sie auf einem behaglichen alten Sofa Platz genommen, der Freundin noch weiter berichtete:

»Mein Aeltester hat sich natürlich furchtbar gefreut, als er las, daß die Lindenmaierschen Geschwister nach Frankreich kämen, obgleich er mir bei seinem letzten Hiersein anvertraute, daß es doch sehr fraglich sei, ob Paris der richtige Ort für deutsche Konzertgeber sei. Nun sind ja die Reisenden von einem dortigen großen Musiker, der Gottlob in einem der Bäder gehört hatte, berufen worden, und da dieser die ganze Anordnung übernimmt, so sind sie ja immerhin gedeckt. Angelika hat Franzkarl die Adresse des Hotels, in dem sie abstiegen, mitgeteilt, und er hat sie natürlich sofort dort begrüßt und hat den ersten Abend mit ihnen zugebracht.«

»Wie hat er Engele gefunden?«

Frau Stadtpfarrer fragte ängstlich, wie immer, wenn es die ihr so lieben Kinder betraf, denn das Bangen, wie diese ganze Reiserei ausfallen würde, verließ sie keinen Augenblick.

»Er schreibt: lieb und herzig, obgleich sie natürlich gewandter und mehr Dame wie einst geworden.«

Frau Stadtpfarrer seufzte, aber ihre Gedanken wurden wieder nach einer anderen Richtung gelenkt, als Frau von Werder weitererzählte, daß Franzkarl den Lobele mehr als schlecht aussehend gefunden habe. Der Bub könne einem wirklich Sorge machen. Er klage zwar über nichts, aber er sei so blaß und hohläugig wie damals, wo er nicht habe gehen können, und was ihn erschreckt habe, das sei, daß er wieder viel mehr hinke, und daß er auch in seinem ganzen Wesen etwas Mattes, Lässiges habe. Frau Janauschek sei eine liebe, gute Frau, aber, wie ihm scheine, doch nicht geeignet, für die Bedürfnisse solch eines zarten Kindes zu sorgen. Und da Gottlob, wie gesagt, nie klage, so sei Angelika auch nicht ängstlich.

»Nur daß Nane nichts von diesem Bericht erfährt! Sie scheint mir ohnedies gegenwärtig in gedrückter Stimmung zu sein,« meinte Frau Stadtpfarrer.

»Ob sie wohl sonst irgendwelche Sorgen hat?« fragte Frau von Werder. »Ich traf sie neulich wie gewöhnlich am Tische sitzen, einen großen Haufen Handschuhe vor sich. Aber die Hände ruhten, als ich eintrat, und auf ihrem Gesicht war ein schmerzlicher Ausdruck.«

»Nane müßte sich jetzt auch mehr Ruhe gönnen, wo die Kinder doch so schön verdienen,« meinte Frau Stadtpfarrer. »Erst kürzlich kamen wieder fünfhundert Mark. Aber ich streite mich fortwährend mit ihr herum, weil sie durchaus nichts von dem Geld für sich verwenden will. Das ist unrecht, denn etwas muß sie doch für all ihre Opfer, die sie bringt, haben!«

Während die beiden Frauen wohlmeinend noch hin und her redeten, wie dies und jenes wohl wäre und sein könnte und sollte, saß Nane zu Hause ganz genau so, wie Frau von Werder es geschildert hatte. Die Arbeit lag vor ihr, aber die Hände feierten, denn die böse Gicht hatte so zugenommen, daß ihr ein Reiben der oft recht fest sitzenden Flecke manchmal einfach nicht möglich war. Und da saß sie nun, die armen, schmerzenden Finger gefaltet, und ihre Seele redete mit Gott. Was sollte werden, wenn sie nicht mehr verdienen konnte, mit was das Leben fristen? Und dazu das Reden der Leute, die ihr beständig vorhielten, wie sie nun bald durch die Kinder in Reichtum und Wohlleben schwimmen werde. Nane war ja gewiß zufrieden und dankbar, daß immer wieder eine Geldsendung kam, aber so bescheiden ihre Begriffe waren, so viel wußte sie, daß die paar tausend Mark nicht weit reichten, wenn Gottlob später studieren sollte. Die Zeit kam, wo er doch endlich einmal lernen mußte, und Engele gehörte doch auch ihr Anteil an dem Verdienten! Nein, das Schaffen mußte noch gehen, Gott würde ihr schon noch Kraft verleihen.

Wieder ergriff sie das Tüchlein, das neben der Flasche Fleckenwasser lag, durchtränkte es mit ihm und begann die altgewohnte Arbeit. Aber heute ging es wirklich nicht. Nane seufzte tief auf, und als es klopfte, wischte sie noch rasch eine Träne ab, die ihr langsam die Wange herabrollte. Es war die Frau des Flickschusters, die Nanes ausgebesserte Hausschuhe brachte.

»Wollte es schon heute nachmittag tun,« sagte sie, »aber ich bin überall herumgelaufen, um eine passende Arbeit für meine Aelteste, die Berta, zu finden. Sie ist jetzt konfirmiert und könnte schon was leisten, – stark und kräftig ist sie wie eine, und ein paar Hände hat sie zum Schaffen, na! Aber das Schwierige ist, daß ich sie halt wegen der vielen kleinen Kinder daheim noch nicht entbehren kann, und daß eine halbe Magd eben niemand will. In der Fabrik täte sie eine Mark verdienen, mein Mann leidet's aber nicht, weil sie doch noch so gar jung ist! So hab' ich heut lauter vergebliche Gänge gemacht, obgleich das Mädle selber in der Frühe zu mir sagte: »Mutter, betet auch ein Vaterunser, eh' Ihr fortgeht, vielleicht hilft's was!«

Die Frau hatte die Schuhe, welche feste, glänzende Lederbesätze bekommen hatten, auf den Tisch gestellt und von Nane das Geld dafür aus einem Blechbüchschen, das sie aus der Schrankschublade geholt, erhalten. Sie wandte sich nun zum Gehen. »Gute Nacht auch, Frau Lindenmaier!« Die Stimme der Frau klang recht müde und niedergeschlagen. Nane empfand so etwas tief nach, besonders heute. Aber was war denn das für ein Gedanke, der ihr plötzlich durch den Kopf flog, als käme er direkt von irgendwo her zum Trost nicht nur für die Sorgen der Flickschusterin, sondern auch für ihre eigenen? Warum tönte ihr fortwährend in den Ohren, was die Frau gesagt: »Schaffhände, Schaffhände«? Ganz kurz nur besann sie sich, und dann rief sie der Frau, die schon unter der Türe war, zu: »Wollt Ihr nicht nochmal ein bißchen hereinkommen, Frau Berger? Ich wüßte am Ende etwas für Ihre Berta!«

Zögernd folgte die Frau, denn es warteten ihrer daheim noch so viel Geschäfte, und fast ungern nur setzte sie sich ein bißchen, obgleich sonst ein Plaudern mit Frau Nane ihr ein wahres Labsal war.

Aber was diese ihr jetzt zu sagen wußte, das war etwas, wo es sich schon lohnte, alles zu Hause drunter und drüber gehen zu lassen. War es denn möglich, daß die brave, tüchtige Frau Lindenmaier, die ihnen schon so viel Gutes erwiesen, und deren Stube und Wohnung das Schönste war, was man sich denken konnte, ihr nun vorschlug, Berta solle täglich ein paar Stunden zu ihr kommen und ihr helfen, das zu tun, was die Gichthände nicht mehr vermochten? Ordnung und Pünktlichkeit würde die Berta da lernen und noch dazu das nette und saubere Geschäft mit den Handschuhen! Und Mittagessen bekam sie auch und noch zu allem hin einen Lohn von vierzig Pfennig für den halben Tag.

»Mehr kann ich leider nicht geben,« sagte Nane.

Frau Berger aber war selig über den Vorschlag, und als sie die Kunde nach Haus brachte, sagte Berta strahlend: »Mutter, das Vaterunser! Gelt, ich habe gewußt, daß das etwas nützen wird?«

Nane aber hatte trotz der schmerzenden Hände, und trotzdem sie eigentlich etwas ganz Unüberlegtes getan, einen der glücklichsten Abende ihres Lebens.

»Herr Gott, du gedenkest der Menschen und ihrer Anliegen, noch ehe sie zu dir rufen!« mußte sie immer vor sich hinsagen. Wie merkwürdig, daß sich ihr Hilfe gezeigt, ehe sie nur welche gesucht hatte! Für das Mädchen wollte sie treulich sorgen. Anstellig war sie. Nun ließ sich das Geschäft erhalten! Die Mehrausgabe, die war ja unangenehm, aber über etwas, was erst die Zukunft bringen sollte, sich quälende Gedanken zu machen, dazu war Nane heute abend durchaus nicht mehr in der Stimmung.

»Bis hierher hat der Herr geholfen, er wird auch weiter helfen!« –

Das Auftreten von dem neunjährigen Geigenkünstler Peter Benedikt Linden und Schwester nebst Madame Leopoldine Janauschek hatte in Paris lange nicht den Erfolg, den die Konzertgeber von andern Orten gewöhnt waren. Franzkarl von Werder hatte es vorausgesehen, man wollte eben in der französischen Hauptstadt nicht die Deutschen, und die Menschen, die aus Neugierde, oder weil sie die Karten geschenkt bekommen, oder weil sie gar ihrem Mißvergnügen Ausdruck geben wollten, zu dem Konzert gegangen waren, verhielten sich unheimlich ruhig und zuwartend oder fast feindselig, indem leises Zischen an gewissen Stellen hörbar wurde. Gottlob hatte auch nicht mit der Sicherheit und Freude wie sonst gespielt. Einmal fühlte er sich wirklich seit einiger Zeit so zitterig und elend, daß er da und dort einen halben Tag sich legen und ausruhen mußte. Dann aber litt sein feines Empfinden darunter, daß man ihm nicht wie sonst entgegenkam.

»Ich weiß nicht, was das hier ist,« klagte er. »So, wie die Menschen meine Sprache nicht verstehen, verstehen sie auch meine Geige nicht, und die spürt's und läßt sich nicht zwingen!«

»Du mußt sie doch zwingen und dich selber dazu, mein Buberl,« sagte Frau Janauschek nach dem ersten Konzert ziemlich ernst, denn eine sehr bestimmte Weisung von Herrn Janauschek lautete: »Benedikt muß sein Aeußerstes tun und alle Kräfte anspannen, um diese erste Scharte auszuwetzen.«

Und der große Musikmann, der Gottlob und die andern hatte kommen lassen, war außer sich, daß er sich getäuscht hatte, und übte und probte beinahe jeden Tag und jede Nacht, um aus dem Kind den Schwung und die Frische herauszubekommen, die er damals so an ihm bewundert hatte.

Angelika ängstigte sich um den Bruder. Sie wußte, daß er ein Antreiben und gewaltsames Steigern der Arbeit nicht ertrug. Und wenn er aufgeregt und zitternd vor Anstrengung, denn sein ganzer Ehrgeiz war nun plötzlich erwacht, das späte Abendessen beiseite schob und die halbe Nacht nicht schlief, so beunruhigte sich auch Frau Janauschek, aber ein Schonen war gerade jetzt einfach unmöglich.

Das zweite Konzert verlief besser. Der französische Unternehmer hatte in Zeitungsartikeln von vorübergehender Unpäßlichkeit, die den jungen Wunderknaben Benedikt Linden kürzlich befallen habe, gesprochen, und er hatte diesmal für viele klatschende Menschen gesorgt. Herrn von Werder zuliebe war auch eine Anzahl seiner Freunde und Bekannten in das Konzert gegangen, und Gottlob spielte entschieden besser, so daß die Ehre gerettet war und die Zeitungen anerkennende Kritiken brachten. Aber der, von dessen jugendlichem Feuer sie sprachen, lag ein paar Tage lang gänzlich matt und fertig in seinem Hotelzimmer, und wenn man von der Weiterreise sprach, denn eigentlich krank war ja Gottlob nicht, so schüttelte er nur den Kopf und sagte: »Noch nicht! Ausruhen!«

Frau Janauschek erschöpfte sich im Auffinden von appetitanregenden Dingen und sprach selber mit dem Koch unten in der großen Hotelküche und gab ihm an, wie er stärkende Suppen und Brühen machen sollte. Angelika saß viel bei dem Bruder – das mochte er so gerne haben – und Herr von Werder sprach täglich vor, um nach dem kleinen Freunde zu sehen, und brachte ihm allerlei hübsche Dinge zur Unterhaltung, aber spielen oder etwas ansehen mochte Gottlob nicht. Am liebsten war ihm, wenn Herr von Werder sich auch hinsetzte und er und Engele zusammen von daheim sprachen: von den Kindertagen, von den nachbarlichen Zusammenkünften, dem Spielen auf dem Marktplatz, von Schneeballwerfen und Weihnachtsfreude, vom Garten im Stadtpfarrhaus, von der kühlen Kirche, und wieder von dem heimischen Turmzimmer oben, wo Vater des Abends im Lehnstuhl seine Pfeife rauchte, wo die Katze schnurrte und die Aepfel auf dem alten Kachelofen brodelten.

Frau Janauschek hatte auch einen Arzt kommen lassen. Ihr Buberl, ihr Herzblatt mußte doch bald wieder gesund werden, gesund und leistungsfähig, denn es war gar nicht anders möglich, es waren ja bis weit ins neue Jahr hinein Konzerte und Säle in den verschiedensten Städten bestellt, und der Schaden wäre bei einem Ausbleiben gewaltig gewesen. Täglich fragte Herr Janauschek telegraphisch und in Briefen an, wie es stehe, mit der Weisung, nichts zu sparen, um Benedikt wieder auf den Damm zu bringen. »Frau Lindenmaier hab' ich natürlich nichts gesagt, daß der Bub ein bisserl unwohl ist, da er sicher in ein paar Tagen wieder wohl sein wird,« schrieb er, und die Frauen stimmten dem bei. Wozu die Mutter beunruhigen? –

Und Gottlob hatte sich auch wirklich nach etwas mehr als einer Woche wieder erholt. Wohl waren noch tiefe Ringe um seine Augen, und der Gang wollte Angelika nicht recht gefallen, auch klagte der Bub da und dort über einen leisen Schmerz in den Hüften, aber auch Franzkarl meinte, das käme sicher vom Wachsen, und die Hauptsache sei, daß Lobele wieder essen und auch besser schlafen könne. Der Arzt aber erklärte, daß einer Weiterreise nun nichts mehr im Wege stände. Das war die Hauptsache, denn die Rechnung in dem teuren Pariser Hotel wuchs zu einer erschreckenden Höhe, und ein Konzert in Straßburg war nun schon ausgefallen.

»Es muß gut gehen, Herzerl, wenn wir diesen Ausfall im Laufe des Winters wieder hereinbringen,« sagte Frau Janauschek bekümmert zu Angelika, als sie nach langem Hin- und Herhandeln mit dem Hotelbesitzer die große Summe bezahlt hatte. Ueber Engele kam zum ersten Male eine große Angst. Wenn es aber nicht gut ginge? Und dahinter stand das große Fragezeichen: Was dann? –

Zu Hause in den kleinen Verhältnissen und im still ausgefüllten Leben der verschiedenen Familien, die um den Marktplatz herum wohnten, verlief alles in gewohnter Weise, und niemand hatte eine Ahnung, daß es bei den Reisenden draußen nicht mehr so ganz gut stand wie am Anfang. Frau Maier machte ihre Nudeln, wenn auch der Menge nach vielleicht weniger als früher, denn auch sie spürte das Altwerden. Frau von Werder lebte ihren Kindern, ihr Mann seinem Amt und der Baum- und Blumenzucht im Park. Im Stadtpfarrhaus war es stiller geworden seit Gertruds Heirat, aber in der Woche einmal mindestens machte das junge Paar, dessen Pfarre nicht weit von St. lag, einen Besuch bei den Eltern, und das vergnügte, glückstrahlende Pfarrfrauchen unterließ auch nie, rasch zu Nane hinüberzulaufen, um Nachrichten von ihrem Engele zu bekommen.

»Direkt schreiben tut das faule Ding mir ja nicht,« brummte sie wohl dann, aber ernstlich böse war sie deswegen nicht, denn das Antworten war ihr nie eine Freude gewesen, auch hatte sie mit Haushalt, Gartenpflege und ihren Armen ganz schrecklich viel zu tun, wie sie versicherte.

Nane verlebte diesen Winter sehr ruhig. Wohl tat die Gicht oft recht weh, und daß Weihnachten wieder ohne die Kinder vorüberging, war schmerzlich. Frau Janauschek hatte geschrieben, die Vernunft sträube sich dagegen, nur wegen ein paar Tage die große Ausgabe für die Reise zu machen. Sie waren nämlich gerade irgendwo hoch im Norden. Die Frau Direktor mußte ja wissen, was man konnte und was nicht, und da sie beifügte, daß Gottlob dieses Jahr ganz vernünftig das Nichtkommen auffasse, so wollte Nane ebenfalls still und ergeben sein. Heimweh hatte sie ja alle Tage, es machte sich in der Festzeit nur etwas mehr bemerkbar.

Es war doch eine recht große Wohltat vom lieben Gott, daß er ihr die Berta zugeführt hatte! Das kleine Mädchen ließ sich über Erwarten gut an, war flink und willig, fleißig und unendlich dankbar, denn das geordnete Leben bei Frau Lindenmaier erschien ihr wie ein Paradies gegen den Trubel bei den vielen Geschwistern daheim.

Daß der Herr Direktor in den letzten Monaten weniger oft einen Besuch gemacht, und daß die Berichte von Engele kürzer waren als sonst, fiel Nane wohl auf, aber sie sagte sich: »Sie werden halt keine Zeit haben!« Nur daß jetzt sehr selten eine Karte von Gottlob kam, und diese dann meist nur kurze, trockene Worte enthielt, tat ihr weh, und sie flehte inbrünstiger wie sonst: »Lieber Gott, gib doch, daß der Bub' mir nicht da draußen sein warmes, gutes Herz verliert, und daß ihn das viele Lob nicht verdirbt und eitel macht, ihn und das Engele nicht! Amen!«

Nane hatte manchmal das Gefühl, als müßte sie noch hinzusetzen: »Und wenn sie in Gefahr wären, dich zu verlieren, dann, lieber Gott, führe sie lieber einen andern Weg!« Aber dies dachte sie bloß, in Worte faßte sie's nicht, sie fürchtete sich davor. Doch Gott tat, was er für gut fand.

Es war gegen Ostern, und die Reisenden befanden sich wieder in Berlin, das zweite Mal, und berufen von dortigen Kunstgrößen, weil man das tüchtige Können von Benedikt Linden das erste Mal rückhaltlos anerkannt hatte. Diesmal empfing Willi die Freunde, auf die er sich schon seit mehreren Tagen wie ein Kind gefreut hatte. Aber sein Jubel, mit dem er sie auf der Bahn in Empfang nahm, ward sofort getrübt durch Gottlobs mehr als elendes Aussehen, und auch Angelika kam ihm blaß und überarbeitet vor. Er wollte eben fragen:

»Ja, was ist denn mit euch?« als Angelika ihm mahnend die Hand auf die Schulter legte und schnell sagte: »Lieber später!« denn es waren mehrere Musikfreunde da, die gleichfalls die Ankommenden in Empfang nahmen, und die sofort mit Frau Janauschek dies und jenes verhandelten. Dann fuhr man ins Hotel, Willi mit, und da waren wieder Herren und Damen und ein lauter, fröhlicher Empfang, und dann erst, als die Zimmer angewiesen waren und Willi dem Gottlob ein bißchen beim Auspacken half und Angelika ab und zu ging, dann erst konnte Willi seine Frage anbringen:

»Was ist mit euch? Ihr seht anders aus als im Sommer. Was habt ihr erlebt?«

Gottlob sah scheu zu Angelika hinüber. Er, der sonst so frisch und herzig antwortete, überließ der Schwester zu sprechen, und als diese zagend sagte: »Unser Lobele ist in letzter Zeit nicht mehr so recht wohl gewesen,« da lief der Knabe aus dem Zimmer und schloß sich in das seinige.

Willi bat nun ernstlich, ihn doch an den Sorgen teilnehmen zu lassen, und in der nächsten Viertelstunde wußte er alles. Angelika erzählte ihm unter Tränen, daß der Bub eben gar nicht mehr das sei, was er gewesen. Langsam sei das gekommen. Die Frau Direktor habe immer nicht recht daran geglaubt. Mit Unlust habe es angefangen, dann sei der Mißerfolg und die große Müdigkeit in Paris gekommen, und obgleich Gottlob sich nachher auch wieder erholt habe, so hätten sich doch diese Zustände da und dort wiederholt, und was das Aergste sei, man merke es gar wohl dem Spiele an, daß dem Buben seine Freudigkeit und sein Schwung abhanden gekommen seien.

»Und das fühlt er selber, und das macht ihn so traurig und anders,« schloß Angelika schluchzend.

»Aber warum, um Gotteswillen, macht ihr dann weiter?« fragte Willi ganz erregt.

»Wir mußten es tun, es ging nicht anders. Aber nach dem Konzerte hier wollen wir wieder einen Arzt fragen, und wenn der es für nötig findet, müssen wir eben für eine Zeitlang heim!«

Wie froh war Angelika, Willi zu haben, wie wohl tat ihr seine Teilnahme, sein männliches Wesen! Wie nett wußte er auch mit Gottlob zu sprechen, nachdem ihn dieser auf Willis Bitten in sein Zimmer eingelassen hatte.

»Was fällt dir denn ein, Lobele, dich vor dem alten Freund zu verstecken, der sich so auf euch gefreut hat? Ueberhaupt, wer versteckt sich denn, wenn's ihm nicht ganz so gut ist wie sonst? Das tun doch bloß die Tierlein im Walde!«

Ueber Gottlobs Gesicht huschte ein ganz schwaches Lächeln, aber dann wurde er gleich wieder tief ernst: »Ich hab' auf einmal so Angst vor all den vielen Menschen, und ich schäm' mich so!« sagte er leise.

»Aber warum denn? Du hast doch sonst immer gesagt, sie seien dir ganz gleichgültig!«

»Ich weiß es nicht, aber alles fällt mir jetzt so schwer, und es ist nimmer wie sonst!«

Willis Herz wallte über in Mitleid mit dem armen Burschen, und indem er ihn an sich zog, wußte er ihm allerhand Tröstliches und Ermutigendes zu sagen: wie alle Leute zeitweise sich nicht wohl fühlten, wie das doch gar nichts mache, wenn er eine Zeitlang ausruhe, und wie gut es daheim sein werde. Gottlobs Augen leuchteten hierbei auf. Als aber Willi, dem es wirklich innerlich angst und bange war, mit Bezug auf das große, so wichtige Konzert erwähnte, es wäre doch auch nicht das Schlimmste, wenn man es auf ein paar Monate verschieben würde, da wurde Gottlob entsetzlich aufgeregt und rief:

»Nein, o nein, ich weiß, das wäre schrecklich! Ich werd' schon spielen können, und der Herr Direktor ist jetzt doch besonders hierhergekommen! Ich will ihm keine Schande machen, er hat sich ja so viel Mühe mit mir gegeben! Und es muß sicher auch alles ganz gut gehen, wenn ich nur nicht seit einiger Zeit so vergeßlich wäre. Denk' dir, Willi, mitten drin will mir's oft nicht mehr einfallen, wie's weiter geht! Und so etwas sollte man doch in der Seele haben und nicht im Kopf, und der tut mir oft so schrecklich weh!« Das Gesicht des Knaben sah so verängstigt bei diesen Worten aus, daß Willis Herz immer schwerer wurde.

»Er blieb in der letzten Woche einmal stecken,« flüsterte Engele dem Freund leise zu.

Er und sie suchten nun in heiterer Weise Gottlob auf andere Gedanken zu lenken, und sie brachten ihn auch ein paarmal zum Lachen, so daß Direktors, die später dazu kamen, ein wahrer Stein vom Herzen fiel. Auch beim Nachtessen, wo Willi allerlei kleine, nette Geschichten erzählte, war Gottlob fröhlicher als all die Tage her, und nachdem er zu Bett gegangen war – Frau Janauschek drang darauf, daß das nun immer bald geschah – sagte der Herr Direktor:

»Ich weiß gar nicht, was ihr einem für eine Angst eingejagt habt mit dem Buben. Ein bissel nervös sind wir doch alle in dem Alter gewesen, und es mag ja sein, daß es ihm gut tut, ein paar Wochen auszuruhen. Die Zeit für Konzerte ist ohnehin, Gott sei Dank, jetzt zu Ende, und daß ich meine Poldl nun auch endlich einmal wieder krieg, ist wahrhaftig die höchste Zeit!«

Solch fröhliche Sorglosigkeit wirkte ansteckend. Als aber der Herr Direktor am andern Morgen den schlaffen, energielosen Buben beim Frühstück sitzen sah, unlustig ein Stück Brezel in die schöne Schokolade zerkrümelnd, von der er dann kaum einen Schluck trank, und als dann die Hauptprobe war und er sofort bemerkte, wie in dem Spiel der alte Zug fehlte, wie Gottlob zwar all sein Können zusammennahm, aber dabei ordentlich zitterte und sich in jeder Pause setzen mußte, da ward ihm recht bange, und es wurde mit den Kollegen ernstlich erwogen, ob ein Verschieben wohl möglich sei. Doch da kam Gottlob, der so etwas ahnte, in die fürchterlichste Aufregung. »O bitte nicht! Bitte, bitte, nicht! Ich will mir schon alle Mühe geben, und ich weiß gewiß, daß es geht! Und es muß doch gehen, und ich habe ja die Beethovensche Sonate so oft schon gespielt, ebenso die ›Reverie‹ und die ›Ungarischen Tänze‹! Ich will auch heute mittag Fleisch essen und Wein trinken und will den ganzen Nachmittag still und ruhig sein, aber nur nicht verschieben, sonst komme ich ganz außer mir!«

Was war da zu machen? Der Hotelarzt, den Frau Janauschek zur allgemeinen Beruhigung kommen ließ, meinte auch, Widerspruch mache das Uebel nur noch ärger. Er verbot den Wein und gab Gottlob gegen Abend noch beruhigende Tropfen. Zu Willi, den er zufällig kannte, sagte er beim Fortgehen: »Macht, daß euer Wunderkind möglichst bald zu Muttern kommt, die Nerven des Jungen sind ja in einem jämmerlichen Zustand. Wenn ich was zu sagen hätte, dürfte der mir in Jahr und Tag keine Geige mehr anrühren!«

Der Abend war da. Willi stand hinter einer Säule möglichst weit vorn in dem großen Konzertsaal. Seine Augen überflogen die Reihen, und er entdeckte manche Lücken, die ihn nicht freuten. Es kam wohl daher, daß der junge spanische Geigenkünstler auch hier nicht lange vorher gewesen war und ebenso ein jugendlicher Klavierspieler, so daß die Leute etwas müde und übersättigt von musizierenden Kindern waren. Neben Willi auf einem Eckplatz in der dritten Reihe saß Fräulein von Thadden, die direkt vom Bahnhof ins Konzert geeilt und nun sehr erfreut war, den auch ihr gut bekannten jungen Reinhardt zu treffen. Aber ihre Freude wurde gedämpft, als dieser ihr noch rasch und flüsternd die Sachlage erzählte, und welche Angst er für den kleinen Freund habe.

»Das ist, was ich immer gefürchtet habe,« erwiderte sie bewegt. Während eines einführenden Klavierstückes, das ein Berliner Künstler vortrug, und während einiger Frühlingslieder, die Frau Janauschek mit ihrer wunderschönen Stimme wirklich entzückend sang, konnte sie durchaus nicht aufpassen, sondern mußte immer nur mit gefalteten Händen stille vor sich hinsagen: »Herr, jetzt hilf du zum Rechten! Hilf dem armen, kranken Buben, hilf dem Engele, wenn ihr Leben nun wieder ein ganz anderes werden sollte, hilf der Mutter, die schon so viel Sorgen hatte, und der nun neue bevorstehen!«

Hinter dem Podium aber, in dem Künstlerzimmer, standen die zwei Geschwister an der Türe und warteten, bis sie hinaustreten mußten. Auch Angelika hatte die Hände gefaltet. O, wie hatte sie in der Angst ihres Herzens in der letzten Zeit wieder nach oben blicken gelernt! Lobele schien ruhig, aber als das Zeichen zum Hervortreten erklang, da flüsterte er plötzlich ganz heiser: »Sag: Gott segne dich!«

Angelika sagte es rasch. Es war das Wort, das die Mutter daheim bei jeder feierlichen Gelegenheit sprach, und dann traten die beiden vor auf die Bühne.

»Engele, mir ist so schwindlig,« hörte diese den Bruder leise sagen. Aber schon mußten sie sich verbeugen, und dann ging's ans Klavier, und ein Rückwärts gab es nicht mehr, obgleich Angelika ein unsägliches Bangen fühlte.

Die zwei an der Säule schauten mit liebevollsten Sorgen hinüber.

»Der Junge ist bildschön, aber er sieht ja wie der Tod aus, und auch das Gehen scheint ihm schwer zu fallen.«

»Gewiß überangestrengt,« sagte eine Dame hinter ihnen und erhob das Opernglas, um gleich darauf Angelikas Toilette – es war die weißseidene mit den Veilchen – zu kritisieren.

Die Sonate ging anstandslos vorbei, nur wer sehr musikalisch war, machte die Bemerkung, daß die Klavierbegleitung äußerst ungenügend war. Angelika griff einigemal entschieden daneben, denn ihre Augen wanderten stets zu Gottlob, ob der Schwindel nicht zunehme. Er klagte in der Pause aber nur über Durst, und Frau Janauschek ließ ihm rasch eine Limonade kommen. Sei's nun, daß diese zu kalt war oder zu hastig getrunken wurde, Gottlob ward in der »Reverie«, die er nun zu spielen hatte, immer blässer und blässer, so daß Fräulein von Thadden angstvoll Willi darauf aufmerksam machte. Es mußte dem Buben wirklich schlecht sein, denn auch das Spiel war mangelhaft und unbefriedigend. Angelika zählte einigemal hörbar, um Gottlob wieder in den richtigen Takt zu bringen, und die Herren im Orchester richteten sich, so gut sie konnten, nach des Knaben Geige, aber sie sahen sich an und schüttelten die Köpfe. Der Kapellmeister sagte nachher zu den andern: »Der Bub ist anstatt vorwärts rückwärts gekommen. So geht's mit den Wunderkindern, die meinen, sie seien etwas, und die bloß ihre paar Paradestückchen auswendig wissen und sonst nichts!«

Aber das Wunderkind, von dem die Rede war, glaubte wirklich nicht, daß es etwas sei, wenigstens nicht in diesem Augenblick. Bis ins tiefste empfand es seine Mangelhaftigkeit, sein Nichtkönnen, und Angelika sowie der Herr Direktor bemühten sich mit allerlei Stärkungsmitteln, ihn über eine Schwäche hinwegzubringen, die ihn befallen hatte. Herr Janauschek war außer sich. Nun sah er wohl ein, daß die andern nicht übertrieben hatten, und besprach sich eiligst mit ein paar Herren, was nun zu tun sei. Die Sache war äußerst kritisch, denn er wollte durch einen vollständigen Mißerfolg weder die Gesundheit noch den Ruf des Knaben aufs Spiel setzen. Aber Gottlob, der sich auf ein Glas Malaga, das ihm einer der Herren gegeben, nun wieder viel wohler und kräftiger fühlte, bestand darauf, seine »Ungarischen Tänze« zu spielen. Er müsse wieder gut machen, was er vorhin gefehlt, er fühle, daß er's könne. Was nun tun?

Wenn Gottlob etwas wollte, so ging er nicht davon ab. Mit großer Angst gab das Ehepaar nach, denn ein langes Besinnen gab es nicht. Fräulein von Thadden und Willi hatten schon miteinander besprochen, ob sie's nicht wagen sollten, in das Künstlerzimmer einzudringen, als die Geschwister wieder auftraten, aber nicht, wie sie's gewöhnt waren, mit lautem Jubel und Geklatsche empfangen wurden. Die Stimmung war entschieden umgeschlagen, und eine beengende Stille herrschte im Saal. Angelika sah diesmal zum Erbarmen aus. Ihr sonst so rosiges Gesicht war verhärmt, in den Mundwinkeln lag ein Zug, der den Freunden ins Herz schnitt. Aber Gottlobs Wangen glühten dagegen ordentlich, und die großen dunkeln Augen hatten eine Tiefe und ein Feuer wie sonst nie in diesem Grade. Dazu paßte der enganliegende schwarze Samtanzug und die ganz kurzgeschorenen schwarzen Haare. Wegen seines vielen Kopfwehs hatte man dem Knaben die Locken weggeschnitten.

»Wie ein spanisches Bild,« sagten die Menschen und ergötzten sich an dem Anblick.

Gottlob begann, langsam, mit breitem Ton, singen lassend, schwermütig, die Herzen der Zuhörer erbeben machend. Angelika empfand sofort, daß Lobele wieder seine alte Art gefunden hatte. Das war Leben und Feuer, das jauchzte und weinte, das klagte und jubelte. Und auch sie gab ihr Bestes, wurde fortgerissen, paßte sich allen Schwingungen und Regungen der Saiten an. Und als das Tempo immer rascher, immer wilder, immer leidenschaftlicher wurde, erinnernd an jenes Spiel der Zigeuner, da konnte sie, innerlich staunend, folgen, mittun bis zum letzten Takt, der in einem aufgelösten Mollakkord leise und zitternd erstarb.

Was war über Lobele gekommen?

Diesen Tanz und noch einen, und dann noch eine Zugabe, die die Zuhörer schreiend und jubelnd verlangten, das alles führte er großartig durch, und die Leute hatten vollständig vergessen, daß sie vorhin nicht zufrieden gewesen waren, und sagten am Schluß: »Ob er nicht doch gerade so viel kann wie der junge Spanier? Jedenfalls waren diese Tänze eine hervorragende Leistung!«

Willi Reinhardt und Fräulein von Thadden blieben da, um sich später zu den Freunden zu gesellen. Beide standen wie vor einem Wunder und hatten Tränen in den Augen, so ergriffen waren sie. Daß kurz vor dem Ende des letzten Stückes mit schrillem Ton eine Saite an des Kindes Geige gerissen, das hatte niemand, auch die beiden nicht, bemerkt. Aber daß auch eine andere Saite drohte zu zerreißen, das erkannten sie mit Entsetzen, als sie ein paar Minuten nachher in das Musikzimmer hinter der Bühne traten und Gottlob in einer tiefen Ohnmacht trafen. Alle Beteiligten waren in größter Bestürzung um ihn beschäftigt, und sämtliche zu Gebote stehenden Mittel wurden angewandt, ohne daß es gelang, ihn zum Bewußtsein zurückzurufen.


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