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Zweites Kapitel.

Schwebende Möbel und ein Umzug ins Enge. – »Dächer, Dächer, lauter Dächer!« – Wie jemand eine schöne, blaue Tapete mit Rosenknospen haben und doch dabei schwarz sehen kann. – Ein doppelter Brief und zerstörte Hoffnungen. – Angelika weint und Gottlob jubelt.


Es war ein paar Wochen später und der Umzug bewerkstelligt. Wilhelm, der neue Turmwächter, und ein paar Männer hatten die Gegenstände teils herabgelassen, teils -getragen, was beides eine recht mühsame Prozedur gewesen. Nun war alles glücklich die gleichfalls engen, dunkeln, wenn auch bedeutend niedrigeren Stiegen in Frau Maiers Haus hinauf- und in den dortigen Stuben untergebracht worden.

Des Turmpeters einfache, aber doch gute Einrichtung füllte mit den stehengelassenen Möbeln der Frau Maier die ohnedem etwas schmalen Räume mehr, als zur Behaglichkeit diente, aus, aber man mußte sich eben schicken.

»So ist's halt in den Stadtwohnungen!« suchte Frau Nane zu beruhigen, als Angelika verzweifelt die Wände maß, um zwischen einen schon vorhandenen Schreibtisch und einen dickbauchigen Schrank ein einfaches Sofa, das statt der Bank oben angeschafft worden war, zu stellen und zwischen die Fenster Mutters und ihren Arbeitstisch sowie die Nähmaschine. Das Zimmer war wohl tief, aber im Hintergrund war es dunkel. Nebenan, in einem einfenstrigen, langgestreckten Raum schlief Mutter und Gottlob. Da war's ganz nett und gemütlich, wenn auch nicht gerade sehr hell. Frau Maiers Haus, eines der ältesten der Stadt, bestand überhaupt nur aus zwei Zimmern in der Straßenfront, und rückwärts gab es dann noch die Küche und eine andere Stube.

Diese sollte Angelika nehmen, und Frau Maier schmunzelte erwartungsvoll mit dem ganzen Gesicht, als sie das junge Mädchen zum erstenmal hier hereinführte.

»Da sollst du drin hausen, das hab' ich mir von Anfang an ausgedacht. Gelt, so ein nettes Stüble da hinten hinaus, das hättest du dir nicht vorgestellt? Ganz neu tapeziert ist's auch!« Frau Maiers Augen weilten mit Wohlgefallen auf den großen Rosenknospen in dem blauen Grund. »Wie ich ein junges Mädle war wie du, hab' ich auch hier geschlafen mit noch ein paar Geschwistern, die aber längst nicht mehr am Leben sind. Weit sehen tut man da hinten freilich nicht, aber dafür ist's um so heimischer, und der Wind pfeift nicht so wie bei euch da droben auf dem Turm. Und schau, da sieht man sogar ins Grüne!« Frau Maier zog eifrig Angelika an das einzige Fenster, das auf einen Wirrwarr von Dächern, kleinen Höfen, Hinterhäusern und alten, grauen Steinmauern hinausging. Auf einer von diesen, die ziemlich breit war, hatte ein Fliederbusch Wurzel gefaßt, und zwischen den einzelnen Steinen wuchs da und dort eine Hauswurz, oder drängte sich verstaubter Kletterefeu. Angelika schluckte einen tiefen Seufzer hinunter. Welch ein Ersatz für den weiten, großen Blick da oben über Stadt, Wiesen, Felder und Wälder bis dahin, wo die fernen Berge mit dem Himmel eins zu werden schienen! Es hatte ja eine Zeit gegeben, wo ihr auch diese Weite zu eng schien, aber wie wohl war's ihr nachher wieder in dem guten, gesicherten Turmnest bei den fürsorglichen Eltern gewesen nach den schlimmen Erfahrungen bei den fremden Menschen, wie war ihr da der Sinn aufgegangen, wie gut sie's eigentlich hatte bei aller Arbeit und Einfachheit, und wie unvergleichlich schön ihr Heim war!

Angelika gab sich alle Mühe, die gute Frau Maier nicht merken zu lassen, wie bedrückt sie sich fühlte. Sie räumte ein, so gut es halt ging, ihr Bett, ihren Schrank, den Kasten und den Waschtisch, dessen Vorhang die geschickten Finger ihres verstorbenen Mutterles noch benäht hatten. Den Tisch, an dem sie schrieb und studierte, rückte sie ans Fenster, kaum daß noch Platz zu einem Stuhl daneben blieb. Dann schmückte sie das Zimmer mit all den netten, kleinen Sächelchen aus, die sie im Laufe der Jahre erhalten hatte, mit dem Bücherbrett vom Stadtpfarrhaus, mit dem Spiegel von Frau von Werder und mit Bilderrähmchen. Etliche kleine Stühle und eine Kassette hatte Vater zusammengebosselt, – er war ja in solchen Arbeiten so geschickt gewesen! – und über die Tür, gerade so, daß sie's vom Bett aus sehen konnte, hing sie den in Holz gebrannten Spruch, den Schwester Martha ihr neulich, als sie wieder fortreiste, zum Abschied gegeben hatte: »Heb' auf, was Gott dir vor die Türe legt!« Er bezog sich auf manches Gespräch, das die beiden über das Leben und seine Aufgaben und Pflichten zusammen hatten, und wie es oft am allerschwersten sei, die nächstliegenden zu erfüllen.

»Drum sind die nicht nach unserer eigenen Wahl, und wir möchten sie deshalb gerne umgehen,« sagte Schwester Martha. »Aber gib acht, wenn wir dies tun, dann stolpern wir regelmäßig, denn es ist der liebe Gott selber, der sie uns hingelegt hat. Wenn wir uns aber bücken und die Pflicht aufheben, so kostet's zwar Ueberwindung und Anstrengung, aber sein Segen und seine Hilfe sind dabei.«

»Gottlob, ach gottlob, daß es jetzt nicht meine Pflicht ist hierzubleiben, daß auch Martha und alle übrigen es für das Richtige halten, daß ich die Stelle in Mecklenburg annehme! Ich glaube, ich müßte mit dem Heimweh nach Vater im Herzen da unten in dieser Enge und Dunkelheit ersticken!« So dachte Angelika in der Umzugszeit stündlich, und mehrere ihrer kleinen Schätze ließ sie lieber ganz unausgepackt, denn es war ja doch nur für kurze Zeit, daß sie noch hier blieb. Aber der Mensch denkt und Gott lenkt. Der Vertrag mit der Familie war unterzeichnet, die Zeit der Abreise bestimmt. Es waren noch zwei Tage bis dahin, als Angelika die Koffer, die sie noch von der englischen Reise her hatte, vom Speicher herabholte. Auch die hübsche Handtasche mit dem Riemen daran, die sie seither nicht mehr gebraucht hatte, untersuchte sie im Hintergrund der Wohnstube beim Schein einer Erdöllampe und freute sich, wie schön und gut alles erhalten war. Das, was sie mitnehmen wollte, lag bereit, und sie fing an, ihre zwar einfachen, aber gut und anständig hergerichteten Wäschestücke und Kleider einzupacken. Da kam der Briefträger mit einem Brief von Schwester Martha.

»Ich mache vorher alles fertig und lese ihn dann zum Kaffee,« sagte Angelika zur Mutter, die am Tisch stand, und die ihr zum Reinigen übergebenen Handschuhe verlas, während Gottlob am unteren Ende des Tisches seine Aufgaben machte. Es war ein Sommernachmittag, und wenn auch hinten Licht gebrannt werden mußte, so sah es da vorne doch immerhin freundlich und behaglich aus. Die alten, etwas blinden Fensterscheiben umgaben billige, aber blütenweiße Vorhänge. Der zwischen die Maierschen Schränke etwas zurückgeschobene Sofaplatz hatte eigentlich etwas Heimisches. Vaters vergrößerte Photographie, die Fräulein von Thadden vor ihrem Fortgehen noch gestiftet, hing in dieser Nische. Ueber der Ecke am Arbeitstisch war das schöne geschnitzte Christusbild festgemacht, das vom verstorbenen »Mutterle« herstammte, und sonstige eingerahmte Bilder unterbrachen die etwas langen Wände. Ein Bild fiel sofort auf. Es stellte das einstige herzige »Turmengele« mit dem Kopf voller blonder Locken dar und war damals auf Wunsch von Frau Brown, der englischen Dame, welche das Engele an Kindesstatt annehmen wollte, angefertigt worden.

Gegenüber, zwischen den Giebeln einiger Häuser, stahl sich ein Sonnenstrahl durch, und während Engele sorgsam ihre Röcke ausstrich und zusammenlegte, fiel ihr Blick da und dort in den vorderen Raum, und sie sagte sich: »'s ist doch nicht so übel hier, und was die Hauptsache ist, Mutter scheint ganz befriedigt zu sein!«

Aber trotzdem erfüllte sie die ganze erwartungsvolle, jugendliche Freude, hinauszudürfen und in der Fremde etwas zu leisten. Sie übersah dabei, wie Mutter Nane manchmal so kummervoll zu ihr hinüberschaute, während sie die über ihre arbeitsharten Hände gezogenen weißen Lederfinger mit Benzin und einem Stück Watte rein rieb, und es machte auch keinen eigentlichen Eindruck auf sie, als Gottlob nach verschiedenen Fragen, die er an sie gerichtet, und die sie ihm während des Packens freundlich beantwortet, plötzlich die Feder hinlegte und mit ängstlichem Gesicht sagte:

»Wer hilft mir denn aber dann, wenn du fort bist?«

»Dann hilfst du dir selber, Gottlob, und wirst alles dann viel besser behalten und wissen.«

Diese Antwort ließ den ängstlichen Ausdruck in dem Kindergesichtchen nicht verschwinden, im Gegenteil.

Nun war Angelika mit dem, was in den Koffer kommen sollte, fertig, und nachdem sie rasch das Lämpchen gelöscht und in ihre Stube gegangen war, um die Hände zu waschen, eilte sie ins Wohnzimmer zurück, nahm den ersehnten Brief und setzte sich so recht behaglich damit auf den Stuhl am Fenster.

»Das ist ja heute ein doppelter,« sagte die Mutter. »Zwei Marken sind drauf. Was hat dir nur Fräulein von Thadden noch alles zu sagen, wo ihr euch doch bald sehen werdet?«

Angelika hatte eine daliegende Schere ergriffen und den Brief rasch aufgeschnitten. Lässig zurückgelehnt, denn sie war müde geworden, legte sie sich die einzelnen Blätter zurecht. Ein fremder Brief war darunter, wie merkwürdig, und Angelika fing an zu lesen. Zuerst genießend, langsam, dann überflog eine plötzliche Röte ihr Gesicht. Sie setzte sich mit einem jähen Ruck aufrecht hin, ein Blatt nach dem andern durchhastend. Bald war die Röte einer fahlen Blässe gewichen, als sie zuletzt den Brief mit der fremden Handschrift aus der Hand legte.

»Mutter, o Mutter, es ist nichts mit der Stelle!«

Angelikas Stimme klang ordentlich tonlos, und sie schob zitternd die losen Blätter über den Tisch. Aber Frau Nane konnte sie nicht anfassen wegen der nassen Hände, und dann flimmerten ihr vor lauter Schrecken die Augen, und Angelika mußte vorlesen, so sehr ihre Stimme schwankte.

Der Brief, welcher den lieben, teilnehmenden, bedauernden Zeilen von Schwester Martha beigelegt war, stammte von der Dame, zu deren Töchterchen Angelika hätte kommen sollen, und es hieß nach einleitenden Worten:

»Die Versetzung meines Mannes nach B. erfolgte gänzlich unerwartet, nachdem wir geglaubt, hier noch manches Jahr an dem stillen, ländlichen Ort bleiben zu dürfen. Unter diesen Umständen hatten wir Fräulein Lindenmaier verpflichtet, da hier keine andere Gelegenheit zum Lernen für ein Kind ist, und wir hatten uns auf Ihren lieben jungen Schützling schon recht gefreut. Nun liegen aber die Verhältnisse anders. In B. ist Auswahl an guten Töchterschulen, und für unsre Einzige ist es wohl besser, mit andern, als allein zu lernen. So müssen wir Sie nun bitten, diesen Entscheid nebst unserm herzlichen Bedauern dem Fräulein mitzuteilen. Selbstverständlich treten wir für den Schaden ein und hoffen von Herzen, daß Fräulein Angelika bald einen anderen ihr zusagenden Berufskreis finden wird. Wer weiß, ob es ihr gerade jetzt, so kurz nach dem Tode des Vaters, nicht auch lieber ist, noch eine Zeitlang bei den Ihrigen zu bleiben, oder es bietet sich ihr vielleicht an Ort und Stelle ein Wirkungskreis, was uns herzlich freuen würde!« Zuletzt folgten noch Grüße und der Schluß.

Angelika ließ den Brief sinken, ihre Finger waren eiskalt geworden vor Erregung. Vor ihr auf dem Tisch lagen ein paar Scheine, der gut gemeinte, aber schwache Ersatz für so schöne Pläne und Hoffnungen, die nun alle mit einem Schlag ins düstere Grau versanken gleichwie der kärgliche Sonnenschein, der für kurze Zeit das Zimmer erhellt hatte. Dicke Tränen flossen aus Angelikas Augen.

»Du dauerst mich, Engele! Das ist jetzt einmal recht verkehrt gegangen!« sagte die Mutter und streckte dem Mädchen voll wirklicher Teilnahme die an der Schürze vorher abgetrocknete Rechte hin. »Verkehrt und dumm ist's gegangen, und es scheint schon einmal dein Los zu sein, daß nichts ganz glatt verläuft und allemal wieder was dazwischenkommt. – Jetzt lies doch auch noch einmal vor, was Fräulein von Thadden dazu sagt, und ob sie dir vielleicht nicht gleich von einer andern Stelle da droben herum weiß!« Angelika zuckte leicht zusammen wie immer, wenn die Stiefmutter etwas ihr ungebildet Erscheinendes sagte, und ergriff dann gehorsam den andern Brief zum Vorlesen, während Frau Nane von der hellen Flüssigkeit wieder in ein Schälchen goß, denn was darin gewesen, war über dem Gespräch verdunstet. Sie durfte nicht viel Zeit bei der Arbeit verlieren, wollte sie all der Kundschaft gerecht werden, die sie mit ihren Aufträgen beehrte. Angelika wollte eben beginnen, als nach kurzem Anklopfen die Türe aufging und ein Mädchenkopf hereinschaute. Es war die Gertrud vom Stadtpfarrhaus.

»Hab' nur geschwind sehen wollen, wie weit du mit dem Packen bist, Engele. Na, da sieht's ja schon ganz unheimlich fertig aus! Mutter läßt fragen, ob ihr nicht alle nach dem Nachtessen noch ein bißchen zum Plaudern hinüberkommt, 's ist ja ohnedem das letzte Mal, daß wir uns gemütlich sehen!« Gertruds rundes, fröhliches Gesicht wurde bei diesen Worten ganz wehmütig.

»Warum du auch alleweil dein Lebenlang immer wieder fortgehst, wo es doch hier so schön und behaglich ist!« redete sie etwas unüberlegt weiter, während sie sich auf ein zugenageltes Kistchen setzte und all die Reisevorbereitungen neugierig betrachtete, ohne Angelikas verstörtes Aussehen zu bemerken.

»Wir kommen gerne hinüber, wenn ich aufgeschafft habe,« übernahm Nane die Antwort. »Aber zum letzten Mal wird's wohl jetzt nicht sein nach der Nachricht, die Engele eben bekommen hat. Mußt sie trösten, Gertrud, denn mit der guten Stelle ist's leider nichts!«

Jetzt erst bemerkte Gertrud, daß die Freundin weinte. Rasch wurde nun der Inhalt des Briefes mitgeteilt und nochmals wurde auch der von Schwester Martha gelesen. Er schloß:

»… Du weißt, meine Angelika, daß es schwer fällt, eine gute Erzieherinnenstelle in gutem Hause zu finden, und Du wirst Dich auf eine Wartezeit gefaßt machen müssen, die Dir vielleicht peinlich ist. Warum Gott es so schickte, wissen wir nicht. Laß den Kopf nicht hängen und mach Deine Augen auf, wo sich inzwischen Arbeit für Dich findet. Deine Nachhilfestunden bei den Werderschen Kindern wirst Du wohl wieder aufnehmen können und damit in der Lehrübung bleiben. Im Haushalt anzugreifen ist für Dich und Mutter nützlich. Und was Gottlob anlangt, so gestehe ich, daß es mir für ihn und seine Studien eine wahre Freude ist, daß Du noch eine Zeitlang mit ihm musizieren kannst, denn Ihr zwei seid einmal zusammen eingewöhnt. Niemand versteht, den kleinen Mann so genau in seinen Phantasien richtig zu leiten und ihn zum richtigen Studium anzuhalten wie gerade Du!« …

Gottlob hatte inzwischen am Nebentische in seine Aufgaben versunken gesessen und daher nicht viel von dem verstanden, was gesprochen wurde. Nur als er die Schwester hatte weinen sehen, war er herbeigekommen, ängstlich fragend, was denn geschehen sei, aber er kehrte flugs zu seiner Arbeit zurück, als man ihm bedeutete, es sei nichts Wichtiges. Doch war er zu aufgeweckt, um nicht aufzupassen, was denn eigentlich los sei, und als ihm dann auf einmal klar wurde, daß sein Engele morgen nicht reisen werde, daß die ungemütlichen Koffer und Kisten wieder ausgepackt würden und kein Abschied, vor dem ihm so gräßlich bange war, stattfinden sollte, da warf er Feder und Heft hin und flog Angelika so ungestüm um den Hals, daß diese nur immer und immer wieder mahnen mußte:

»Sei gescheit, Gottlob, und freue dich nicht so schrecklich, denn für lange, mein Brüderle, ist's doch nicht. Geh' ich nicht morgen, so ist's in ein paar Wochen, und du weißt ja doch auch, daß, wenn ich fort bin, ich dir viele Ansichtskarten und Marken und –«

»Aber du bist nicht mehr bei uns, wenn Mutter Schmerzen hat, und wenn ich die Noten auf dem Papier mit denen in meinem Kopf nicht zusammenbringe,« schnitt der Kleine altklug alle Einwände ab, und hierauf wußte Angelika nichts zu erwidern.


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