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Titelblatt

Zweiter Theil.


Standes-Ehre.

Erzählung.


I.
Die Hiobspost.

Fräulein Luitgarde von Raesberg war ein junges Mädchen von jener Art, wie sie heut zu Tage, Dank unserer überaus sorgsamen und frommen Erziehungsmethode, immer seltener werden; das heißt, sie war wirklich jung, fröhlichen Herzens, muthig, ja, man nannte sie sogar ein wenig genial. In wie fern das letztere Beiwort in der That auf sie paßte – das werden wir im Verlaufe dieser Geschichte selbst zu beurtheilen Gelegenheit haben; sicher ist, daß man in den Kreisen ihrer Bekannten sehr oft dieses Beiwort auf sie anwandte, und nicht immer mit der vollen Betonung des Wohlwollens; denn gewöhnlich geschah es dann, wenn sie irgend eine ihrer raschen und naiv aufrichtigen Antworten, in denen sie eine merkwürdige Schlagfertigkeit besaß, hervorgesprudelt hatte – manchmal sehr unbekümmert, ob sie damit vielleicht auch verletze oder nicht. War jenes dann geschehen, so hieß es eben: Fräulein Luitgarde ist doch gar zu genial … ein härteres Urtheil erlaubten sich gegen ein so anmuthiges Geschöpf jedoch sogar die Getroffenen nicht.

Sie selbst aber machte ganz und gar keine Ansprüche darauf, zu sein, was man sie nannte; sie selbst wollte nichts, als heiter und unbefangen die fröhlichen Stunden ihrer Jugend genießen, ihr Herz für die Eindrücke alles Schönen auf der Welt offen halten und für das schwärmen, was ihre leicht bewegliche Einbildungskraft hinriß – und deshalb gerade war sie das Widerspiel der stillen, lispelnden gebetbücherbewaffneten, geradesitzenden jungen Mädchen von heute, deren geregeltes, musterhaftes Dasein Andere wenig und noch weniger sie selbst amusirt.

In einem freundlichen Eckzimmerchen des großen und schönen Hauses, welches Luitgarde mit ihrem Vater während der Wintermonate in der Stadt bewohnte – die Mutter hatte sie früh verloren –, saß unsere junge Dame vor einem Stehspiegel und ließ sich von ihrer getreuen Kammerjungfer Fanny das Haar flechten. Fanny's weicher Schildplattkamm litt behutsam durch die Wellen dieses langen, blonden, seidenen Haares, das, wenn Luitgarde saß, bis auf den Boden niederfloß, und wenn sie stand, ihre zierliche mittelgroße Gestalt beinahe wie ein Schleier rings umwallte.

Fanny blickte von ihrer Arbeit ein paar Mal auf und in den Spiegel; sie bemerkte jedes Mal die hellblauen Augen ihrer jungen Herrin ausdrucksvoll, wie forschend, auf sich gerichtet.

Was sehen Sie mich so an, gnädiges Fräulein? fragte die Zofe endlich.

Ich sehe Dich an, weil ich wissen möchte, was Dir fehlt!

Mir fehlt? fragte Fanny, sich abwendend, um nach einem kleinen geschliffenen Flacon mit duftigem Oele zu langen.

Habe ich etwa nicht Recht? Bedrückt Dich nicht etwas? Du bist bleich und stille … hast Du irgend einen Herzenskummer – weshalb vertraust Du ihn mir nicht an?

Fanny schüttelte mit einem schmerzlichen Lächeln den Kopf.

Nicht? Nun, was ist es denn?

Das Kammermädchen seufzte und schwieg.

Seit wann hast Du Geheimnisse vor mir? Weißt Du, daß das nicht recht ist, Fanny? hob ihre Herrin wieder an.

Was soll ich Ihnen klagen, gnädiges Fräulein, was mir auf dem Herzen liegt! Sie können ja doch nicht helfen, und eben darum schweige ich lieber, weil ich weiß, daß Sie sich fruchtlose Sorgen machen würden.

Wirst Du jetzt mit Deinem Kummer herausrücken? Soll ich Dir's befehlen?

Nun, wenn Sie's denn wissen wollen – die Mutter hat mir ein Schreiben von meinem Bruder in New-York geschickt, das vor einigen Tagen aus Amerika angekommen ist …

Und der Brief enthält schlimme Nachrichten? Dein Bruder ist doch nicht krank?

Nicht das, aber in der schlimmsten Lage – er ist vom Ruin bedroht und schreibt so verzweifelt, als ob er entschlossen wäre, sich das Leben zu nehmen …

Mein Gott – aber seine Frau, seine Kinder…

Das ist eben das Schreckliche!

Aber so sage mir nur, wie das zugeht? Ich glaubte, Dein Bruder Theodor lebte in den glücklichsten Verhältnissen dort, habe ein einträgliches Geschäft, sei von Allen geachtet, in alle Comité's gewählt …

O, es ist sicherlich nicht seine Schuld, daß er Bankerott machen muß – eine Bank, der er eine große Summe anvertraute, hat ihre Zahlungen eingestellt und muß, ich glaube »liquidiren« nennen es die Kaufleute; es wird ein Jahr mindestens dauern, schreibt er, bis er einen Theil seines Eigenthums wieder erhält; unterdeß aber muß er Wechsel zahlen und kann es nun nicht …

Aber da kann ihm ja Jemand von seinen Freunden helfen, wenn er nach Jahresfrist sein Geld zurück bekommt.

Helfen – ja, das thut eben in Amerika Niemand dem Anderen – help yourself heißt es da!

Das abscheuliche Geld! Ist denn gar kein Mittel, kein Ausweg …?

Fanny schüttelte traurig den Kopf.

Der arme Theodor! fuhr Luitgarde fort. Er hatte immer Unglück. Weißt Du noch, Fanny, wenn wir früher als Kinder uns in Steinfeld an unseren Spielen ergötzten … wenn wir um etwas loos'ten oder Blindekuh spielten – Theodor war immer Der, welcher erwischt wurde, oder den kürzesten Halm zog, oder die schwarzen Striche in's Gesicht bekam!

Am meisten, entgegnete Fanny, ist's mir um den Vater daheim! Sie wissen ja, wie er an dem Theodor hängt. Wie wird er sich grämen und sich mit Gedanken quälen, auf welche Weise dem Bruder zu helfen sei! Und doch kann er ihm nicht helfen. Wenn's nur nicht so entsetzlich weit und fern wäre! Eines der Seinigen in der Ferne, wohin man nicht kann, woher man so spärlich Nachrichten erhält, so unglücklich zu wissen – es kommt einem doppelt schrecklich vor!

Aber gerade, weil's so fern ist, hat man auch wieder einen Trost. Seitdem der Brief Deines Bruders abgeschickt wurde, kann schon Vieles dort anders geworden sein. Dein Bruder Theodor ist ein braver Mensch, und den verläßt Gott nicht. Es wird ihm schon wieder gut gehen – es geht ja immer auf und ab in der Welt – darum vergleicht man eben das Leben mit einem Meere, und die Menschen mit Schiffern im schwanken Kahne, weil sie auf und ab geschaukelt werden, bald hinunter, bald in die Höhe. Ging es nicht auch uns einmal so, daß der Vater meinte, Alles sei verloren – Du weißt, damals, als die schlechte Erndte war und dem Vater ein großes Capital gekündigt wurde, just als er mitten in den Meliorationen stak? Und doch hat Dein Papa als Rentmeister Alles bald wieder in die beste Ordnung gebracht! Er ist ja ein so gescheidter Geschäftsmann, Dein Vater – vielleicht hat er auch jetzt schon den besten Rath ersonnen; darum tröste Dich, arme Fanny!

Fanny gab nicht zu erkennen, ob sie dieser letzteren Aufforderung zu gehorchen geneigt sei, und Luitgarde schwieg. Nach einer Weile setzte sie hinzu:

Es ist übrigens gut, daß Du mir Alles gesagt hast – ich kann jetzt meinen Vater beruhigen, der mir gestern Abend sagte, daß er besorgt sei, weil sein Rentmeister nicht von Steinfeld in die Stadt hereingekommen, wie er doch hätte sollen und müssen. Es wird wegen dieser amerikanischen Hiobspost sein!

Sicherlich; wenn ihn der Kummer nur nicht krank macht! entgegnete Fanny; er ist gleich so heftig und leidenschaftlich, wenn ihn etwas betrifft, daß meine arme Mutter viel mit ihm auszustehen hat!

Luitgardens Frisur war beendet; der glatte Scheitel glänzte wie Bernstein, die dicken Flechten waren aufgesteckt und umrahmten das liebliche rosige Gesicht mit den feinen regelmäßigen Zügen; sie erhob sich, und nachdem sie vor der Psyche noch ein paar Mal mit den schmalen weißen Fingern über die Stirn gefahren, um die letzten Härchen, welche sich unbotmäßig vordrängten, zurück zu streichen, knüpfte sie lose ein blaues Fichu um den schlanken Nacken und eilte mit ihrem elastischen Schritte davon, um ihrem Vater guten Morgen zu sagen.

Herr von Raesberg war ein etwas strammer, etwas zugeknöpfter Cavalier, noch in den besten Jahren, eine stattliche Gestalt, die wegen ihrer vornehmen Haltung und ihrer immer von einigem Beigeschmack von Herablassung angesäuerten ceremoniösen Freundlichkeit nicht gerade einen gewinnenden Eindruck auf Diejenigen machte, welche ihn zum ersten Male sahen. Desto höher in Achtung stand er bei allen Denen, welchen es gelungen war, ihn kennen zu lernen und ihm näher zu treten. Seine Freunde aber fanden des Lobes kein Ende, wenn die Rede kam auf seinen Charakter, sein warmes Wohlwollen, seine unbeugsame Festigkeit in Dem, was er für Recht, für anständig oder als seine Pflicht erkannt hatte. Dabei rühmten sie seine Thätigkeit und seine wissenschaftliche Bildung, vornehmlich seine gelehrten historischen Kenntnisse, denn sie bildeten seine Lieblingsbeschäftigung, seine »Specialität«.

Luitgarde traf ihn in seinem Zimmer in nicht ganz heiterer Stimmung an. Eine Menge aufgeschlagener Bücher bedeckten seinen Tisch, von denen er bald das eine, bald das andere ergriff, um darin zu blättern.

Was suchst Du so emsig, Papa? sagte Luitgarde nach der ersten Begrüßung, indem sie Platz in einem am Fenster stehenden Armstuhle nahm.

Eine ganz einfache Notiz, die ich in allen diesen modernen Scharteken nicht finde – hätte ich doch nur meine Steinfelder Bibliothek zur Hand!

Ach ja, unser liebes Steinfeld! fiel Luitgarde ein – wann kehren wir denn endlich dahin zurück? Wahrhaftig, mein theurer Papa, Du wirst nächstens Dein Töchterlein Dir durchgehen sehen, aus lauter Sehnsucht nach unserem schönen kühlen Schloß, unserem schattigen Park, unseren üppigen Gärten und Feldern – ich habe förmliches Heimweh danach in dieser staubigen Stadt!

Nur noch kurze Zeit Geduld, mein unruhiges Kind, sagte Herr von Raesberg aufstehend – erst muß Wilhelmi mit den Geldern da sein, und die Geschäfte mit van Troost müssen abgemacht sein … ich begreife nicht, wo der Rentmeister bleibt – er wollte so sicher gestern eintreffen …

Seine Unpünktlichkeit kann ich Dir erklären – Fanny hat mir eben Confidenzen gemacht – denke Dir, ihrem Bruder Theodor geht es so schlecht, er hat durch eine Bank in New-York einen so großen Verlust erlitten, daß er, wie Fanny sagt, dadurch ruinirt ist.

Der arme Teufel! entgegnete Herr von Raesberg Siehst Du, das kommt dabei heraus! Weshalb blieb er nicht ruhig, wo er war? Er hätte dann einmal, wenn der Alte abgegangen, seines Vaters Stelle von mir erhalten und ruhig und zufrieden leben können; aber das behagte ihm nicht – er wollte oben hinaus – in die Welt – sein Glück machen, das heißt reich werden, denn das ist ja bei allen diesen Menschen heut zu Tage das Einzige, was sie unter dem Namen Glück verstehen, das einzige Wünschenswerthe, was sie erkennen – nun hat er's!

Du bist hart, Papa, meinte Luitgarde. Der alte Wilhelmi ist jetzt zwar beinahe ein gebrechlicher Mann, von dessen Ende die Rede sein kann; aber als Theodor ging, sein Glück in der neuen Welt zu versuchen, war er noch rüstig und in den besten Jahren, und Theodor hätte lange herumlungern und warten müssen, bis ihm das Glück geblüht hätte, wohlbestallter Rentmeister von Steinfeld zu werden.

Das freilich, aber wenn Du mich hart nennst gegen alle diese Geldmenschen, so hat das seinen guten Grund. Es ist eben, weil sie mit ihrem heutigen vermaledeiten Geldschwindel die Welt unterjochen und auch unser Eins, man mag nun wollen oder nicht, zwingen, es ihnen nachzumachen und ein Speculant zu werden. Sie bringen die ganze Welt nicht allein in ihr Joch, sondern auch in ihre Gesinnung, ihre Denkungsart, ihre herabziehenden, degradirenden, engherzigen Anschauungen hinein – kurz, sie sind gerade so schlimm wie die Demokraten –

Was, fiel Luitgarde mit neckendem Tone ein, in den Augen meines sehr aristokratischen, sehr monarchischen, sehr conservativen Papa's das Abscheulichste ist, das man einem Menschen nachsagen kann!

Liebst Du etwa die Demokraten?

Seitdem sie unser Schloß anzünden und Dich todtschießen wollten, haben sie allerdings etwas von dem Interesse für mich verloren, das ich ihnen früher widmete, weil sie doch Leute waren, die einmal etwas Anderes wollten als alle Anderen.

Das ist ein merkwürdiges Verdienst – etwas Anderes zu wollen als alle gescheidten Leute!

O, Du glaubst nicht, Papachen, wie langweilig einem jungen Mädchen Stabilität, Solidität, Conservativität und alle solche Tugenden ernster und feierlicher Gemüther sind – der Wechsel ist das Schöne auf Erden.

Vortreffliche Grundsätze für ein Fräulein von Raesberg! fiel lachend der Baron ein.

Weshalb? Ist nicht der Wechsel das, was die Natur erhält, wodurch sie lebendig bleibt, ja, der »Stoffwechsel« nach der Entdeckung unserer neuesten Weltweisen das, wodurch der Mensch denkt, dichtet, schwärmt, empfindet?

Possen – und ein schöner Staat wäre es, der nur durch ewigen Wechsel floriren könnte!

Freilich, wenn Du das inhaltschwere Wort Staat aussprichst, so muß ich still sein – wir deutschen Frauen haben nicht, wie die Französinnen, das Recht, die zwei Seiten der Staatsangelegenheiten, den Kleiderstaat und den Völkerstaat, beide zusammen, in Ordnung bringen helfen!

Ihr habt Euch auch nicht, sagte Herr von Raesberg, das Recht dazu mit Eurem Blute erkauft, wie Frau von Stael Napoleon bemerkte, als er ihr in seiner unhöflichen Art sagte, er liebe die Frauen nicht, welche sich in Staatsangelegenheiten mischten. Sie antwortete ihm: »Sire, in einem Lande, wo man den Frauen die Köpfe abschlägt, haben sie auch das Recht, danach zu fragen, weshalb das geschieht.« Da aber in Deutschland die Frauen die Köpfe behalten, in jeder Beziehung behalten …

So haben wir auch kein Recht, diese Köpfe zu etwas Anderem zu gebrauchen, unterbrach ihn Luitgarde …

Als die unsrigen zu verdrehen – wolltest Du das nicht sagen, mein Kind? fiel neckend Herr von Raesberg ein.

Ganz etwas Anderes, bester Papa, wenn Du erlaubst – ich wollte sagen, wir sollen sie ganz leer und unmöblirt und frei von allen Kenntnissen, Gedanken und Phantasien lassen, damit die jungen Herren uns, wenn es ihnen beliebt, möglichst viel Eitelkeit, Thorheit, Dünkel und falsche Begriffe durch ihre Schmeicheleien hinein pflanzen können, während wir jung sind – auf daß wir in unserem Alter, wenn die Schmeichler uns verlassen, rechte boshafte und verkehrte Geschöpfe seien!

Da findet denn meine gescheidte Tochter wohl, entgegnete Raesberg lächelnd, daß es umgekehrt besser sei, und ist lieber jetzt schon etwas boshaft und verkehrt!

Ganz recht, lieber Papa – antwortete das junge Mädchen mit einem fröhlichen Lachen. –

Das Gespräch zwischen Vater und Tochter bekam in diesem Augenblicke eine neue Wendung, und zwar dadurch, daß ein Bedienter den Besuch eines Herrn Baron von Troost ankündigte, den Sohn des Mannes, welchen Raesberg vorhin erwähnte als eine Persönlichkeit, mit welcher er Geschäfte zu schließen habe.

Willst Du hier bleiben oder Dich zurückziehen, Luitgarde? fragte Raesberg, nachdem er dem Bedienten gesagt hatte, daß der Besuch ihm angenehm sei.

Nein, nein, ich gehe! rief Luitgarde aufstehend aus – empfange Du allein den Besuch dieses

Alten Ritters von neuem Adel,
Von wenig Furcht und vielem Tadel!

Alt ist er doch nicht, meinte Raesberg, er ist ja kaum Dreißig, glaub' ich!

Du irrst, Väterchen, er ist wenigstens sechszig. Der liebe Gott hat bei seiner Erschaffung auch einmal einen ökonomischen Tag gehabt und ihm statt einer jungen, neuen, eine alte Seele mitgegeben.

Welch ein Einfall!

Ich sage Dir, so ist's! Es kam eine Seele zum Himmel, die nie etwas empfunden hatte und deshalb noch wenig verbraucht schien; da dachte der liebe Gott: du kannst mir noch einmal dienen, und steckte sie in den Sprößling des Banquiers van oder von Troost!

Damit eilte Luitgarde davon, weil vor der Thür Schritte sich vernehmen ließen, und war mit einem raschen Adieu, Adieu! durch die entgegengesetzte Thür verschwunden.


Der junge Mann, welcher jetzt bei Raesberg eintrat, war das hervorragendste Mitglied der jeunesse dorée der Stadt, in welcher wir uns befinden. Er war sehr elegant, er schmeichelte sich, vortreffliche Umgangsformen zu besitzen, und hatte sie in der That, insofern eine unbedingte Sicherheit, die nie erschüttert werden konnte, sie zu verleihen im Stande ist. Obwohl er viel gelebt und viel genossen hatte, glänzten die Wangen seines blonden, runden Gesichtes doch in noch ziemlich frischem Jugendroth, denn Heinrich von Troost hatte nie den Leidenschaften und verzehrenden Gemüthsbewegungen ihm nahe zu kommen erlaubt; davor hatte ihn ein gewisses Phlegma behütet, ein Erbtheil seiner holländischen Abstammung – denn von Troost's Vater war aus den Niederlanden herübergekommen und hatte sich auf dem deutschen Boden niedergelassen, in welchem die junge Pflanze des von ihm eröffneten Geschäftes so vortrefflich gedeihen sollte.

Jenes angestammte Phlegma hatte dem Erben des van Troost'schen Hauses, trotz aller seiner Thätigkeit im Dienste des Vergnügens, trotz seiner unausgesetzten Anstrengungen, jenes zählebige Ding, das sich so gar nicht umbringen lassen will, die Zeit, todt zu schlagen, denn auch erlaubt, ein ganz ansehnliches Embonpoint anzusetzen, und so stellte Heinrich von Troost in seiner ganzen Erscheinung eine jener Typen dar, von denen die Menschenkenner und Alltags-Psychologen nichts mit größerer Sicherheit zu behaupten geneigt sind, als große Gutmüthigkeit und große geistige Unbedeutenheit.

Wir werden sehen, ob sie darin immer Recht haben, oder ob sie vielleicht darin eben so gut irren können, wie in ihrer geistreichen Behauptung: »Stille Wasser sind tief,« ein Sprichwort, dessen Umwandlung in: »Stille Wasser sind seicht«, wir unbedenklich vorschlagen.

Der Baron Raesberg empfing den Sohn seines Geschäftsfreundes mit einer gewissen kalten Höflichkeit, die diesem nicht zu entgehen schien, denn er nahm Anfangs den Stuhl nicht an, welchen Raesberg ihm bot, und sagte:

Ich fürchte, ich störe Sie, Herr Baron – verzeihen Sie mir, daß ich den Wunsch meines Vaters, bei Ihnen vorzusprechen, schon so früh am Tage ausführe; aber ich glaubte, es sei Ihnen am angenehmsten, Geschäfte bei Zeiten zu erledigen, um die übrigen Tagesstunden Ruhe vor ihnen zu haben.

Das ist ganz mein Grundsatz, Herr von Troost; ich bitte, setzen Sie sich doch – leider kann ich unser Geschäft jedoch in dieser Stunde noch nicht mit Ihnen abmachen – ich erwarte noch immer meinen Rentmeister mit den Geldern, die ich Ihrem Herrn Vater einzuzahlen habe.

Sie erwarten den Rentmeister mit dem Postwagen?

Er wird wahrscheinlich mit der Post von Steinfeld herüberkommen.

Die muß vor einer halben Stunde schon angekommen sein.

Baron Raesberg sah nach seiner Uhr.

Ja, es ist zehn Uhr, sagte er etwas gedehnt, und eine Bemerkung über Heinrich von Troost's genaue Überwachung der Ankunft seines Rentmeisters schien auf seinen Lippen zu schweben, als Jener ihm zuvorkam.

Sie haben Ihren Rentmeister so sicher schon gestern erwartet – Sie können doch ganz auf ihn bauen, Herr von Raesberg?

Zuverlässig, mein Herr von Trost, antwortete der Baron mit scharfer Betonung. Wilhelmi ist seit fünfunddreißig Jahren in meinem Dienst, ich habe seiner aufopfernden Treue einen guten Theil meines Vermögens und noch weit mehr, die Rettung meines einzigen Kindes aus Todesgefahr zu danken.

Fräulein Luitgarde?

Ja, meiner Tochter.

Wie ging das zu?

Sie war sechs Jahre alt, als mein Schloß zu Steinfeld abbrannte, während ich mit meiner verstorbenen Frau verreis't war; das Kind befand sich in einem Zimmer des dritten Stockes in dem brennenden Gebäude; die Wärterin war erschrocken davon gelaufen, das Kind wäre unrettbar verloren gewesen, wenn Wilhelmi's Muth und Geistesgegenwart es nicht mir und dem Leben erhalten hätte, indem er mit kühner Todesverachtung über die schon brennenden Treppen hinauf stürmte und es aus den Flammen holte.

Das ist eine heroische That – man kann aber, meinte Heinrich von Troost, ein Kind retten und doch im Punkte des Geldes …

Herr von Troost, fiel Raesberg scharf ein, jeden Zweifel an seiner Treue würde ich mir zu einem Verbrechen anrechnen. Im Punkte des Geldes hat er nie mehr verlangt als sein sehr mäßiges Gehalt, nie die bescheidenste Zurückhaltung verleugnet, obwohl, als er uns das gerettete Kind brachte, meine Frau ihm weinend die Hände schüttelte und sagte: Betrachten Sie alles, was wir haben, als das Ihrige, denn was ist es gegen das, was wir Ihnen danken!

Das ist ein etwas gewagtes Zugeständniß, wenn es als ernst gemeint angenommen würde, entgegnete Heinrich von Troost und stand auf, um sich zu empfehlen.

Wenn Wilhelmi angekommen ist, sagte er, haben Sie wohl die Güte, es uns wissen zu lassen, damit wir die Auszahlung der Zinsen Ihres Anlehens und der zur Amortisation kommenden Partial-Obligationen beginnen lassen können.

Das soll sofort geschehen, antwortete Raesberg; aber, setzte er hinzu, als er eben draußen im Vorzimmer Schritte vernahm, – vielleicht ist er da schon.

Die Thür öffnete sich; doch nicht der erwartete Rentmeister, sondern der Bediente trat rasch ein und übergab seinem Herrn einen Brief, den der Postbote mit der Bemerkung, er sei eilig, gebracht habe.

Von Wilhelmi! sagte Raesberg, die Aufschrift erblickend – ei, weshalb schreibt er denn, statt selbst zu kommen? Es wird ihm doch nichts zugestoßen sein?

Unterdeß hatte er das Couvert abgerissen und las den Brief. Heinrich von Troost setzte sich wieder und beobachtete mit scharfen Blicken den Baron. Dieser durchlief mit ruhiger Miene die Zeilen, legte sie dann still auf seinen Schreibtisch, den marmornen Briefbeschwerer darauf, und blieb nun, indem er seine Hand auf den Tisch stützte, eine Weile in Gedanken versunken stehen.

Ist er krank? unterbrach Heinrich von Troost dieses Sinnen, in welchem Raesberg zu vergessen schien, daß er nicht allein sei.

Im Gegentheil, antwortete der Baron nach einer Pause ruhig, mit einem ironischen Lächeln; er muß sehr wohlauf sein, falls er nicht gerade in diesem Augenblick an der Seekrankheit leidet; denn er befindet sich auf der Reise nach Amerika.

Sie scherzen! rief von Troost, die Farbe wechselnd, aus.

Ich scherze nicht. Er schreibt mir von Steinfeld aus, in dem Augenblicke, wo er nach Hamburg fahren will, um in Cuxhaven den Dampfer zu besteigen, der ihn nach New-York bringen soll.

Aber doch hoffentlich ohne Ihr Geld?

Nein – mit meinem Gelde! antwortete immer in demselben kalt ironischen Tone Raesberg.

Um Gottes willen, rief nun heftig aufspringend Heinrich von Troost aus, so lassen Sie doch schnell telegraphiren – er kann unmöglich schon auf der See – er kann noch nicht an Bord des Schiffes sein – welches Datum hat der Brief –?

Raesberg nahm wie mechanisch das Schreiben wieder auf; aber ohne weiter hineinzublicken, faltete er es zusammen und legte es zu mehreren anderen auf der Ecke seines Schreibtisches.

Kommen Sie rasch zum Polizei-Amt, das ist das Nöthigste! rief Heinrich von Troost, nach seinem Hut greifend.

Bleiben Sie ruhig, Herr von Troost, sagte Raesberg – ich werde die Polizei nicht incommodiren –

Wollen Sie zuerst zum Telegraphen-Bureau?

Auch das nicht!

Wie, Sie wollen …

Ich will ihn nicht verfolgen.

Nicht verfolgen?

Nein!

Den Dieb, den Räuber Ihres Geldes wollen Sie nicht verfolgen lassen? Aber, zum Henker! meinen Sie denn, solch spitzbübisches Durchgehen sei heut zu Tage noch so leicht wie früher – wissen Sie denn nicht, daß wir von hier aus binnen einer Stunde die ganze Polizei von Hamburg und Cuxhaven auf den Beinen haben können?

Das weiß ich sehr gut. Trotzdem wird er von mir unbehindert seine Reise machen. Meine Ehre verbietet mir, ihn verfolgen zu lassen.

Ihre Ehre, gegenüber einem Schurken?

Er war der Retter meines Kindes, ehe er diese Handlung beging, um sein eigenes Kind, seinen in Bedrängniß gekommenen Sohn in New-York zu retten! Sagte ich Ihnen nicht, was meine Frau damals ihm angeboten? Er hat sich dieses Wortes erinnert – soll ich ihn deshalb ins Zuchthaus bringen …?

Und auf dieses Wort legen Sie Gewicht – das Wort einer Frau, die todt ist, die …

Desto heiliger muß mir ihr Wille sein!

Die im überwallenden Gefühl des Mutterherzens, in der Aufregung eines stürmisch bewegten Augenblicks nur einen Ausdruck suchte, um ihre Dankbarkeit zu schildern …?

Raesberg fiel Heinrich von Troost ins Wort.

Wenn wir den Aeußerungen, sagte er, die wir in Momenten aussprechen, wo unsere edelsten Gefühle erregt sind, keinen Werth mehr beilegen wollen, was kann dann noch gelten?

Erlauben Sie, Herr Baron – Niemand wird bei kaltem Blute …

Kaltes Blut – da sind wir am rechten Punkte angekommen. Was nennt man gewöhnlich bei solchen Gelegenheiten kaltes Blut?

Den Augenblick, wo man zur Besinnung kommt und weiß, was man thut!

Den Augenblick, wo der gewöhnliche Egoismus wieder die Oberhand über alle Empfindungen, Pflichten und Gewissensregungen bekommt: wo die Wallung jener ersten Eingebung verfliegt, vor der Talleyrand warnte, weil sie fast immer – gut sei!

Herr Baron, man kann auch die Selbstlosigkeit und die Großmuth übertreiben – übrigens sind unsere Ansichten über diesen Gegenstand so verschieden –

Wie unsere Standpunkte! fiel Herr von Raesberg stolz ein.

Aus den blauen flachliegenden Augen Heinrich's von Troost fiel ein Blick, den man ihnen so stechend und zornig gar nicht zugetraut hätte, auf den Baron. Hätte man diesen Blick in Worte übersetzen müssen, sie würden schwerlich anders als: Für diese Impertinenz soll er mir büßen! haben lauten können. Zugleich nahm der Sohn des Banquiers seinen Platz wieder ein, und jetzt zu all der Ruhe zurückkehrend, welche ihn während des vorhergehenden Gespräches verlassen hatte, sagte er:

Wie es Ihnen beliebt! Da Sie so entschlossen sind, Ihren Rentmeister mit Ihrem Gelde unangefochten absegeln zu lassen, so haben Sie ohne Zweifel andere Fonds zur Hand, um damit die Zinsenzahlung der Anleihe, welche unser Haus für Sie besorgt hat, zu bewerkstelligen. Morgen ist der Termin.

Ich habe nicht tausend Thaler zu meiner Verfügung.

Aber so sind Sie ja rein verloren … es sind fünfzigtausend Gulden nöthig!

Ich weiß es.

Und dennoch wollen Sie nicht …?

Kein Wort weiter darüber!

Wie Sie befehlen! antwortete Heinrich von Troost mit kalter Ironie – haben Sie nur die Güte mir Ihren Plan aus einander zu setzen, wie Sie die Sache in Ordnung zu bringen gedenken! –

Darauf hatte Herr von Raesberg nun freilich keine Erwiderung. Um auf seinen Gütern große Meliorationen durchzuführen und eine darauf lastende alte Hypothek abzutragen, hatte er durch das Banquierhaus van Troost eine Anleihe vermittelt erhalten, deren Höhe fast zwei Drittel des Schätzungswerthes seiner Güter erreichte. Die Firma van Troost hatte die Summe durch Partial-Obligationen aufgebracht, der Freiherr die Verpflichtung übernommen, an einem bestimmten Termin jährlich den Betrag der Zinsen und eine nahmhafte Summe darüber, zur ratenweisen Amortisation der Anleihe, in die Casse des Hauses van Troost einzuzahlen. Der erste dieser Zinszahlungs-Termine stand am folgenden Tage an, Wilhelmi hatte dazu die Pachtgelder, Holzversteigerungs-Beträge und andere Revenuen, welche die Raesberg'schen Besitzungen im letzten Jahre eingebracht, herüber bringen sollen, und da er damit nach Amerika abgereist war, so befand sich der Baron in einer Lage, welche so verzweifelt schien, wie sie nur immer sein konnte.

Sie wissen, hob Raesberg nach einer Pause wieder an, während welcher er mit untergeschlagenen Armen im Zimmer auf- und abgeschritten war, und Heinrich von Troost mit lauernden Blicken in seinen Zügen zu lesen sich bestrebt hatte, Sie wissen, daß die Anleihe mein liegendes Vermögen bis zu einer Höhe belastet, welche mir unmöglich machen wird, eine weitere Summe hypothekarisch geliehen zu bekommen.

Um so mehr, als es auch wider unsern Contract wäre, Herr von Raesberg, fiel Heinrich von Troost scharf ein, wenn Sie noch weitere Anlehen aufnähmen!

Richtig – ich vergaß das – es wäre auch wider unser Abkommen. Es bliebe also nichts übrig, als daß Ihr Herr Vater für mich einträte und die Zahlung der Zinsen übernähme. Zu seiner Sicherheit würde ich ihm unser Haus hier in der Stadt …

Hat Ihre Fräulein Tochter das nicht von einer Tante geerbt?

Allerdings, entgegnete Raesberg, aber meine Tochter ist mündig und wird es gern zu diesem Zwecke als Pfand hergeben. Dann mein Silberzeug, meine Gemälde, meine Bibliothek – alles das ist weit mehr werth, als fünfzigtausend Gulden.

Das mag sein. Es kommt nur darauf an, ob mein Vater einwilligt.

Zweifeln Sie daran?

Er ist ein alter Mann, und die sind in Geschäften oft unlenksam und hartköpfig. Ueberdies aber muß ich Ihnen gestehen, daß ich zweifle, ob er das Geld baar vorräthig hat. Die Geschäfte an einem Platze wie dem unseren sind nicht so großartig, daß ein Haus hier so viel Fonds baar in Cassa liegen hätte, um ganz unvorbereitet fünfzigtausend Gulden auszahlen zu können, ohne sich selbst bloßzustellen!

Ah bah! fiel Raesberg ein, wenn es sie nicht baar liegen hat – sein Credit kann sie ihm binnen ein paar Stunden schaffen.

Kein Geschäftsmann braucht gern seinen Credit bis auf den letzten Thaler.

Für Andere! sagte Raesberg bitter.

Mißverstehen Sie mich nicht, fiel Heinrich von Troost einlenkend ein – ich, was mich betrifft, wünsche ernstlich, daß mein Vater auf Ihren Antrag eingeht, und werde sicherlich alles thun, was in meinen Kräften steht, um ihn dazu zu vermögen; ich werde ihm die Sache als so unbedenklich darzustellen suchen, wie sie mir selbst erscheint … Das Unglück, welches sonst über Sie herein bräche, wäre ja auch zu groß – größer, als Sie selbst es in diesem Augenblick noch zu überschauen scheinen …

Das will sagen? fragte Raesberg.

Daß, wenn sich morgen die Inhaber der fälligen Coupons Ihrer Obligationen an unserer Casse einfinden und kein Geld erhalten, morgen Abend diese Obligationen vom Pari-Course auf 70 bis 60 Procent, kurz, auf einen Stand gesunken sind, zu dem sie Niemand verkaufen kann. Da es nun in der Welt kein grausameres, schonungsloseres, rabiateres Wesen gibt, als einen kleinen Capitalisten, der seine Zinsen nicht erhält, und dessen Papiere stürzen, so werden diese Leute sich zusammenrottiren und zur Klage schreiten. Ist das geschehen, so ist Ihr Credit rettungslos verloren, Ihr Vermögen kommt unter den Hammer, Fidei-Commisse und Lehn schützen Sie heutzutage nicht mehr …

Ich weiß das alles, alles, fiel Raesberg kurz ein.

Deshalb können Sie überzeugt sein, daß es an mir nicht liegen wird, Herr von Raesberg, fuhr Heinrich von Troost fort, wenn Ihr Wunsch sich nicht erfüllt. Habe ich doch, fügte er etwas kleinlauter und stockend hinzu – selbst einen Wunsch, dessen Erfüllung zum Theil von Ihnen abhängt, und deshalb ist es nur natürlich, daß ich alles thun werde, was Sie verpflichten kann!

Womit kann ich Ihnen dienen? fragte Raesberg unbefangen. Es versteht sich, daß es mir jetzt doppelt angenehm sein wird, wenn ich mich Ihnen gefällig zeigen kann.

Ich kann Ihnen meine Bitte erst später vortragen. Heute ist dazu die Zeit noch nicht gekommen. Doch werde ich mir dann erlauben, Sie an dieses gütige Versprechen zu erinnern.

Und weshalb nicht jetzt?

Schon deshalb nicht jetzt, weil ich vorziehe, augenblicklich zu meinem Vater zu gehen, um ihm die Lage der Dinge mitzutheilen – später möchte ich ihn nicht mehr treffen!

Damit stand der Sohn des Banquiers abermals auf und wandte sich zum Gehen. Also, sagte er dabei, es bleibt bei Ihrem Entschluß, Sie wollen Ihren Getreuen nicht verfolgen lassen?

Raesberg erledigte diese Frage durch eine unwillige verneinende Handbewegung. Ich verlasse mich auf Ihr Fürwort! sagte er dann, seinen Besuch zur Thür begleitend.

Und gewähren mir dafür später das Ihrige? versetzte Heinrich von Troost.

Bei wem? fragte der Baron jetzt betroffen.

Das ist noch ein Geheimniß! versetzte der junge Mann, indem er schlau lächelnd davon eilte.

Was zum Henker kann er meinen? fragte sich Raesberg, von der Thür zurückkehrend. Er wird doch nicht so wahnsinnig sein, auf Luitgardens Hand zu speculiren … dieser aus einem holländischen Pfefferkuchen neugebackene deutsche Baron?

Er strich sich über die Stirn und warf sich in seinen Sessel.

Es ist bei allem dem eine verzweifelt widerwärtige Geschichte, in welche mich dieser unselige Mensch, dieser Wilhelmi, mit seinem Durchgehen bringt, sagte er dann vor sich hin. Hätte er mir seinen Entschluß doch nur früher mitgetheilt und nicht so gerade im letzten Augenblicke, wo das Feuer auf den Nägeln brennt! –

Und dann dachte er an die Wirkung, welche diese Nachricht auf seine Tochter üben werde – er entschloß sich, dieselbe Luitgarden zu verheimlichen, bis die Sache auf eine oder die andere Weise, wie es ja durchzusetzen sein mußte, geordnet war. –

Aber hat man denn keinen Augenblick Ruhe? Wer kommt jetzt wieder zu dieser ungelegenen Stunde?!

Dieser unwillige Ausruf Raesberg's war an den Bedienten gerichtet, der eintrat und dem Baron den Besuch einer Dame aus dem Kreise der Bekannten seiner Tochter meldete. Nichts konnte ihm in diesen Moment und in der Stimmung, worin er sich befand, lästiger kommen, als ein Besuch der Frau von Berkhoff, einer Dame von einem gewissen Alter und von einem Wesen, dessen nicht ganz natürliche Lebhaftigkeit, gehoben von dem Bewußtsein der eigenen Liebenswürdigkeit, keineswegs das war, was Raesberg gefiel oder leicht seine Nachsicht erlangte. Aber er konnte sie unmöglich abweisen lassen, er mußte gute Miene zum bösen Spiel machen und empfing Frau von Berkhoff mit all der ceremoniösen Zuvorkommenheit, die der alte Edelmann Damen gegenüber zu verläugnen gar nicht im Stande gewesen wäre. Und doch wurde diese galante Zuvorkommenheit von Frau von Berkhoff etwas stark auf die Probe gestellt; sie kam in einer Angelegenheit, die dem alten Herrn niemals mehr als gerade heute hätte fatal und in die Quere kommen können.

Thun Sie nicht so erfreut, sagte Frau von Berkhoff auf die höflichen Empfangsreden des Barons, ich weiß ja doch, daß Sie nichts Langweiligeres kennen, als einen Damenbesuch; aber ich kann Ihnen nicht helfen, ich drohe Ihnen auch förmlich, daß ich Sie nicht eher von meiner Gegenwart befreien werde, als bis Sie mir eine Bitte, um derentwillen ich Sie zu belagern komme, erfüllen!

Das ist eine gefährliche Drohung für Sie, versetzte Herr von Raesberg mit süßsaurem Lächeln; wenn ich nun gerade deshalb es hinausschöbe, so lange ich kann, Ihre Bitte zu erfüllen …? wohlverstanden, so lange ich kann; denn wer vermöchte auf die Dauer, Frau von Berkhoff eine Bitte abzuschlagen!

O, thun Sie sich keine Gewalt an! Sie Herren vom alten Regime halten uns Frauen doch im Herzen nur für verdrießliche Gegenstände, die der liebe Gott bloß dazu gemacht hat, daß Sie daran Ihr Pflichtgefühl stärken.

Unser Pflichtgefühl?

Ist denn die Galanterie nicht, obwohl der erste Artikel Ihres Edelmanns-Codex, doch auch eine Ihrer schwersten Pflichten?

Meine Gnädige –

Ich weiß, was Sie sagen wollen – da ich aber etwas von Ihnen erlangen will, so darf ich nicht zugeben, daß Sie sich auch obendrein mit verbindlichen Redensarten in Unkosten setzen – und was ich will, das ist nichts Geringeres, als daß Sie mir die Erlaubniß geben, Ihre Tochter als erste Darstellerin, als prima amorosa in einem kleinen Festspiel zu verwenden, welches in meinem Hause zu Ehren der Vermählung meines Bruders vorbereitet wird.

Raesberg konnte, wie schon gesagt, diese Zumuthung jetzt nichts weniger als angenehm sein; aber er wußte im Augenblicke nichts anderes einzuwenden, als daß er beabsichtigte, in den nächsten Tagen aufs Land zu gehen. Frau von Berkhoff jedoch meinte, das sei es ja gerade, um was sie ihn bitte – daß er nicht abreise, bevor Luitgarde zu ihren übrigen Vorzügen auch den Lorbeer der dramatischen Darstellungskunst gefügt habe.

Da bot sich denn weiter keine Ausrede, als wenn Luitgarde etwa selbst ihre Einwilligung verweigerte. Raesberg sagte deshalb, daß er glaubte, sie werde zu schüchtern zu einem solchen Auftreten sein und aus allen Kräften ablehnen, was ihr angesonnen werde. Aber Frau von Berkhoff betheuerte, sie werde sie schon bereden, wenn sie Luitgarden nur selbst spreche, es komme nur auf die Einwilligung des Papa's an. Der Baron konnte nicht umhin, seine Tochter herbei zu bescheiden, und um das Tête-à-tête mit Frau von Berkhoff nicht zu verlängern, stand er auf, um mit Luitgarden selbst in ihrem Zimmer zu sprechen, und sie dann zu Frau von Berkhoff herüber zu schicken.


II.
Der Korb.

Als Baron Raesberg sie allein gelassen hatte, blickte Frau von Berkhoff ihm mit einem triumphirenden Lächeln nach.

Wie diese alten Herren sich doch immer geschmeichelt fühlen, wenn eine Dame sie um etwas bittet! dachte sie dabei – wenn er mir meinen Wunsch gewährt hat, werde ich aber doppelte Mühe haben, seine verschimmelte Galanterie in Schranken zu halten! Daß diese Männer so gar nicht aufhören wollen, die Cour zu machen!

Nach dieser feinen psychologischen Betrachtung griff Frau von Berkhoff zu einem der Bücher, welche auf dem Tische des Barons lagen – es war der neueste Jahrgang des gothaischen, genealogischen Kalenders – und die Lectüre desselben zerstreute die Leserin so sehr, daß sie nicht beachtete, wie eine auffallend lange Zeit verstrich, ohne daß weder der Baron zurückkam, noch Luitgarde erschien.

Endlich öffnete sich die Thür – aber nicht die, durch welche Frau von Berkhoff das junge Mädchen erscheinend erwartete, sondern die Thür vom Vorzimmer her, und rascher als seine Gewohnheit war, auch mit Spuren größerer Bewegung, als in der Regel sein rundes, volles Antlitz zu verrathen pflegte, trat Heinrich von Troost ein.

Der junge Mann hatte mit seinem Vater gesprochen und – den alten Banquier unerbittlich gefunden. Ob er einen Versuch gemacht, diese Unerbittlichkeit zu erschüttern, darüber schweigt unsere Quelle. Es ist auch kaum anzunehmen, daß er es gethan, denn die abschlägige Antwort, welche der alte van Troost auf das Begehren des Herrn von Raesberg ertheilt hatte, paßte viel zu gut in die Absichten und Plane des jungen, als daß diesem ein solches Arbeiten wider seinen eigenen Vortheil zuzumuthen gewesen wäre. Desto besser aber paßte es in seine Absichten, daß er Frau von Berkhoff hier fand, und deshalb war er augenblicklich entschlossen, sich zunächst die Gunst dieser vortrefflichen Dame zu sichern, – eine Aufgabe, welche ihm bei einiger Gewandtheit nicht unlösbar erscheinen mußte.

Ich finde Sie hier allein, meine Gnädige? sagte er, ihre Hand an seine Lippen führend.

Ich warte auf Fräulein von Raesberg, welche mir der Papa hierher schicken will …

So lassen Sie mich den Augenblick benutzen – unterbrach der junge Mann mit einem Tone, worin eine leise Ironie sich so vorsichtig barg, daß der Gegenstand derselben keine Ahnung von ihr hatte – um Ihnen zu sagen, wie vortrefflich Sie aussehen und welche ausgesuchte Toilette Sie gemacht haben!

Finden Sie? Ich habe den Hut gestern von Gerson aus Berlin erhalten.

Fräulein von Raesberg wird neidisch werden, wenn sie Sie sieht.

Frau von Berkhoff war auf ein Capitel gebracht, welches allerdings ihr Interesse erregte.

Ja, finden Sie nicht auch, sagte sie eifrig, daß es schade ist, daß das junge Mädchen so wenig auf ihre Toilette sieht? Wenn sie sich besser zu kleiden verstände, würde es genug Leute geben, die sie hübsch fänden.

In seine Antwort: Glauben Sie? legte Heinrich von Troost so viel affectirte Verwunderung, daß dieser Ausruf nicht anders konnte, als ihm die ganze Sympathie der Frau von Berkhoff zuführen.

O ja, das könnte sein, Sie glauben nicht, was der Anzug thut!

O, ich glaube das! sagte Heinrich von Troost mit boshafter Ironie.

Aber es gibt so wenig Frauen, die das verstehen!

Luitgarde hat es Gott sei Dank! nicht nöthig, es so gut zu verstehen, wie gewisse andere Damen! hätte Heinrich von Troost gern eingeschaltet.

Die jungen Mädchen, fuhr Frau von Berkhoff fort, affectiren so oft den Schein der Einfachheit – Fräulein Luitgarde an der Spitze; im Grunde aber ist es nichts als Bequemlichkeit, glauben Sie mir; sie sind zu träge, nur eine Stunde auf ihre Toilette zu verwenden …

Heinrich von Troost hielt diesen Gegenstand des Gesprächs jetzt für hinreichend erörtert; er unterbrach die Dame, indem er sie bat, ihm einen großen Gefallen zu erzeigen. Frau von Berkhoff war mit Vergnügen bereit, seine Bitte zu erfüllen.

Ich möchte Fräulein von Raesberg einen Augenblick allein sprechen, sagte der junge Mann – oh, erheben Sie nicht spöttisch lachend den Finger … es handelt sich um eine trockene Geschäftsbesprechung; mein Vater hat einen Theil von Fräulein Raesberg's eigenem Vermögen anvertraut erhalten, und ich habe einen Auftrag von ihm, den ich ihr selbst unter vier Augen ausrichten möchte – ich weiß nämlich nicht, ob es ihr lieb ist, wenn der Papa etwas davon erfährt.

Ei, ei, wer hätte gedacht, daß das zärtliche Töchterchen Geheimnisse vor ihrem Vater habe! rief Frau von Berkhoff aus.

Nun, denken Sie, es seien Geheimnisse, welche ihr nur Ehre machen – z. B. wir hätten über einen Act der Wohlthätigkeit, den ihr Vater vielleicht nicht zugeben würde zu verhandeln!

Sieh, sieh! ich wußte nicht, daß Sie Philanthrop geworden sind, antwortete Frau von Berkhoff mit etwas ungläubigem Spott.

Und doch bin ich es mit solchem Eifer, daß ich, wenn Sie mir die Hand zu unserem wohlthätigen Werke reichen, Ihnen dafür verspreche, das ganze Arrangement Ihres Festspiels zu übernehmen.

Welche Großmuth!

Sie kennen meine Erfahrung in solchen Dingen; ich schaffe Ihnen die Costüme herbei, sorge für die Coulissen – kurz, für alles, was nöthig ist!

Topp, sagte Frau von Berkhoff; angenommen! Luitgarde Raesberg kommt, ich werde einen Vorwand ergreifen, um zu gehen, und Sie sind dann mit Ihrer Partnerin in Wohlthätigkeits-Geschäften allein!

Das junge Mädchen, von dem die Rede war, trat in diesem Augenblicke ein; sie begrüßte Frau von Berkhoff sehr herzlich und Heinrich von Troost sehr obenhin und wurde nun von beiden Seiten gleich eifrig bestürmt, die ihr zugedachte Rolle in dem Festspiel zu übernehmen. Ihre anfänglichen Weigerungen wurden mit hundert Gründen widerlegt, und Luitgarde mußte sich endlich gefangen geben. Doch geschah dies nicht eher, als bis sie sich erkundigt, wer denn eigentlich das Festspiel, in dem sie auftreten sollte, geschrieben habe.

Das ist Niemand anders, als der Bruder des Präsidenten, versetzte Frau von Berkhoff, der junge Mühler, der die Hauptrolle ganz besonders für Sie gedichtet hat.

Mühler, wie kommen Sie zu dem Demokraten? fragte Heinrich von Troost.

Demokrat? wiederholte Frau von Berkhoff erschrocken.

Nun ja, wissen Sie denn nicht …

O, das sind alte Geschichten, Herr von Troost, fiel Luitgarde ziemlich eifrig ein – das war er als Student – du lieber Gott, wie viele der conservativsten Staatsmänner haben sich nicht auf der Universität zugleich mit einem Champagnerrausch in einen politischen Rausch verloren!

Ich wußte nicht, daß Sie, mein gnädiges Fräulein, die Demokraten protegiren! fiel der junge Banquier lächelnd ein.

Sie verdrehen mir die Worte – ich will den jungen Mann entschuldigen, daß er es gewesen, weil er es nicht mehr ist!

Woher wissen Sie das so genau?

Luitgarde erröthete unmerklich bei dieser Frage Heinrich's von Troost, sagte aber nichts desto weniger, indem sie ihm offen in's Gesicht sah:

Aus seinem eigenen Munde.

Hat er Ihnen sein Glaubensbekenntniß abgelegt?

Nein, Herr von Troost, aber er hat mit mir gesprochen – neulich in der Probe des letzten Gesellschafts-Concertes, wo wir, ich als letzter Alt und er als erster Tenor, neben einander standen. In einer Pause sagte er: Musik ist das Einzige, was man heut zu Tage treiben sollte – es ist die einzige Kunst, welche die Gedanken einlullt, während alle anderen Künste sie wecken!

Dann müßten also alle Virtuosen und Sänger gedankenlose, leichtsinnige Menschen sein! fiel Troost ein.

Das sind sie ja aber auch, das heißt alle sogenannten Künstler, rief Frau von Berkhoff – ich mag die Leute alle nicht, sie gehören zu den Ausnahmen, und die sind mir immer ein Horreur

Ich fragte Mühler, fuhr Luitgarde fort, weshalb er denn nicht denken wolle. Da antwortete er, er habe mehrere Jahre hindurch auf der Universität so viel tolles und gefährliches Zeug gedacht, daß es in seinem Kopfe aussehe, wie auf einem Felde, worauf eine große Schlacht geschlagen; denn meine Gedanken, setzte er ernst hinzu, sind jetzt alle Leichen, ich habe sie selbst zum Tode gebracht.

Und fragten Sie ihn nicht, weshalb er das gethan? forschte Heinrich von Troost.

Ja, entgegnete Fräulein von Raesberg, und er sagte: Meinem Bruder zu Liebe! – Heißt das nun nicht deutlich, daß er seine Weltverbesserungs-Plane und Demagogen-Gedanken seinem Bruder, dem Präsidenten, dessen zärtliche, väterliche Liebe für den jungen Mann stadtkundig ist, zum Opfer gebracht habe?

Man sollte es glauben! bemerkte Heinrich von Troost mit einem Tone, der nichts weniger als Glauben verrieth, aber desto mehr Spott und Uebelwollen.

Nun genug, fiel Frau von Berkhoff ein, Sie bringen es also nicht übers Herz, Luitgarde, unseren Bekehrten durch die Ablehnung der Rolle zu kränken, die er für Sie geschrieben hat, erfüllt von dem Gedanken, daß Sie sie spielen würden. Deshalb will ich augenblicklich gehen und das Festspiel holen, ich habe es drüben bei der Rehfeld liegen lassen, und ich bin gleich wieder hier.

Frau von Berkhoff hatte das Manuscript ihres Festspiels natürlich in der Tasche. Aber sie wollte ja Heinrich von Troost ein Tête-à-tête mit Luitgarden verschaffen, und deshalb eilte sie davon, bevor die Letztere sie unter dem Erbieten, es durch den Bedienten holen zu lassen, hatte zurückhalten können.

Bleiben Sie so lange hier, Herr von Troost, sagte sie, und bewachen Sie mir hübsch die Dame, damit ihr Vater nicht kommt und sie am Ende wieder andern Sinnes macht.

Luitgarde war nichts weniger als erfreut über die Aussicht auf ein Alleinsein mit dem jungen Banquier. Auch dieser schien, was sonst eben bei ihm nicht vorkam, einen Augenblick lang eine bedeutende Verlegenheit zu spüren; er seufzte tief auf, wie um Luft bis an die Westentaschen hinab einzuschöpfen, dann aber sagte er rasch, mit einem Tone, der von seinem bisherigen sehr verschieden und so herzlich wie möglich war:

Dem Himmel sei Dank, daß es mir endlich vergönnt ist, Sie auf ein paar Augenblicke allein zu sprechen, gnädiges Fräulein! Ich habe eine höchst wichtige Angelegenheit …

Sie erschrecken mich … doch nichts von Geldsachen? das sagen Sie alles meinem Vater …

Gerade dem darf ich nichts sagen. Hat er Ihnen den Verrath, die schändliche Handlungsweise Ihres Rentmeisters Wilhelmi mitgetheilt?

Keine Sylbe! Was ist denn geschehen?

Wilhelmi ist mit dem Gelde, das Ihr Vater heute hier an uns auszahlen mußte, nach Amerika durchgegangen.

Mein Gott! rief Luitgarde erblassend aus – aber nein, das glaube ich nicht! Wilhelmi?! der wäre fähig – jetzt gerade, wo er weiß, daß das Geld da sein muß …

Es ist aber leider so, mein gnädiges Fräulein …

Aber was beginnt nun mein Vater?

Er verlangt, daß der meinige die Summe vorstrecke, und als Sicherheit bietet er diesem hier Ihr Haus nebst seinem sämmtlichen Mobiliar-Vermögen an.

Nun ja, das deckt ja auch wohl die Summe?

Das freilich. Aber mein Vater will nicht darauf eingehen, kann es auch nicht. In eine Menge Unternehmungen verwickelt, gezwungen, in allernächster Zeit die bedeutendsten Raten-Einzahlungen für mehrere industrielle und andere Anlagen zu machen, darf er sich nicht entblößen; und außerdem wäre es ihm physisch unmöglich, bis morgen das Geld zu zahlen, weil gar nicht so viel Baar-Bestand in seiner Kasse ist, wenn er sie auch bis auf den Boden ausschüttet. Aber, wie gesagt, wenn dies auch nicht der Fall wäre, er kann eine solche Summe nicht auf so lange und ungewisse Zeit entbehren.

Ich begreife! entgegnete Luitgarde stolz und fragte mit sehr gelassenem Tone: Und was nun weiter?

Sie sprechen das in so gleichgültigem Tone aus, Fräulein Luitgarde, sagte der junge Mann, daß ich zweifeln muß, ob Sie das Mißliche der Lage Ihres Vaters auch begreifen. Wenn er die feierlich, gerichtlich eingegangene Verpflichtung, zu zahlen, nicht einhält …

So hat er sie eben nicht einhalten können, mein Herr von Troost! versetzte das junge Mädchen ruhig.

Er muß aber, um nicht entehrt und ruinirt zu sein. Und da er das Geld nicht hat, so muß mein Vater es hergeben.

Aber Sie sagten ja …

Er habe es nicht, ganz richtig, nicht in seiner Casse. Mein Vater hat aber fällige, acceptirte, gute Wechsel im Betrage von einer halben Million Gulden, wovon er binnen einer Stunde hier am Platze versilbern kann, so viel er Lust hat, jedenfalls so viel, wie genug ist; er ist also eigentlich im Stande, die Schuld Ihres Vaters zehnmal zu decken …

Nun, welche Schwierigkeit hat denn die Sache?

Eine große! Sie müssen nämlich wissen, daß dieses Geld von einer Seite kommt, von welcher mein Vater nichts annehmen will. Er ist ein Mann von altem Schrot und Korn und eigensinnig' er will das Geld, einen nach den strengsten Handels- und Rechts-Principien ihm zukommenden Gewinn, nicht annehmen, will die Wechsel zurückschicken – und um dieses Eigensinnes willen geht Ihr Vater, sein ehrlicher Name, Ihr Haus zu Grunde!

Das ist doch fürchterlich! sagte Luitgarde jetzt sehr erschrocken.

Nun hören Sie, mein gnädiges Fräulein, fuhr Heinrich von Troost fort. Ich bin entschlossen, wider den Willen und ohne Wissen meines Vaters die Wechsel an mich zu nehmen und mit einem Theile derselben der Verlegenheit Ihres Herrn Vaters ein Ende zu machen.

Wenn Sie es können …

Ich kann es, doch nicht anders als so, daß mein Vater die Sache bald, am Schlusse der Woche erfährt. Ich muß also einen Grund haben, der mich in seinen Augen entschuldigt, daß ich so schnurstracks wider seinen ausdrücklichen Willen handle!

Freilich! Ihre Freundschaft für meinen Vater …

Die darf ich, fiel Heinrich von Troost ein, meinem Vater nicht nennen, wenn ich Gründe vorbringen will, um seinen Zorn zu entwaffnen. In seinen Augen ist Freundschaft kein Grund – Freundschaft ist kein Handelsmotiv – Freundschaft existirt bei Kaufleuten nur, wenn sie, durch Interesse verbunden, Hand in Hand gehen – dann nennen sie sich »Freunde« und »gut«!

Was ist denn aber um's Himmels willen zu thun? rief Luitgarde niedergeschlagen aus. Mein armer Vater!

Vielleicht, meinte Heinrich von Troost etwas zögernd und verlegen – vielleicht ließe es sich dennoch arrangiren.

Wie? fragte Luitgarde lebhaft.

Es hängt eben von Ihnen ab, fuhr der junge Mann mit lauerndem Blicke fort.

Luitgarde zögerte nicht mit der Antwort:

O, ich bin bereit zu Allem und Jedem, wenn es gilt, meinem Vater Kummer zu ersparen.

So willigen Sie ein, sagte Heinrich von Troost, unsere beiden Häuser zu vereinigen … durch ein starkes, ein unauflösliches Band … für immer … Ihres Vaters Interesse wird das unsere dann … und dann …

Luitgarde ließ ihn nicht ausreden; mit großen verwunderten Augen, als ob sie ihn nicht verstehe, hatte sie ihn anfangs angeblickt, jetzt fuhr sie auf mit einem tödtlich erschrockenen:

Was sagen Sie?

Luitgarde, werden Sie die Meine! fuhr Heinrich von Troost fort und legte so viel Empfindung in seinen Ton, als er entweder wirklich fühlte oder auszudrücken vermochte. Desto schneidender tönte dagegen Luitgardens lauter, von erblassenden Lippen hastig ausgestoßener Ruf:

Eher in den Tod!

Mein gnädiges Fräulein, sagte Heinrich von Troost, bis unter die Haarwurzeln vor Zorn erröthend und sich erhebend, Sie sind die aufrichtigste Dame, welche ich je kennen lernte!

Verzeihen Sie den starken Ausdruck, entgegnete Luitgarde verlegen – ich will Sie gewiß nicht beleidigen … aber es ist nun einmal eine Unmöglichkeit!

Und Ihr Herr Vater …

O, der erst!

Haßt er mich so wie Sie? fragte Heinrich von Troost mit bitterem Lächeln.

Ich hasse Sie ja nicht, Herr von Troost – aber mein Vater würde – ich muß Ihnen die Wahrheit gestehen, um Ihnen jede etwaige Selbsttäuschung zu nehmen – mein Vater würde um keinen Preis in der Welt meine Hand in die Ihrige legen.

Auch nicht, wenn ihm der Bankerott droht?!

Auch dann nicht!

Wohl wegen meines neuen Adels? Oder besitze ich vielleicht noch außerdem Eigenschaften …

O mein Gott, quälen Sie mich nicht mehr so! unterbrach ihn Luitgarde, ihre innere Angst und Bewegung niederkämpfend und sich ermannend – ich kann Ihnen nur sagen, daß mein Vater meine Hand, die Hand der letzten Raesberg nur in die Hand …

Eines Junkers legt! Und Sie – ist Ihr Geschmack eben so aristokratisch?

Ich will gar nicht heirathen. Nein, nein! Ich will bei meinem Vater bis zu seinem Tode bleiben und mich dann in das Stift zurückziehen, in welches ich aufgenommen bin …

Die peinliche Zwiesprache der beiden jungen Leute wurde in diesem Augenblicke unterbrochen; Frau von Berkhoff kam zurück, ihre Manuscriptrolle in der Hand. Luitgarde athmete hoch auf. Sie hätte ihrer Bekannten aus Freude um den Hals fallen mögen, daß dieselbe dieses Tête-à-tête störte.

Hier ist das kleine Stück, sagte die gute Dame beim Eintreten; Heinrich von Troost unterbrach sie gleich mit dem Ausruf:

O, wir haben seitdem auch Komödie gespielt!

Lustspiel oder Trauerspiel? fragte Frau von Berkhoff, beide junge Leute mit höchst neugierig forschenden Blicken ansehend.

Meine Rolle, versetzte Heinrich von Troost, war eine Lustspielrolle, ein reiner Scherz; aber Fräulein Luitgarde, ich wollte sagen, das gnädige Fräulein wurden am Ende so tragisch, daß sie zuletzt in den Tod zu gehen sich anschickten.

Der ist zuweilen ein willkommnerer Freund als die Menschen! sagte Luitgarde, sich gereizt abwendend.

Frau von Berkhoff war bereits vollkommen » au fait«; sie wußte, was geschehen und daß Heinrich von Troost – einen Korb bekommen! Deshalb konnte sie sich nicht enthalten, während Luitgarde die letztangeführten Worte sprach und dabei sich abwendend zur Seite blickte, dem jungen Manne zuzuraunen:

Wie ungeschickt! Das hätte ich Ihnen voraus sagen wollen!

Heinrich von Troost antwortete nicht, aber mit dem höchsten Ingrimm dachte er: Nun weiß es Die auch noch!

Luitgarde nahm die Rolle, und Frau von Berkhoff machte ihr den Vorschlag, dieselbe gleich mit ihr durchzugehen. Heinrich von Troost ergriff diese Veranlassung und empfahl sich.

Er war begreiflicher Weise in einer wenig beneidenswerthen Stimmung. Alles, was von Rachsucht und böser Energie in seiner Seele lag, kochte in ihm auf und lechzte nach einer Vergeltung seiner Niederlage an dem, was er den impertinenten Hochmuth, den frevelhaften Uebermuth des jungen Mädchens nannte.

Der Schmerz, den er empfand, war auch nicht allein der des gekränkten Selbstgefühls; es mischte sich auch etwas von einer wahren Empfindung des Herzens hinein. Nicht gerade, daß er in Luitgarden verliebt gewesen wäre; die Fähigkeit, sich zu verlieben, das war für Heinrich von Troost ein »überwundener Standpunkt«; aber er hatte bisher eine unwillkürliche tiefe Achtung vor Luitgarden von Raesberg empfunden, wie kein anderes junges Mädchen sie ihm eingeflößt; ihre Erscheinung hatte einen großen, ja, einen außerordentlichen Reiz auf ihn geübt.

Sie war obendrein eine glänzende Partie, als die einzige Tochter eines der angesehensten Edelleute des Landes, der zwar durch ein Zusammentreffen widriger Umstände in den letzten Jahren, was man nennt, etwas »derangirt« worden, dessen Verhältnisse sich jedoch, bis zu dem Augenblicke, wo die fatale Flucht des Rentmeisters dazwischen gekommen, auf's Beste zu ordnen im Zuge waren.

Und so kam es, daß Heinrich von Troost schon längere Zeit den Gedanken in sich getragen: wenn Luitgarde einwilligen werde, seine Hand anzunehmen, so wolle er sich entschließen, dem bisherigen Junggesellenleben den Abschied zu geben. Sie allein, das sagte er sich, sei im Stande ihn zu fesseln, ihn dem wüsten, liederlichen Treiben eines jungen Hagestolz, von dem er Kopf und Herz immer leerer werden fühlte, zu entziehen; und von Tag zu Tag hatte er mehr empfunden, daß die Ehe mit ihr, mit dieser reinen, kräftigen, vornehmen Seele eine Art Hafen und rettender Port für ihn sein würde.

Aber er hatte nicht gewagt, sich offen um sie zu bewerben. Weder hatte sie selbst ihm je Beweise von Gunst gegeben, noch konnte er hoffen, Gnade zu finden in den Augen ihres gestrengen, aristokratischen Papa's – er, der durch sein »von« zuerst Gebrauch machte von dem jungen, dem ehrsamen Johann David »van« Troost verliehenen Adel.

Die Bedrängniß, in welche seit dem heutigen Morgen Baron Raesberg versetzt war, änderte die Lage der Dinge. Sie brachte Heinrich von Troost eine große Hoffnung. Wagen wir es! hatte er sich gesagt. Man muß die Gelegenheit beim Schopfe fassen. Der Alte wird dem Himmel danken, wenn er irgend ein Mittel und eine Aussicht erblickt, seiner verzweifelten Lage zu entkommen; und was Luitgarden angeht, so ist sie ein durchaus vernünftiges, entschlossenes Geschöpf, welches sicherlich auf der Stelle einsieht, daß sie in diesem Augenblicke in der Welt nichts Gescheidteres thun kann, als einzuschlagen!

Mit solchen Hoffnungen hatte Heinrich von Troost denn seine Werbung keck angebracht und – damit das Schicksal erlitten, dessen Zeugen wir waren.

Sein Gefühl in diesem Augenblicke wäre ein anderes gewesen, wenn er mit einer bloßen Speculation auf die bedrängte Lage der Familie Raesberg gescheitert wäre. Dann wäre er mit einem Aerger abgezogen, welcher sich hätte überwinden lassen. Aber in seine Absichten hatten sich Elemente des Guten, edlere Gedanken, ein gewisser moralischer Aufschwung gemischt. In Charakteren, welche aus mehr schlechten als guten Eigenschaften bestehen, bringt eine Kränkung dessen, was man ihr besseres Theil nennen kann, eine höchst intensive und höchst üble Wirkung hervor. Sie halten sich dann zu Allem berechtigt, sie wähnen dann, sich ihrer ganzen Leidenschaftlichkeit hingeben zu können ohne jeden Rückhalt. Sie haben es dann mit dem Guten versucht, das Gute hat nicht sein sollen – es ist nun ihre Schuld nicht, wenn sie's jetzt anders anfangen!

So empfand auch, wenn vielleicht nur unbewußt, Heinrich von Troost. Er hatte durch Luitgarden ein ordentlicher, solider, geregelter Mensch, ein getreuer Ehemann werden wollen. Diese guten Vorsätze waren nur gefaßt gewesen, um ihm eine bittere Kränkung zuzuziehen. Jetzt wollte er nichts mehr, als diese Kränkung vergelten, als sich rächen – es koste, was es wolle.

Während er heimschritt, aber dabei einen langen Umweg durch die Anlagen, welche die Stadt umgaben, einschlug, sann und grübelte er über die Mittel nach. Seinen Einfluß als Sohn von Raesbergs Banquier aufbieten, um den Verlegenheiten von Luitgardens Vater die möglich schlimmste Wendung zu geben – das konnte er, das lag nahe – aber seine Gedanken hafteten nicht an diesem Punkte, er wußte, daß durch Geldangelegenheiten Luitgardens innerstem Gemüthe, ihrer Seele nicht beizukommen sei. Und in ihrer Seele gerade sollte sie verletzt, getroffen werden – das wollte er, das stand ihm unerschütterlich als Plan fest!

Ja, in dem, was ihre empfindlichste Seite war – und das war ja, wie Heinrich von Troost es heute erfahren zu haben glaubte, ihr Hochmuth, ihr aristokratischer Stolz – mußte sie tief gedemüthigt werden. Wie, wenn sie, die heute seine Hand ausgeschlagen, durch eine Intrigue dahin gebracht werden konnte, ihre Hand in die eines tief unter ihm stehenden Menschen, eines Roturiers, solch eines Demokraten zum Beispiel, wie jenes Mühler, der nichts war, nichts hatte, dessen Vater ein Bauer gewesen, zu legen … wenn sie wenigstens vor aller Welt mit einem solchen Manne compromittirt werden könnte … wenn ihr Ruf durch ihn vernichtet würde – das war etwas, das dienen konnte, Heinrichs von Troost Rachsucht zu kühlen … und bei diesen Gedanken war er angelangt, als er das Haus seines Vaters erreichte.

Er begab sich hier in sein Zimmer und ließ augenblicklich einen der älteren und vertrauteren Commis zu sich rufen, einen gewandten, pfiffigen Menschen, von dem er wußte, daß er dem Kammermädchen Luitgardens, Fanny Wilhelmi, sehr angelegentlich den Hof mache.


III.
Johann David van Troost.

Während in den eleganten Wohnräumen des Freiherrn von Raesberg die Ereignisse vorfielen, welche wir mitgetheilt haben, fand eine Unterredung ganz anderer Art Statt in dem Arbeitszimmer eines vielbeschäftigten Beamten, der für den gewiegtesten Rechtskundigen im Lande galt, und dem die Regierung deshalb auch keinen geringeren Wirkungskreis als den Vorsitz des Appellations-Gerichtes in der Hauptstadt anvertraut hatte.

Der Präsident Hermann Mühler war ein Mann, der sich durch seine eigenen Verdienste, durch seinen Fleiß, seine umfassenden Kenntnisse, seinen achtunggebietenden Charakter vom einfachen Advokaten so weit in die Höhe gearbeitet hatte. Reichthum, hohe Geburt, Verbindungen hatten ihn dabei nicht unterstützt, denn er war der Sohn eines einfachen Landmannes, dessen Wohlhabenheit gerade so weit gereicht hatte, um dem Drange seines Sohnes nach wissenschaftlicher Ausbildung Befriedigung zu gewähren, indem er ihn auf dem Gymnasium der nächsten kleinen Stadt erhalten. Auf der Universität hatte Hermann Mühler sich fast ganz allein durch Stipendien und Stundengeben durchgeschlagen.

Das Aeußere des Präsidenten hatte etwas sehr Gewinnendes. Eine kräftige Gestalt, stracke und selbstbewußte Haltung, ein Gesicht, dessen kräftig angelegte Züge Energie und ausharrende Willensstärke verriethen, während um den Mund, der eigentlich viel zu fein war, um zu den übrigen mehr derb und breit angelegten Zügen zu passen, das Gepräge einer wohlwollenden Natur lag, das sich im Verkehre mit den Menschen gewöhnlich in ein gutmüthig spöttisches Lächeln verlor.

Der Präsident saß in diesem Augenblicke im bequemen Schaukelsessel neben seinem Sopha, auf dem eine andere Gestalt Platz genommen hatte, die in allen Dingen das Widerspiel des Ersteren zeigte. War der Präsident groß, so war der Mann, den Jener durch seine goldene Brille fixirte und aufmerksam anhörte, klein und gedrungen; blondes, mit grauem vermischtes Haar bedeckte kärglich den auffallend runden Kopf; die vollen Wangen waren, wie das ganze Gesicht, von einem gelbbräunlichen Teint, die Augen rund und blau, die Nase breit und groß. Der Banquier Johann David van Troost war niemals ein schöner Mann gewesen; – aber er hatte auch nie den Grazien gegrollt, daß sie bei seiner Wiege ausgeblieben – er hatte es gar nicht bemerkt, daß sie nicht gekommen waren.

Das mag nun freilich etwas nicht gar Seltenes sein, daß ihr Ausbleiben gerade Dem, den es zunächst angeht, ein Geheimniß bleibt. Von Johann David van Troost wäre aber auch, glauben wir, ihr Kommen gar nicht mit Dankbarkeit und Vergnügen aufgenommen worden; denn sein ganzes Leben hindurch hatte sein Dichten und Trachten, so lange er eben trachtete und nicht dichtete, sich um solche Dinge bewegt, wozu weder die Grazien, noch ihre Geschenke gehören. Hatten die holden Göttinnen dies vorausgesehen und waren deshalb ausgeblieben? Vielleicht – sie hatten vielleicht keinen Undankbaren machen wollen; vielleicht war ihnen aber auch seiner Zeit ganz entgangen, daß überhaupt in dem Hause des alten Kauf- und Handelsherrn Mynherr van Troost in Antwerpen eine Wiege mit einem eben angekommenen jungen Erdenbürger aufgestellt worden, denn sie mochten nie in näherer Verbindung mit besagter Firma gestanden haben.

Wie dem aber auch sei, Johann David van Troost war, wie gesagt, ganz vortrefflich ohne sie ausgekommen, er war ein steinreicher Mann ohne sie geworden und hatte sich einen Namen zu machen gewußt, ein Haus begründet, das so fest auf den Füßen stand, wie nur irgend ein »Huis« auf seinen eingerammten Pfählen in der niederländischen Heimath.

Unsere beiden Herren waren in einer Geschäftsverhandlung begriffen. Sie betraf einen juristischen Fall, über welchen Johann David van Troost das Gutachten des Rechtsgelehrten zu erhalten wünschte und der so eigenthümlicher Natur war, wie er dem Präsidenten bisher in seiner umfassenden Praxis nicht vorgekommen. Van Troost setzte die zu Grunde liegenden Thatsachen seinem Rechtsfreunde also auseinander:

Sie wissen, sagte er, daß mein Vater der Chef eines der ältesten und angesehensten Handelshäuser in den Niederlanden war; Sie wissen auch, daß ich, als der zweite Sohn desselben, nach dem Tode meines Vaters mein Vermögen aus dem Geschäfte nahm und, weil mein älterer Bruder scheel dazu sah, daß der Name van Troost noch ein zweites Mal unter den Antwerpener Firmen figurire, meine Vaterstadt verließ, um mich hier in Deutschland zu etabliren.

Weshalb traten Sie nach dem Tode Ihres Vaters aus dem Geschäfte? fragte der Präsident.

Weil ich mich mit meinem Bruder nicht vertrug. Wir hatten nie große Sympathien für einander gehabt. Er war ein herrschsüchtiger Mensch, der mich als den jüngeren Bruder seit je zu unterdrücken und zu mißhandeln strebte. So lange mein Vater lebte, mußte ich mich darein schicken – mein Bruder Daniel, war nun einmal der Aeltere, sollte nun einmal nach dem Vater der Hauptinhaber des Geschäftes werden. Als der Vater aber die Augen geschlossen hatte, da schnürte ich mein Bündel und überließ Daniel nicht allein das väterliche Haus, sondern auch meinen Geburtsort, meine Heimath!

Herrscht zwischen Ihnen und Ihrem Bruder ein großer Unterschied des Alters? unterbrach ihn der Präsident.

Keineswegs; er ist ein paar Jahre älter; aber er ist von einem eingefleischten Starrsinn; und mit dem hat er von jeher Alles durchzusetzen gesucht, was er sich vorgenommen, und will noch heute mich zwingen, mich seinem Willen zu beugen.

Und der besteht – worin?

Das eben ist der Punkt, auf den ich kommen wollte, bei dem ich Ihres Rathes bedarf. Ein Oheim von mütterlicher Seite, der in Batavia sein Vermögen gesammelt hat, starb vor einigen Jahren in Antwerpen. Mein Bruder schickte mir eine Abschrift des Testamentes, worin der alte Herr mir und Daniel das ganze Vermögen, welches er, seit er nach Europa zurückgekehrt war, im Geschäfte meines Bruders stehen hatte, nach allen Formen Rechtens vermacht. Bei diesem Testamente lag ein von dem Correspondenten der Firma Daniel van Troost geschriebener Brief, worin die Anfrage an mich gestellt wurde, in welcher Weise ich über meine Hälfte – das Ganze betrug etwas über eine Million holländischer Gulden – zu disponiren gedenke, mit dem Ersuchen, diese Frage möglichst bald zu beantworten. Dabei kein Gruß, keine Sylbe von der Hand meines Bruders, die ich doch bei dem Tode eines so nahen Verwandten schon der gewöhnlichsten Höflichkeit, schon des Anstands vor dem Correspondenten wegen hätte erwarten dürfen! Im Aerger über diese Rücksichtslosigkeit und Grobheit ließ ich meine Antwort ebenfalls von meinem Correspondenten aufsetzen und meinem Bruder schreiben, daß ich meinen Erbschafts-Antheil binnen vierzehn Tagen direct zugesandt zu erhalten wünsche. Ich dachte meinen Bruder dadurch etwas in Ungelegenheiten zu bringen, denn ich wußte, daß das Geld meines verstorbenen Oheims in Speculationen stak. Aber es schien, ich hatte falsch gerechnet – in zehn Tagen schon hatte ich meine Summe in Consols und Wechseln voll in Händen. Es blieb mir also nichts mehr übrig, als das Geld einzukassiren und meinem Bruder notarielle Quittung über den richtigen Empfang der mir zukommenden Hälfte des Vermögens meines Oheims übersenden zu lassen. Dieses geschah, und darauf hoffte ich denn nichts mehr mit Daniel zu schaffen zu haben!

Der Präsident gab während dieser Erzählung leise Zeichen von Ungeduld, wie sie Geschäftsmännern eigen sind, wenn sie sich in der für alle Leute ihres Berufs so peinlichen Lage befinden, zuhören zu müssen. Er gähnte und nahm seine goldene Brille ab, um sie mit seinem Foulard zu putzen.

Sehr brüderliches Verhältniß! sagte er, bei den letzten Worten des Banquiers spöttisch lächelnd.

Nun aber, fuhr van Troost fort, erhalte ich vor einigen Wochen aus dem Comptoir meines Bruders ein Aviso, welches dahin lautet, daß das Capital meines Oheims Willem van Bergk bei dessen Tode in einer Speculation, in einem Geschäfte mit der Havanna gesteckt habe; daß dieses Geschäft jetzt erst ganz abgewickelt und so vollständig gelungen sei, daß sich ein Gewinn von hundert Procent ergeben habe. Das Capital sei mithin verdoppelt, und mir komme noch die Hälfte des Gewinnes mit praeter propter 500 000 Gulden zu: weshalb ich ersucht werde, diesen Betrag in beliebigen Appoints auf Daniel van Troost in Antwerpen im Laufe der nächsten Monate zu ziehen.

Das war ja aber überaus anständig von Ihrem Bruder gehandelt, meinte der Präsident.

Kaufmännischer Stolz! Hochmuth! weiter nichts! fiel der Banquier ein. Weiter gar nichts – denn ich habe kein Recht auf das Geld. Ich habe ohne Weiteres die im Testamente benannte Summe mir zur Hälfte auszahlen lassen, habe darüber quittirt und habe nun mit der Nachlassenschaft meines Oheims und mit meines Bruders Berechnungen nichts mehr zu schaffen. Ich kann auf keinen Pfennig weiter Anspruch machen. Wäre das Vermögen zu Grunde gegangen, wäre die Speculation mißglückt, und hätte mein Bruder Alles verloren – mir Eins, ich hätte meine Hälfte gehabt und keinen Pfennig wieder herausgegeben!

Das wäre nun wohl auf die Art des Vertrages zwischen Ihrem Oheim und Ihrem Bruder angekommen, laut dessen das Vermögen von dem Letzteren verwaltet und in eine Speculation gesteckt wurde – bemerkte der Rechtsgelehrte.

Davon weiß ich nichts, antwortete van Troost. Man hat eben nicht für nöthig gefunden, mir das damals mitzutheilen; auch das Testament erwähnte nichts davon, und die Sache geht mich deshalb nicht an. Ich verlangte meinen Antheil an der im Testamente benannten Million, würde ihn unter allen Umständen verlangt haben, nichts mehr, nichts weniger, und damit basta!

Aber Ihres Bruders kaufmännische Ehre verlangte doch, Ihnen die Hälfte des Gewinnes anzubieten.

Und meine kaufmännische Ehre verlangt, sie nicht anzunehmen. Wo ich entschlossen war, um keinen Preis mir einen Schaden gefallen zu lassen, kann ich auch um keinen Preis einen Nutzen nehmen. Ich hatte mit meinem Bruder nur eine gemeinsame Erbschafts-Angelegenheit, aber kein Geschäft. Das will ich nun und nimmermehr haben, seitdem er mir am Sarge meines Vaters zu verstehen gegeben hat, er würde es ungern sehen, wenn ich mit ihm an Einem und demselben Platze bliebe und mich etablirte!

Sie wollen also die halbe Million, welche Ihnen angeboten wurde, nicht? Das scheint mir jedenfalls die ganze Sache höchst einfach zu machen. Dann ist ja Alles erledigt! sagte der Präsident.

Erledigt? Gott bewahre! Wissen Sie, was mir mein Bruder hat schreiben lassen, Herr Präsident? rief der Banquier aufspringend aus.

Wie soll ich das wissen? Sie seien ein Thor, vielleicht?

Nein, er hat mir schreiben lassen, er übersende mir direct die ganze Summe, und wenn ich sie von der Hand weise, werde er mich gerichtlich zu zwingen wissen, die Summe anzunehmen, von welcher weder er noch seine Kinder jemals einen Stüber anrühren würden. Dabei lagen Wechsel zum Betrage von 500 000 Gulden! Nun sagen Sie mir um Gotteswillen, was soll ich jetzt thun?

Sie einkassiren und quittiren! lächelte der Präsident.

Nimmermehr! Eher Alles in der Welt! Aber halten Sie für möglich, daß er den Proceß gewinnt?

O ja – es wäre möglich! …

So hole der Henker Ihre ganze Juristerei, wenn sie ein baares, himmelschreiendes Unrecht in Schutz nimmt.

Hören Sie mich zu Ende, Sie unglücklicher Mann, dem man eine so schreiende Rechtsverletzung anthun will, fuhr der Präsident mit seinem spöttischen Lächeln fort. Wenn Sie wirklich entschlossen sind, einer bloßen Grille wegen …

Keine Grille, Herr Präsident, wenn Sie erlauben, sagte der Banquier gereizt. Es handelt sich um meine Berufs-Ehre, die Ehre eines alten redlichen Kaufmanns.

Streiten wir darüber nicht; wir sehen die Sache in einem verschiedenen Lichte, und Jeder empfindet da anders.

Bleiben wir also da, wo wir mit Empfindungen nichts zu schaffen haben, – beim Recht! entgegnete van Troost.

Nun wohl – Ihr Bruder, sagte ich, könnte den Proceß gewinnen, wenn eine Billigung Ihrerseits vorläge, daß das Vermögen des Oheims in einer Speculation riskirt werde, respective nach des Oheims Tode darin riskirt bleibe. Da das aber, wie Sie sagen, in keiner Weise der Fall ist, so glaube ich nicht, daß man in irgend einem Lande Sie zu der Annahme des Ergebnisses der Speculation zwingen kann; es muß im Gegentheil Vortheil wie Nachtheil der Sache auf Ihren Bruder Daniel van Troost fallen. Dieser hat freilich nur als Verwalter des Vermögens Ihres Oheims, nach dessen Auftrag oder mit dessen Einwilligung gehandelt; dieses Vermögen hat sich verdoppelt, und so hat sich auch die Portion eines jeden Erben verdoppelt. Das macht die Sache nun freilich wieder zweifelhaft. Aber, und hier liegt das Punctum saliens – Sie sind nicht Intestat-Erbe, sondern Sie sind Erbe durch Testament. Sie haben die Testaments-Erbschaft angenommen, in der Voraussetzung und in so fern als dieselbe Ihnen eine halbe Million zuwendete. Sie brauchen also auch nicht nachträglich mehr anzunehmen, als wozu Sie sich durch die Annahme des Testaments verpflichtet haben!

Es ist nicht möglich, daß Shylock, der Jude von Venedig, den Urteilsspruch der Portia, der ihm sein Recht auf Antonio's Fleisch zuerkannte, mit mehr Frohlocken anhörte, daß er mit größerem Jubel sein:

A Daniel come to to judgement! yea a Daniel!
O vise young jedge, how do I honour thee!

ausrief, als der Jubel war, womit Banquier Johann David van Troost diesen Ausspruch des Präsidenten vernahm.

Sie sind ein vortrefflicher, ein ganz ausgezeichneter Jurist, Herr Präsident, sagte er; Gott soll Sie segnen für Ihren Ausspruch! Mögen Sie dafür eben so viel Freude an Ihrem Bruder erleben, als ich Aerger vom meinigen erlebt habe!

Sie meinen August, sagte der Präsident lebhaft. Nun, bisher habe ich nicht über ihn klagen können – er ist ein guter Mensch, der weiß, wie sehr ich an ihm hange …

Ein lieber, braver junger Mann, fiel der Banquier ein – ist er noch immer so auf Geld versessen, um es wegzuschenken? fügte er lachend hinzu.

Auf Geld versessen?

Wissen Sie nicht mehr – Sie brachten ihn einmal mit, als Sie mich besuchten, um mir zu sagen, daß ich den Proceß gewonnen habe, den Sie damals als Advokat für mich führten. Mein Cassirer war gerade beschäftigt, Geldrollen wegzuschließen. Ihr Bruder, er war dazumal noch ein kleiner Bursch, sah mit großen Augen zu. Als Sie weggingen, sprach ich Ihnen meinen lebhaften Dank für Ihre Bemühungen aus und wie ich wünsche, daß ich etwas thun könne, Ihnen meine Dankbarkeit zu beweisen …

Ach ja, ich erinnere mich, sagte der Präsident, es war einer von seinen naiven Einfällen …

Wie er sich auf die Zehen erhob, fuhr van Troost fort, und Ihnen zuraunte: »Laß Dir doch von dem Manne, wenn er Dir so viel Dank schuldig ist, eine von den großen Geldkisten geben, für die armen Leute, die uns auf der Straße begegneten!«

Der Präsident lachte.

Und Sie gaben, sagte er, wirklich Ihrem Cassirer ein paar Rollen mit Münze, um sie nach der Anweisung des Knaben auf der Straße zu vertheilen.

O, ein Bagatell! erwiderte van Troost – es hatte nur die schlimme Folge, daß die Bettler noch wochenlang nachher mein Haus mit ihren verdoppelten Besuchen beehrten und nach dem jungen Herrn fragten, der Geld vertheilen ließ wie ein neuer Kaiser bei der Krönung! Aber genug – ich halte Sie jetzt nicht länger auf – ich gehe von Ihnen wie ein froher Mensch.

Auch ich bin froh, daß ich durch meinen tröstenden juristischen Zuspruch Ihr kummerbeladenes Herz habe erleichtern können – Sie armer Mann, Sie! entgegnete der Präsident spottend.

Keinen Spott, Herr Präsident – in dieser Sache verstehe ich keinen Scherz!

Daß man Sie so himmelschreiend vergewaltigen und mit einer halben Million an Ihrem Recht kränken will! fuhr der Präsident, ohne sich irre machen zu lassen, fort.

Van Troost ging rasch, Hut und Stock zu nehmen, um diesen Redensarten zu entkommen, als eben hastig ein dritter Herr in das Arbeitszimmer des Präsidenten eintrat und durch sein Erscheinen den Banquier zurückhielt. Es war Niemand anders als der Baron von Raesberg.

Der Letztere kam, um mit dem Präsidenten, den er bereits oft in Geschäfts-Angelegenheiten zu Rathe gezogen hatte, über seine Lage zu reden. Er sah bald, daß der Präsident in diese bereits eingeweiht war – van Troost hatte ihm beim ersten Kommen davon geredet, und deshalb sagte er, indem er Raesberg theilnehmend die Hand entgegen streckte:

Aber ist es denn wirklich und wahrhaftig so, wie Herr van Troost mir anvertraut hat – Sie wollen Ihren Rentmeister nicht verfolgen lassen, wollen nichts thun, um Ihr Geld wieder zu bekommen?

Es ist so!

Aber das ist ja eine vollständige – verzeihen Sie mir, wenn ich's gerade heraussage …

Thorheit, wollen Sie sagen, fiel der Baron ein. Mag sein. Meine Ehre gebietet mir, solch ein »Thor« in Ihren Augen zu sein.

Nun, werden Sie nicht erzürnt, aber …

Der Banquier unterbrach den Präsidenten. Herr Baron, sagte er, halten Sie einem alten Geschäftsmanne, der die Welt kennt, ein aufrichtiges Wort zu Gute …

Reden Sie, Herr van Troost!

Mir scheint, fuhr van Troost fort, gerade die Ehre gebiete Ihnen sehr dringend die Verfolgung Wilhelmi's; denn sonst würden sich sehr viele Leute finden, die sagen: Baron Raesberg hat seinem treuen Rentmeister eine Reise nach Amerika bezahlt, damit er uns nicht zu bezahlen braucht! So wird man auf der Börse reden.

Baron Raesberg sah den Sprechenden einen Augenblick etwas verdutzt an; dann antwortete er stolz:

Die Börse ist nicht mein Gerichtshof. Ich bin Edelmann, und als solcher muß ich vor Allem die persönlichen Beziehungen zu den Menschen ins Auge fassen. Bei mir gilt die Person Alles, die Sache wenig.

Das mögen Sie halten, wie Sie wollen, entgegnete van Troost trocken: aber ich finde es sehr zu bedauern, daß zu den Verpflichtungen eines Edelmannes nicht die gehört, welche mir die erste von allen scheint – die, sein Wort zu halten.

Mein Herr van Troost, Sie gehen zu weit! entgegnete Raesberg erröthend.

Der Präsident suchte ihn zu begütigen, schloß aber auch mit den Worten: Sie treiben Ihre Großmuth zu weit, Raesberg. Es ist meine Pflicht, Ihnen dies unumwunden zu gestehen!

Es handelt sich aber gar nicht um meine Großmuth – es handelt sich um eine ganz einfache Sache. Wilhelmi hat etwas an sich genommen, was gar nicht mehr, sondern viel weniger ist, als ich ihm im Grunde schulde – meine Frau hat ihm ja schon gesagt: Verfügen Sie über alles, was wir haben!

Der Präsident schüttelte den Kopf. Bester Freund – welche Ideen! Wilhelmi hat anvertraute Gelder unterschlagen, er hat gegen die Gesetze gefehlt – das Gesetz ist unsere heiligste und einzige Richtschnur – das Gesetz befiehlt, ihn zu verfolgen und ihm seinen Raub zu nehmen, was gar noch nicht schwierig sein kann.

So reden Sie als Beamter, entgegnete Raesberg, ich aber sage, gerade, weil zwischen uns ein Verhältniß herrscht, womit das Gesetz nichts zu schaffen hat, kann ich das Gesetz nicht wider ihn anrufen.

So rufen Sie's nicht an, wenn Sie nun einmal auf Ihrem Eigensinn bestehen, sagte van Troost – aber lassen Sie dem Gesetz seinen eigenen Gang – lassen Sie mich der Polizei nur die bloße Thatsache mittheilen, und sie wird schon selbst …

Herr van Troost, erlauben Sie mir, Ihnen zu bemerken, entgegnete der Freiherr, daß, da Sie abgelehnt haben, mir mit der That beizustehen, ich auch Ihren Rath ablehnen darf!

Da haben Sie's, Troost! sagte der Präsident spöttisch lächelnd – und ich muß Ihnen obendrein gestehen, daß Sie hier eigentlich gar nicht mitreden dürfen, weil Sie gerade so gut Unrecht haben, wie Herr von Raesberg.

Worin? fragte der Baron.

Daß er eine halbe Million nicht nehmen will, die ihm sein Bruder anbietet, weil sie ihm noch aus einer Erbschaft zukommt.

Nein, nein, rief van Troost lebhaft aus – sie kommt mir nicht zu – meine Weigerung ist eine Ehrensache; kein anständiger Mann kann sich eine halbe Million auszahlen lassen, die man ihm aufdrängt, wenn sie ihm nicht gehört.

Welche Ansichten! rief der Baron verwundert aus.

Auch mir scheinen sie durchaus falsch! sagte der Präsident.

Weil Sie kein Kaufmann sind und nicht begreifen, daß es eine Ehre gibt, welche auch unsern Stand adelt, so gut wie den Ihrigen; weil ich diese Ehre aufrecht erhalten will, um so strenger, als die Geldgier leider die Krankheit unserer jungen Generation ist und gerade am schlimmsten bei unserem Stande grassirt – weil heut zu Tage Jeder nimmt, was er irgend bekommen kann, sei es nun redlich erworben, oder erschwindelt oder gestohlen …

Hoho, hoho! rief der Präsident aus.

Ich kann's nicht zurücknehmen, Herr Präsident – auch in Ihrem Stande ist die Krankheit hier und da aufgetreten, wenn Sie's nicht übel nehmen!

Mein alter Freund, ich bitte es mir aus …

Nun, mit Unterschied natürlich, fuhr van Troost fort – mit Unterschied. Der Eine gibt's wohlfeil, der Andere theuer, der Dritte so theuer, daß man's nicht mehr bezahlen kann – es sei denn unter der Form eines Antheils an einer Actien-Unternehmung mit so und so viel Actien zum Emissionspreise u. s. w. u. s. w.

Baron Raesberg zuckte die Achseln, während der Präsident kaustisch lächelte. Sie bringen uns aber vom Thema ab, sagte dieser dann. Nehmen Sie Ihre halbe Million, die Sie als Kaufmann nicht glauben nehmen zu dürfen, als Christ und helfen Sie Raesberg damit.

Nein – eben weil ich ein christlicher Kaufmann bin!

Also wirklich, mein Herr van Troost, sagte der Baron – Sie wollen mir nicht helfen – obwohl Sie wissen, daß Sie durchaus keine Gefahr laufen, daß das, was ich durch Ihren Sohn Ihnen habe als Unterpfand anbieten lassen, Ihnen die hinreichendste Sicherheit gewährt, wollen Sie mir nicht helfen?

Ich kann es nicht. Ich habe über baare 50 000 Gulden zwischen hier und morgen nicht zu disponiren! Sie glauben nicht, welche Noth um Geld jetzt ist –

Und die halbe Million, welche Ihnen zu Gebote steht, wollen Sie nicht dazu anwenden, mich zu retten – Sie wollen um einer vermaledeiten, hirntollen Grille wegen, mich, meine Familie, meinen Namen zu Grunde gehen lassen?! rief mit äußerster Entrüstung Herr von Raesberg aus.

Herr, Sie wollen um einer puren Einbildung, um einer hochmüthigen aristokratischen Caprice willen Ihr Geld nach Amerika laufen lassen und als ein Wortbrüchiger vor der ganzen Börse dastehen – was sage ich, Börse! Wissen Sie, wie viel kleine Capitalisten, dürftige Witwen, arme Teufel ein erspartes Sümmchen in Ihren Obligationen angelegt haben und darben, wenn sie morgen nicht ihre Zinsen bekommen?! Morgen könnte doch das Geld nicht mehr hier zurück sein, und wenn Sie auch alle Telegraphen der Welt spielen ließen!

Nun wohl – ein letztes Wort, entgegnete van Troost; wenn Sie den Schurken nur verfolgen lassen, so will ich sehen, was ich für Sie thun kann.

Raesberg, jetzt schlagen Sie ein! mahnte der Präsident.

Nun und nimmermehr – sparen Sie darüber Ihre Worte, Mühler, versetzte Raesberg – helfen Sie mir lieber den Eigensinn dieses entsetzlichen Mannes brechen!

Sie sehen, es ist nichts zu thun, sagte der Präsident. Wenn Sie nicht nachgeben …

Eher schieße ich mir eine Kugel durch den Kopf. Adieu, meine Herren!

Mit diesen Worten nahm Raesberg seinen Hut und ging in großer Gemüthsbewegung davon.

Troost – Troost! sagte der Präsident jetzt verweisend.

Ich kann ihm nicht helfen! Sie glauben, ich bin ein Thor. Auch daran kann ich nichts ändern. Aber, mein Herr Präsident, fragen Sie einmal sich selbst – würden Sie niemals so etwas thun, was alle Welt eine Thorheit nennt?

Nein, nie! versetzte der Präsident.

Nun, die Zeit wird's vielleicht noch einmal lehren! meinte der Banquier und damit empfahl auch er sich.


IV.
Die Brüder.

Der Präsident blickte ihm kopfschüttelnd nach, indem er im Stillen seine Betrachtungen über die eigentümliche und so ganz von einander verschiedene Art anstellte, wie jeder dieser beiden Männer seine Ehre auffaßte und jeder um dieser seiner specifischen Ehre willen ganz bereit war, die Welt untergehen zu lassen.

Dann begab er sich zu seiner Arbeit zurück, worin die Besuche ihn unterbrochen hatten – zu einer Arbeit, welche ihm eigentlich höchst unangenehm und fatal war. Es handelte sich um eine Untersuchung wider eine Reihe von meist jungen Leuten, die sich in eine geheime politische Verbindung eingelassen hatten – eine Filiale des Todtenbundes oder so etwas, wie der Staatsprocurator, der sehr eifrig die Fäden verfolgt hatte, glaubte herausstellen zu können. Die Sache hatte die Stadien des ersten Angriffs durchlaufen, die Untersuchungs-Akten lagen jetzt, nachdem der Instructionsrichter fertig geworden und der Staatsprocurator seine Anträge gemacht hatte, dem Obergerichte zur Formulirung der Fragen für die Geschworenen vor, und der Präsident hatte die Sache zum Referate selbst an sich genommen.

Während er darin versenkt war, trat geräuschlos sein Bruder August ein. Der junge Mann – denn das war er, um fünfzehn Jahre jünger als der Präsident – hatte das Vorrecht, auch wenn der Bruder in Arbeiten vertieft war, um ihn sein zu dürfen – er störte den vielthätigen Juristen nicht – weil er still und geräuschlos war, wie Mühler sagte, im Grunde aber deshalb nicht, weil der Präsident ihn liebte, an ihn mit der Zärtlichkeit eines Vaters an seinem einzigen Kinde hing.

Mühler war nicht verheirathet; der Einzige auf Erden, der ihm nahe stand, war sein Bruder August; er hatte ihn erzogen, ihn studiren lassen, für ihn gesorgt wie für seinen Sohn. Und er hatte, das sagte er mit Freuden Jedem, der es hören wollte, nur Freude erlebt an seinem Adoptiv-Kinde. August hatte sich musterhaft betragen, war ein Mensch voll Geist und voll Kenntnisse, dabei vom gewinnendsten Aeußeren, hoch und schlank gewachsen, und doch kräftig und blühend, mit Einem Wort ein junger Mann, an dem nichts auszusetzen war.

Und doch setzte der Präsident etwas an August aus, und dies war nicht selten der Gegenstand dringender Ermahnungen. August hatte keine Fehler, nur Tugenden, aber diese Tugenden waren wohlfeil errungen, denn August hatte keine Leidenschaften. Die wünschte der Präsident nun freilich auch keineswegs seinem Bruder. Aber er wünschte ihm ein ehrgeizigeres Vorwärtsstreben und weniger fatalistische Ruhe. Der junge Mann war ihm insbesondere zu viel Philosoph, was seine Laufbahn, seine Zukunft anging; er machte zuweilen Verse, und der Präsident sagte ihm oft, daß er vom Poeten nicht das Talent, wohl aber die Träumerei mitbekommen habe.

Das hatte er ihm unter Anderen noch am gestrigen Tage gesagt, wo er eine ernste Unterredung mit ihm gehabt hatte. Ein älterer berühmter Advocat in einer entfernten Stadt des Landes hatte Mühler angeboten, den Bruder des Letzteren als Geschäftsgenossen anzunehmen und, da Jener selbst sich zur Ruhe geben wollte, dem jungen Manne nach einem paar Jahren seine ganze, höchst bedeutende Praxis zu überlassen. Der Präsident glaubte, daß dieses Anerbieten nicht von der Hand gewiesen werden dürfe, August aber weigerte sich, es anzunehmen, und das Gespräch darüber war gestern abgebrochen worden ohne ein Ergebniß.

Deshalb war es heute des Präsidenten erstes Wort:

Nun, ist Dir über Nacht eine vernünftigere Ansicht von der Sache gekommen?

Eine andere, als die ich gestern hatte, nicht, antwortete August mit dem leisen Tone, in welchem er zu reden pflegte, wenn er im Arbeitszimmer seines Bruders war.

Du ziehst es also vor, statt den Wirkungskreis des geachtetsten Advocaten im Lande zu übernehmen, hier die Zahl der jungen Rechtsgelehrten zu vermehren, mit denen man die Häuser decken kann?

Wenn ich nun aber sage: Ja, und mich hier vollkommen wohl fühle, vollkommen mit meinen Verhältnissen zufrieden?

Höre, August, antwortete der Präsident, nachdem er durch die Gläser seiner Brille eine Weile den jungen Mann fixirt hatte – dieser auffallende Mangel an Ehrgeiz ist für einen jungen Menschen, der noch nichts ist, noch nichts errungen hat, nicht natürlich. Er läßt mich auf den Ueberfluß irgend eines anderen Gefühls schließen …

Das soll heißen?

Hält Dich eine Herzens-Angelegenheit hier fest? Bist Du verliebt?

Wenn ich nun abermals, versetzte August, nur um Dich ein klein wenig zu ängstigen: Ja! sagte?

Dann würde ich zuerst fragen: Wird Deine Neigung erwiedert?

So würde ich der Abwechslung wegen: Nein! sagen.

Dann würde ich noch einmal fragen: Also ganz hoffnungslos?

Wenn ich nicht irre, versetzte der junge Mann, wäre jetzt wieder ein »Ja« an der Reihe.

Und bei mir ist natürlich die Frage an der Reihe: Wirst Du als vernünftiger Mensch Dir nicht die Sache aus dem Kopfe zu schlagen suchen und, um Dir das zu erleichtern, die Stadt, auf einige Zeit wenigstens, verlassen?

Ich bedaure, daß ich, um die Regelmäßigkeit dieses schönen Dialogs nicht zu stören, mit einem: Nein, antworten muß, versetzte August.

Der Präsident schwieg einen Augenblick, dann sagte er mit herzlichem Tone: Lieber August – verbirg nicht länger hinter einer gezwungenen Scherzhaftigkeit eine so ernste Angelegenheit. Sei ein Mann, schau den Dingen klar ins Auge und reiße Dich los.

Gerade weil ich ein Mann bin, fuhr August in seinem früherem Tone fort, will ich mich aber nicht losreißen. Denn das wäre eine Flucht, und die ist für einen Mann immer schimpflich. Ich will meiner Leidenschaft Auge in Auge gegenüber bleiben, um ihr zu zeigen, daß sie mich wohl fesseln, aber nicht unterjochen kann.

August! Wenn Du wüßtest, wie besorgt das mich macht! Ich kenne Deinen Charakter – Du bist eigensinnig!

Nachgiebige Menschen haben nie eine Stelle im Leben zu behaupten gewußt!

Der Vernünftige gibt nach.

Das thue ich. Ich gebe meiner Leidenschaft nach.

Ich bitte Dich jetzt ernstlich, lieber August, sagte der Präsident, lasse den Scherz bei Seite in so ernster Sache!

Verzeihung, lieber Bruder, aber ich muß Dir wirklich sagen, daß die Sache gar nicht ernst ist. Ich brauche Dir nur den Namen meiner Angebeteten zu nennen und Du verlachst mich, wie es mit Dir die halbe Stadt thun würde.

Verdient sie Deine Liebe nicht?

Umgekehrt, meine Liebe verdient sie nicht.

Wer ist es denn?

Fräulein von Raesberg.

Mein Gott, die kennst Du ja gar nicht! Die hast Du ja nie gesprochen!

O über Euch weise Lenker des Staates! rief August Mühler spöttisch aus. Ihr macht ohne Weiteres Gesetze, die für Millionen gelten sollen, Ihr richtet wie Salome in letzter und höchster Instanz über die Streitigkeiten und Anliegen der Menschen – aber was ein Herz ist, davon wißt Ihr gerade soviel wie von einem Holzwurm – daß es nämlich pocht.

Ich habe wirklich von dieser Geschichte auch nicht das Mindeste geahnt!

Gönne mir das Vergnügen, Dich deshalb noch ein wenig zu verspotten – Du scharfblickender Menschenkenner! Hast Du Dich nicht oft gerühmt, daß Du an einer vielleicht ganz zufälligen Redewendung, einem Mienenverziehen zuweilen Schuld oder Unschuld eines Angeklagten erkannt habest, während Du an Deinem Bruder, der in Deinem Hause wohnt, an Deiner Tafel speist, eine Veränderung nicht bemerkst, die doch so ungeheuer ist, daß er selbst darüber erschrickt … und Selbstkritik üben war doch nie meine Leidenschaft, wie Du mir oft vorgeworfen hast.

Der Präsident war in Gedanken versunken und stand, die Blicke auf den Boden heftend, so da, als ob er seines Bruders letzte Worte gar nicht vernommen hätte.

Deshalb also, sagte er dann, ließest Du Dich so bereit finden, für Frau von Berkhoff ein Festspiel zu dichten? Ich begriff nicht, wie Du Deine kostbare Zeit solchem Larifari opfern mochtest!

August antwortete nicht, er nickte bloß mit dem Kopfe.

Natürlich! fuhr der Präsident fort: Sie soll ja die Hauptrolle spielen, wie ich höre.

Die spielt sie immer! bemerkte August.

Darin hast Du Recht, entgegnete der Präsident. Und deshalb, mein lieber August, ist auch gar keine Hoffnung für Dich vorhanden. Der Alte, dessen aristokratischer Stolz sprüchwörtlich ist, wird nie in eine »Mißheirath« willigen.

Und sie selbst wird sich nie in einen Mann verlieben, der einmal in seinem Leben im Geruche demokratischer Gesinnung stand! bemerkte August.

Du siehst sehr klar.

Und obendrein, fuhr August fort, würde ich, wenn auch das alles zu überwinden wäre, mich nie in eine Familie drängen, worin man mich als eigentlich der Aufnahme unwürdig betrachten würde.

Aber wenn Du das alles so klar einsiehst …

Nun, so darf ich doch das liebenswürdigste und reizendste Geschöpf, das meine Augen je erblickten, bewundern, auch lieben – obwohl die Verhältnisse mir die juristischen Wohlthaten des Rechts-Instituts, welches die Pandekten Matrimonium nennen, versagen.

Aber, um Gottes willen! was willst Du denn?

Mein lieber Bruder, ich weiß nicht, ob ich Dir das deutlich machen kann. Du armer Appellationsgerichts-Präsident bist von so vielen Supplicanten, Quärulanten und Litiganten umlagert und umringt, die Alle etwas wollen, daß Du gar nicht begreifst, wie der Himmel Dir zur Entschädigung für diese ewigen Plackereien einen Bruder schenkte, der nichts will – nicht von Dir, nicht von der Welt, ja, nicht einmal, was bei einem jungen Manne das Allermerkwürdigste ist, von seiner Angebeteten. Du könntest eigentlich für die vielen Kosten, welche Dir meine Erziehung gemacht hat, Dich entschädigen, indem Du mich für Geld zeigtest – wer zahlte nicht Entree, um einen fünfundzwanzigjährigen Menschen ohne Wünsche zu sehen!

Du verbirgst unter Scherzen das Traurigste, was ich mir denken kann! Wohin ich nach vierzigjährigem mühseligem Leben gelangt bin, da willst Du in Deiner blühenden Jugend schon stehen!

August wandte sich schweigend ab und ging zum Fenster, um eine Weile hindurch zu blicken; plötzlich kehrte er sich um, und seinem Bruder die Rechte hinstreckend, sagte er in völlig verändertem Tone: Gräme Dich nicht, Hermann, ich bin nicht unglücklich! Die Welt ist so groß, so schön, so mannigfaltig, jeder Tag bringt seinen Reiz mit sich! – Wie leicht, wie bequem hast Du mir das Leben bisher gemacht durch Deine treue Sorge – ist es nicht billig, daß ich auch endlich einmal eine Prüfung zu tragen bekomme? Ich klage nicht und bin völlig ergeben.

Der Präsident schüttelte mit dem Kopfe. Das lautet nun wieder sehr weise und philosophisch, sagte er – ist aber nicht die Sprache, welche ein junger Mann führen darf. Du hast in Deiner Lage Pflichten gegen Dich selbst, denen Du mit solchen Raisonnements nicht ausweichen darfst.

Und diese Pflichten wären?

Entweder Deine Liebe Dir aus dem Kopfe zu schlagen …

Das kann und werde ich nicht – also: oder?

Oder muthig um Dein Glück zu werben!

Das nanntest Du selbst vergeblich!

Freilich – aber wer weiß, was kommen kann! Raesberg geräth wahrscheinlich in eine Lage hinein, welche seinen aristokratischen Stolz vielleicht um ein Bedeutendes herunterspannt. Kannst Du also Luitgardens Herz auf Deine Seite bringen …

Was willst Du sagen mit dieser Lage, in welche Raesberg gerathen wird …?

Ganz unter uns – in eine gänzliche Verwirrung seiner Vermögens-Verhältnisse …

Und darauf soll ich speculiren? auf seinen Ruin? Nein, das kann ich nicht! das wäre – ja, so fühle ich's – das wäre wider meine Ehre!

Um Gottes willen, komme nicht Du auch noch mit Deiner Ehre!

Hab' ich nicht Recht?

Recht oder Unrecht – ich habe diesen Morgen so viel damit erlebt, mit der Ehre, daß ich heute kein Wort mehr dawider rede! –

Das Gespräch der beiden Brüder blieb ohne weiteres Ergebniß an diesem Tage. Der Präsident mußte aufbrechen, um sich zur Sitzung in sein Collegium zu begeben. – –

Als er heim kam, wartete seiner eine Mitheilung, welche seine Gedanken, die schon während der Sitzung nur mit Mühe sich hatten den Vorträgen zu- und von der Angelegenheit seines Bruders abwenden lassen, noch viel intensiver und schmerzlicher auf den Letzteren richtete.

Der Untersuchungsrichter, ein noch junger Mann, der große Verpflichtungen gegen den Präsidenten hatte und dies immer dankbar anzuerkennen beflissen war, war im Sprechzimmer Mühler's, wo er auf dessen Heimkehr nach Hause geharrt; er begleitete ihn nun die Treppe hinauf in sein Arbeitszimmer.

Sie sind ein eitler Mann, mein lieber Assessor Bendemann, sagte der Präsident zu ihm, als sie oben angekommen waren – ich wette darauf, Sie kommen, um Lobsprüche zu hören über die Art und Weise, wie Sie die Untersuchung in unserem vermaledeiten Hochverraths-Processe geführt haben. Ist es nicht so?

Wegen des Hochverraths-Processes allerdings komme ich zu Ihnen, antwortete der Assessor …

Nun, ich will Ihnen das Vergnügen machen und Ihnen sagen, daß Sie vortrefflich gearbeitet haben, beinahe zu gut!

Das heißt?

Sie haben beinahe mehr, als mir lieb ist, aus den armen Teufeln von Angeklagten heraus inquirirt – diese von Anderen oder von ihren eigenen unvernünftigen Schwärmereien verführten Menschen dauern mich in der Seele.

Auch mich, antwortete der Assessor – aber was können wir machen? Uebrigens aber thun Sie mir Unrecht, Herr Präsident. Ich kam nicht, um das so schmeichelhafte Lob zu empfangen, welches Sie mir zu spenden so gütig sind. Ich wollte Ihnen nur sagen, daß sich nachträglich noch ein Zeuge in der Sache gemeldet hat. Noch ein Zeuge?

Heute Morgens – ich habe ihn jedoch nicht vernommen, und ich wollte von Ihnen, Herr Präsident, die Billigung hören, daß ich dieses Zeugniß abgewiesen habe.

Ihre Gründe?

Sind folgende. Der Mensch, der zu mir kam, um vernommen zu werden, ist ein geheimer Polizei-Agent, ein mir widerwärtiger Bursch, der, mit allen Hunden gehetzt, weiß der Himmel, welche Rollen bereits im Leben gespielt hat, und sich in das Vertrauen unserer »Hochverräther« auf eine nichtswürdige Weise scheint eingeschlichen zu haben.

Deshalb werden Sie aber sein Zeugniß nicht ablehnen dürfen, versetzte Mühler. Ueber den Werth desselben haben später die Geschwornen zu urtheilen. Sie müssen ihn vernehmen!

Entschuldigen Sie, Herr Präsident, wenn ich noch Bedenken äußere. Der Zeuge hat gegen mich Andeutungen fallen lassen, wonach sich seine Aussage hauptsächlich gegen einen jungen Mann richten wird, der sich immer musterhaft betragen hat und seitdem er die Universität verlassen, nur seinen Studien gelebt zu haben scheint; an dem man nie seitdem Spuren politischen Treibens wahrgenommen, und der vielleicht nur durch den auffallenden Ernst, der auf seiner jungen Stirn liegt, verräth, daß er der eingekerkerten Genossen gedenkt, mit denen ihn einst dieselben Illusionen und jugendlichen Schwärmereien zusammen brachten. Soll ich nun den sich, weiß der Himmel, aus welchen Gründen, zudrängenden Zeugen vernehmen und, was die unmittelbare Folge sein wird, den betreffenden jungen Mann auch in den Kerker führen lassen?

Das ist nun einmal Ihre Pflicht – sie mag hart sein – aber sie ist nicht zu umgehen!

Herr Präsident – schenken Sie mir diesen einen Unglücklichen, sagte der Assessor mit einem erzwungenen Lächeln. Ich liebe ihn, wie einen Bruder!

Mein lieber Herr Assessor – Sie wissen, wie ich meinen Bruder August liebe! Er ist mein einziger näherer Verwandter; seit mein Vater, der ein ehrlicher Landmann war, gestorben ist, habe ich ihn erzogen, und ich glaube nicht, daß ein Vater mehr Zärtlichkeit für ein Kind haben kann, als ich für diesen Bruder … trotzdem aber, wenn ich heute seinen Namen unter den Verschwörern in den Akten fände – ich würde augenblicklich veranlassen, daß er behandelt würde wie jeder Andere, daß er sofort den Untersuchungsarrest der anderen Angeklagten theilte. Mag es sich hier hundert mal mehr um Thorenstreiche als um ein Verbrechen handeln – wir dürfen nichts Anderes thun, als auf dem durch die Gesetze uns gewiesenen ganz bestimmten Wege wandeln!

Bedenken Sie wohl, was Sie sagen, Herr Präsident – wo würden Sie die Kraft finden, Ihren eigenen geliebten Bruder …

Die Kraft? die müßte mir ganz allein die Amts-Ehre geben.

Dann habe ich freilich nichts mehr vorzubringen: der junge Mann, von dem es sich handelt, ist Ihr Bruder!

Der Präsident erblaßte. Er sah den Assessor mit großen Augen an, ohne ein Wort zu sprechen.

Herr Präsident, begann der Letztere nach einer Pause – lassen Sie die Sache auf sich beruhen. Die Untersuchungs-Akten liegen Ihnen geschlossen vor. Keiner der Angeklagten ist darin zum Verräther an Ihrem Bruder geworden. Der Name desselben ist nicht einmal genannt darin. Ob noch ein Zeuge nachträglich vernommen werden soll oder nicht, – das steht ganz bei Ihnen – das liegt ganz in der vom Gesetze Ihnen gegebenen discretionären Gewalt. Sie sind Niemandem darüber Rechenschaft schuldig.

Nein, Niemandem als mir selber, Bendemann – darum vernehmen Sie den Zeugen, und lassen Sie dann nach Befund der Aussagen desselben geschehen, was Ihr Dienst Ihnen vorschreibt!

Ich soll … wirklich …

Thun, was die Ehre uns gebietet – lassen Sie August arretiren!

Nun, wie Sie's befehlen!

Aber sorgen Sie, daß es ohne Aufsehen, etwa erst in der Dunkelheit geschieht!

Der Präsident war leichenblaß, als er mit fester und ruhiger Stimme diese Worte aussprach. Dann aber wandte er sich, und vor dem Assessor die Bewegung seiner Züge verbergend, winkte er diesem gebieterisch, sich zu entfernen.


V.
Die Leseprobe.

Heinrich von Troost hatte unterdeß seine Plane gemacht, festgestellt, ihre Ausführung gesichert – sie sollten ihn glorreich rächen für den beispiellos schmählichen Korb, den er heute erhalten hatte.

Ein eigenthümlich sarkastisches Lächeln spielte um seine Lippen und in den Fältchen neben seinen hervortretenden wasserblauen Augen, als er gegen Abend in die Wohnung der Frau von Berkhoff trat. Er wurde in ihr Besuchzimmer geführt, sie selbst war noch nicht sichtbar, und Heinrich von Troost mußte sich gefallen lassen, auf die Dame vom Hause zu warten. Er nahm eines der neuen auf dem Albumtische liegenden Bücher und blätterte darin; aber unruhig warf er es bald wieder von sich, ging auf und ab und sprach laut vor sich hin einige halb abgebrochene Worte und Sätze, wie Jemand, der innerlich sehr lebhaft von etwas beschäftigt ist. –

Gleich darauf trat August Mühler ein. Er kam zu der auf diese Stunde anberaumten Leseprobe. Troost wandte sich ihm lebhaft entgegen und hieß ihn im Namen der Hausfrau mit einer spöttischen Art von Höflichkeit willkommen.

August Mühler entging dieser Ton nicht, und er sagte deshalb äußerst kalt: Ich bedaure sehr, zu früh zu erscheinen.

Sie kommen nicht zu früh, meinte Heinrich von Troost, aber unsere Dame kommt zu spät. Sie kann sich nie von ihrem Spiegel losreißen, weil dieser ihr immer noch einige Reize zeigt, die – erhöht werden können!

August Mühler suchte diesen Spott auf die Dame, in deren Hause sie sich befanden, zurückzuweisen, indem er, ohne über den Scherz Troost's zu lächeln, versetzte:

Es gibt doch auch andere Abhaltungen als den Spiegel!

Aber Heinrich ließ sich nicht irre machen in seinem moquanten Tone.

Für Frau von Berkhoff in diesem Augenblick schwerlich, sagte er – sie will vor ihren Verehrern nur im höchsten Glänze der Schönheit aufleuchten – denn Verehrer sieht sie in uns Allen, in mir wie in Ihnen – Anbeter, deren Demuth und Schüchternheit allein die offene Bewerbung zurück hält.

Das ist denn doch etwas zu boshaft!

Aber wahr. Diese Frau hat das Glück, in jedem Manne, der ihr naht, einen feurigen Liebhaber zu sehen. Behandelt man sie kalt, so erblickt sie darin Zurückhaltung, die nicht aufzutreten wagt. Behandelt man sie höflich, so scheint ihr das Courmacherei; ist man unhöflich, so ist das Ausbruch von Eifersucht auf einen begünstigten Anbeter – ja, sie geht so weit, daß sie in jeder Heirath, die in ihrem Bekanntenkreise geschlossen wird, eine Heirath par dépit sieht, weil man ihre Hand nicht zu erhalten wußte!

Aber wie können Sie das wissen?!

Weil sie selbst es verräth; weil sie zu ihrer Eitelkeit nicht so viel Verstand erhalten hat, wie die übrigen Frauen, die nicht besser, aber klüger sind und es zu verbergen verstehen.

Sie haben eine sehr böse Zunge gegen die Frauen.

Das werden Sie nicht mehr sagen, entgegnete Troost lachend, wenn Sie erst meine Zunge sich über die Männer ergehen hören.

Gott bewahre mich davor! sagte August Mühler, ihm kalt den Rücken drehend.

In diesem Augenblicke und zu rechter Zeit, um einem gereizteren Tone der Unterhaltung zwischen den beiden jungen Männern zuvorzukommen, trat Frau von Berkhoff in das Zimmer, neben ihr Luitgarde.

Heinrichs von Troost boshafte Voraussetzung schien durch das Aeußere der Frau von Berkhoff vollständig gerechtfertigt. Sie war sehr geputzt, wenn freilich auch nicht überladen, nicht auffallend, nicht ohne Geschmack.

Luitgarde war dagegen sehr einfach gekleidet. Sie trug ein dunkles Tuchkleid, das Frau von Berkhoffs Auge als für einen Abendbesuch denn doch zu anspruchslos und bescheiden bereits verwundert gemustert hatte.

Die Frau vom Hause entschuldigte sich, daß sie die Herren habe warten lassen.

Mein Engel hier, sagte sie, auf Luitgarden deutend, hatte mir allerlei mitzutheilen.

Auch wir haben uns allerlei mitgetheilt! sagte Heinrich von Troost sarkastisch.

Aber, fiel August Wühler ein, ein Engel war nicht dabei.

Jetzt haben Sie ja einen Engel, bemerkte Frau von Berkhoff, indem sie mit lauerndem Blicke die beiden jungen Männer beobachtete.

Einen Engel? zwei Engel – sagen Sie zwei, gnädige Frau! flüsterte Heinrich von Troost mit einem tiefen Seufzer.

Daß Sie nicht lassen können, Complimente zu machen, sagte Frau von Berkhoff, Heinrich von Troost schäkernd mit ihrem Fächer auf den Arm schlagend – Sie wissen doch, wie wenig ich das leiden kann!

Nein, das wußte ich wahrhaftig nicht! versetzte Heinrich, den Verwunderten spielend.

Frau von Berkhoff drehte ihm schmollend den Rücken und wandte sich an August Mühler mit der Bitte, Platz zu nehmen und das Manuscript des Festspiels hervorzuziehen, während sie ihr Exemplar aufrollte und vor sich auf den Tisch legte.

Luitgarden war dies sehr willkommen, sie konnte in der Gemüthsstimmung, in welcher sie war, nur wünschen, daß die Sache, an der sie jetzt doppelt gezwungen Theil nahm, bald abgemacht und sie ihrer Freiheit und ihren sorgenvollen Gedanken wiedergegeben werde; dazu kam noch, daß ihr die Anwesenheit Heinrichs von Troost nur drückend und unangenehm sein konnte. Sie zog also auch ihre Rolle hervor und sagte dabei mit großer Freundlichkeit zu Mühler, der etwas scheu und einsylbig sich zurück hielt:

Frau von Berkhoff muß Ihnen sehr dankbar sein, daß Sie uns für dieses Festspiel so viel von Ihrer kostbaren Zeit geopfert haben!

Kostbare Zeit! rief Heinrich von Troost dazwischen – ich wußte gar nicht, daß Herr Doctor Mühler so viel Prozesse hat!

Das weiß ich auch nicht, antwortete Luitgarde mit scharfem Tone – ich denke mir nur, daß er zu den Menschen gehört, die die Zeit benutzen, während wir sie todtschlagen – denen sie also gerade so kostbar ist, wie zum Beispiel Ihnen wohlfeil.

Womit habe ich diesen Stich verdient?

Es war kein Stich, antwortete Luitgarde – nur meine ehrliche Meinung.

Meinen allerunterthänigsten Dank! Aber ich bin ja an Ihre Offenherzigkeit gewohnt – ich kenne sie! sagte Heinrich von Troost bitter.

Nun haltet einmal Frieden! fiel Frau von Berkhoff ein, deren Beobachtung kein Zug in den Gesichtern ihrer Gäste entging – lesen wir, ich bitte!

Ist's lang? fragte Heinrich von Troost.

Sehr lang! entgegnete August Mühler. Ich rathe Ihnen deshalb, Ihrer Geduld nicht zu viel zuzumuthen.

Sie sind sehr gütig. Ich werde aber, wenn Sie erlauben, aushalten. Der Himmel, der mir grausam alle anderen Talente versagte, hat mir wenigstens Eines gegeben – die Geduld!

Und das nennen Sie ein Talent? fragte Frau von Berkhoff.

Das größte heutzutage. Die übrigen Talente hat Jedermann, Niemand aber hat das Talent, die der Andern zu genießen. Was hilft es, wenn Jedermann Producent ist, wie Fräulein Luitgarde in der Musik, Frau von Berkhoff im Zeichnen reizender Albumblätter und Herr Doctor Mühler im Festspieldichten – wenn aber Niemand Consument ist und Niemand die Geduld hat, diese Hervorbringungen anzuhören, anzusehen, zu genießen?

Also hat Niemand Geduld und Lust, meine Zeichnungen anzusehen, Fräulein Luitgardens Gesang anzuhören, Herrn Mühlers Verse zu genießen? Das ist für uns Alle eine äußerst verbindliche Versicherung, Herr von Troost!

O, Sie verdrehen meine Worte, meine Gnädigste.

Keineswegs, versetzte Frau von Berkhoff – das haben Sie deutlich und sehr verständlich gesagt. Aber wir wollen Sie Ihres Consumentenamtes entbinden. Gehen Sie nach Hause!

Schicken Sie mich auch fort, mein gnädiges Fräulein? wandte sich Heinrich von Troost an Luitgarde.

Ich? Mir ist es gleichgültig, ob Sie gehen oder bleiben! Halten Sie nur Ihren gottlosen Mund!

Stumm wie ein demokratischer Volksredner vor dem Untersuchungsrichter!

Sie lieben höchst unpassende und sonderbare Vergleiche zu machen, Herr von Troost! fiel August Mühler ein.

Finden Sie?

Fangen Sie an, Herr Doctor! wandte sich Luitgarde an Mühler.

Sie bleiben also, Herr von Troost? fragte der Letztere.

Wie Sie sehen!

August Mühler stand verstimmt auf. Ich habe nicht die rechte Stimmung zum Lesen, sagte er;– könnten wir nicht ein anderes Mal …

Er, oder vielmehr die eifrige Protestation, welche Frau von Berkhoff eben gegen diesen Vorschlag einlegen wollte, wurde unterbrochen. Ein Diener brachte ein Billet für Heinrich von Troost.

Dieser warf einen Blick hinein und erhob sich. Sie werden mich los, meine Herrschaften! sagte er. Mein Vater wünscht mit mir etwas zu besprechen.

Er empfahl sich rasch. –

August Mühler hatte nun augenblicklich die Stimmung zum Lesen wieder gefunden, und zur großen Genugthuung der Frau von Berkhoff begann man endlich, wozu man zusammen gekommen war.

Es waren schöne und melodische Verse, die August Mühler gedichtet hatte, und während er seine Rolle vorlas, mit seiner wohllautenden Stimme, die in eigenthümlicher Weise zum Herzen drang, fühlte sich Luitgarde tief bewegt – diese Poesie zog sie unmerklich aber mächtig aus dem Kreise ihrer trüben und beängstigenden Gedanken fort; je länger sie August Mühler anhörte, desto freier athmete ihre Brust, desto mehr von dem unverkümmerten frohen Lebensmuthe, der bis heute noch so wenig beeinträchtigt gewesen war, kehrte zu ihr zurück – ihr Auge ruhte dabei auf den milden, sprechenden Zügen des jungen Mannes, und ihre Wangen, welche heute den Tag über so viel blässer als gewöhnlich gewesen waren, fingen an, sich auf's Neue zu röthen.

Mehrere Male blickte August Mühler auf; Beider Augen begegneten sich dann, aber statt die ihrigen rasch niederzuschlagen, hielt das junge Mädchen seinen Blick voll und ernst aus … und ihre Augen versenkten sich in einander, als ob ein Paar Seelen sich begegneten, Beide zu groß und zu ernst gestimmt, um sich nicht in einfacher Aufrichtigkeit gerade und offen zu gestehen, daß sie einander suchten.

Mit fester Stimme las Luitgarde ihren Theil des Stückes, das sie als die Geliebte des jungen Mannes auftreten ließ, dessen Rolle August Mühler übernommen hatte.

Sie las vortrefflich, der Dichter war doppelt entzückt, seine Verse von so schönem Munde zu vernehmen und zugleich Luitgarden in das fingirte poetische Verhältniß zu ihm als »Liebhaber« so pathetisch eingehen zu sehen.

Als er las:

Du schwebst als Else, wenn der Mondschein dämmert,
Ich bin der Gnome, der im Schachte hämmert;
Der schönste Stern ist Deines Lebens Leuchte,
Ein karges Lämpchen strömt mir Licht in's feuchte,
In's kalte, trübe Dunkel meiner Welt,
Die nie von oben mehr ein Strahl erhellt –

antwortete sie mit dem Tone einer vor Rührung stockenden Stimme:

Wer kann die Schleier unsrer Zukunft heben?
Und doch –ich kann den kleinsten Trost nicht geben!
Ich fühl' es klar, ich reiche meine Hand
Dem besten Freund, den ich hienieden fand,
Zum letzten Mal, zum letzten Abschied dar –
So tief erschüttert, daß er selbst nicht weiß,
Wie trostlos schmerzlich und wie brennend heiß
Die Thräne, die mein Auge feuchtet, war!

und Frau von Berkhoff rief aus:

Mein Gott, ich glaube, Sie werden im Ernste gerührt! Aber, Doctor, das müssen Sie ändern, das ist ja viel zu traurig!

Aendern?! fragte Mühler, wie aus einem Traume durch den Ruf der Dame vom Hause aufgeweckt – Aendern? da ist nichts zu ändern – das ist nun einmal so traurig!

Ich verstehe Sie nicht! Weshalb braucht es denn …

Frau von Berkhoff endete ihre Frage nicht. Sie wurde davon abgehalten durch den Eintritt des Dieners, der meldete, die Kammerjungfer von Fräulein von Raesberg sei draußen und bringe ein Billet vom Herrn Baron an das gnädige Fräulein.

Luitgarde nahm das Briefchen ihres Vaters, das der Bediente ihr reichte, und nachdem sie einen Blick hineingeworfen, sprang sie überrascht auf.

Wie merkwürdig! sagte sie – mein Vater schreibt mir, unser entflohener Rentmeister halte sich in einem Orte jenseits der Grenze auf; er sei deshalb augenblicklich dahin abgereist, ohne durch Warten auf meine Heimkehr Zeit zu verlieren. Ich solle ihm aber sogleich folgen, und zwar solle ich, da er des Beistandes eines Juristen bedürfe, Sie, Herr Doctor Mühler, der ja auch bei Frau von Berkhoff sei, gleich mitbringen … auf der ersten Poststation, wo er ohnehin befürchte, durch die Herbeischaffung frischer Pferde aufgehalten zu werden, wolle er uns erwarten. Ist das nicht seltsam?

Auf jeden Fall stehe ich zu Befehl! sagte August Mühler.

Aber wozu gebraucht mein Vater mich bei dieser hastigen Verfolgungsreise? Das ist mir ein Räthsel!

Er würde Ihnen die Reise nicht zumuthen, wenn er nicht ganz bestimmte Gründe dazu hätte! meinte Mühler.

Ja, sagte Luitgarde – es ist nichts Anderes zu thun, als zu gehorchen – wo ist Fanny?

Das Kammermädchen wurde hereingerufen, sie wußte keine weitere Auskunft zu geben.

Der gnädige Herr, berichtete sie mit einiger Verlegenheit, welche Luitgarde in ihrer Aufregung gar nicht bemerkte und die Frau von Berkhoff ihrer Schüchternheit zuschrieb – der gnädige Herr habe ihr das Briefchen nicht selbst gegeben, es sei ihr nachgebracht worden, als sie ausgegangen, um einige Commissionen zu besorgen … mündlich solle sie nur hinzusetzen, daß sogleich ein Wagen bei Frau von Berkhoff vorfahren werde, der Herr Baron habe noch dafür gesorgt, daß dies geschehe, und auch dafür, daß Mäntel und Enveloppen für das gnädige Fräulein im Wagen seien – sie möge nur ja eilen!

So werden Sie mir förmlich entführt, sagte Frau von Berkhoff – wann werden wir jetzt unsere Leseprobe fortsetzen?

Es ist Ihnen ja zu traurig, das Stück, entgegnete August Mühler – also desto besser, daß ich nun vielleicht die rechte Stimmung bekomme, zu ändern und es heiterer zu machen!

Nun ja, das ist gut!

Man hörte in diesem Augenblicke draußen den Wagen vorrollen.

Sie haben doch sicherlich keine Verhinderung, Herr Doctor? fragte Luitgarde.

Nicht die mindeste – ich stehe ganz zu Ihren Diensten!

So kommen Sie! rief Luitgarde und hüllte sich mit vor Aufregung zitternden Händen in ihren Shawl. Fanny brachte den Hut. Mühler stand eben im Begriffe, dem jungen Mädchen den Arm zu reichen, als Heinrich von Troost wieder erschien.

Komme ich zu spät? Die ganze Leseprobe ist schon zu Ende? fragte er mit erheuchelter Verwunderung.

Nur unterbrochen, entgegnete Fräulein von Raesberg, ich werde von meinem Vater abgerufen. Und Herr Doctor Mühler?

Begleitet mich!

Ich gratulire, mein Herr Doctor, versetzte Heinrich von Troost mit unaussprechlicher Bosheit.

Es wäre besser, wenn Sie uns gehen ließen und den Weg nicht länger verträten, antwortete Luitgarde, und nach einem freundlichen Abschiedsgruße gegen Frau von Berkhoff eilte das junge Mädchen, gefolgt von August Mühler und ihrer Zofe Fanny, davon.

Aber was sagen Sie dazu? rief Heinrich von Troost aus, als er mit Frau von Berkhoff allein war.

Nun, so Wunderbares finde ich daran nichts! Der Alte steht nun einmal unter dem Pantoffel der Tochter und will sie bei sich haben in einer wichtigen Angelegenheit – von einem durchgegangenen Rentmeister war die Rede … dabei hat er denn auch einen Juristen nöthig, und da Doctor Mühler gerade zur Hand ist, so hat er ihn bitten lassen, mitzukommen – das ist im Grunde sehr natürlich!

Unglaublich! Der alte Raesberg begeht keine solche Unschicklichkeit! eiferte Heinrich von Troost.

Unschicklichkeit? Mein Gott! in den Augen des alten, hochmüthigen Mannes ist ein niedrig geborener Mensch wie Herr Mühler ganz sans conséquence; und wäre er schön und liebenswürdig wie ein Gott, der Sohn eines Dorfschulmeisters oder Bauers, oder was er ist – kann seine hochgeborene Tochter gar nicht compromittiren!

Wie weit geht das?

O, sehr weit, antwortete Frau von Berkhoff, ich glaube, bis zu einem Tête-à-tête mit ihr in ihrem eigenen Zimmer.

Das glaube ich nicht, versetzte der junge Banquier. Ich glaube im Gegentheil, daß der alte Raesberg viel zu sehr auf alle äußeren Anstandsformen hält, um so etwas zu erlauben oder gar zu veranlassen.

Nun, und was glauben Sie denn? fragte Frau von Berkhoff verwundert.

Ich glaube, daß er gar nicht schuld an dieser seltsamen Vergesellung der Beiden ist.

Er hat ihr ja ein Briefchen geschickt, worin er selbst es ihr schrieb, sie solle mit Mühler zusammen ihm auf die nächste Poststation nachkommen!

Ein Briefchen?

Nun ja!

Meinethalb – auch andere Leute können Briefchen schreiben.

Was wollen Sie damit sagen?

Daß Raesberg das Briefchen gar nicht geschrieben hat, sondern daß das Ganze ein Streich des kecken Demokraten ist, um mit der schönen Luitgarde zusammen allein im Wagen zu sitzen!

Gott, welcher Argwohn! rief Frau von Berkhoff aus. Wie wäre das möglich! Wie könnte er das wagen! Einen untergeschobenen Brief! Das würde ja bald entdeckt werden! Und dann ist Mühler ja auch gar nicht allein mit ihr, – ihre Fanny begleitet sie ja.

Wenn er das gestattet! Sie kennen diese Art Leute nicht. Die wagen Alles.

Ach, das spricht alles der Neid aus Ihnen! Mühler gehört ja zudem gar nicht mehr zu den Demokraten, er kümmert sich ja gar nicht mehr um Politik!

Was wissen wir davon?

Sein Bruder würde das schon nicht dulden.

Wenn das alles auch – glauben Sie mir, meine Gnädigste, ich sehe hinter diesem geheimnißvollen Billet des alten Raesberg den jungen Doctor … Bemerkten Sie nicht sein Erblassen und Erröthen, die Eile, womit er ihr den Arm bot und davon hastete?

Das kann auch andere Gründe haben!

Ich wüßte nicht! Denken Sie an mich, wenn heute Abends spät der alte Raesberg zu Ihnen kommt und seine Tochter bei Ihnen sucht!

Da sei Gott vor …

Gnädige Frau! ertönte, Heinrich von Troost unterbrechend, in diesem Augenblicke die Stimme des eingetretenen Bedienten hinter ihnen, ich muß Ihnen etwas höchst Merkwürdiges sagen …

Was gibt es? alter Valentin, erzähle!

Als ich vorhin, sagte der Bediente, Fräulein von Raesberg in den Wagen geholfen hatte und er mit ihr und dem Herrn Doctor Mühler davonrollte …

Ist denn Fanny nicht mit eingestiegen? fragte Frau von Berkhoff.

Freilich, gnädige Frau, die auch, freilich; aber als der Wagen davonrollte, sehe ich plötzlich an unser Thor zwei Polizeidiener treten. Ich denke eben: Was mögen die hier zu vigiliren haben? – als der eine auf mich los geht und mich ziemlich barsch fragt: Wer war der Mann, der mit den beiden Frauenzimmern in den Wagen stieg? – Ich sagte: Um Vergebung, mein Herr, nur das eine war ein Frauenzimmer, das andere war die gnädige Fräulein von Raesberg …

Und was antwortete der Polizeidiener auf diese loyale Zurechtweisung? fragte Frau von Berkhoff ihren Bedienten.

Er lachte mich aus, versetzte der Letztere, und er sagte, bei Nacht könne man nicht wissen, welche Titulatur einer Person gebühre, die in Mantel und Schleier gehüllt sei! Dann aber wollte er wissen, wer der Herr bei der Fräulein gewesen sei. Darauf sagte ich, das wäre der Herr Doctor Mühler gewesen. Da fing er gotteslästerlich an zu fluchen und meinte zu seinem Cameraden, nun würden sie einen tüchtigen Verweis bekommen, daß sie ihn hätten entwischen lassen. Ich sollte nun sagen, wohin sie gefahren seien. Das wußte ich nicht, und da sagten sie unter sich, sie wollten erst gehen und andere Instructionen holen; in ihrer Instruction hätte gestanden, der Doctor Mühler werde zu Fuß von der gnädigen Frau nach Hause kehren, da hätten sie auch nicht vermuthen können, daß er fahren werde. Und nachdem sie das unter einander gesprochen hatten, rannten sie Beide fort.

Frau von Berkhoff war aufs äußerste erstaunt über diese Geschichte.

Aber haben Sie eine Ahnung, was das bedeutet? Das ist ja schrecklich! rief sie, zu Heinrich von Troost gewandt, aus.

Eine Ahnung? gewiß! versetzte dieser, der blaß vor Wuth und Aerger geworden war. Das ist eine Verhaftung, die dem »ehemaligen« Demokraten galt oder vielleicht auch – setzte er boshaft lächelnd hinzu – dem Entführer Luitgardens! Es ist sehr leicht möglich, daß man auf die Spur seines Complots wider das junge Mädchen gekommen ist!

Welche Begebenheiten! Ich will aber auf der Stelle zu Raesberg's Hause fahren, sagte die Dame aufstehend, und will dort hören, was an der Reise des Barons ist. Wenn Sie Recht haben, und es ist ein Streich Mühler's, so finde ich um diese Zeit Raesberg zu Hause oder in seiner Loge im Theater. – Valentin, mache dich augenblicklich fertig, mich zu begleiten!

Valentin ging, Frau von Berkhoff verschwand im Nebenzimmer, um Hut und Tuch zu holen; Heinrich von Troost aber machte, so allein gelassen, seinem ganzen Aerger Luft.

Er sollte verhaftet werden, und ich, ich Thor, ich gränzenloser Esel, schaffe ihn in demselben Augenblicke, wo ihm dieses Vergnügen bevorsteht, in der angenehmsten Gesellschaft zur Stadt hinaus, bringe ihn mit raschen Postpferden in Sicherheit! Die Pest über ihn! Diese vermaledeite Wendung der Sache vergesse ich in meinem Leben nicht wieder! Der Aerger ist mir in alle Glieder geschlagen! Was mag er nur verbrochen haben, um dessentwillen er verhaftet werden sollte? Irgend eine Hochverrätherei …

Heinrich von Troost wurde durch Frau von Berkhoff in seinem Selbstgespräche gestört. Sie hatte mit einer unglaublichen Geschwindigkeit einen Shawl umgelegt und einen Hut aufgesetzt.

Kommen Sie jetzt! sagte sie. Wenn es wirklich eine Entführung ist …

Dann, fiel Heinrich von Troost ein, mit einem so sauersüßen Lächeln, wie nur je um seine Lippen gespielt hatte, – dann können wir nichts Besseres thun, als es ihnen nachmachen; meinen Sie nicht, meine Gnädigste?

Schäker! lispelte Frau von Berkhoff und schlug ihm mit dem Fächer auf den Arm, den er ihr darbot, sie die Treppe hinab zu führen.

Welches Aufsehen das alles machen wird! sagte sie dann.

Ja, freilich! fiel Heinrich von Troost ein, das wird es! Und indem er daran dachte, wie sehr diese beabsichtigte Verhaftung Mühler's dazu dienen müsse, die Abreise Luitgardens mit dem jungen Manne rasch in Aller Mund zu bringen, fühlte er sich wieder mit dem, was er angezettelt hatte, ausgesöhnt.

Die Polizei arbeitet uns wunderbar in die Hände! sagte er sich.


VI.
Die Gefoppten.

Luitgarde und August waren unterdeß längst in ihrem, mit sehr raschen Pferden davon eilenden Wagen zum Thor der Residenz hinausgerollt. Das junge Mädchen war zu aufgeregt, ihre Gedanken waren zu sehr von der Hoffnung, daß es gelingen werde, wieder in den Besitz des von Wilhelmi entwendeten Geldes zu kommen, in Anspruch genommen, als daß sie Verlegenheit empfunden hätte über ihre Situation, über diese Fahrt in die dunkelnde Nacht hinein, allein mit einem jungen Manne im Wagen, dessen, wenn auch noch so scheu verhüllte Gefühle ihr sicherlich nicht unbekannt geblieben waren; denn welches weibliche Wesen weiß nicht solche Gefühle mit einer Art von Intuition zu ahnen und zu verstehen?

Sie erzählte August Mühler, der ja doch als juristischer Beistand, wie sie wähnte, in alle Verhältnisse eingeweiht werden sollte, die Flucht Wilhelmi's, die Verlegenheit, in welche ihr Vater dadurch gerathen, die mißliche Lage desselben, wenn er am folgenden Tage die Mittel nicht habe, die Zinsen seines Anlehens zu zahlen. Darüber verging so ziemlich die Hälfte der Zeit, welche man brauchte, um zur nächsten Poststation zu gelangen.

Während der anderen Hälfte dieser Zeit legte Luitgarde sich in die Wagenecke zurück, mit geschlossenen Augen, als ob sie zu schlummern versuche.

Der Postillon fuhr sehr schnell. Er trieb seine Pferde zu einer Eile an, die Luitgardens Ungeduld, ihren Vater einzuholen, nichts zu wünschen übrig ließ.

Nach etwa zwei Stunden schimmerten den Reisenden die Lichter einer kleinen Stadt entgegen. Hier war die Station, wo Herr von Raesberg, wie Luitgarde glaubte, im Posthause ihrer harrte. Sobald der Wagen vor diesem Posthause hielt, streckte Luitgarde den Kopf zum Schlage hinaus, in der festen Zuversicht, ihren Vater zu erblicken – aber sie erblickte Niemanden, als einen Postexpedienten oder Schirrmeister, der auf der Treppe des Hauses stand und nun mit der Meldung zu dem Wagen herantrat: der Herr Baron habe eine Stunde gewartet, dann habe er sich entschlossen, allein weiter zu fahren, da ihn die Ungeduld erfaßt und da er befürchtet, sonst zu spät zu kommen. Das Fräulein möge ihm nachkommen auf die zweite Station – er habe frische Pferde schon bestellt und bezahlt; sie würden augenblicklich vorgelegt werden.

Luitgarden war diese Botschaft natürlich äußerst unangenehm, und August Mühler begann diese ganze Geschichte eigenthümlich, ja, verdächtig vorzukommen.

Das ist Ihnen doch ein wenig zu viel zugemuthet, gnädiges Fräulein, sagte er – es wird spät – es kann nicht weit mehr von neun Uhr sein …

O, ich kenne meines Vaters Ungeduld, antwortete Luitgarde – und ich bin nicht im Geringsten müde – lassen Sie uns nur zufahren!

Wie weit ist bis zur nächsten Station? fragte Mühler den Postbeamten.

Die Station ist kurz – etwa zwei Meilen, versetzte der Letztere – in anderthalb Stunden können Sie da sein, wir geben Ihnen auf den Wunsch des Herrn Barons sehr gute Pferde – sie sind schon vorgelegt!

Es war in der That wahr – unsere beiden Reisenden wurden sehr eilig bedient; der neue Postillon saß schon auf dem Bocke, und fort ging's über das holperige Pflaster des Städtchens im schärfsten Trabe.

Draußen, als man sich wieder auf der guten Chaussee befand, drückte sich Luitgarde abermals stumm in ihre Ecke, August Mühler blickte in die dunkle Nacht, die nur etwas dämmerige Sternenklarheit hatte, hinaus, und ließ sein Auge über die schwarzen Contouren der Gegenstände zur Rechten und Linken des Weges schweifen, und über Häuser, Gebüsche und Wallhecken, die in phantastischen Formen wie verschwindende Nebelbilder ihre » dissolving views« in einander überfließen ließen.

Die Gegend wurde allmälig öder und eintöniger, die Chaussee schlechter; der Postillion aber kümmerte sich nicht um die Stöße, welche die Reisenden im Wagen erduldeten, und fuhr immer in derselben Hast, womit er seinen Vorgänger, oder, richtiger zu sprechen, »Vorfahr« noch überbot, weiter. Der Weg begann sich zu heben und zu senken, man kam in die Gegend des Gebirges.

So mochte man etwa anderthalb Stunden lang gefahren sein. Von der Poststation, die in solchem Zeiträume sollte erreicht werden können, war noch nichts sichtbar. Kein Lichtschein war zu erkennen, kein Laut, kein fernes Hundegebell deutete an, daß man sich in der Nähe menschlicher Siedelungen befand. Aber ein paar zur Rechten des Weges aufgestellte Pfähle mit Tafeln daran, welche August Mühler dunkel erkannte, wiesen darauf hin, daß man die Grenze passirte.

Kommt denn die Station noch nicht bald, Schwager? rief der junge Mann endlich den Postillon an.

Die Station? Nein, die Station kommt noch lange nicht.

Aber wir sind doch sicherlich über zwei Meilen gefahren.

Zwei Meilen? – beinahe!

Und zwei Meilen haben wir ja nur zu fahren!

Das wäre eine kleine Station, Herr! versetzte der Postillon.

Nun, ist sie länger?

Drei und drei viertel Meilen sind's!

Drei und drei viertel Meilen?

Vollaus!

August Mühler lehnte sich in den Wagen zurück. Was hatte den Postbeamten auf der letzten Station bewogen, ihn zu belügen? Die Sache schien ihm immer rätselhafter und verdächtiger. Aber er schwieg. Weshalb sollte er seine Begleiterin beunruhigen, indem er ihr seinen Argwohn mittheilte? Es war ja auf keinen Fall etwas Anderes zu thun, als sich von diesen zu rasender Eile angetriebenen Pferden weiter fortführen zu lassen. Auf der nächsten Station mußte es sich aufklären. Fand man auch dort den Baron Raesberg nicht, dann war es immer noch Zeit, mit Luitgarden Rath zu pflegen.

So gelangten unsere Reisenden bis in eine Gegend, die bereits ganz den Charakter des Gebirges trug. Die Pferde mußten jetzt oft Schritt gehen und bedeutende Bodenerhebungen hinankeuchen. War man auf der Höhe, so ging es dann desto rasender auf der andern Seite in die Thalsenkungen hinab.

Bei einer dieser halsbrechenden Fahrten bergab geschah endlich, was Mühler schon lange befürchtet hatte – ein Unglück nämlich. Der Wagen rollte mit einer Schwungkraft die Chaussee hinab – an einer Stelle, wo diese sich krümmte –, daß die überangestrengten Postklepper ihn nicht mehr aufhalten konnten; er flog wie von rasender Gewalt geschleudert zur Seite.

Luitgarde fuhr mit einem Schrei auf; August Mühler erwartete, daß er im nächsten Augenblicke umgekehrt im Chausseegraben liegen werde – aber statt dessen brachte der nächste Augenblick einen furchtbaren Stoß, ein Krachen und – plötzlichen Stillstand!

Das Hinterrad des Wagens war gegen einen Haufen Chausseesteine geschleudert worden – es war daran zersplittert, aber zugleich auch war der Wagen durch diesen Zusammenstoß zu gutem Glücke in seinem Laufe gehemmt worden.

In diesem Augenblicke stürzte auch eines der Pferde.

Der Postillon sprang vom Bock und fluchte und wetterte und hieb auf das unglückliche Thier ein, das sich vergebens anstrengte, wieder auf die Beine zu kommen.

August Mühler war ebenfalls rasch ausgestiegen. Er hielt den Arm des rohen Menschen auf.

Die Peitschenhiebe wären Euch viel gesunder als dem armen Gaule! sagte er. Ihr habt gefahren wie ein Verrückter. Jetzt seht nach dem Wagen, ob er so beschädigt ist, daß die Dame aussteigen muß!

Der Schwager gehorchte und gab dann sein Verdict dahin ab, daß allerdings das Rad so zerbrochen sei, daß an ein Weiterfahren nicht zu denken. Ruhig, als ob ihm die Sache weiter nicht angehe, lös'te er darauf die Stränge der Pferde, half dem gestürzten Thiere mühsam auf die Beine und schickte sich an, mit seinen Gäulen fort zu reiten.

Luitgarde und ihre Zofe waren unterdeß ebenfalls ausgestiegen. Luitgarde hatte nach dem ersten Aufschrei der Angst beim Zusammenstoß des Wagens mit den Steinen keine Sylbe mehr geäußert und schien geduldig abzuwarten, welchen Entschluß in dieser unbehaglichen Lage Mühler fassen werde. Fanny jammerte und wehklagte.

Mühler drang auf den Postillon mit Fragen ein, nach der Entfernung der Station, nach Orten oder Gütern oder Wirthshäusern in der Nähe; der Postillon war über alle Maßen lakonisch in seinen Antworten – erst durch wiederholtes Inquiriren brachte Mühler heraus, daß eine halbe Stunde weiter ein Chausseehaus liege, in welchem eine anständige Wirthschaft betrieben werde.

Es bleibt also nichts übrig, als daß wir uns dahin auf den Weg machen, sagte er nun zu dem jungen Mädchen; – trauen Sie sich die Kraft zu, so weit zu gehen?

O gewiß, antwortete Luitgarde – komm, Fanny, Deinen Arm!

Und der Postillon? Wo bleibt Ihr, Schwager? fragte Mühler.

Ich komme den Herrschaften schon nach! antwortete der Mensch. Gehen Sie nur vorwärts, immer gerade aus.

Mühler schritt nun voran, die Beschaffenheit des Weges erkundend, so gut, wie es bei der Dunkelheit möglich war. Luitgarde und Fanny folgten. Jene blieb stumm wie vorher. Machte auch sie sich jetzt ihre Gedanken über diese ganze Fahrt, die ein so unglückliches Ende gefunden? Mühler zweifelte nicht mehr daran.

Es ist seltsam, sagte er, nachdem sie etwa zehn Minuten gegangen waren – ich höre noch immer nicht den Hufschlag unserer Pferde. Der Postillon folgt uns nicht.

Das war in der That der Fall. Sie schritten weiter und weiter, ohne etwas von ihm zu vernehmen. Er mußte den entgegengesetzten Weg, nach Hause, eingeschlagen haben.

Durch die bergichte Straße wurden die Kräfte der beiden Frauen bis auf's Aeußerste in Anspruch genommen. Die halbe Stunde, welche man zu gehen hatte, schien sich endlos zu dehnen. Endlich, endlich sah man zur Linken der Chaussee Licht schimmern. Aus dem Dunkel tauchte nach und nach ein Gehöft auf – ein langes Haus, vor dem ein Frachtfuhrwerk aufgefahren stand, bildete, hart an der Chaussee stehend, den Mittelpunkt desselben.

Aus der Küche und aus einem Fenster auf der Giebelseite des Hauses schimmerte noch Licht.

Mühler ging voraus, um anzuklopfen. Es wurde sehr bald geöffnet, eine Frau in mittleren Jahren musterte, ein Talglicht in der Hand, etwas verwundert die Ankömmlinge und stellte ihnen dann Stühle neben den Heerd, auf dem sie ein neues Feuer entzündete.

Luitgarde warf sich erschöpft auf ihren Stuhl.

Ich kann nicht mehr! sagte sie tief aufathmend. Gott sei gelobt, daß wir so weit sind!

Wie heißt der Ort hier? fragte August Mühler.

»An der Schanze« heißt man's, Herr! Es ist kein Ort – wir wohnen hier allein.

So ist's auch wohl nicht möglich, einen Wagen und Pferde zu bekommen?

Nein, sagte die Frau, das ist nicht möglich. Hier im Gebirge können wir das Land nur mit Ochsen bauen, Pferde halten wir nicht. Auch ist's Mitternacht vorbei und …

Wie weit ist der nächste Ort, wo wir Pferde und Wagen bekommen können?

In Neulandsberg, wo die Post ist, das ist noch anderthalb Stunden.

So werde ich aufbleiben, bis es heller Tag ist, sagte jetzt Luitgarde, und dann geben Sie mir einen Boten mit, der mich hinbringt.

Wollen Sie mich als »Boten« annehmen? fragte August Mühler.

Nein, versetzte Luitgarde. Im Gegentheil, ich stehe im Begriffe, eine große Bitte um etwas Anderes an Sie zu wagen.

Was befehlen Sie?

Thun Sie mir den Gefallen und gehen Sie jetzt augenblicklich weg … und zwar zu meinem Vater – sagen Sie ihm, wo ich bin, und wo er mich abholen kann.

Ich soll Sie hier in diesem fremden Hause ohne Schutz und allein lassen?

Das gutmüthige Gesicht unserer Wirthin flößt mir hinreichende Sicherheit ein. Ich habe nur Eine Angst – die Angst um meines Vaters Sorge.

Die Wirthin, welche diesem Gespräche zugehört hatte, bemerkte hier:

Es geht ein kürzerer Fußweg nach Neulandsberg, den können Sie aber nur bei Tage finden, und darum rathe ich Ihnen, die Nacht hier zu bleiben.

So geben Sie mir einen Führer mit, den ich gut bezahlen will, antwortete August.

Das kann geschehen. Ich kann den Knecht wecken, meinte die Wirthin, er sollte ohnehin morgen in der Frühe hin und aus der Apotheke Arznei für einen Kranken holen – es liegt ein schwer kranker Mann dort in der Seitenkammer, deshalb fanden Sie mich auch so spät noch auf.

Ist es ein Fremder, der Kranke? fragte Luitgarde.

Ja wohl, versetzte die Wirthin, ich weiß nicht einmal seinen Namen. Er kam vorgestern Abends spät hier an, sah ganz verstört aus, und am andern Morgen schon, als ihn der Knecht wecken wollte, lag er im heftigsten Fieber. Aber jetzt will ich gehen und den Knecht, der den Herrn führen soll, wecken. Es wird Zeit genug kosten, bis ich dem schläfrigen Patron begreiflich mache, daß er jetzt mitten in der Nacht nach Neulandsberg gehen soll!

Damit entfernte sich die Wirthin und Luitgarde sagte nun:

Ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar, daß Sie gehen wollen. Ich weiß, was ich Ihnen zumuthe, bei der Ermüdung, die Sie jetzt bereits fühlen müssen. Aber kennten Sie die ganze Unruhe, welche mich erfüllt, so würden Sie mir nicht zürnen wegen dessen, was ich Ihnen auferlege. Ich verhehle Ihnen auch nicht, daß ich nicht mehr glaube, daß Sie meinen Vater in Neulandsberg auf dem Posthause treffen. Aber Sie werden dort Pferde erhalten und damit nach Hause zurück eilen können, um meinen Vater zu beruhigen!

Da Sie selbst das Eis über diesen Punkt brechen, entgegnete Wühler, so gestehe ich Ihnen gern, daß ich auch die Ueberzeugung habe, wir sind mit dieser ganzen Fahrt gefoppt!

Ja, und zwar liegt irgend eine Bosheit gegen mich zu Grunde – der Streich galt mir, und ich bin es, die Sie in diese Fatalität mit hinein gezogen hat.

August Mühler schwieg eine Weile, dann sagte er:

Können Sie ahnen, wer ein Interesse dabei hatte, uns durch die lügnerische Nachricht, Ihr Herr Vater sei uns voran geeilt, von Station zu Station weiter zu locken? wer ein Interesse dabei hatte, den spitzbübischen Postillon zu bestechen, daß er uns mitten in der Nacht umwirft und dann allein läßt?

Glauben Sie auch das mit Absicht geschehen?

Ich glaube es. Sein Fahren war zu toll und unvorsichtig! Also – können Sie ahnen, wer der Urheber von all' diesem ist?

Ich nenne heute noch Niemanden, entgegnete Luitgarde. Aber meinem Vater wird es ohne Zweifel gelingen, sich Gewißheit darüber zu verschaffen, wer der Feind seiner Tochter ist. Eilen Sie deshalb zu ihm und reißen Sie ihn aus der Angst um mich. Theilen Sie ihm Alles mit, und dann verlassen Sie ihn nicht. Er ist unpraktisch – er ist heftig …

Die Wirthin kam zurück und meldete, daß es ihr glücklich gelungen, vermittelst eines dem Schlafenden ins Gesicht gegossenen Glases Wasser ihren Knecht zu wecken. Während der Letztere sich in Bereitschaft setzte, ließ August Mühler sich einige Erfrischungen geben. Nach einer Viertelstunde erschien der Knecht und erklärte sich in ziemlich mürrischem Tone bereit, den Weg anzutreten.

August Mühler versprach, in der ersten Frühe wieder da sein zu wollen, entweder mit dem Vater Luitgardens oder mit Nachricht von ihm, wenn dieser wirklich auf der nächsten Station ihrer harre. Träfe er aber Raesberg in der That nicht in Neulandsberg, so wollte er auf einem bedeutend kürzeren Nebenwege direct von dort zu Pferde in die Residenz zurückeilen und hier Herrn von Raesberg Nachricht von seiner Tochter bringen.

Luitgarde reichte ihm zum Abschiede die Hand und sagte:

Der Himmel lohne Ihnen, was Sie thun!

August Mühler küßte die dargebotene Hand. Ich lasse Sie ungern so allein hier zurück – aber Sie wollen es!

O, keine Sorge um mich! Im Nothfalle schütze ich mich selber!

Das ist wahr, meinte der junge Mann. Sie haben sich heute Abend heroisch benommen. Ich hätte nicht geglaubt, daß eine so hochgeborene Dame in so kritischen Momenten so kaltblütig und so ruhig bleiben könnte.

Als ob die Unruhe und die Aufregung etwas nützte! Aber gehen Sie jetzt … Adieu, mein Freund!

Leben Sie wohl – bis ich Sie wiedersehe!

Nachdem August Mühler das Haus verlassen hatte, wandte Luitgarde sich lebhaft an ihre still in der Heerd-Ecke sitzende Kammerjungfer. Gott sei Dank – endlich, endlich allein, sagte sie. Und nun, Fanny, gieb mir eine offene, wahrhafte, rückhaltslose Antwort auf meine Frage …

Fräulein, hab' ich je die Wahrheit vor Ihnen verborgen?

Nein, nein, das hast Du nicht, beschwichtigte Luitgarde die Gereiztheit ihrer Zofe – aber von Deiner Antwort hängt eben Alles ab: darum allein fordere ich Dich auf, mir die Wahrheit zu sagen, beim Andenken an Alles, was Dir theuer ist…

Bin ich nicht tief genug in Ihrer Schuld durch die entsetzliche That meines Vaters?

O, laß das – sprich nicht davon, armes Kind! Also: Wer war es, der Dir den Brief meines Vaters an mich übergab?

Den Brief – antwortete Fanny mit offenbaren Zeichen der Bestürzung.

Nun – so sage es!

Ich kannte den Ueberbringer nicht! versetzte das junge Mädchen zögernd.

Fanny, täusche mich nicht! Ich muß es wissen! Der Brief trägt die Schuld unseres ganzen Unglücks, und ich befürchte, er kam gar nicht von meinem Vater!

Nicht von Ihrem Herrn Vater?! rief Fanny jetzt mit einem Tone der Verwunderung aus, der nichts Geheucheltes hatte.

Nein – es war eine nachgemachte Handschrift, fürchte ich, ja, ich fürchte, es hat ihn ein Betrüger geschrieben.

Der mir ihn gab, war kein Betrüger, entgegnete Fanny bestimmt.

Wer war es? Du mußt mir die Wahrheit gestehen!

Der mir ihn gab, antwortete das Mädchen höchst bewegt, hatte ihn von einem Bedienten erhalten, dem man den Brief mit der Weisung, mich aufzusuchen, übergeben!

Wer gab Dir den Brief?

Gnädiges Fräulein, der ist unschuldig, bei allem, was heilig ist! Es mag hier zu Grunde liegen, was da wolle, er kann keinen Theil daran haben!

Wer ist es?

Er würde eher sterben wollen, als Ihnen oder mir schaden!

Fanny, ich habe Dich nie empfinden lassen, daß ich das Recht habe, Dir etwas zu befehlen; ich habe Dich behandelt wie eine Freundin – laß mich nicht zum ersten Male von meinem Rechte Gebrauch machen!

Wie soll ich Ihnen, die Sie mir wie eine Heilige vorkommen, von Dingen reden, die …

Ich verstehe! Also Dein Liebhaber hat Dir das Billet gegeben?

Ja, aber er selbst hat es von einem Bedienten erhalten, einem Bedienten Ihres Vaters, das hat er mir gesagt, und daß er mich nicht belügt, darauf will ich das Heil meiner Seele verschwören!

Luitgarde blickte eine Weile schweigend in das flackernde Holzfeuer auf dem Heerde.

Ich kann Dir nicht erlassen, seinen Namen zu nennen. Wer, was ist er?

Er arbeitet auf dem Comptoir von Ihrem Banquier.

Auf dem Comptoir van Troost's?! fuhr Luitgarde erschrocken auf.

Er hatte mir sagen lassen, fuhr Fanny fort, er müsse mich am Abend sprechen, wegen meines Vaters, und als ich mit ihm zusammenkam, da sagte er mir, daß ein Bote aus unserem Hause mich gesucht habe, um mir ein Billet für das gnädige Fräulein zu geben. Er habe das Billet an sich genommen. Da habe ich denn geeilt, es Ihnen bei Frau von Berkhoff zu überbringen.

So ist Alles klar! sagte Luitgarde, nicht der Schatten eines Zweifels mehr übrig! Heinrich von Troost's bodenloser Bosheit allein habe ich diesen Streich zu verdanken!

Unmöglich! Was sollte er dabei beabsichtigen?!

Er hat mich zu dieser gemeinschaftlichen Fahrt mit dem Doctor Mühler gezwungen, weil er mich in den Augen der Welt zu Grunde richten wollte, mich und Mühler. Diesen macht man lächerlich, mich macht man verächtlich. Und damit wir ja nicht, sobald wir unseren Irrthum eingesehen, still und ohne Aufheben wieder zurückkehren könnten, hat er noch obendrein dafür gesorgt, daß wir durch einen Unfall irgendwo fern von der Residenz aufgehalten werden. Der Postillon war – Mühler hat sicherlich Recht – der Postillon war bestochen!

Haben Sie etwa Heinrich von Troost einen Korb gegeben?

Warum glaubst Du das?

Es war Niemand im Hause, der nicht seine Bewerbung bemerkte.

Wirklich?

Daß er boshaft ist, weiß man freilich seit seiner Kindheit!

Den Korb, den ich ihm gab, fuhr Luitgarde fort, schrieb er in seiner Eitelkeit, die seine Persönlichkeit für tadellos halt, nur meinem aristokratischen Hochmuth zu – und um mich zu strafen, machte er mich mit einem Doctor Mühler auf Reisen gehen … o, ich durchschaue Alles! Vielleicht läßt er am Morgen in der ganzen Stadt verbreiten, ich habe mich von Mühler entführen lassen!

Kann es denn wirklich so abscheuliche Menschen geben? Sollten Sie, sollte auch ich so entsetzlich betrogen sein?

Du wirst Dich zu dem Gedanken entschließen müssen, antwortete Luitgarde bitter. So viel ist gewiß, sagte sie dann mit einem Seufzer – diese Bosheit bringt mich in eine ganz fatale Lage. Wenn wir Steinfeld verlieren, weiß ich nicht, wohin – denn in der Stadt kann ich nach diesem Vorfalle nicht bleiben!

Luitgarde sank in ein düsteres Sinnen. Darauf lehnte sie sich in den alten Lederstuhl zurück, den die Wirthin ihr ans Feuer geschoben hatte, und schloß nach einer Weile die Augen. Es schien, die Ermüdung wurde Herr über sie. Fanny nahm nach einer Viertelstunde an ihren tiefen Athemzügen wahr, daß ihre Herrin in Schlummer gesunken.


VII.
Wilhelmi.

Als Luitgarde erwachte aus ihrem unruhigen und von wilden Träumen durchwobenen Schlummer, glänzte die Morgensonne in die weite, reinlich geweißte Küche des Wirthshauses, in welchem das junge Mädchen eine so abenteuererfüllte Nacht zugebracht hatte. Sie war ganz allein. Die Wirthin war schon in der Nacht, gleich nachdem August Mühler fortgegangen, verschwunden, wahrscheinlich um einige Stunden lang sich zur Ruhe zu begeben. Aber auch Fanny war nicht da.

Luitgarde wartete eine Weile, ob sie nicht zu ihr zurückkehren werde; dann rief sie laut ihren Namen.

Fanny kam nicht. Nach einiger Zeit jedoch trat die Wirthin, aus einer Seitenkammer kommend, in den Raum.

Sie rufen wohl nach dem Frauenzimmer, das bei Ihnen ist? sagte sie.

Wo ist sie geblieben? weshalb kommt sie nicht? entgegnete Luitgarde ungeduldig.

Sie ist drinnen bei dem Kranken, antwortete die Wirthin. Sie hat ihn in der Nacht stöhnen und rufen hören, und da ist sie hinein zu ihm, ich glaube, sie kennt den Mann!

Fanny kennt den Kranken? Rufen Sie dieselbe her!

Die Wirthin wollte gehen, um diesen Auftrag auszuführen, als ihre Aufmerksamkeit durch ein elegantes, mit einem Pferde bespanntes Gig in Anspruch genommen wurde, welches in diesem Augenblicke vor ihrem Hause vorfuhr. Ein darin sitzender Herr warf die Zügel, die er selbst gehalten hatte, dem abspringenden Groom zu und stieg dann aus. Die Wirthin eilte, ihm die Hausthür zu öffnen und ihn willkommen zu heißen. Der Fremde trat rasch ein, und zu ihrem Schrecken erblickte Luitgarde – Heinrich von Troost vor sich!

Dieser schien wie von äußerster Verwunderung an den Boden geheftet, indem er das junge Mädchen erblickte.

Mein gnädigstes Fräulein, hub er sodann an, erklären Sie mir dieses Räthsel! Was bringt Sie – Sie so ganz allein in dieses schlechte Wirthshaus, hier in der berüchtigten, nur von Schmugglern und Zollwächtern bewohnten Gränzgegend!

Ich erwarte die Aufklärung dieses Räthsels von Ihnen! antwortete Luitgarde stolz und mit zornigem Blicke.

Sie meinen, was mich hierher bringt? Nichts als meine Reiseroute. Ich habe mich entschlossen, eine längere Reise anzutreten – für Monate, vielleicht auch für Jahre …

Etwa, je nachdem Entdeckungen gemacht werden?

Ganz recht – je nachdem von mir Entdeckungen gemacht werden. Entdecke ich eine schöne Gegend, so fesselt mich die – eine geistreich lustige Gesellschaft, so bleibe ich noch länger am Ort, und entdecke ich gar so unerwarteter Weise eine schöne Frau in einem schlechten Chaussee-Wirthshause, so fühle ich mich am allermeisten gefesselt!

Herr von Troost …

Was befehlen Sie, mein gnädiges Fräulein?

Bedenken Sie nicht, wie wenig ritterlich die Rolle eines Mannes ist, der eine Frau tödtlich beleidigt und nachher kommt, sie noch zu verhöhnen?

Ich verstehe Sie nicht, ich kann nicht denken, auf wen Sie anspielen.

Und mir fehlt die Lust, mir die überflüssige Mühe zu geben, Jemandem Dinge zu erklären, welche keiner Erklärung für ihn bedürfen.

Aber wirklich, Sie thun mir grausames Unrecht, Fräulein von Raesberg, entgegnete Heinrich von Troost. Ich verstehe Sie nicht. Ich meine, die Sache ist einfach die: am gestrigen Abende führen Sie Herrn Doctor August Mühler plötzlich unter einem unglaublichen Vorwande in Ihrem Wagen davon – gleich darauf findet diese Handlung ihre freilich sehr ausreichende Erklärung – es kommen an das Haus der Frau von Berkhoff zwei Polizei-Sergeanten, die den Auftrag haben, den Doctor Mühler sogleich festzunehmen – da Sie aber die Gnade hatten, den von der Justiz Verfolgten in Ihren Schutz und in Ihrem Wagen, wo Niemand ihn vermuthen konnte, mitzunehmen, so ist er von Ihnen gerettet. Wie es nun aber kommt, daß Sie hier sind, das bleibt doch immer noch räthselhaft, es müßte denn sein, Sie beabsichtigten, die Flucht des Herrn Doctors zu theilen und mit Ihrem Schutze gar nicht mehr von ihm zu weichen …

Das ist eine Erfindung von Ihnen, eine abscheuliche Verläumdung, Herr von Troost – August Mühler würde von der Polizei verfolgt, sollte verhaftet werden …?

Wegen hochverrätherischer Umtriebe, wie es in der Stadt heißt.

O mein Gott … aber nein, es ist nicht möglich …

Ich gebe Ihnen mein heiliges Ehrenwort darauf – wenn das in der That nöthig sein sollte und Sie es nicht schon früher gewußt hätten, als irgend Einer von uns Anderen. Denn womit sonst, als mit Edelmuth für einen Verfolgten, ließe sich eine so auffallende Handlung einer sonst so exclusiven jungen Dame erklären?

Luitgarde war so erschüttert, daß sie sich mühsam an der Rücklehne ihres Stuhles aufrecht erhielt. Da sie fühlte, daß ihre Kräfte zu einer kaltblütigen Fortsetzung dieses Gespräches nicht ausreichten, machte sie eine herrische Bewegung mit der Hand.

Ich bitte Sie, lassen Sie mich allein, sagte sie dabei – ich muß meinem Vater überlassen, Ihnen an meiner Statt eine Antwort zu geben.

Heinrich von Troost verbeugte sich mit einem höhnischen Lächeln und trat in die Schenkstube, welche die Wirthin ihm geöffnet hatte, während draußen sein Diener beschäftigt war, das Pferd auszuspannen.

Luitgarde war vollständig zu Boden geschmettert. Der Kopf wirbelte ihr. Sie wußte jetzt, welche Auslegung man ihrer Reise mit August Mühler geben werde. Er sollte verhaftet werden. Und sie, sie hatte den beklagenswerthen jungen Mann fortgeschickt, nach der Stadt zurück, wo ihn die Häscher suchten – es war zu viel auf einmal!

Sie brach, sobald sie allein war, in Thränen aus. Dann ermannte sie sich; sie wollte um keinen Preis länger hier bleiben, in diesem einsam gelegenen Hause, allein mit Heinrich von Troost. Sie wollte fort, und wenn es nicht anders ging, zu Fuße – darum sprang sie jetzt auf und rief laut und heftig, indem sie der Thür der Stube, in welcher der Kranke liegen sollte, zuschritt:

Fanny – Fanny!

Fanny erschien augenblicklich auf diesen Ruf. Leichenblaß, wankenden Schrittes kam sie aus der Seitenstube, und indem sie sich vor ihrer jungen Gebieterin auf die Kniee warf und mit beiden Armen Luitgarden umfaßte, rief sie schluchzend aus: O mein Gott, Fräulein – wen habe ich hier finden müssen. Aber er stirbt, er stirbt!

Wen hast Du gefunden! wer stirbt?!

Er ist es, mein Vater!

Wilhelmi?! Dein Vater?! rief Luitgarde aus.

Mein Vater, mein armer Vater! Er kennt mich nicht mehr, er nennt nur einmal über das andere den Namen des gnädigen Herrn – sein Kopf glüht, seine Hände fliegen im Fieber – dann schreit er auf: Laßt mich durch, laßt mich durch – ich gebe euch Geld, Geld, laßt mich nur durch! – und von einem Paß phantasirt er, und wie er aus Amerika Geld schicken werde, und dann wieder vom gnädigen Herrn, Alles durcheinander …

Man hat ihn vielleicht an der Gränz-Station zurückgewiesen, weil er ohne Paß gewesen ist, sagte Luitgarde – gewiß, so ist es, und so ist er hieher gekommen! – Welche Schickung! Komm, führe mich zu ihm, augenblicklich!

Sie fand den Kranken, wie Fanny ihn beschrieben hatte. Und wie Luitgarde vermuthete, war allerdings Wilhelmi's Schicksal gewesen. Er hatte sich – so wurde es später herausgestellt – in der Verwirrung, in welcher er sich bei seinem verzweifelten Entschlusse befunden, nicht mit einem Passe vorgesehen; die alte Paßkarte, welche er vorgezeigt, als man am nächsten Gränz-Amte seine Legitimations-Papiere zu sehen verlangt, war nicht genügend befunden worden. Er hatte zurück müssen, und war in dem einsam gelegenen Wirthshause eingekehrt, um von hier aus schriftlich durch seine Angehörigen sich das Nöthige verschaffen zu lassen. In der Nacht nach seiner Ankunft hatte dann die Gemüths-Erschütterung, die Angst um seine That, die Noth um seinen Sohn den alten Mann aufs Krankenbett geworfen.

Während Luitgarde im Zimmer des Kranken verweilte, ihn zur Besinnung zu rufen versuchte, zu seiner Pflege that und anordnete, was in ihren Kräften stand – während dessen kam Heinrich von Troost in den von ihr verlassenen Raum zurück und suchte die Wirthin in ein Gespräch zu ziehen, um von dieser die näheren Umstände zu erfahren, unter welchen das Fräulein angekommen sei. Die Frau schien jedoch nicht große Lust am Plaudern zu haben – die ungewöhnlichen Gäste, welche sie über Nacht bekommen, schienen ihr wohl der Art zu sein, daß es am besten, sich nicht in ihre Angelegenheiten zu mischen; jedenfalls zeigte sich die rüstige Wirthin überaus geschäftig, vor Allem dafür zu sorgen, daß Jedermann ein richtiges Frühstück bekomme, und gab darüber nur sehr karge Antworten an den jungen Banquier.

Der Letztere ging dann mit Zügen, die noch heiterer waren als das heitere Sonnenlicht, welches der junge Tag jetzt in die großen hellen Fenster der Wirthshaus-Küche warf, auf und ab und überlegte bei sich, ob er Luitgarden anbieten solle, in seinem Wagen zurückzukehren, oder nicht. Die Schicklichkeit verlangte es – er konnte nicht umhin, es zu thun – und doch schien es ihm eine überflüssige Galanterie, wenn nicht etwa – denn auch dieser Gedanke tauchte immer von Neuem in ihm auf – Luitgardens üble Situation dahin führte, daß sie jetzt in Beziehung auf seine Bewerbung andere Segel aufziehen würde. Ihr Ruf war vernichtet; er konnte ihn herstellen.

Das Geld, welches ihren Vater rettete, konnte er ihr baar übergeben, denn er hatte es; er hatte für gut gefunden, den Streit seines Vaters mit dem Bruder auf eine genial summarische Art zu erledigen: er hatte kurzweg aus seines Vaters Casse sich eines guten Theiles jener Wechsel bemächtigt, welche der Letztere durchaus nach Antwerpen zurücksenden wollte. Luitgarde war allein, verlassen und hülflos – weshalb sollte Heinrich von Troost nicht hoffen dürfen, daß ihr Hochmuth, wie er es nannte, jetzt so am Boden liege, daß sie sich eines Besseren besinnen werde, wenn er ihr zeige, wie sehr er immer noch bereit sei, den Retter in der Noth zu machen?

Luitgarde kam mit raschen Schritten ans der Stube des Kranken zurück. Sie trug ein Portefeuille in der Hand und sprach laut und aufgeregt in die Kammer, die sie verließ, zurück.

Verlaß Dich darauf, Fanny. So schnell, wie es menschenmöglich ist, sorge ich, daß ein Arzt kommt. Bleib da, bleib da – kümmere Dich um weiter nichts, als um den Kranken.

Und dann die Wirthin am Arme erfassend, fuhr sie fort:

Gute Frau, Sie müssen mir auf der Stelle einen Boten besorgen – augenblicklich. Ich muß fort …

Aber, Fräulein, Sie wollen doch nicht etwa zu Fuße von hier? entgegnete verwundert die Wirthin.

Und das so schnell wie irgend möglich – aber einen durchaus zuverlässigen Boten bedarf ich, um zur letzten Poststation zurückzukommen. Ich will ihm bezahlen, so viel er fordert, dreifach, zehnfach – nur schaffen Sie ihn rasch!

Die Wirthin stand etwas verlegen dieser dringenden Heftigkeit des Fräuleins gegenüber – sie wußte, da sie ihren Knecht in der Nacht fortgesandt hatte, um August Wühler zu begleiten, keinen Boten zu beschaffen.

Aber so nehmen Sie doch meinen Wagen, mein gnädiges Fräulein, mischte sich Heinrich von Troost, der seine Entschlüsse gefaßt hatte, herantretend in das Gespräch.

Ich danke – lieber gehe ich zu Fuß!

Wissen Sie denn, wie das thut, eine Fußreise machen?

Es ist zu weit für Sie, Fräulein! fiel die Wirthin ein.

Schaffen Sie nur den Boten, antwortete Luitgarde – das Gehen ist dann meine Sache. Ich habe in der verflossenen Nacht schon gezeigt, daß ich gehen kann – und ich hoffe, bei Tage wird es nicht schwerer sein! Wenn man eine so wichtige und ernste Aufgabe durchzuführen hat, wie ich es habe, dann denkt man nicht an ein wenig Müdigkeit.

Da fällt mir ein, der alte Forstwart ist ja da – gegen ein gutes Trinkgeld wird der schon mitgehen, rief die Wirthin aus und eilte davon, den alten Forstwart herbeizuholen, der in der Nähe, nur durch eine Wiese vom Wirthshaus getrennt, wohnte.

Und darf ich nicht fragen, welche ernste und wichtige Aufgabe Sie durchzuführen haben, mein gnädigstes Fräulein? sagte jetzt Heinrich von Troost sarkastisch.

Das dürfen Sie allerdings, mein Herr von Troost. Meine Aufgabe war, den entflohenen Rentmeister einzuholen und ihm seinen Raub abzunehmen. Wie Sie wissen, wollte mein Vater ihn nicht verfolgt sehen, deshalb habe ich mich entschlossen, es selber zu thun. Ich bin ihm nachgereis't, habe den Doctor Mühler als Juristen mit mir genommen, und meiner Energie ist es gelungen, Alles gut zu machen, bevor es zu spät war. Sehen Sie her, mein Herr von Troost – und Luitgarde hob triumphirend das Portefeuille, welches sie aus der Kammer des Kranken mitgebracht hatte, in die Höhe – hier sind die fünfzigtausend Gulden, welche mein Vater heute bedarf!

Heinrich von Troost sah sie überaus überrascht an.

Ist das … in der That … die Wahrheit?

Luitgarde wandte ihm halb den Rücken zu und antwortete über die Achsel hin: Wahr, mein Herr von Troost – es wird Leute geben, die meine plötzliche, nächtliche Abreise mit dem jüngeren Wühler gern in ein anderes Licht setzen und mich bei dieser Gelegenheit verleumdeten – aber ich kümmere mich sehr wenig darum; ich werde auch Freunde finden, die zu entgegnen wissen, daß ich nur muthig und unerschrocken meinen Vater vor dem Ruin gerettet habe; und Diejenigen, welche dann fortfahren sollten, mich zu verläumden, werden nur verächtlich werden! Glauben Sie mir das, mein Herr von Troost!

In diesem Augenblicke sah sie die Wirthin zurückkommen.

Nun, wie ist's? fragte sie lebhaft, der Frau entgegentretend.

Der Forstwart kommt. Er wollte ohnehin des Weges auf die Jagd und ist eben dabei seine Flinte zu laden; dann kann's fortgehen.

Gott sei gelobt!

Und Luitgarde gab der Wirthin Geld mit dem Auftrage, ja recht für den Kranken und das junge Mädchen, welches bei demselben zurückbleibe, zu sorgen; dann warf sie ihren Mantel um, verbarg das Portefeuille in der Brusttasche desselben, und da sie durchs Fenster den Forstwart auf das Haus zukommen sah, eilte sie mit einem herzlichen Adieu für die Wirthin, mit einem stolz triumphirenden Kopfnicken für Heinrich von Troost davon.

Die Pest über sie! knirschte der Letztere zwischen den Zähnen. Das ist ja eine unbegreifliche Geschichte! Wenn es wahr ist, daß sie hier das Geld wiedergefunden hat, so bin ich doppelt gefoppt! Zuerst sorge ich dafür, daß Mühler den Haschern entgeht, dann, daß dieses hochmüthige Geschöpf hier eine für sie verzweifelt glückliche Entdeckung macht – und drittens – ja, drittens liegt mein ganzer, schlau ersonnener und mit leichtsinnigster Geldverschwendung ausgeführter Plan total zu Boden. Ihr Ruf ist weiß und blank wie Schnee, wenn sie mit ihrem dickgefüllten Portefeuille nach Hause zurückkehrt! Esel, der ich gewesen bin!

Dies war der für ihn unerfreuliche Inhalt des Selbstgesprächs, welches Heinrich von Troost hielt, während er Luitgarden von Raesberg an der Seite des wohlbewaffneten Forstwartes mit raschen elastischen Schritten die Chaussee hinab schreiten sah.

Dann rief der junge Mann seinen Groom herbei, und mit den Worten: Jacques, wir müssen machen, daß wir weiter kommen – verließ auch er das Wirthshaus, um sein Gefähr wieder zu besteigen.


VIII.
Die Alten und die Jungen.

Wir eilen Luitgarden voraus, der Stadt zu, welche sie mit solcher Hast zu erreichen strebt.

In welcher Angst und Noth um sein einziges Kind Herr von Raesberg die Nacht zugebracht hat, brauchen wir nicht zu beschreiben. Umsonst strebte er, das Räthselhafte dieser Flucht Luitgardens sich zu erklären. Es war ihm alles dunkel und lichtlos, was mit dieser Geschichte zusammenhing, und das Einzige, was nur zu klar vorlag, das war, daß Luitgarde ihn hatte verlassen können – jetzt, in dieser Lage, unter diesen Umständen! Daß es nicht an guten Freunden fehlte, die seine Sorge, seinen namenlosen Schmerz noch mehr stachelten, versteht sich. Besonders war Frau von Berkhoff in dieser Richtung mit Erfolg thätig. Ihr war ja nichts dunkel, nichts lichtlos in dieser merkwürdigen Angelegenheit; sie durchschaute, sie erkannte Alles bis auf den Grund!

Sträuben Sie sich auch, so viel Sie wollen, sagte sie zu dem Baron, als sie des Morgens nach Luitgardens Verschwinden wieder bei ihm war, um sich zu erkundigen, ob er immer noch keine Nachricht von ihr habe – Sie werden doch bald daran glauben müssen, werthester Freund, daß Ihre Tochter freiwillig oder unfreiwillig mit dem jungen Mühler durchgegangen ist.

Aber ich sage Ihnen, es ist nicht möglich, es ist gar nicht möglich! rief Raesberg ein Mal über das andere aus, stürmisch in seinem Zimmer hin- und herrennend.

Aber mein Gott, lieber Raesberg, kommen Sie doch zur Vernunft und sagen mir, was um des Himmels willen denn sonst wohl möglich sei! Nichts Anderes ist möglich, als was ich sage und deshalb bleibe ich dabei. Ich muß es doch am Ende am ehesten wissen, denn ich habe gesehen, wie sie mit Mühler zusammen mein Haus verlassen hat und mit ihm in den Wagen gestiegen ist.

Begleitet von ihrer Kammerjungfer …

Wenn auch, und jetzt, wo es stark auf Mittag zugeht, hat man weder von ihr, noch von dem jungen Manne, noch von besagter Kammerjungfer eine Sylbe vernommen.

Wenn ich nur einmal den Präsidenten sprechen könnte! sagte Raesberg, indem er den Gründen der Frau von Berkhoff nachzugeben begann … Seit gestern spät am Abende bin ich schon vier Mal an seinem Hause gewesen, aber immer heißt es: Der Herr Präsident sind nach Monrepos, auf das Lustschloß des Fürsten hinaus berufen und noch nicht zurück! Ich möchte einmal von ihm hören, was er zu seinem sauberen Bruder und dem falschen Briefe, wodurch mein armes, ehrliches Kind fortgelockt ist, sagt.

Es ist aber doch höchst wunderbar, bemerkte Frau von Berkhoff boshaft, daß sie sich von einer so groben Täuschung weglocken ließ, daß sie nicht ihres eigenen Vaters' Handschrift genau kannte.

Nun, meine Gnädigste, antwortete Raesberg bitter, ein so unschuldiges, reines Geschöpf, das nichts Arges ahnt, ist eben leichter zu täuschen, als eine erfahrene Weltdame!

Lassen Sie uns nicht in Streit darüber kommen, suchen wir lieber sie aufzufinden. Wenn Sie es wünschen, will ich gern nützlich sein …

O, ich bin Ihnen sehr dankbar, antwortete der Baron spitz, und Frau von Berkhoff, die sich erinnerte, daß sie an diesem Tage noch unendlich viele Besuche zu machen und noch unendlich viel über diese Geschichte zu reden habe, empfahl sich jetzt sehr bald, zur wesentlichsten Genugthuung Raesberg's, der sich mit Mühe ihr gegenüber in den Schranken der Höflichkeit gehalten hatte.

Frau von Berkhoff war noch nicht lange fort, Raesberg wollte eben ausgehen, um einen neuen Versuch zu machen, ob er den Präsidenten nicht endlich finden könne, als dieser selbst rasch und aufgeregt bei ihm eintrat.

Um Gottes Willen, lieber Raesberg, welche Geschichte höre ich von allen Seiten erzählen – ist es denn wahr, ist es denn möglich …

Leider ist es wahr, sie sind fort, zusammen fort, und ich bin bis zu dieser Minute ohne eine Nachricht von Luitgarden … aber Sie, wissen Sie nichts von Ihrem Bruder?

Glauben Sie denn auch, daß mein Bruder …?

Nun, was soll, was kann ich anders glauben?

Und mit einem untergeschobenen Briefe …

Ist sie weggelockt worden!

Aus dem Salon der Berkhoff?

Die Pest hole das Weib – aber sie schwört darauf, daß der Brief, wie von mir kommend, in ihrer Gegenwart Luitgarden überbracht worden sei.

Unerklärliche Geschichte! Wer ums Himmels willen kann denn schlecht genug sein, eine junge, unbescholtene Dame durch solche Spitzbübereien zu hintergehen und aus dem väterlichen Hause zu entführen?

Herr Präsident, entgegnete Raesberg sehr ernst und sich vor den Sprechenden hinpflanzend – wir sind alte Freunde, Sie wissen, was Sie von mir, ich weiß, was ich von Ihnen zu halten habe – anders aber steht es mit Ihrem jungen Bruder! Sie selbst scheinen mir über diesen von zu großer brüderlicher Liebe verblendet zu urtheilen und deshalb nicht klar über seinen Charakter zu sein. Deshalb bitte ich Sie bei unserer alten Freundschaft, bei dem zertretenen Rufe meines armen Kindes, bei den grauen Haaren, welche dieser Tag mir machen wird, beantworten Sie mir meine Frage – die volle, reine Wahrheit, ein Ja oder Nein ist alles, was ich von Ihnen verlange …

Fragen Sie, versetzte der Präsident – daß Sie die Wahrheit hören sollen, brauche ich Ihnen nicht erst zu beschwören!

Nun wohl, Mühler – Sie bezweiflen die Schuld Ihres Bruders bei dem Unglücke meiner Tochter …

Ich stelle sie so lange entschieden in Abrede, bis sie mir klar bewiesen wird.

Und ich werde daran glauben, je nachdem Ihre Antwort ausfällt, fuhr Baron Raesberg fort.

Gut, ich verlange ja nichts Besseres, als Ihnen Antwort zu geben – also, was wünschen Sie zu wissen?

Sagen Sie mir, Mühler, haben Sie je bemerkt, daß Ihr Bruder ein – wie soll ich es nennen? – ein Interesse für Luitgarden empfand?

Der Präsident wechselte leicht die Farbe und wandte sich ab, ohne auf der Stelle zu antworten.

Herr Präsident, fuhr Raesberg fort, ich mahne Sie an Ihr gegebenes Wort – verweigern Sie einem unglücklichen Vater, einem vom Schicksal so grausam geschlagenen Manne nicht den letzten, den einzigen Trost, die Wahrheit!

Nein, versetzte der Präsident, die will ich Ihnen nicht verbergen – gestern Morgen hat mir mein Bruder August das Geständniß gemacht, daß er für Ihre Fräulein Tochter eine tiefe Neigung empfinde.

So ist kein Zweifel mehr! brach Raesberg mit schmerzlich bewegter Stimme aus.

Aber Raesberg, fuhr der Präsident fort, kennten Sie ihn, wie ich ihn kenne, Sie würden es dennoch nie von ihm glauben, Sie würden den leisesten Gedanken daran weit von sich wegschleudern, daß er fähig sein sollte …

War er nicht ein enragirter Demokrat?

Er war ein Träumer, – war es.

Nun also?

Was, um's Himmels willen, beweist es?

Alles! sagte bestimmt und laut der Freiherr.

Nichts! – rief der Präsident dagegen – und falls dem auch nicht so wäre – wenn ich Ihnen sage, daß August jeden Antheil an der Politik und alle seine Schwärmereien nur aus Liebe und Dankbarkeit für mich aufgab, beweist Ihnen das nicht, daß er ein Mensch ist, der seine Neigungen und seine Leidenschaften seinen Grundsätzen, seinen Pflichten unterzuordnen weiß?

Was hilft mir das alles, wo die Thatsache redet?

Haben wir sie untersuchen können?

Sie liegt offen da!

Das heißt, sie liegt da, warf der Präsident ein, so wie Frau von Berkhoff sie darstellt, wendet und Gott und der Welt zu erzählen beflissen ist!

Baron Raesberg schwieg einen Augenblick. Dann hub er wieder an: Welche Hoffnungen, welche Absichten sprach Ihr Bruder in Beziehung zu meiner Tochter aus?

Gar keine.

Und doch gestand er Ihnen seine Neigung?

Ja; er erklärte mir nur, daß er diese Stadt nicht verlassen wolle, so lange Ihre Tochter hier weile; aber er sagte mir zugleich, daß Luitgarde ihn nicht liebe, daß sie sogar nicht einmal eine Ahnung von seiner Neigung habe, ja, daß er nicht wünsche, sie je von ihr gekannt zu wissen, weil die Verhältnisse doch jede Verbindung zwischen ihnen unmöglich, undenkbar machten.

Redensarten!

Sie glauben, er belöge mich …?

Man kennt das!

Weshalb hätte er mich täuschen wollen?

Er hat uns Alle getäuscht, und am meisten die arme Luitgarde selbst!

Der Präsident zuckte die Achseln.

Ihr Mißtrauen gegen August schmerzt mich tief, sagte er; aber ich fühle wohl, daß es sprechenderer Beweise für seine Unschuld bedarf, als ich sie Ihnen in diesem Augenblicke noch geben kann.

Sie nehmen mir aus alter Freundschaft nicht übel, wenn ich ganz offen gegen Sie bin?

Heute nehme ich Ihnen nichts übel, versetzte der Präsident.

Nun, so gestehe ich Ihnen, daß es mir beinahe einen lächerlichen Eindruck macht, entgegnete Raesberg, wenn ich Sie so lebhaft die vollkommene Unschuld eines Menschen vertheidigen höre, den die Polizei verhaften wollte und verhaften wird, sobald er sich wieder blicken läßt.

Das ist eine ganz andere Angelegenheit – die Nachwirkungen einer jugendlichen Thorheit …

So kann man, wenn man beschönigen will, auch seinen jetzigen Streich nennen. Irgend ein guter Freund hat ihm seine bevorstehende Verhaftung zu wissen gethan; er hat sich mithin entschließen müssen, diese Stadt, die er nicht verlassen wollte, so lange Luitgarde in ihr lebte, nun doch zu verlassen – um consequent bei seinem Worte zu bleiben, hat er darauf beschlossen, daß Luitgarde zugleich mit ihm die Stadt verlassen solle – das ist das Ganze … auch eine jugendliche Thorheit!

Der Präsident wollte antworten, und wer weiß, in welchen gereizten Ton die beiden Männer hineingerathen wären, wenn sie nicht durch die unerwartete Erscheinung des alten van Troost daran verhindert worden wären. Der Banquier sah höchst erhitzt aus. Er warf sich athemlos in einen Lehnsessel und wischte sich die Stirn.

Herr Präsident, sagte er, ich laufe Ihnen wie ein Narr in der ganzen Stadt nach.

Was haben Sie denn, Troost?

Sie müssen mir rathen, was ich thun soll …

Was ist Ihnen zugestoßen?

Mein Sohn hat sich, angeblich in meinem Auftrage, einen großen Theil der Wechselpapiere von meinem Bruder durch den Cassirer ausliefern lassen – er ist damit verschwunden seit der letzten Nacht – ich kann sie nicht nach Antwerpen zurückschicken – ich bin vollständig blamirt – ich bin ein unglücklicher Mann! Der abscheuliche Mensch machte mir noch vorgestern eine Scene darüber und bestand darauf, ich solle die Gelder behalten – ich bin prostituirt durch meinen eigenen Sohn!

Ihr Sohn ist auch fort? fragte Mühler.

Er ist fort, fort wie ein Dieb in der Nacht – hier lesen Sie den tückischen Brief, den er mir hinterlassen hat.

Der Präsident nahm das Papier, welches van Troost ihm darreichte, und las es halblaut ab: Mein theurer Vater, lautete es, eine leidige Ehrensache, worin ich das Unglück hatte, meinen Gegner zu verwunden …

Nichts als ein schlechter Witz, rief David van Troost hier dazwischen; der Gegner bin ich!

Zwingt mich, fuhr Mühler zu lesen fort, Sie ohne Abschied auf lange Zeit zu verlassen. Mein Gegner wird hoffentlich einsehen, wie thöricht die eingebildete Ehre seines Standes ihn zu handeln antrieb, und seine Wunde wird sicherlich bald heilen, ja, ich hoffe, er wird mir sogar dankbar sein und, obgleich ich der Jüngere bin, mich für meine praktische Art, unseren Handel abzumachen, noch einmal segnen. Leben Sie wohl, mein theurer Vater!

Der ruchlose Mensch, er persiflirt mich noch! rief David van Troost aus, als der Präsident geendet hatte.

Der Letztere wandte sich lächelnd und ohne durch einen Zug seines Gesichtes für die Empörung des Banquiers Mitgefühl zu verrathen, an diesen mit der Frage:

Was wollen Sie nun machen? Sie können, um die Ehre Ihres kaufmännischen Namens ganz rein und unbefleckt von der Schmach zu erhalten, eine halbe Million anzunehmen, welche Ihnen zukommt, Ihren Sohn in den Blättern mit Steckbriefen verfolgen lassen, wenn Sie Lust haben.

David van Troost schien dazu freilich nicht, aber eher Lust zu haben, sich aus Verzweiflung das Haar auszuraufen.

Ueberhaupt, fuhr der Präsident bitter sarkastisch fort – wir sehen nun Alle so ziemlich, was bei dem starrköpfigen Festhalten an der »Standes-Ehre« herauskommt. Sie, Troost, wollten das Geld nicht, das jeder vernünftige Mensch Ihnen zu nehmen rathen mußte. Darüber wird Ihr eigener Sohn zum Diebe an Ihnen und höhnt Sie noch aus – er wird Ihnen gegenüber zum Organ des Urtheils der Welt über solche Handlungen der Standes-Ehre – denn wenn Sie von Ihrem eigenen Sohne sich bieten lassen müssen, was derselbe Ihnen bietet, wie werden dann fremde Menschen über Sie spotten! Das haben Sie mit Ihrer Weigerung erwirkt – mit Ihrem Ehren-Punkt – gerade das Gegentheil von dem, was Sie wollten! denn Ehre, was ist sie anders als das Spiegelbild unserer Untadeligkeit im Auge der Menschen? Sie, Raesberg, sind ganz in dieselbe Lage gerathen durch Ihre Caprice, um Ihrer Standes-Ehre willen nicht den entlaufenen Rentmeister verfolgen lassen zu wollen. Jetzt hat – nehmen Sie mir nicht übel, daß ich so frei von der Leber wegspreche – Ihre Fräulein Tochter sich es zur Lehre genommen, daß der Herr Papa es so sanftmüthig aufnimmt, wenn man ihm durchgeht, und ist selbst durchgegangen!

Das weniger, fiel Raesberg scharf ein – sie ist entführt worden, von einem Elenden!

Der Präsident antwortete nicht darauf, er zuckte blos die Achseln und schien einen Augenblick, ohne Theilnahme für die Anderen, seinen Gedanken ganz nachzuhangen. Sagte er sich im Stillen, daß das, was er so eben vorgebracht, am Ende auch wohl auf ihn selbst Anwendung finden könne? daß, wenn er nicht so hartnäckig aus »Standes-Ehre« auf der nachträglichen gerichtlichen Vernehmung eines gehässigen, sich aufdrängenden, berüchtigten Menschen als Zeugen bestanden hätte, sein Bruder nicht habe die Flucht zu ergreifen brauchen und jetzt vielleicht hier stände, ohne einen Flecken auf seiner Ehre zu haben, der bedeutend größer und unheilvoller war, als der Flecken, der auf der Ehre des Präsidenten geruht hätte, wenn dieser dem Untersuchungs-Richter geantwortet hätte: Sie haben ganz Recht, wir bedürfen keiner weiteren Zeugen-Verhöre, lassen Sie die Untersuchungs-Acten, die geschlossen sind, geschlossen bleiben –?

Solche Gedanken waren es vielleicht, die den Präsidenten beschäftigten. Er äußerte sie freilich nicht!

Ich kann nicht länger müßig und ruhig bleiben – ich will fort, um meiner Tochter nachzueilen, sagte Raesberg; wenn ich Luitgarden nur wiederfinde, so ist mir alles Andere gleichgültig. Was Sie in meiner Geldangelegenheit thun wollen, überlasse ich Ihnen, van Troost. Sie können ja nun doch nicht die Summen, welche Sie in Wechseln disponibel hatten, Ihrem Bruder zurückschicken, weil für einen Theil davon der Herr Sohn Verwendung gefunden hat. Was er davon in Ihrer Kasse zurückgelassen hat, wird jedenfalls hinreichen, um für mich einzutreten. Aber machen Sie das, wie Sie wollen; ich bin nicht in der Stimmung, mit Ihnen darüber lange zu verhandeln, oder gar Bitten an Sie zu verschwenden.

So habe ich auch keine Veranlassung, Bitten zu erfüllen! entgegnete van Troost boshaft.

Raesberg klingelte seinem Diener. Aber nicht dieser trat, als sich im nächsten Augenblicke die Thür öffnete, ein, sondern eine ganz andere, eine höchst unerwartete Erscheinung – nämlich August Mühler.

Er hatte einen Polizeidiener in seinem Geleite.

Der junge Mann sah bleich, erschöpft, mit Schmutz und Staub bedeckt aus – erschreckend beinahe, und seine Haltung war, als wolle er vor Müdigkeit umsinken.

Die drei im Zimmer Raesberg's versammelten, Männer stießen einen einstimmigen Ruf der Ueberraschung aus bei diesem Anblick.

August! rief der Präsident – Du?

Hermann! sagte der junge Mann erschüttert und sich in die Arme seines Bruders werfend, halb wie aus Rührung, halb wie um sich in seiner Müdigkeit eine Stütze zu suchen.

August – August – wärest Du doch nicht zurück gekommen! rief der Präsident bewegt – und doch, ich danke Gott, daß Du zurück gekommen bist und daß Du Dich rechtfertigen kannst!

Wenn ich es nur kann …! versetzte niedergeschlagen August Mühler, indem er natürlich an nichts Anderes dachte, als an seine Untersuchung und Verhaftung.

Raesberg mißverstand jedoch seinen Ausruf.

Sie können es nicht? fuhr er dazwischen – so hören Sie es denn selbst, Herr Präsident – aber, wandte er sich an August, Sie werden mir wenigstens sagen können, wo meine Tochter ist – wo ist Luitgarde, wohin haben Sie sie gebracht?

Ich stehe Ihnen gleich zu Dienst, Herr von Raesberg, antwortete August Mühler, indem er sich in einen Sessel warf. Zuerst erlaube ich mir, Sie auf meine Begleitung aufmerksam zu machen, die eine so zähe Anhänglichkeit entwickelt. Dieser Herr – August Mühler deutete auf den Polizeisergeanten – wird vielleicht so gut sein, den Wünschen meines Bruders einige Rechnung zu tragen, wenn ihm dieselben dahin kund gethan werden, daß er uns allein lassen möge.

Ich stehe für meinen Bruder! sagte der Präsident, zu dem Polizeidiener gewandt, und der Letztere zog sich in das Vorzimmer zurück.

Nun, fuhr Raesberg fort, sagen Sie mir die Wahrheit – bei Gott, die Wahrheit! Wo ist Luitgarde?

Ihrer Tochter wegen, Herr von Raesberg, komme ich zu Ihnen; kein Hemmniß hat mich aufgehalten, selbst die Polizei, welche mich am Thore in Empfang nahm, nicht; sie hat sich erweichen lassen und endlich nachgegeben, mich unter doppelter Escorte in Ihr Haus zu geleiten. Ich komme, Ihnen zu sagen, daß Luitgarde in einem Wirthshause an der Chaussee jenseits der Grenze ist, und daß sie dort schmerzlich darauf wartet, daß Sie kommen und sie abholen …

Und wer – wer hat sie dahin gebracht, wer hat sie entführt? fuhr Raesberg ihn an.

Ich kenne keinen dringenderen Wunsch, als das selber zu wissen – antwortete August Mühler.

Was soll das heißen – wenn nicht Sie sich erlaubt haben, meine Tochter zu entführen, wer …?

Mein verehrter Herr von Raesberg, ich bin selber gerade so gut wie Ihre Tochter entführt worden! Sie sehen ja, daß ich nichts Eiligeres zu thun hatte, als zu Ihnen zu kommen und Ihnen Nachrichten von Ihrer Tochter zu bringen – ich habe dazu einen gräßlich stoßenden Postklepper völlig zu Schanden geritten!

Aber das ist ja unbegreiflich …

Das Unbegreiflichste, was sich erdenken läßt, versetzte der junge Mann, und begann nun der Reihe nach seine Reiseabenteuer zu erzählen; endlich reichte er das Billet, welches Luitgarden am vorigen Abende eingehändigt worden war und das er an sich genommen hatte, Raesberg hin.

Dieser warf einen Blick darauf. Dann rief er aus:

Aber das ist ja offenbar nachgemacht! Weshalb durchschaute denn Luitgarde das nicht augenblicklich, sie kannte ja meinen Entschluß, Wilhelmi nicht zu verfolgen?

Dieser Brief, erwiederte August, sprach ebenfalls einen festen Entschluß und einen bestimmten Befehl an Ihre Fräulein Tochter aus. Daß der Brief nachgemacht sein könnte, fiel uns freilich ein, aber als es zu spät war. Und zur Gewißheit wurde es erst, als ich in der vorigen Nacht auf der zweiten Poststation, Neulandsberg, ankam, wo ich von Ihnen nichts entdeckte, auch Niemand eine Sylbe von Ihnen wußte und gehört hatte. Da bin ich denn auf dem directesten Wege und in menschenmöglichster Schnelligkeit hieher geeilt.

Um hier von der Polizei aufgefangen zu werden und so ein Dutzend Jährchen Festungs-Vergnügen zu erhalten! bemerkte van Troost bitter, während er sich hinter den Baron Raesberg stellte und über dessen Schulter in das verhängnißvolle Billet blickte, welches der Letztere prüfend anschaute.

Wußten Sie denn nicht, daß Ihnen hier die Verhaftung drohte? fragte Raesberg.

Allerdings – vor dem Thore erhielt ich durch einen guten Freund, der mir begegnete, eine Warnung …

Und Du kehrtest nicht um? fuhr lebhaft der Präsident auf.

Nein, ich hatte Fräulein Luitgarden mein Wort gegeben, daß ich ihren Vater selbst aufsuchen wolle – und sein Wort, Herr von Raesberg, bricht ein ehemaliger Student nicht, auch wenn er einmal Demokrat war …

So gehen Sie zum Fürsten, wandte sich Raesberg an den Präsidenten – erzählen Sie ihm, durch welche Verkettung von Umständen und welche hochherzige Gewissenhaftigkeit Ihr Bruder in diese Lage gerathen ist, – bitten Sie ihn um die Niederschlagung der Untersuchung wider Ihren Bruder – er kann das einem Manne von Ihren Verdiensten gar nicht verweigern.

Das wäre eine seltsame Bitte, antwortete Mühler, nachdem ich heute Morgen dem Fürsten die Theilnahme meines Bruders an der demokratischen Verbindung mit dem Zusatze eröffnet habe, ich hätte dem Untersuchungsrichter aufgetragen, wider meinen Bruder wie gegen jeden Andern vorzuschreiten.

Und was sagten Seine Hoheit?

Sie schienen höchst unangenehm berührt und schwiegen. Vielleicht dachten Sie, ich wolle den Brutus spielen, und so nähmen Sie es auch wohl sehr sarkastisch auf, wenn ich jetzt, wo mein Bruder wirklich in den Händen der Justiz ist, aus dieser Rolle fiele! Nein, das geht nicht – es ist wider meine Ehre!

So? ist auch einmal etwas wider Ihre Ehre – vielleicht wohl auch gar Ihre Standesehre?! fiel hier tückisch triumphirend der Banquier ein.

Und wenn ich nun Ja sagte? entgegnete der Präsident.

Nun, dann hätten Sie vorhin sehr Unrecht gehabt, uns zu predigen, meinte van Troost, und ich hätte sehr Recht gehabt, als ich Ihnen gestern bedeutete, auch an Sie könne die Reihe kommen!

Ich muß das nun die Herren unter sich ausmachen lassen, sagte hier August Mühler; ich darf, nachdem ich meinen Auftrag ausgerichtet, mein Gefolge nicht länger auf mich warten lassen. Habe aber die Güte, lieber Bruder, mir in das Arrestlocal eine Flasche Wein zu schicken, denn in unserem Chausseen-Wirthshause fehlte mir die Ruhe, mich zu stärken, und seit dem Thee der Frau von Berkhoff, der noch dazu etwas dünn war, habe ich so gut wie nichts mehr genossen!

Dafür soll gesorgt werden, versetzte der Präsident, der in düsterem Sinnen auf den Boden geschaut hatte und sich jetzt erhob.

Raesberg wollte mit August zugleich gehen, um Anstalten zu treffen, seiner Tochter sofort nachzureisen, als van Troost ihn aufhielt.

Hören Sie noch, Baron, sagte er: hat jenes Billet dort alles Unheil angerichtet?

Nichts Anderes! versetzte Raesberg– und wer es schrieb …

Ich will Ihnen sagen, wer es schrieb, antwortete der Banquier mit schlecht verhehlter Schadenfreude. Diesen Brief hat Niemand anders geschrieben als mein Sohn.

Ihr Sohn?

Mein durchgebrannter Herr Sohn!

Aber weshalb, um Gottes willen? Erklären Sie mir das!

Weshalb, weiß ich nicht, entgegnete van Troost. Aber ich erkenne Züge, welche mir deutlich seine Hand verrathen. Es giebt eben Leute, Herr von Raesberg, die man sich hüten muß, rücksichtslos zu behandeln. Und wer weiß, durch welchen Vorfall sich Ihre Fräulein Tochter den Vortheil zugezogen hat, von meinem Sohne eine solche Lehre zu empfangen!

Aber ich werde Ihren Sohn vor Gericht belangen …

Ja, lieber Herr von Raesberg, da sage ich nicht gegen ihn aus, und wenn ich jetzt dieses Billet – sehen Sie, so unschädlich mache – der Banquier zerriß bei diesen Worten schnell das Papier –, so finden Sie auch keinen weiteren Zeugen mehr. Daß Sie Heinrich selbst vor der Hand nicht finden, dafür bürgt Ihnen seine Klugheit und – setzte er seufzend hinzu – mein Geld!

Und damit verließ Johann David van Troost still den Schauplatz all dieser Vorgänge.

Auch Mühler ging! er begleitete seinen Bruder hinunter und fuhr in einem Fiacre mit demselben in das Gefangenhaus, wo er für eine nach Möglichkeit anständige und bequeme Einquartierung des jungen Mannes sorgte.

August Mühler war ruhig und gefaßt wie immer.

Sei getrost und bekümmere Dich nicht wegen meines Schicksals, sagte er zu seinem Bruder. Mir liegt an meiner Freiheit nicht so viel – es war ein Capital, aus dem ich nie große Zinsen zu ziehen wußte – was darf ich klagen, daß es mir einmal entzogen wird! Wohin hätte ich auch fliehen sollen? Nach Amerika, wie Herr Wilhelmi? Nein, nein, die Atmosphäre ist für mich zu scharf!

Der Präsident zerdrückte etwas in seiner Wimper und schied von seinem Bruder mit einem stummen Händedruck.


IX.
Eine Ueberraschung für
Heinrich von Troost.

Noch am Nachmittage desselben Tages, der August Mühler in's Gefängniß brachte, erschien ein Gerichtsvollzieher in der Wohnung des Banquiers Johann David van Troost und verlangte den Chef des Hauses zu sprechen. Als der Letztere in sehr übeler Laune – denn er war so eben beschäftigt, in den überaus sauren Apfel zu beißen, das Concept eines Briefes aufzusetzen, wodurch sein Correspondent dem geliebten Bruder in Antwerpen die Annahme der halben Million melden sollte – also, als Johann David in sehr übler Laune im Geschäftszimmer erschien, eröffnete ihm der Gerichtsvollzieher, daß er beauftragt sei, von Seiten des Baron von Raesberg die am heutigen Tage verfallende Rate zur Amortisation seines Anlehens, so wie die erforderliche Summe zur Zahlung der Zinsen Herrn van Troost einzuhändigen, wobei er vor dem Banquier ein großes Portefeuille mit Banknoten und Cassenscheinen auskramte und das Geld aufzählte.

Zählen Sie das Geld nach und setzen Sie die Quittung auf, befahl Johann David van Troost seinem neuen Cassirer; denn den alten hatte er weggejagt, weil er seinem Sohn einen Theil der Antwerpener Wechsel ausgeliefert hatte.

Wie ist das? fragte der Cassirer, als der Chef den Rücken gewandt hatte – ich meinte, wir bekämen das Geld nicht?

Ja, antwortete der Gerichtsvollzieher – es ist auch, hab' ich mir sagen lassen, nahe daran gewesen. Der Rentmeister des Barons war damit durchgegangen, aber das gnädige Fräulein ist ihm nach und hat ihn richtig erwischt und ihm seine Taschen geleert. Sie ist vor einer halben Stunde, just als der Baron hat anspannen lassen, um ihr nachzufahren, wieder angelangt, mit Extrapost von der Grenzstation her.

Nun, Die hat Courage, antwortete der Commis, indem er mit nicht ganz sicherer Hand die Quittung aufsetzte – der neue Cassirer nämlich war der Verehrer Fanny's, welchen Heinrich am gestrigen Tage gebraucht hatte, ihm bei der Schlinge zu helfen, die er Luitgarden gelegt.

Im Stillen dachte der junge Mann: Das ist die wunderbarste Geschichte, die mir je vorgekommen; ich habe die Wagen und Pferde bestellen und die Postleute auf der nächsten Poststation bestechen müssen, daß sie das gnädige Fräulein entführen halfen; und nun ist dasselbe gnädige Fräulein, durch meine sorgfältigen Vorkehrungen, scheint's, nur desto schneller weiter befördert worden, um Fanny's unglückseligem Papa über den Hals zu kommen!

Er ging kopfschüttelnd ab, um seinem Chef zu melden, daß die Summe richtig sei, und um ihm die Quittung zur Unterschrift vorzulegen. Dabei nahm er sich vor, sobald die Dämmerung eingetreten, im Hause Raesberg's eine Unterredung mit seiner angebeteten Fanny zu suchen. Aber er fand, als er diesen Vorsatz gegen Abend ausführte, Fanny noch nicht zurückgekehrt; und ebenso erging es ihm am folgenden und am dritten Abende, und als Fanny endlich nach acht Tagen zurückkehrte, da war sie schwarz gekleidet, in tiefster Trauer, und gab dem verrätherischen Commis, statt der gehofften Aufklärungen – den Laufpaß!

Uebrigens waren natürlich mehr Leute als der van Troost'sche neue Cassirer in unserer Stadt, welche sich durchaus nicht die Räthsel zu deuten mußten, die über Luitgardens plötzlicher nächtlicher Reise in Gemeinschaft mit dem jungen Mühler, und über ihrem eben so plötzlichen Wiedererscheinen mit den durch Wilhelmi entführten Geldsummen lagen.

Besonders für Frau von Berkhoff war die Sache ein Gegenstand angestrengten Nachdenkens und Nachforschens … sie hatte um so mehr Muße, sich demselben hinzugeben, als jetzt der ganze Festspielplan trübselig zu Boden lag – der Held saß im Gefängniß und die Heldin hatte keine Lust mehr, ihre Rolle zu lernen. Der Frau von Berkhoff Sympathieen für die beiden jungen Leute waren dadurch nicht gesteigert; sie fand es von dem jungen Mühler geradezu abscheulich, sich jetzt, wo sie so fest auf ihn gezählt hatte, einsperren zu lassen; und daß Luitgarde ihr erklärte, die Ereignisse hätten sie in eine Stimmung versetzt, worin es ihr unmöglich sei, zu dem Festspiel mitzuwirken, war doch auch eine Launenhaftigkeit des verzogenen Kindes, so groß und unverantwortlich, daß sie eine tüchtige Strafe verdiente.

In solch günstiger Stimmung ließ denn Frau von Berkhoff ihrer nicht geringen Beredsamkeit freien Lauf, und zum großen Theil, Dank ihrer siegreichen Zunge, mußte Baron Raesberg bald wahrnehmen, daß der Ruf seines einzigen Kindes durch allerlei verschiedene Auffassungen der Sache, die aber alle darauf hinausliefen, daß sie dem Ereignisse eine üble Deutung gaben, angegriffen sei.

Ihm selbst wäre das wohl nicht so bemerkbar und kund geworden – er war in den Tagen, welche auf Luitgardens Rückkehr folgten, sehr viel beschäftigt, um sich von allen Banden, die ihn an die Stadt fesselten, los zu machen und hinaus nach Steinfeld ziehen zu können –, aber auch hier wieder kam seine gute Freundin, Frau von Berkhoff dem Dinge zu Hülfe. Sie sagte es ihm gerade heraus.

Sie versicherte ihm, die verbreitetste Deutung der Sache sei, August Mühler sei mit seiner Tochter durchgegangen, er, der Baron, aber habe ihnen einen reitenden Boten nachgesandt und dem liebenden Paare volle Verzeihung verheißen, wenn es in die Arme des verzweifelten Papa's zurückkehre. Auch würden, so nehme man als gewiß an, Beide schon ein wirkliches Paar sein, wenn nicht der verdrießliche Umstand eingetreten wäre, daß August Mühler bei der Rückkehr arretirt worden.

Was die Geldangelegenheit betreffe, fuhr Frau von Berkhoff in ihrem Berichte über die allgemeine Meinung fort, so betrachte man das als eine Sache für sich; man glaube an eine Zufälligkeit, die den Besitz seines geraubten Eigenthums dem Baron um dieselbe Stunde mit seinem entflohenen Kinde wieder zugeführt … er sei eben glücklicher gewesen, als Shylock, der Jude von Venedig, der auch eines schönen Morgens so bitter habe wehklagen müssen: meine Tochter, meine Ducaten – meine Ducaten, meine Tochter!

Das boshafte Geschwätz der Dame senkte einen tiefen Stachel in das Herz des Barons. Er war einer jener offenen, geraden Männercharaktere, welche allem Dem gegenüber, was sie nicht durch einfaches, entschlossenes Handeln erledigen können, was nach Intrigue, nach dem verwirrten Durcheinander weiblicher Künste schmeckt, sich so hülflos wie ein Kind fühlen.

Er wußte nichts Anderes zu thun, als Luitgarden, von der er sich in solcherlei Angelegenheiten stets lenken zu lassen gewohnt war, offen den Stand der Dinge mitzutheilen und mit ihr zu berathen, was zu beginnen sei.

Diesen Vorsatz führte denn auch Herr von Raesberg an einem der nächsten Abende, als Beide allein und ungestört waren, aus.

Luitgardens Wangen waren erbleicht, während ihr Vater zu ihr redete. Der Letztere schloß mit einer derben Verwünschung wider die Verleumdungssucht der Menschen.

Eigentlich, sagte Luitgarde jetzt, verleumdet man mich nicht so sehr, als Du glaubst.

Was soll das heißen? fragte Raesberg, verwundert aufblickend.

Ich liebe August Mühler!

Luitgarde … Du …

Entsetzest Du Dich darüber? Mir scheint es gerade das größte Glück bei allem diesem. Wir können den Leuten den Mund nicht stopfen. Mein Ruf wäre unwiederbringlich verloren – Heinrich von Troost feierte den schönsten Triumph, den ein böser Mensch je gefeiert hat … wenn …

Wenn? Nun?

Wenn mir jetzt nicht das einfache Auskunftsmittel geblieben wäre, August Mühler zu heirathen.

Du denkst nicht daran!!

O, sehr – sehr viel, lieber Vater!

Luitgarde! rief ihr Vater im Tone der höchsten Entrüstung aus – aber weshalb, fuhr er fort, ereifre ich mich! August Mühler sitzt hinter Schloß und Riegel und wird wohl lange genug dahinter sitzen, daß Dir Zeit bleibt, Deine thörichten Gedanken zu vergessen!

Das wäre sehr schlimm!

Sehr wünschenswerth im Gegentheil!

Ich hoffe, lieber Vater, daß es mir gelingt, Dich anderer Ansicht zu machen. Denn bei dem, was ich mir vorgesetzt habe, bedarf ich durchaus Deiner Mitwirkung.

Und worin besteht das, wenn ich fragen darf? sagte Raesberg mit zornig verächtlichem Tone.

Darin, daß Du allen Deinen Einfluß beim Fürsten aufwendest, um August Mühler's Freilassung zu erwirken.

Ich? wahrhaftig, wenn dieser unglückselige junge Mensch nicht eher frei wird, als bis ich für ihn mich ins Mittel lege, so ist er in verzweifelter Lage!

Höre mich an, Vater. Daß Du für August Mühler Schritte thuest, das gebietet Dir eine heilige Pflicht. Denn wie Du mir selbst gesagt hast, ist er, trotz der Warnung vor Verhaftung, hieher zurückgekehrt nur um Deinetwillen, um Dir selbst und persönlich zu sagen, wo Deine Tochter sei, und um Dich zu beruhigen.

Er ist zurückgekehrt, weil er Dir sein Wort gegeben, nicht um meinetwillen, entgegnete Herr von Raesberg.

Nun, jedenfalls doch aus einer heroischen Selbstverläugnung um unsertwillen, und da er uns dadurch so unendlich verpflichtet hat, so haben wir die moralische Verpflichtung, auch etwas für ihn zu thun. Dies fühl' ich so tief, daß ich mir vorgenommen habe, falls Du Dich dieser Verpflichtung zu entziehen entschlossen bleibst, selbst zum Fürsten zu gehen.

Luitgarde – ich kenne Dich nicht mehr!

Und ich, antwortete Luitgarde, offen gestanden, meinen so groß denkenden, ritterlichen Vater nicht mehr.

Der Baron schwieg eine Weile. Aber, sagte er nach einer Pause, wenn ich nun eine Fürbitte beim Fürsten einlegte, was dann weiter?

Dann würde diese Fürbitte wunderbar mächtig unterstützt werden, wenn Du dem Fürsten als Motiv zugleich mittheiltest, daß Du entschlossen seiest, diesen Herrn August Mühler zum Schwiegersohne zu machen.

Wenn Du diesen tollen Gedanken nicht fahren lässest, so wird nichts aus meiner Fürbitte – dessen kannst Du gewiß sein.

Was die Pflicht gebietet, kannst Du nicht von Bedingungen abhängig machen wollen! Du nicht! Oder soll ich lieber sagen: was die Ehre gebietet? Nun wohl, dieses Wort ist ja nun einmal das, dessen Macht immer noch ausreicht, wo das Wort Pflicht ohnmächtig ist. Und da wir von diesem Punkte reden – siehe, Vater, Du hattest den festen Entschluß gefaßt, Wilhelmi nicht verfolgen lassen zu wollen, um Deiner Ehre willen. Du wolltest lieber der Schuldner betrogener erbitterter Gläubiger bleiben, lieber alles, was Dein ist, verlieren, lieber Deine Existenz, Deiner Tochter Zukunft ruinirt und ein altes Geschlecht zu Grunde gehen sehen, als etwas thun, was Du für Deiner Ehre zuwider betrachtest! Mich fragtest Du nicht: Luitgarde, willigst Du ein, für ewig arm, ja, obdachlos zu werden? – Du handeltest ohne Rücksichten, weil dir Die Ehre gebot. Ich zürnte Dir nicht, Vater, nein, ich empfinde noch bis auf diesen Augenblick die größte Ehrfurcht vor so männlich starker Entschlossenheit, vor so ritterlich edler Gesinnung. Aber ich würde keine Ehrfurcht vor solcher Gesinnung hegen, wenn sie mit einem ausschließlichen Egoismus gepaart wäre!

Was soll das heißen? fragte Herr von Raesberg betroffen.

Wenn Du nur Dir erlaubtest, Deiner Ehre wegen, ohne Rücksicht auf das, was Andere darunter leiden können, so zu handeln, daß auch sie dem Gebote ihrer Ehre Opfer bringen und gehorchen.

Das räum' ich sicherlich ein.

Nun wohl, meine Ehre gebietet mir, August Mühler zu heirathen. Ich danke Dir, Vater, für Deine Einwilligung.

Halt, Luitgarde – so weit sind wir noch nicht! Das Gebot der Ehre muß unwidersprechlich, unzweifelhaft sein …

Wer soll darüber entscheiden? Was Dir die Ehre vorschreibt, läßt Du Dir das von irgend Jemand auf Erden sagen, deuten, beurtheilen? Du hast unlängst hinreichend bewiesen, daß Du das nicht thust!

Nein, freilich … aber …

Aber ich auch nicht, Vater, fiel Luitgarde ein. Nur das eigene Bewußtsein kann uns das sagen, und da mir mein Bewußtsein ganz klar und deutlich sagt, was mir die Ehre in diesem Falle zu thun vorschreibt, so bist Du viel zu edeldenkend, bist ein viel zu zärtlicher Vater, um nicht einzuwilligen, daß Deine Tochter diesem Gebote folgt.

Herr von Raesberg fühlte, daß er geschlagen sei und gegen die Dialektik seiner Tochter nicht mehr Stand halten konnte. Er schwieg und ließ für heute den Gegenstand fallen.

Durch welche weiteren Unterhandlungen zwischen Vater und Tochter besagter Gegenstand sodann seine Erledigung gefunden, wissen wir nicht genau anzugeben; gewiß aber sind zwei Thatsachen, welche, die erste einige Monate, die andere ein Jahr nachher, Statt fanden. Am nächsten Geburtstage des Fürsten nämlich wurde eine Amnestie für einen ansehnlichen Bruchtheil der in dem Hochverraths-Processe begriffenen jungen Leute verkündigt und August Mühler, dessen Name unter den Ersten war, der Freiheit und seinem um ihn so bekümmerten Bruder zurückgegeben.

Im Zusammenhange damit steht die zweite Thatsache.

Im Laufe des nächsten Frühjahrs trat eines schönen Morgens nämlich ein junges Ehepaar von dem Raesberg'schen Familiengute Steinfeld aus eine Hochzeitsreise an, und zwar nicht allein, sondern in Begleitung eines vortrefflich gelaunten, über alle Beschreibung liebenswürdigen Papa's, der auf die inständigen Bitten des jungen Paares dasselbe auf seiner Reise durch die Schweiz und nach Ober-Italien begleitete. Wie wir berichtet sind, sollen alle Drei in ungetrübter Heiterkeit und ohne alle störenden Unfälle die herrlichen Schweizerthaler durchstreift und den Zauber landschaftlicher Schönheit an den Gestaden des Comer- und des Langensee's genossen, und nur eine einzige Begegnung auf der ganzen Reise soll in den Character eines verdrießlichen, störenden Abenteuers hinübergestreift haben.

Diese Begegnung fand auf dem Verdecke des kleinen Dampfbootes Statt, welches von Magadino am Langensee die Reisenden nach Sesto Calende überfährt und dabei zu Locarno, Canobio und an anderen Zwischen-Stationen anlegt. Unsere Gesellschaft beabsichtigte, die Borromäischen Inseln zu besuchen, und wollte sich dort ausschiffen; aber ehe sie an das Ziel ihres Reisetages gekommen, sahen sie an einem der Landeplätze, wo das Dampfboot Passagiere ein- und aussetzte, eine Gestalt sich dem Boote nahen, die allen Dreien eben so wohl bekannt als unerwartet war.

Herr Heinrich von Troost! rief August Mühler aus, indem er die beiden Anderen aufmerksam machte auf die Gestalt des jungen Mannes, der, von einem Gepäckträger gefolgt, eben seinen glanzlederbekleideten zierlichen Fuß auf die Landungsbrücke setzte.

Heinrich von Troost! echoete zornig Herr von Raesberg – während Luitgarde die Farbe wechselte und mit gerunzelter Stirn den Ankommenden fixirte, der übrigens von seiner Fülle und seinem blühenden Teint etwas verloren hatte, ja, sehr angegriffen, sehr blaß und sehr fatiguirt aussah.

Als Heinrich von Troost sein Gepäck hatte in Sicherheit bringen sehen, nahm er sein Lorgnon und musterte die auf dem Verdeck befindliche Reise-Gesellschaft. Sein Auge streifte die Gruppe unserer drei Freunde. Er schien zusammen zu zucken, wie bei einem elektrischen Schlage – aber im nächsten Augenblicke hatte er sich vollkommen gefaßt und schritt mit freundlich verbindlichem Lächeln auf sie zu.

Welches glückliche Begegnen, mein gnädiges Fräulein! sagte er, zunächst sich an Luitgarden wendend – Gestalten aus der Heimath!

Luitgarde vermochte bei seinem Anblick ihren Empfindungen nicht hinreichend zu gebieten, um ihm gleichgültig antworten zu können. Sie wandte ihm deshalb lieber den Rücken und schritt in die Cajüte, ohne ein Wort zu sagen.

Sie haben meine Tochter verletzt, mein Herr von Troost, antwortete statt ihrer der Baron auf Heinrich's Anrede. Sie hätten ihr ihren rechten Namen: »Frau Mühler« geben müssen.

Heinrich von Troost blickte verwundert den Baron an.

Wie? das heißt …? rief er überrascht aus.

Ich stelle Ihnen hiermit meinen Schwiegersohn, Herrn Doctor August Mühler vor! fuhr Raesberg fort.

Heinrich von Troost fixirte die beiden Männer mit einem schwer zu beschreibenden Ausdruck seiner Züge. Zuerst war es wohl ein überaus unangenehmes Betroffensein, das sich darauf malte – dann schien er mit einem lauernden Späherblick den Baron durchschauen und aus dessen Gesichte die Gefühle lesen zu wollen, womit er August Mühler, den Bauernsohn, den ehemaligen Demokraten, ihm als Schwiegersohn präsentirte! War seine Rache an Luitgarden und ihrem Vater gelungen – war sie mehr und vollständiger durchgeführt, als Heinrich von Troost selbst hätte hoffen dürfen – und Raesberg und Luitgarde machten bloß bonne mine au mauvais jeu? Oder war der hochmüthige Aristokrat so umgewandelt und bekehrt, daß er wirklich mit der Befriedigung, der Zärtlichkeit, welche in dem Tone seiner Stimme lag, August Mühler seinen Sohn nannte?

Heinrich von Troost konnte sich bald der vernichtenden Ueberzeugung nicht mehr verschließen, daß das Letztere der Fall war.

Nun, dann wünsche ich von Herzen Glück, sagte er sarkastisch – in der That, da kann man Ihnen gratuliren, Herr Doctor Mühler – und ich thue es um desto mehr, weil ich der »Frau Gemahlin«, die sich uns entzogen hat, ja nicht Glück wünschen kann!

Er legte in diese Worte einen so boshaften Doppelsinn, daß August Mühler alles Blut zu Kopfe stieg. Aber er hielt an sich; nur wandte er sich mit seinem Schwiegervater ab, und Heinrich von Troost hatte das alle seine Galle aufregende Schauspiel, die beiden Herren, den Baron und seinen Schwiegersohn, Arm in Arm, in vertraulichster Unterhaltung, auf dem Verdecke auf- und abwandeln zu sehen.

Il faut vivre pour voir des miracles! sagte Heinrich von Troost sich in ungemessenstem Aerger bei diesem Anblick. Und mir sagen zu müssen, daß ich selber der Stifter dieses Bundes bin!

Was unterdeß die beiden auf- und abschreitenden Herren anging, so verhandelten sie sehr eifrig über die Schritte, welche August Mühler gegen Heinrich von Troost thun wollte. Er war entschlossen, ihn auf Pistolen zu fordern. Herr von Raesberg konnte dem Schwiegersohne darin nicht Unrecht geben, aber er stellte ihm die Schwierigkeiten eines auf der Reise zu improvisirenden Duells vor. Es fehlte an Cartelträgern, an Secundanten, an Waffen. Wie sollte man Luitgarden täuschen über eine zeitweilige Abwesenheit ihres Mannes? Alles dies warf Baron Raesberg seinem Schwiegersohn ein.

Und glauben Sie denn, ich wollte Luitgarden darüber täuschen? entgegnete August.

Wollen Sie sie denn einer geradezu tödtlichen Sorge und Angst zur Beute lassen?

Ich will offen mit ihr reden – ich bin überzeugt, sie stimmt mir bei, daß ich nichts Anderes thun kann, als …

Die beiden Männer hatten in diesem Augenblick das Ende des Verdecks erreicht und wandten sich, um denselben Weg, den sie gekommen, zurück zu schreiten; sie erblickten jetzt Luitgarden, welche ihnen gefolgt war, unmittelbar vor sich.

Du hast Recht, August, sagte sie, ihres Vaters Arm nehmend – thu' was Deine Pflicht ist, diesem Menschen gegenüber und denke dabei nicht an mich!

Aber, meinte Herr von Raesberg, wer soll ihm die Herausforderung überbringen, wer mit ihm über den Ort und die Waffen verhandeln, wer den Zeugen abgeben?

Das sind Schwierigkeiten, die sich besiegen lassen, meinte die junge Frau. August mag ihm schreiben; der Conducteur des Dampfschiffes muß das Billet übergeben – ich selbst will ihn darum bitten, das Rendezvous kann dann in Bern festgesetzt werden, wo August ja einen Universitäts-Freund besitzt …

Nun, in Gottes Namen, antwortete Raesberg, verstimmt, daß ihm der ruhige Genuß der Reise durch diesen ärgerlichen Zwischenfall verkümmert und gestört wurde, – wenn Du nichts dagegen hast, Luitgarde, so mag es darum sein. Schlagen Sie ihm Bern als Rendezvous vor.

August Mühler ging und schrieb unten in der Cajüte das Billet. Luitgarde blickte ihm über die Schulter und ging dann auf das Verdeck hinauf, wo sie den Conducteur des Dampfbootes sofort willig fand, das Brieflein dem ihm bezeichneten Herrn zu überbringen.

Der bezeichnete Herr hatte sich auf einer der Seitenbänke etablirt und schien sehr tief in sein Reisehandbuch versunken, während in der That seine Augen über den Rand des Buches fort alle Bewegungen und Schritte unserer Freunde beobachteten. Als er das Billet erhielt, brach er es mit äußerster Lässigkeit auf und schickte sich mit affectirter Langsamkeit und Ruhe an, es zu lesen. Dann spielte er eine Weile damit, mit Ostentation den Gleichmüthigen spielend, und endlich es zusammenballend warf er das Papier über Bord in den See.

Gleich darauf begab er sich in die kleine Verdeck-Cajüte des Conducteurs, und zehn Minuten nachher trat der Schiffskellner mit einem Billet an August Mühler heran, das er ihm überreichte. Der Inhalt lautete:

»Mein Herr Doctor!

Einem hoffnungsvollen, glücklichen Hochzeit-Reisenden wie Ihnen kann ein vernünftiger Mensch wie ich nur einen Rath geben – und der ist, sich die glückliche Gegenwart nicht durch Aufrühren der Vergangenheit zu stören. Ich meine, Niemand hätte dringendere Gründe, die Vergangenheit zu vergessen, als gerade Sie, mein Herr Doctor. Zudem sage ich Ihnen, daß ich weder Zeit noch Lust habe, mich in meiner Reiseroute auf die von Ihnen vorgeschlagene Weise stören zu lassen!

Ihr ergebenster Diener,
Heinrich von Troost.«

Nun seht Ihr, was ein Mensch ist ohne Standes-Ehre! sagte der Freiherr von Raesberg, als August ihm die Missive mitgetheilt hatte.

Die hat er freilich nicht! fiel August bitter ein.

Nicht einmal Ehre! rief Luitgarde aus.



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