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Die Botenliesel

Kalt fegt der Wintersturm über die Gefilde. Über die Höhen und Berghänge hin braust er ungehemmt, und durch den Wald tobt er wie ein los und ledig gewordener Wilder. Wie er das aschgraue Schneegewölke vor sich hinjagt und über Bergrücken und Felsenzacken schleift, merkt kein Mensch, denn alles ist grau und wieder grau, und alles ringsum ist eine einzige Wolke. Aber wie er die Schneeflocken und Eiskörner daher peitscht und die lockere Schneeschicht immer und immer wieder aufwühlt und wie sackdicken Nebel vor sich hinwirbelt, das sieht und spürt jedes, das auch nur einen Schritt vor die Tür hinaustun muss, und das sieht es sogar von der Ofenbank aus und durch die dunstbeschlagenen Fenster.

Hu! Wie der Frostriese tobt und wütet! Und wer kann es ihm wehren? Winterszeit ist, und zu dieser ist er der Herr und Herrscher und regiert nach seinem Belieben. Aber auch er findet allenthalben trutzende Köpfe und aufrührerische Sinne, die sich nun einmal nicht geben und beugen wollen. Dem wetterharten Arbeitsmenschen ist so ein Gestöber lediglich ein wenig zweideutiger Spaß, und er grinset als freier Mensch dem herrschwütigen Frostriesen nur geringschätzig ins Gesicht und geht seiner Wege und seiner Arbeit nach.

Fürchtet den unholden Kunden mit all' seinem Stürmen und Wüten nicht einmal ein altes Weib, die Botenliesel.

Wer sich viel fürchtet, muss viel gruseln, und von der Ofenbank aus schaut die Sache auch viel ärger aus. Aber so sich eines kecklich hinauswagt und trutzend wider das Gestürme stellt, ist's weitaus nicht so arg, als man von der Ofenbank aus mutmaßet. Eben ein wenig kalt und ein etwas schlechter Gehen wie auf festgetretenen Pfaden. Sonst weiter nichts, sonst gar nichts.

Und wenn eines weiß, was geschehen soll und muss …! Das ganze Jahr über, bei gutem und schlechtem Wetter, macht sie wöchentlich zweimal ihren Botengang ins Städtel, am Mittwoch und am Samstage, oft auch dreimal in der Woche. Und jetzt, wo Weihnachten vor der Türe steht! Die Leute verlassen sich auf sie mit dem und jenem, und sie muss von den Botengängen und dem Vertrauen und Verlassen der Leute leben.

Nein, das bissel Stürmen und Schneien tut ihr nichts. Eine feste Gewandung, das Gesicht bis auf die Augen verhüllt und vermummelt, den schweren Rückenkorb gehörig zugedeckt und verbunden: Was könnte da fehlen? Soll stürmen und wettern! Hat schon oftmals ärger getobt, und sie hat ihren Weg gemacht und gefunden. Das bissel Schneien und Schneewehen, das auf jeder Seite Platz und Raum genug findet zum Vorbeikommen! Wär' auch noch etwas, das eines etwa scheuen sollte! … Wogegen oftmals ein anderes Wetter und Gestürme, das eines schnurgerade angeht, das nicht rechts noch links vorbeifinden will, und mitten durch Herz und Leben wütet! Wie sie ehezeit einmal eines überstanden! Wirklich: überstanden. Geht trotz diesem heute noch gerade, und kein Mensch merkt ihr davon etwas an.

Ja, solche Wetterstürme! Aber das bissel Schneien und Schneewehen …! Dazu lacht sie heute als altes Weib noch.

Aber dasselbe Wetterstürmen! Kein Schneien und Schneewehen, das links und rechts an ihr vorbeitollen hätte können. Behüte Gott jegliches vor solchem! Ein Wetter, das sich inwendig zusammengezogen, in der Brust, wie ein Wetter nach einem schönen Maientage, und das jahrelang keinen Ausweg gefunden und kein Nachlassen, das Tag und Nacht getobt, gewütet im armen Herzen und das schier alles verwüstet und vernichtet, Glauben, Hoffen und Lieben. Und sich nichts anmerken lassen sollen von allem diesem! Lachen, wo eines hellauf hätte flennen sollen, scherzen, wo der helle Jammer in Herz und Sinnen geherrscht. Aber … was hatte dies andere angegangen? Andere hatten nichts von ihrem Glücke gewusst, was hätten sie dann um ihr Unglück erfahren sollen? …

Wird wo vor etlichen dreißig Jahren gewesen sein, dieselbe Zeit und … dasselbe Wetter. Damals ist sie, die Liesel, ein Dirndel gewesen, so frisch und queck wie eine immergrüne Kronwittstaude, hat gesungen und gelacht, wo sie gestanden und gegangen und dabei gearbeitet und gewerkt wie … nochmals eine. War wohl nur ein Waisendirndel gewesen, das nichts gehabt als ihren Gesund und das bisschen überschäumenden Frohmut, aber alle Leute, wo sie als Magd gedient, hatten sie gerne gehabt und geschätzt und geachtet.

Da hatte sich jählings einmal einer gefunden, der sie noch lieber gehabt als alle die anderen Leute und den sie wiederum auch so gut hatte leiden können wie niemanden mehr auf der ganzen Welt: des Wiesbauern Martin. Ein sauberer Bursch und ein herzensguter Kerl, dem es aber nach allem Kennen bevorstand, dass er sich ein ander Heimatort würde suchen und gründen müssen, weil der Alis, sein Bruder, den Hof überbekommen würde. Aber was fragt eines in der ersten Jugendtorheit nach solchem oder anderen?

Von dieser Zeit ab ist ihr das Leben erst recht schön vorgekommen, und die ganze Welt hat sie ein lauteres Paradies gedeucht. Jedes Blümlein hat sie angelacht, und am trübsten Tage hat sie hundert Sonnen scheinen gewähnt.

Und dann hat er sie einmal gefragt, was ihr Ernst wäre. Den Hof kriegte er nicht, doch immerhin ein schönes Geldel, mit dem er sich ein annehmbar Höfel kaufen könnte. Das wäre nun einmal das Los all' derjenigen Bauernkinder, die nicht das Vaterhaus überbekämen.

Sie hat hellauf gelacht dazu wie zur erstbesten Scherzfrage. Gefragt ist leicht, und Ja gesagt wäre ebenso leicht, aber so eine Antwort müsste gründlich überdacht werden, ehevor man sie heraus plapperte. Wenn er sich schon ein annehmbar Höfel kaufen müsste, dann müsste er trachten, irgendwo eine aufzufischen, die ebenfalls ein schönes Geldel hätte, auf dass das Höfel größer ausfiele. Ein Wiesbauernbub, und sich etwa nur ein Kuhhäusel kaufen oder gar lediglich als Inmann irgendwo hinziehen können, einem anderen auf die Bank …? Sie hätte weder Geld noch Gut; also sollte er sie mit seinem Planen abseits liegen lassen.

Dieser Bescheid hat ihr nicht recht aus dem Munde gewollt und weher getan wie schier ein Beinbruch, aber sie hat keinen anderen geben können. So viel Verstand hat sie selber gehabt.

Damit sind die Sonnen am Himmel wieder auf eine einzige zusammengeschrumpft, und die Welt hat ihren Paradeiswahn verloren. Aber auch ihr Lachen und Singen hat sich gemindert, und oftmals hat sie der blasse Neid angegangen wider alle, die etwas gehabt und in solchem Falle einen anderen Bescheid hätten geben können. Etliche Male hatte sie sogar geflennt, als sie zur Ruhe gegangen, und keinen Schlaf zu finden vermocht … Sie ist fortab dem Martin ausgewichen, wo immer nur sie gekonnt, und wo es sich nicht hatte umgehen lassen, hatte sie geredet mit ihm, was gerade zu reden gewesen, nicht mehr, nicht weniger.

Das war geraume Zeit so geblieben. Dann war er wieder einmal gekommen. So und so, und sie sollte ein ander Köpflein aufsetzen. Er hätte mit seinen Eltern über die Sache geredet, und diese wären um die Ecke herumgebracht. Freilich hätten sie gemeint, es wäre besser, er sähe sich um eine um, die auch hübsch etwas mitbrächte. Wie eben alle Eltern raten. Aber wenn es so wäre, so wäre es eben so. Sie, die Liesel, wäre arbeitsam, fleißig und keinen Aufwand gewohnt, und das wäre immerhin schon ein mittelmäßig Heiratsgut wert. Zumal, wo ihr selbst kein Feind etwas Unrechtes nachsagen könnte … der Plan wäre nun so. Im nächsten Jahre käme das Straßwirtshäusel in den Vorbergen unten zum Verpacht. Dabei wäre Futter für zwei, drei Kühe. Wenn sie sich das Geschäft angelegen sein ließen und die Groschen zusammenhielten, bis der Alis den Hof übernähme und das Erbteil auszahlte, könnten sie sich dann leicht schon etwas Größeres als Eigen kaufen.

Das war klopp und klare Rede und wasserheller Plan gewesen, und sie sagte nimmer nein; aber auch noch nicht ja, bis sie am Gehaben der beiden Wiesbauernleute gemerkt, dass dorten zumindest kein Widerstand mehr vorhanden. Liesel hin und Liesel her und so und so, als ob sie wirklich schon zur Sippe gehört hätte … da hatte sie ja gesagt und vertraut.

Der Himmel war wieder voll Sonnen gewachsen, und die Welt hatte einem Paradiese geglichen. Sie hatte wieder gelacht und gesungen wie ehedem und war manchmal wirklich etwas übermütig geworden vor Glück und Freude. Wär's denn ein Wunder gewesen? Sie, die Waise, das arme Ding, sollte nun geradewegs hineinlaufen dürfen ins helle Glück. Wen da nicht ab und zu einmal der Freudeübermut mit sich fortrisse!

Aber baue eines auf Menschenwort und Menschenplanen!

Ehe das Jahr zur Halbscheid vergangen, ist in den Einöden hinten der Bärnkogler gestorben, und ehe das Jahr völlig um gewesen, ist das Gerücht lautmärig geworden, des Wiesbauern Martin würde Bärnkogler werden. Er freilich ein gut Stück jünger wie die Bärnkoglerwittib, aber der große Hof und das und jenes. Da würde wohl jeder andere auch ein Auge zudrücken und vielleicht sogar all' zweie, um zu solchem Besitze zu kommen.

Im ersten Augenblicke hatte sie hellauf gelacht zu solcher Märe, doch jählings einmal hat es ihr jegliches Lachen verschlagen.

Eines Sonntags ist sie ahnungslos unter dem Empor der Kirche gestanden, als der Pfarrer ein Brautpaar aufgeboten: »Zum Stande der heilige Ehe haben sich versprochen … der Wiesbauer-Martin und … die Bärnkoglerin …«

Etliche Augenblicke nach Nennung dieser Namen hat sie sonst nichts gehört als das Schlagen und Zischen des Pulses in ihren Ohren und sonst nichts gesehen als lediges Flimmern vor ihren Augen. Dann aber ist jählings alle Farbe aus ihrem Gesichte gewichen, und sie hat sich vorzeitig aus der Kirche geschlichen.

Ein unchristlicher Wunsch hat sich ihr auf die Lippen gedrängt, aber sie hat ihn im letzten Augenblick noch zurückgehalten. Wozu auch? Auch dessen Erfüllung änderte nichts mehr. Wenn er … den Bärnkoglerhof lieber hat als sie: In Gottes Namen! Um so einen grundfalschen Tropf brauchte ihr eigentlich gar nicht leid zu sein, wenn … er nicht zutiefst im Herz und Sinnen säße. Ah was: stirbt einem oftmals das andere weg, um das ihm wirklich leid sein könnte und kann, und es vermag auch nichts dawider zu tun. Justament lässt sie keine Traurigkeit aufkommen in ihr wegen so einem … Haderlumpen, justament nicht.

Bis sie heim und in ihren Dienstort gekommen, hatte sie schon wieder gelacht und gesungen in hellem Trutze, aber man hat es jedem Tone angemerkt, dass er erzwungen. Keine Traurigkeit aufkommen lassen! Das war leichter fürgenommen als gehalten. Gar so mir nichts, dir nichts vermag trotz aller Vorsätze keines eine derartige Fopperei und Lumperei zu verwinden. Auch sie hatte es nicht vermocht. In stiller Nacht, wenn sie kein Mensch gesehen und gehört, hat sie geflennt und gewütet, gejammert und um einen jähen Tod gebetet, um dies und jenes. Es hat nichts geholfen. Sie hat sich auch manchmal vorgenommen, aus der Gegend zu wandern. Ein ander Land, ein ander Sinn. Aber sie ist trotzdem geblieben, wo sie gewesen. Leid und Not sind eben zu treue Begleiter, als dass eines ihrer so leicht loswerden könnte, flöhe es auch über Länder und Meere.

Ja, so eine Zeit mit ihrem Stürmen und ihrer Zerfahrenheit! Wer sie nicht durchgemacht, derselbe hat keine Ahnung, was alles Platz hat in dem faustgroßen Menschenherzen: grenzenloses Glück und unbeschreibliches Wehleid, die besten und die schlechtesten Gedanken, Leid, Kummer, Sorge und Liebe, alles neben- und durcheinander.

Der Herr hat ihrem Beten um einen jähen Tod nicht willfahret, aber nach und nach die mullweiche Decke ruhigen Vergessens über die Sache gebreitet.

Ein, zwei Jährlein hat sie noch als Magd gedient und gelebt und sich gehabt wie vor und ehe. Dann hat sie jählings einmal die Botengänge nach dem Städtel aufgenommen. Kein Mensch hätte ein Mutmaßen gehabt, dass sich nach dem Tode des alten Botengürgen ein Weiberleut um solche Arbeit annehmen könnte und annehmen würde. Ihr ist es jählings einmal eingefallen, und sie hat nicht länger überlegt wie einen Tag und eine halbe Nacht. Sie hat sich einen festen Rückenkorb gekauft und beim Schreiner ein kleines Stüblein als Herberg aufgenommen, ist fürder gerannt wie ein Postross und hat bergauf und -ab geschleppt wie ein Packesel. Sie hat die Briefe für den entlegenen Bergeinödenwinkel von der Post abgeholt und jeglichem zugestellt, sie hat Briefe zur Post gebracht, Verkaufbares ins Städtel hinuntergeschleppt und dem und jenem von dorten gebracht, was er haben gewollt. Sie hat verdient und kaum Nennenswertes davon ausgegeben. Sie hat hier und dorten Brot, Mehl und derlei Sachen statt eines Geldlohnes bekommen und zumeist von solchem gelebt. Und sie hat sich gut gewerkt auf solche Weise und manchen Spargroschen auf die Seite legen können.

Dann sind einmal die ersten Gerüchte von Mund zu Ohre und über die Bergeinöden geschlichen: Am Bärnkogel hinten geht es immer spelzeckiger zu. Daheim nichts wie Verdruss, Unfrieden und Zwiespalt, und der Martin lungert zumeist in den Wirtshäusern der Umgegend herum, weil es ihn daheim nicht freut. Wenn es so fortgeht, wird man bald … etwas anderes zu hören bekommen.

Auch sie, die Liesel, hat eines Tages diese Gerüchte vernommen und im ersten Augenblicke gewähnt, sie hörte alle Engel singen. Wenn sie ein Männerleut gewesen wäre, hätte sie etwa vor heller Freude einen schallenden Juchezer herausgeschrien. Ist zwar nur eitel Schadenfreuden gewesen; aber selbst diese muntert und frischt eines auf. Die nächste Zeit hat sie wieder gelacht und gescherzt mit jedwedem, das ihr in den Weg gekommen. Gibt also immer noch etwas, das alte Schulden zahlt.

Um dieselbe Zeit wäre die Liesel etlichen im Sinnen gelegen, die gerade eine tüchtige Hausfrau gebraucht hätten. Noch immer jung und rüstig, arbeitsam und allem Kennen nach schon hübsch etlicher Gulden im Sparstrumpfe. Aber sie hat keinen bis zu einer ernsten Frage kommen lassen. Sie täte sich mit ihren Botengängen am leichtesten und … wäre dabei ihr eigener Herr.

Zwei, drei Jährlein nachher hat sie dem Schreiner das Häuschen abgekauft und ist in die Vorderstube gezogen. Sie hat wohl ein gut Teil als Schuld aufnehmen müssen, aber damit gerechnet, es wären ihr bislang alle Jahre so und so viel Gulden übrig geblieben, also würde dies auch fürder sein können, und damit könnte die Schuld abgezahlt werden.

Nur allweil hiefür schauen!

Dann ist eines Tages einmal zu ungewöhnlicher Zeit ein Feuer aufgelodert auf dem Anger neben dem Bärnkoglerhofe und hat über die Bergeinöden hingeleuchtet … Man hat nach altem Brauch das Bettstroh eines Verstorbenen verbrannt.

Wessen Bettstroh, da kein Mensch von einem Kranken am Bärnkogl hinten gewusst? … Ein, zwei Stündlein nachher ist die neueste Neuigkeit über die Bergeinöden gehuscht wie vom Winde getragen: die Bäuerin … vom jähen Schlage getroffen. Zuerst hätten sie weidlich gestritten und gehadert miteinander und einander vor allen Ehalten alles Mögliche vorgeworfen, und mittendrin … das hätte sie noch gellend herausgeschrien, dass er schier den ganzen Hof am Bärnkogel verlumpt, verkartelt und versoffen und sie und den Buben zu Bettelleuten gemacht, und dann wäre sie umgefallen wie ein wurzweg abgebrochener Baum und hätte kaum mehr ein Viertelstündlein geröchelt und geschnaufet.

»Die Gall' übergelaufen«, hat der Höhbauer gemutmaßt. »Ist auch kein Wunder zu nennen. Wenn einer so einen Hof zugrunde richtet und damit Weib und Kind zu Bettelleuten macht …«

»Ihn hätte sollen der Schlag treffen«, hatte sich sein Bruder, der Wiesbauer, geärgert. »Aber mit einem festen Stecken und schon viel früher.«

»Wenn er einer wäre, wie einer sein sollte: jetzt könnt' er sich vielleicht nochmals erfangen. Eine gute Heirat hübsch ein paar Schulden wegräumen und … das Luderleben aufhören.« So der Steffel in der Au. Wie eben die Leute schon reden.

Am dritten Tage nachher hat man die Bärnkoglerin begraben, vom Grabe weg hat der Alis dem Martin so hübsch das Notwendigste zu Gehör geredet, und am übernächsten Tage ist der erst wieder heimgekommen. Nun war es nur so Knall und Fall mit ihm abwärts gegangen. Die Schuld war gekündigt worden, jene auch, Schulden oftmals, an die der Martin kaum mehr gedacht. Es ist zu Klagen gekommen, und jählings einmal war der schöne Hof am Bärnkogel zur Versteigerung ausgeboten.

Da ist er zuerst in den Wiesbauernhof gerannt. Ob man dorten nicht das Büblein nehme würde? Er müsse sich um einen Verdienst umschauen und ginge fort. Dabei könnte er das Kind nicht brauchen.

Es war zu einer Auseinandersetzung gekommen, die hartnahen ans Raufen gegrenzt. Ein Lump und ein Schandenfleck hin und her und andere Vorwürfe um Vorwürfe eben. Da ist er kurzweg davon, hat das Kind zu den Inleuten im Bärnkoglerhof gegeben, bis … sich die Wiesbauernleute schandenhalber darum annehmen würden, hat sein Bündel auf den Rücken geschnallt und ist davon. Gerannt wie ein verfolgter Dieb, um das untroste Flennen des verlassenen Kindes nimmer zu hören.

Sie, die Liesel, hatte denselben Tag gerade wieder ihren Botengang gemacht und gegen Abend beim Wirte abgeliefert, was sie diesem aus dem Städtel herauf mitbringen gemusst. Dorten hat sie das Vorgefallene brühwarm erfahren. Sie hat keinen Muck gesagt dazu, weder so noch so; aber es hat zu krabbeln und zu wurlen angefangen in ihr wie in einem Ameisenhaufen. Ein … ein … Sie hat lange keinen taugenden Namen gefunden für so einen Menschen. Sie! Das war das Wenigste. Sie hat sich durchs Leben schlagen können; aber so ein Kind …

Dann ist sie in den Wieshof gegangen, das erste Mal wieder seit … derselben Zeit eben.

»Du, Alis! Das und jenes ist geredet worden. Ich nimm das Bübel.«

»Du? Möcht' wissen, was gerade du für Ursache hättest?«

»Ist's, wie es ist: meine Sache. Gibt mir der Herrgott für mich Brot, wird er mir's auch noch für das arme Würmlei geben. Und … ich möchte doch auch etwen haben, für den ich mich eigentlich plage. Wenn das Büblein gut täte …«

Von dorten ist sie ins Inhäusel des Bärnkoglerhofes hinauf und hat das Kind heimgenommen … In Gottes Namen! Es kann ja nichts dafür, dass es auf der Welt ist und dass sein Vater … der und jener gewesen.

Sie hat das Kind gehegt und gepflegt, als wenn es ihr eigenes gewesen, und sie hat oftmals eine Beihilfe aus dem Wieshofe zurückgewiesen, weil … es nicht notwendig wäre. Das Büblein hat gut getan, und sie kann heute noch ihre Freude daran haben.

Kaum aus der Schule, hat sie ihn zu einem Kaufmann im Städtel unten in die Lehre gegeben, und nach den Lehrjahren ist er fort und in die Welt, um noch weiterzulernen und schon zu verdienen. Sie aber freut sich Tag für Tag, wann er wohl wieder einmal kommen und vielleicht gar in der Gegend ein eigen Geschäft aufrichten würde.

Dann …

Das alles hat er auch schon des Öfteren geschrieben. Hübsch etliche Gulden hätte er wohl schon zusammengespart, aber er möchte noch mehr verdienen, um, wenn er einmal heimkäme, auch gleich daheim bleiben zu können. Selber ein Geschäft anfangen dann, und sie brauchte sich nachher nimmer lange zu schinden und zu rackern und könnte bei ihm bleiben …

In seinem letzten Briefe hat er auch wieder einmal nach seinem Vater gefragt. Ob sie noch nichts gehört hätte von ihm?

Gehört? Nein, das schreibt sie dem Buben nicht, was sie gehört und gesehen. Im Herbste auf dem Schube heimgekommen als Landstreicher, ein noch größerer Lump als ehedem … Nein, sie schreibt nichts, sie weiß nichts. Dürfte gerad' ein anderer Mensch den Brief zu Gesichte bekommen: Was würde er sich von dem Buben denken, der so einen Vater hat?

Ein noch größerer Lump als ehedem … das ist der Martin in allen Unehren geworden. Kaum zu kennen gewesen, wie ihn der Gendarm gebracht hat. Kein gutes Hemd am Leibe, das Gewand lauter Fetzen, und die Füße mit alten Hadern umwickelt. Der richtige Straßenlump! Und ehezeit so ein Mensch gewesen!

Sie hat zur Seite geschaut, als sie ihn damals jäh ersehen; aber sie hat ihm im Städtel draußen ein festes Werktagsgewand und ein Paar starker Schuhe gekauft und ihm solches durch eine vermeintlich verschwiegene Weibsperson zugeschickt. Sie will nichts reden und nichts zu tun haben mit ihm.

Aber trotzdem muss er es erfahren haben, wer ihm solche Guttat erwiesen, weil er bald darauf gekommen ist und … sich bedanken und beschönigen hätte wollen … dies und jenes wäre eben damals geredet worden, und aus lauter jähem Verdrusse hätte er und so und so. Heute wäre er der Narr nimmer, und heute liefe er durch Wasser und Feuer um so eine rotgoldene Seele.

Sie hat keine Silbe verloren; sie hat nur kräftig ausgespuckt und ihm den Rücken gewendet. Aber erbarmt hat er sie trotz allem auch wieder. Dann und wann hat sie ihm etliche Kreuzer zukommen lassen, und wenn sie ihn gerade getroffen, hat sie ihm mit einem Gemisch von rauem Tadel und mühsam bemäntelter Güte zu ehrlicher Arbeit und menschenwürdigem Schaffen angeeifert. Hat auch allmählig scheinbar gefruchtet.

Und das Meiste hat sie heute erst getan.

Kein Mensch weiß, wann und wo sein Erdenweg am Ende ist, und sie ist nun nimmer jung. Wäre so weit alles eins; aber wenn eins dies und jenes hat, mühsam erworben und erknausert, und es hätte für einen gearbeitet und gespart, der sich nie noch gekümmert um es, den Staat, das wäre doch übel genug getan. Sie hat keine nahen Verwandten, und nach ihrem Ableben griffe todsicher der Staat nach ihrem Häusel und den paar ersparten Gulden. Was hat dieser Staat ihr je Gutes getan? Also …

Daher hat sie im Städtel drunten heute ihr Testament schreiben lassen: Was nach ihrem Tode da ist, gehört dem Buben, aber der Martin muss Zeit seines Lebens eine unkündbare Herberg haben in dem Häusel … Er hat sie ehedem des Bärnkoglerhofes wegen im Stiche gelassen, aber sie denkt seiner noch bis über den Tode hinaus …

Und so stapft und watet sie denn durch das Gestürme und den flaumigen Schnee mit ihrer Last dahin und bergwärts und sinnt in ihrer Weise in buntem Gemisch an dem und jenem, was ihr eben gerade in den Sinn kommt. Alle daumlang aber fällt ihr ein, was er wohl einmal sagen und denken wird, wenn er Kenntnis von dem Testament erhält. Ob er einsieht, auf welchem Holzweg er geraten? Was für eine Zeit hätt' ihnen all' beiden blühen können, wenn er bei dem Plane und bei der Abmachung geblieben wäre? Was könnten sie etwa heute für einen Besitz haben und welch' geachteter Mann könnt' er sein?

Da vorne liegt das Straßwirtshäusel, das … sie ehezeit hätten in Pacht nehmen wollen, das ihr Anfang hätte sein sollen. Dass ihr das jetzt auch wieder einfallen muss? Und hinein muss sie heute auch noch. Für den Wirt hat sie eine Zeitung und einen Brief von seinem Buben, der bei den Soldaten ist, und der Wirtin hat sie dies und jenes mitbringen müssen für den Haushalt und für die Gäste.

Im Ofenwinkel stellt sie ihren Rückenkorb nieder und packt aus, und in währendem Auspacken ersieht sie den Martin am vorderen Tische bei einem Glase Schnaps sitzen … Alles umsonst bei diesem Menschen. Er wird nimmer anders.

»Geh her, Liesel, trink'!« lächelt er ihr heiser zu. »Bei so einem Hundewetter muss man von inwendig warm machen.«

»Dank' schön! Ich … ich … Mir wird eh warm genug.«

In aller Hast gibt sie das Zeug ab, steckt den Botenlohn dafür ein und verbindet nachher den Korb wieder fürsorglich. Ein kurzer Gruß, und sie hastet zur Türe hinaus.

Aber auch der Martin macht sich bald darauf auf den Weg und stapft ihr nach. Wenigstens gibt's ein wenig Gerede, und leichtlich kann er sich dabei auch etliche Sechser … erjammern … Wo der Weg gegen den Kreuzbauernwald ansteigt, kommt er ihr nach.

»Rennst ja, als ob du … die Sachen gestohlen hättest«, lacht er. »Kaum dass man dir nachkommen kann … Will dir kein Mensch etwas nehmen.«

»Habe mich auch noch nie gefürchtet deswegen. Wer könnt' auch fremde Briefe und etliche Krämerkleinigkeiten brauchen?«

»Mein! Heutzutage können die Leut' alles brauchen. Besonders Geld. Wenn … etwer Unrechter wüsste, dass du einen Geldbrief mithast … wie heute … vierzig, fünfzig Gulden … für den Tobelmüller …«

»Ich?«

»Ich weiß es ja. Und deswegen habe ich auch nachgetrachtet. Wenn etwer Unrechter des Weges wäre oder … Ist oftmals auch schon eins erfroren bei solchem Wetter, mitten auf dem Wege …«

»Um mich braucht sich niemand zu sorgen«, gibt sie undeutelbar zu verstehen.

»Und wenn sich eben doch jemand sorgte … Oder … schämst dich etwa, wenn ich mit dir heimzu gehe?«

»Wüsste nicht, warum. Was gehst denn du mich an?«

»Auch wieder richtig. Aber offen gesagt: ich schäme mich selber oftmals mit mir.«

»Hast höchste Zeit dazu.«

»Kenn' es selber. Daher möcht' ich wieder einmal umsatteln. Aber … hilf dir! Zu allem gehört Geld, sogar zum Bravwerden.«

»Arbeiten und verdienen!« gibt sie kurz als einzigen Rat. »Gibt für keines einen anderen Weg. Ehrlich fortbringen! Mehr brauchst nicht. Und wenn dein Bub einmal …«

»Wo … wird er den stecken? Du weißt es sicher. Muss ihn einmal sehen … muss einmal hinreisen zu ihm. Aber … das Malefizgeld, das … ich nicht habe!«

»Verdiene dir's, sage ich nochmals.«

»Ja, wenn das Verdienen auch so leicht ginge wie das Sagen! Aber weißt was, Liesel, alte … Lieb' …«

»Mit dem Namen nennst mich nimmer!« verwahrt sie sich entschieden.

»Nun ja … Bin es auch nimmer wert. Aber weißt was? Hilf mir zu einem anderen Leben! Ich möchte zu meinem Buben. Etwa fände sich dort eine richtige Arbeit oder gar so ein bissel eine Anstellung, wo mich niemand weiter kennt … Hilf mir dazu! Hast den Geldbrief verloren oder so und so. Bei dem Hundswetter ganz glaubhaft. Und der Tobelmüller spürt die paar Kreuzer gar nicht …«

Da wendet sie sich in jäh aufwallendem Entrüsten und Empören um und spuckt ihm kräftig vor die Füße.

»Lump, recht schlechter! Meinst ich … ich …Wie du mir nun nicht augenblicklich von der Stelle gehst … zeig' ich dich an. Morgen … heute noch …« Nichts läge ihr ferner als diesen Menschen auch noch zu Gerichte zu bringen, aber sie weiß im Augenblick keine andere Abwehr.

»So?« lacht er nun heiser auf. »Mich anzeigen wie … einen …? Du … du …!« Und im nächsten Augenblick sauset sein Stecken auf ihren Kopf nieder. Sie taumelt und sinkt zusammen. In aller Hast reißt er die Hülle von dem Tragkorbe und sucht nach dem Geldbriefe … So! Und nun davon! Vierzig, fünfzig Gulden! Ein Vermögen für so einen, wie er ist. Nun davon! Fast wie um zwanzig, dreißig Jahre jünger rennt er talwärts. Wohin? Gleichgültig. Nun hat er Geld, und wer Geld hat, dem stehen alle Wege frei und alle Türen offen.

Am unteren Waldrande wirbelt ihm der Sturm eine dichte Schwade Schnees entgegen, sodass er für ein Zeitlein weder vor sich sieht noch ein paar Augenblicke Atem kriegt.

Eigentlich ein Narrenstückel … ein Hübubenstückel … Wie weit kommt er bei diesem Hundewetter? Bis zum Straßwirtshäusel, nicht weiter. Und dorten … holen ihn morgen oder … heute die Gendarmen. Wenn die Liesel auch … tot sein sollte und nichts mehr verraten und anzeigen könnte: wenn man sie findet und … Man weiß im Straßwirtshäusel, dass er ihr nachgegangen. Also … Nein, ist ein Narrenstückel gewesen, und … in diesem Falle muss er den Spieß umdrehen, sonst … geht es abscheulich schief … Also wieder zurück und ebnen, was sich noch ebnen lässt. Zumindest den Raub verwischen!

Die Liesel will sich gerade wieder aufraffen, als er zurückkommt. Hastig steckt er ihr den Brief wieder in den Tragkorb und hilft ihr auf die Füße.

»Liesel, verzeihe mir! Ich … habe es nicht so vermeint. Der Ärger … Und weißt, wenn man so weit kommt, so weit! Aber  … nimmer, Liesel, nimmer! Von dem Augenblicke ab einen anderen Weg und … wenn ich hin bin dabei. Sage nichts davon! Erst wenn es wirklich nimmer hinaufzu ginge. Nachher wäre ohnehin alles … wurscht … Verzeihst mir, Liesel …?« Er nimmt ihr den schweren Tragkorb ab und schupft ihn auf den eigenen Rücken.

In ihrem Gesicht ringen Lächeln und Weinen um die Überhand. Durch den schmerzenden Kopf wuchten ein paar Gedanken wie zu Tale polternde Felsentrümmer und reimen an dem Geschehnisse, bis es schier völlig undeutelbar klar vor ihr liegt, und im Herzen regt sich neues Hoffen … Wenn er etwa doch wieder auf halbwegs gangbare Wege zurücksuchen und zurückfinden wollte … den Schlag verschmerzte sie gerne wieder …

Sie lässt sich von ihm stützen und führen. »Ist nicht der erste Schlag, den du mir gegeben hast. Wenn du nur …«

»Kannst mir verzeihen, Liesel?«

»In Gottes Namen: ja. Hast aber den Brief … nicht genommen?«

»Ist alles drinnen im Korbe, was du darin gehabt hast.«

Sonst reden sie den ganzen Weg über kein Wort mehr. Doch als er nachher daheim den Tragkorb auf die Bank niederstellt und sich wie ein schuldbewusster Hund aus der Stube schleichen will, hält sie ihn zurück.

»Martin, was du heute gesagt und versprochen hast …! Schon des Buben wegen halte es! Da lies seinen Brief! Ich habe ihm keine Antwort geben können auf seine Frage nach dir. Durft' ein anderer sie lesen und den Buben darum anschauen …«

Während er nun den Brief mühsam zusammenstümpert, reißt und zuckt es unwillkürlich etliche Male in seinem versoffenen und verwitterten Gesichte. Ein tüchtiger Kerl, den sie aus ihm gemacht, ein Mensch, auf den jeder andere Vater ein wenig stolz sein könnte. Er … kann sich kaum Vater nennen. Nie umgeschaut, nie gekümmert …

»Ich weiß nicht, habe ich dir schon einmal gedankt, dass du … ihn so … ehrlich aufgezogen hast?« müht er nachher verlegen und verdattert heraus und legt den Brief auf den Tisch zurück.

»Mir scheint, heute …«

Da schreit er jählings auf wie einer, dem man ein Messer in die Brust gestoßen.

»Liesel! Wenn du mich anzeigst, ist es mir tausend Mal lieber …«

Und dann hastet und poltert er davon, als ob die Gendarmen schon hinter ihm wären.

Von dem Abende an ist der Martin wie ausgewechselt. Er arbeitet und werkt, wo sich Arbeit findet, und kein Mensch sieht ihn mehr in einem Wirtshause. Die Liesel jedoch beginnt zu kranken und zu siechen und kann der Botengänge immer weniger machen.

Etliche Wochen nachher ist es so weit, dass der Bub doch heimkommen muss, will er seine Ziehmutter noch am Leben treffen. In seliger Freude strahlt ihr Gesicht, da der große, starke Bub sich an ihr Krankenbett setzt, sie liebkoset und ihr von seinem Planen und seinen Erfolgen erzählt, und ein seliges Lächeln erstarrt hinter dem letzten Atemzuge auf ihrem Gesichte … Ein Leben voll Arbeit, voll Verzeihen und voll Guttaten …

Der Martin kann sich außer der Kinderzeit keiner Weile entsinnen, wo ihm ein Zährlein aus den Augen gesickert, aber als die Liesel den letzten Atemzug getan, zwängt sich ein heiseres Gröhlen aus seiner Brust, und dann hastet er hinaus in die sternhelle Nacht und krampft die Hände ineinander, dass die alten Knochen knacken.

»Liesel! Verzeihe mir! Wie hätt' unser all' zweier Leben werden können, wenn ich … nicht so ein Narr gewesen wäre? Wegen dem lausigen Bärnkogel! Und so ein treugoldenes Herz im Stiche lassen! Verzeihe mir! Wirst sehen, jetzt … brauchst dich nimmer zu schämen mit mir! Ich bin schon der Lump zu groß, als dass ich deinen Weg finden konnte, aber … ich will trachten, Liesel, ich will trachten, dass ich wieder zu rechter Weise komme …«



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