Johanna Schopenhauer
Jugendleben und Wanderbilder
Johanna Schopenhauer

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Zehntes Kapitel.

»O gönnt Jugend und Traum den Sterblichen!
Sie gleichen den Blumen zu sehr, welche nur so
lange schlafen als sie blühen; sind sie abgeblüht, so
stehen sie aufgethan der kalten, nassen, langen Nacht.«
Jean Paul.

Fast sechs Jahre war ich alt, hatte von Anfang bis Ende Weissens damals Epoche machendes Abc-Buch durchstudirt, diesen ersten erfreulichen Verkündiger der unabsehbaren Reihe von Kinderbüchern, die bis auf den heutigen Tag ihm gefolgt sind und noch folgen werden; ich hatte die schönen bunten Bilderchen in demselben nachgemalt, so gut es gehen wollte, und war folglich der Schule völlig entwachsen, die ich bis dahin besucht hatte.

Doch was sollte, was konnte nun an die Stelle derselben treten? Jameson vertändelte manche Abendstunde mit mir, aber Wunderkinder waren ihm ein Gräul, und ich war noch so jung! Let the little victims play, sprach er freundlich, wenn meine Mutter schalt, weil ich mit meiner damals noch nicht vierjährigen Schwester Lotte es zu arg trieb. Weder meine Mutter noch ich verstanden diese Worte; als ich englisch gelernt hatte, verstand ich sie wohl, aber die eigentlich tiefe, ernste Bedeutung derselben haben erst viel später Leben und Welt mich erkennen gelehrt.

Damit denn doch etwas geschähe, wurde einstweilen ein Sprachmeister für mich angenommen, der beste in der Stadt, denn er war der einzige; ein alter, stumpfer Franzose, der seine Muttersprache halb vergessen und keine andere gelernt hatte. Der Unterricht währte nur einige Monate, mein Vater wurde bald gewahr, daß ich bei dem guten Alten nur retrograde Fortschritte machen könne, und beschränkte sich einstweilen darauf, so viel wie möglich französisch mit mir zu sprechen, um nur das Wenige, das ich spielend mit aus der Schule gebracht, mich nicht ganz verlernen zu lassen.

Indessen bedurfte ich doch einer ernsteren Beschäftigung, als meine übrigens zärtlich geliebten Puppen mir gewähren konnten, obwohl ich deren Haushalt auf sehr anständigen Fuß eingerichtet hatte und mit großem Eifer ihm vorstand; und so mußten sich meine Eltern doch endlich entschließen, dem damaligen allgemeinen Gebrauch Folge zu leisten und unerachtet meiner großen Jugend einen von allen Seiten ihnen empfohlenen Kandidaten der Theologie mir zum Lehrer zu geben, der die Verpflichtung übernahm, jeden Morgen eine Stunde mit mir zuzubringen. Die Anordnung des Unterrichts, den er mir ertheilen sollte, blieb dabei ihm völlig überlassen. Als ich ihm vorgestellt wurde, blickte er freilich das kleine sechsjährige Ding verwundert an, das man zur Schülerin ihm aufbürden wollte, doch er hatte sein Wort gegeben; der Versuch wurde gewagt, und es ging besser damit, als wir alle Beide erwarteten.

Kandidat Kuschel,Johann Michael Kuschel predigte als Kandidat am Spendhaus bis 1788, dann erhielt er das allerdings nur bescheiden dotirte Pfarramt in Wonneberg, starb aber gleich nach seiner Einführung daselbst am 26. September 1788. (Vergleiche Kapitel 29.) so hieß mein neuer Lehrer, war der Sohn eines nicht bemittelten, aber sehr rechtlichen Handwerkers. Der Vater war gestorben, der zweite Sohn noch zu jung, um dem Gewerbe desselben gehörig vorstehen zu können; die Sorge für die alternde Mutter fiel zum großen Theil dem älteren zu, der seinen mit Unterricht außer dem Hause gewonnenen Erwerb freudig zu ihrer Pflege verwandte.

Des Himmels Segen ruhte darauf; sein einfaches, anspruchloses Betragen, gleich entfernt von kriechender Demuth und hochfahrendem Wesen, erwarb ihm allgemeine Achtung, seine Milde und Herzensgüte die Liebe seiner Schüler. Sein Lehrtalent wurde von Jedermann als ausgezeichnet anerkannt, und der Tag hätte aus noch einmal so vielen Stunden bestehen mögen, es hätte nur von ihm abgehangen, sie alle zu besetzen; er begnügte sich damit, zu leisten, was menschliche Kräfte vermögen.

Es ist sehr schwer, immer und unter allen Umständen von dem schönen menschlichen Glauben zu lassen, der jedem Kinde auf Erden seinen unsichtbaren Schutzengel zugesellt, Dank sei dem meinigen, im Fall er wirklich existirt, daß er in die Hände solcher Männer, wie Jameson und mein neuer Lehrer es waren, die Aufgabe legte, mich auf das mannigfach bewegte Leben vorzubereiten, das mir, wie den meisten meiner Zeitgenossen, ohne daß man es damals ahnen konnte, bevorstand.

Nie vielleicht hat die Natur einen hellen, hochgebildeten Geist, ein weiches und doch starkes Gemüth, einen bescheidenen und doch jeder Unwürdigkeit entgegenstrebenden Sinn in eine unscheinbarere Hütte verbannt, als die Gestalt des Kandidaten Kuschel es war. Die hohe seltsam eckige Stirn, die unförmlich lange Nase, die dicken wulstigen Lippen brachten den Eindruck eines häßlichen, aber doch nicht widerwärtigen Gesichts hervor; denn das Wohlwollen, die unbeschreibliche Milde, die aus den matten grünlich-grauen Augen sprachen, ließen bei seinen übrigen trefflichen Eigenschaften diese Unbill der Natur leicht vergessen.

Uebrigens standen, bei einem ziemlich hohen Wuchs, alle seine Glieder dennoch im wunderlichsten Mißverhältniß zu einander, und nur die große Ruhe und Mäßigung in seinen Bewegungen, die er sich angeeignet hatte, konnten vor einem Anstrich von Lächerlichkeit ihn bewahren. Daß eine seiner Schultern etwas höher war als die andere, fiel weniger auf, weil seine Kleidung dies verbergen half; denn die damaligen Kandidaten des heiligen Predigtamtes, gewiß sehr ehrbare und achtungswerthe junge Männer, hatten genau das Kostüm der ihrer Frivolität wegen berüchtigten französischen Abbé's.

Schwarz gekleidet vom Kopf bis zu den Füßen, war an ihnen nichts Weißes sichtbar, außer den ihren geistlichen Stand bezeigenden beiden Läppchen unter dem Kinn; eine thalergroße schwarzsammtene Kalotte, auf dem Scheitel der gepuderten, lockenreichen Perrücke ebenfalls ein Aushängeschild ihrer Frömmigkeit, und den Rücken halb bedeckend ein bis an den Boden reichendes schmales Mäntelchen, das der Träger mit einer Hand in elegante Falten zusammenfassen mußte, wenn er auf der Straße sich zeigte; so verlangte es das damals sehr gefürchtete Oberhaupt der Geistlichkeit unserer Kirche, der hochehrwürdige Doktor Heller.Dr.N Jonathan Heller war seit 1758 Pastor primarius zu St. Marien und Senior des geistlichen Ministeriums in Danzig. Er starb 1792.

Die innere Gluth des Glaubens mußte diese geistlichen Herren gegen die in unserem Klima oft bis auf zwanzig und mehr Grade Reaumur steigende Kälte schützen, denn von Pelz oder Ueberrock konnte bei ihnen gar nicht die Rede sein. Wehe und abermals wehe dem unglücklichen Kandidaten, der außerhalb seiner vier Pfähle in einem andern als dem ihm vorgeschriebenen Kostüm sich ertappen ließ! Die Hoffnung, jemals eine Pfarre zu erhalten, war für ihn verloren, denn Doktor Heller achtete ein solches Vergehen der ärgsten Ketzerei gleich. Nicht nur die Kandidaten, auch die schon angestellten Prediger, und sogar ihre Frauen, durften an Theater, Concert und ähnliche Vergnügungen gar nicht denken; höchstens wurde unter dem Siegel des Geheimnisses, im engsten vertraulichen Kreise, einem bescheidenen Partiechen L'hombre durch die Finger gesehen.

Ohne zu philanthropischen Spielereien sich herabzulassen, wie sie damals durch die neuerfundene Basedowsche Lehrmethode eben anfingen, Mode zu werden, wußte mein Lehrer, bei stetem Wechsel der Gegenstände seines Unterrichts, meine Aufmerksamkeit und Wißbegierde dermaßen zu erregen und zu fesseln, daß ich seiner Ankunft immer mit Freuden entgegensah, und nach Beendigung der Stunde, die er mir täglich gab, mit der Bitte, doch noch ein wenig zu bleiben, ihn weidlich plagte, weil er nur selten sie zu erfüllen vermochte.

Jameson sah, mit welcher Leichtigkeit und welchem Vergnügen ich auffaßte, was man mich lehrte, und hatte große Freude daran. Selten ließ er jetzt einen Tag vergehen, ohne mich mit zu sich zu nehmen; sein ganzer Hausstand wurde dann zu meiner Unterhaltung in Bewegung gesetzt. Sein großer pechschwarzer Kater, Tamerlan, und sein kleines schweeweißes Hündchen, Frei geheißen, machten ihre besten Künste mir vor; Jungfer Konkordia, die alte Haushälterin, fütterte mich mit Bonbons und schälte mir Apfelsinen; er selbst ergötzte mich unendlich durch allerlei artige Zauberkünste, die er mit Hülfe einer außerordentlich zierlichen Elektrisirmaschine hervorbrachte, oder erzählte mir Märchen und allerlei Merkwürdiges von Thieren und Pflanzen und fremden Ländern. Dabei lernte ich nach und nach Englisch, fast ohne es gewahr zu werden; ich lernte es wie meine Muttersprache, für's erste nur plaudern, dann aber auch lesen und schreiben.

Ein Mädchen und Englisch lernen! Wozu in aller Welt sollte das ihr nützen? Die Frage wurde täglich von Freunden und Verwandten wiederholt, denn die Sache war damals in Danzig etwas Unerhörtes. Ich fing am Ende an, mich meiner Kenntniß der englischen Sprache zu schämen, und schlug deshalb einige Jahre später es standhaft aus, auch Griechisch zu lernen, so sehr ich es innerlich wünschte, und so freundlich auch Jameson deshalb in mich drang.

Der Widerwille gegen den Gedanken, für ein gelehrtes Frauenzimmer zu gelten, lag schon damals, wie eben noch jetzt, in meiner jungen Seele, so viel Rühmliches mir auch mein Kandidat von Madame Dacier und Frau Professorin Gottsched sagte, die obendrein meine Landsmännin war.Frau Professor Gottsched war die Tochter des Dr. med. Kulmus und ist 1713 in Danzig geboren.

So verging ein Jahr ungefähr, einige Monate drunter oder drüber? ich weiß es nicht und habe es nie gewußt, denn »dem Glücklichen schlägt keine Stunde!« und es giebt kein glücklicheres Wesen auf Erden, als ein frohes, gesundes, geliebtes Kind, wie ich es war; die ganze Welt lachte mich an, vom ersten Januar bis zum Sylvestertage war es Frühling in mir und um mich her. Alles, was mich umgab, blühte in erfreutem Wohlstande, fern von dem friedlichen Dach, unter welchem ich den ersten süßen Traum des Lebens träumte, blieben Sorge, Kummer und Noth!


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