Johanna Schopenhauer
Jugendleben und Wanderbilder
Johanna Schopenhauer

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Sechstes Kapitel.

I remember, I remember, rohen my little lovers came,
With a lily, or a cherry, or a new lavented game.
M. Prasd. Esq.

Kaum hatte ich das dritte Jahr meines Lebens zurückgelegt, als ich schon täglich zweimal, Vormittags und Nachmittags, in eine kaum zweihundert Schritt von meinem elterlichen Hause entfernte Schule auf ein paar Stunden geschickt wurde.Die Schule lag auf der andern Seite der Heiligengeistgasse in dem freilich inzwischen vollständig umgebauten Hause Nr. 54. Die ursprüngliche Façade dieses Hauses finden wir aber in der trefflichen Bildermappe, welche im vorigen Jahre erschien und Daniel Chodowiecki's Zeichnungen auf seiner Künstlerfahrt von Berlin nach Danzig (1773) enthält. Da ist nicht nur das Elternhaus (Blatt 23) des gefeierten Malers und Kupferstechers, sondern auch die Schulstube (Blatt 25) sammt der Mutter und den beiden Schwestern gezeichnet.

Kurz wie der Weg war, fehlte doch nicht viel daran, daß ich nicht eines Tages auf demselben vom ungewöhnlich tief gefallenen Schnee, wie von einer Lavine verschüttet worden wäre; Agathe, unser Jungfermädchen, wie man in Danzig die Kammermädchen zu nennen pflegte, Agathe nahm meine kleine ziemlich schwere Person auf den Arm, weil ich zu Fuße nicht fort konnte, sie wollte einem hinter uns her jagenden Schlitten aus dem Wege laufen, glitt aus, fiel auf die Kniee und rutschte mitten in einen vom Winde seitwärts an den Häusern zusammengeweheten, mehrere Ellen hoben Schneehaufen hinein, aus welchem wir alle Beide, ich von ihrem Arm emporgehalten, kaum mit den Köpfen heraussahen. Es war zur Mittagszeit, und die Straße daher völlig menschenleer, aufstehen konnte Agathe nicht, so lange sie mich auf dem Arme hielt, die Stimme versagte ihr vor Kälte und Angst. Schon schwanden ihre Kräfte, schon war sie im Begriff mich sinken zu lassen, Gott weiß, was noch aus uns geworden wäre; da erschien gleich einem rettenden Genius Herr Moser, half uns tapfer schreien und brachte dadurch Leute aus der Nachbarschaft herbei, die uns thätigeren Beistand leisten konnten.

Stillsitzen lernen war Alles, was fürs erste von mir gefordert wurde; anfangs protestirte ich sehr laut gegen diese Zumuthung, doch Niemand kehrte sich daran. Ich mußte den sauren Weg zur Schule gehen, und ging schon am zweiten Tag ihn gern, denn außer mir waren noch zwanzig Kinder aus der Nachbarschaft, Knaben und Mädchen, zu dem nämlichen Zweck dort versammelt, von dem ich aber nicht rühmen kann, daß er dadurch sonderlich gefördert worden wäre.

Die düstere Schulstube, mit ihren getäfelten Wänden von durch die Zeit gebräuntem Eichenholz, in der wir dennoch so fröhliche Stunden verlebten, das große, aus mehr als hundert kleinen runden Scheiben zusammengesetzte Fenster stehen noch sehr lebhaft in meiner Erinnerung. In der Ecke dieses Fensters thronte in ihrem geräumigen Sorgstuhl eine uralte FrauWer das höchst charakteristische Portrait dieser Frau (in der Bildermappe Nr. 42) erblickt, kann sie unmöglich als eine so uralte, hinfällige Greisin ansehn. Sie war damals höchstens 70 Jahr alt. Die älteste Tochter Elisabeth zählte 45, die zweite Henriette 40 Jahre. mit schneeweißem Haar, in etwas fremdartiger, sehr sauberer, aber einsamer Tracht.

Das Alter hatte ihr Auge mit einem immer dichter werdenden Schleier umwoben, doch ihren heitern Sinn nicht zu umdunkeln vermocht. Deutsch sprach sie wenig und ungern, sie war eine geborne Französin und hatte, als Hugenottin, ihres Glaubens wegen, aus ihrem schönen Vaterlande flüchtig werden müssen, aber sowohl die Tracht, als Sitten und Sprache des französischen Bürgerstandes beibehalten. Ihr Alter und ihr schwaches Gesicht erlaubten ihr nicht, ihren beiden, auch schon ziemlich bejahrten Töchtern in Leitung der Schule beizustehen, aber sie war doch gern mitten unter den Kindern.

Mich hatte sie zu ihrem Liebling erkoren, ich durfte dicht zu ihr hinflüchten, wenn das Getobe der wilden Knaben mir zu arg wurde. Dann nahm sie mich auf den Schooß und sagte allerlei leichte französische Worte und Redensarten mir vor, die ich zu ihrem großen Vergnügen wie ein gelehriger Papagei nachplapperte und zuletzt auch wirklich verstehen lernte.

Der Name dieser Frau wird in der Kunstgeschichte unsrer Tage nie untergehen, denn sie war die Mutter des in seinem Fach bis jetzt noch unerreichten Chodowiecki.Er ist 1726 in Danzig geboren und ging, um sein hervorragendes Talent auszubilden, 1743 nach Berlin. Dreißig Jahre später trieb ihn die Sehnsucht nach den Seinigen zu einem Besuche der Vaterstadt. Erlegte die Reise zu Pferde zurück und verweilte 9 Wochen in Danzig. Seine hier entstandenen Bilder sind vorzügliche Illustrationen zu den nächstfolgenden Capiteln unseres Buches.

Während eines Besuches von einigen Tagen, den er in Danzig bei seiner Mutter ablegte, ließ er auch in unsere Schulstube sich führen; neugierig sah ich, wie der fremde Mann ein Tischchen hin- und herrückte, bis es ihm recht stand. Seine beiden Schwestern, unsere Lehrerinnen, gingen indessen freundlich uns zuredend durch unsere Reihen, versprachen Thorner Pfefferkuchen, Rosinen und Mandeln, die Hülle und Fülle, wenn wir nur ein kurzes Stündchen, so wie wir eben saßen und standen, uns ruhig halten wollten.

Der fremde Mann setzte sich inzwischen an seinen Tisch, legte Papier vor sich hin, packte Bleistifte und andere kleine Geräthschaften aus, sah aufmerksam umher, schrieb etwas, wie es mir schien, sah wieder auf, schrieb wieder, ich hielt mich nicht länger. Ich vergaß Rosinen, Mandeln und Pfefferkuchen und Alles; leise, leise, wie ein Kätzchen, schlich ich zwischen und unter Tischen und Stühlen bis zu ihm hin, und sah so bittend ihm ins Gesicht, daß er es nicht übers Herz bringen konnte, mich zu verscheuchen. Freundlich nickte er die Erlaubniß mir zu, neben ihm stehen zu bleiben.

Und nun sah ich auf dem kleinen Blättchen die ganze Schulstube vor meinen Augen entstehen; das hatte ich mir nie als möglich gedacht! Der Athem verging mir darüber; ich dachte und empfand nichts, als das Glück, dergleichen schaffen zu können. Von diesem Augenblick an ging all mein Wünschen und Trachten auf Zeichnen und Malen aus. Wer mir eine Freude machen wollte, mußte Papier und Bleifedern mir schenken; ein Nürnberger Farbenkästchen versetzte mich auf den höchsten Gipfel des Entzückens.

Und als nun der Künstler am Ende ein ander Blättchen zurechtlegte, mich vor sich hinstellte, zeichnete, ohne daß ich sehen konnte, was er machte, und mir nun das Blättchen hinreichte, um nebst einem Gruße von ihm es meiner Mutter zu bringen. Meine ganze kleine Person, von dem bedormeuseten Köpfchen an bis zu den etwas einwärts stehenden Füßen, war im verkleinerten Maßstabe dargestellt. Es fehlte nicht viel, so wäre ich aus lauter Freude in Thränen ausgebrochen, kaum konnte ich die Zeit erwarten, bis Agathe mich abzuholen kam.

In jener Stunde war die in meiner noch so unentwickelten Kinderseele tief schlummernde Neigung zur bildenden Kunst zum ersten Male erwacht, die mein ganzes langes Leben hindurch mein Trost und meine Freude blieb und nur mit diesem erlöschen wird.

Meine Mutter bewahrte das Bild bei ihren liebsten Schätzen, denn Chodowiecki's Name war schon damals berühmt. Leider habe ich selbst späterhin, durch einen unseligen Versuch eben aus jenem Farbekästchen, es zu illuminiren, es verdorben.

Die Schulstube hat der Künstler durch den Grabstichel verewigt, wie ich gehört habe; doch muß das Blatt wohl zu seinen seltenen gehören, denn ich habe es nie zu Gesichte bekommen.

Einer meiner Schul- und Spielkameraden aus jener frühen Zeit lebt noch in Danzig, als ehrwürdig-ergrauetes Haupt des dortigen Hagestolzen-Ordens. Ein Einziger unter so Vielen! Auch ihm, wie mir, verlieh die Natur die Gabe, alle die großen und kleinen Beschwerden eines langen, wechselvollen Lebens leichten Muthes zu ertragen oder zu überwinden, je nachdem die Umstände es forderten oder erlaubten. Er ist wahrscheinlich noch ein paar Jahre älter als ich, denn er hatte schon im a, b, ab große Fortschritte gemacht, als ich noch das a, b, c studirte, war aber auf diesen Vorzug so wenig stolz, daß er eine ganze Woche hindurch artig zu sein sich bemühte, wenn er dafür die Aussicht erhielt, Sonntags, bei schönem Wetter, im Beischlage mit mir spielen zu dürfen. Und dafür sende ich ihm hier, vor aller Welt Augen, von den rebenumkränzten Felsenufern des Rheins bis an das kalte flache Gestade der Weichsel meinen freundlichen Gruß.


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