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§. 12.

Wissen, als dessen kontradiktorisches Gegentheil ich soeben den Begriff Gefühl erörtert habe, ist, wie gesagt, jede abstrakte Erkenntniß, d. h. Vernunfterkenntniß. Da nun aber die Vernunft immer nur das anderweitig Empfangene wieder vor die Erkenntniß bringt, so erweitert sie nicht eigentlich unser Erkennen, sondern giebt ihm bloß eine andere Form. Nämlich was intuitiv, was in concreto erkannt wurde, läßt sie abstrakt und allgemein erkennen. Dies ist aber ungleich wichtiger, als es, so ausgedrückt, dem ersten Blicke scheint. Denn alles sichere Aufbewahren, alle Mittheilbarkeit und alle sichere und weitreichende Anwendung der Erkenntniß auf das Praktische hängt davon ab, daß sie ein Wissen, eine abstrakte Erkenntniß geworden sei. Die intuitive Erkenntniß gilt immer nur vom einzelnen Fall, geht nur auf das Nächste, und bleibt bei diesem stehen, weil Sinnlichkeit und Verstand eigentlich nur ein Objekt zur Zeit auffassen können. Jede anhaltende, zusammengesetzte, planmäßige Thätigkeit muß daher von Grundsätzen, also von einem abstrakten Wissen ausgehen und danach geleitet werden. So ist z. B. die Erkenntniß, welche der Verstand vom Verhältniß der Ursach und Wirkung hat, zwar an sich viel vollkommener, tiefer und erschöpfender, als was davon in abstracto sich denken läßt; der Verstand allein erkennt anschaulich unmittelbar und vollkommen die Art des Wirkens eines Hebels, Flaschenzuges, Kammrades, das Ruhen eines Gewölbes in sich selbst u. s. w. Aber wegen der eben berührten Eigenschaft der intuitiven Erkenntniß, nur auf das unmittelbar Gegenwärtige zu gehen, reicht der bloße Verstand nicht hin zur Konstruktion von Maschinen und Gebäuden: vielmehr muß hier die Vernunft eintreten, an die Stelle der Anschauungen abstrakte Begriffe setzen, solche zur Richtschnur des Wirkens nehmen, und waren sie richtig, so wird der Erfolg eintreffen. Ebenso erkennen wir in reiner Anschauung vollkommen das Wesen und die Gesetzmäßigkeit einer Parabel, Hyperbel, Spirale; aber um von dieser Erkenntniß sichere Anwendung in der Wirklichkeit zu machen, mußte sie zuvor zum abstrakten Wissen geworden seyn, wobei sie freilich die Anschaulichkeit einbüßt, aber dafür die Sicherheit und Bestimmtheit des abstrakten Wissens gewinnt. Also erweitert alle Differentialrechnung eigentlich gar nicht unsere Erkenntniß von den Kurven, enthält nichts mehr, als was schon die bloße reine Anschauung derselben; aber sie ändert die Art der Erkenntniß, verwandelt die intuitive in eine abstrakte, welches für die Anwendung so höchst folgenreich ist. Hier kommt nun aber noch eine Eigenthümlichkeit unsers Erkenntnißvermögens zur Sprache, welche man bisher wohl nicht bemerken konnte, so lange der Unterschied zwischen anschaulicher und abstrakter Erkenntniß nicht vollkommen deutlich gemacht war. Es ist diese, daß die Verhältnisse des Raums nicht unmittelbar und als solche in die abstrakte Erkenntniß übertragen werden können, sondern hiezu allein die zeitlichen Größen, d. h. die Zahlen geeignet sind. Die Zahlen allein können in ihnen genau entsprechenden abstrakten Begriffen ausgedrückt werden, nicht die räumlichen Größen. Der Begriff Tausend ist vom Begriff Zehn genau so verschieden, wie beide zeitliche Größen es in der Anschauung sind: wir denken bei Tausend ein bestimmt vielfaches von Zehn, in welches wir jenes für die Anschauung in der Zeit beliebig auflösen können, d. h. es zählen können. Aber zwischen dem abstrakten Begriff einer Meile und dem eines Fußes, ohne alle anschauliche Vorstellung von beiden und ohne Hülfe der Zahl, ist gar kein genauer und jenen Größen selbst entsprechender Unterschied. In beiden wird überhaupt nur eine räumliche Größe gedacht, und sollen beide hinlänglich unterschieden werden, so muß durchaus entweder die räumliche Anschauung zu Hülfe genommen, also schon das Gebiet der abstrakten Erkenntniß verlassen werden, oder man muß den Unterschied in Zahlen denken. Will man also von den räumlichen Verhältnissen abstrakte Erkenntniß haben, so müssen sie erst in zeitliche Verhältnisse, d. h. in Zahlen, übertragen werden: deswegen ist nur die Arithmetik, nicht die Geometrie, allgemeine Größenlehre, und die Geometrie muß in Arithmetik übersetzt werden, wenn sie Mittheilbarkeit, genaue Bestimmtheit und Anwendbarkeit auf das Praktische haben soll. Zwar läßt sich ein räumliches Verhältniß als solches auch in abstracto denken, z. B. »der Sinus wächst nach Maaßgabe des Winkels«; aber wenn die Größe dieses Verhältnisses angegeben werden soll, bedarf es der Zahl. Diese Nothwendigkeit, daß der Raum, mit seinen drei Dimensionen, in die Zeit, welche nur eine Dimension hat, übersetzt werden muß, wenn man eine abstrakte Erkenntniß (d. h. ein Wissen, kein bloßes Anschauen) seiner Verhältnisse haben will, diese Nothwendigkeit ist es, welche die Mathematik so schwierig macht. Dies wird sehr deutlich, wenn wir die Anschauung der Kurven vergleichen mit der analytischen Berechnung derselben, oder auch nur die Tafeln der Logarithmen der trigonometrischen Funktionen mit der Anschauung der wechselnden Verhältnisse der Theile des Dreiecks, welche durch jene ausgedrückt werden: was hier die Anschauung in einem Blick, vollkommen und mit äußerster Genauigkeit auffaßt, nämlich wie der Kosinus abnimmt, indem der Sinus wächst, wie der Kosinus des einen Winkels der Sinus des andern ist, das umgekehrte Verhältniß der Ab- und Zunahme beider Winkel u. s. w., welches ungeheuern Gewebes von Zahlen, welcher mühsäligen Rechnung bedurfte es nicht, um dieses in abstracto auszudrücken: wie muß nicht, kann man sagen, die Zeit mit ihrer einen Dimension sich quälen, um die drei Dimensionen des Raumes wiederzugeben! Aber dies war nothwendig, wenn wir, zum Behuf der Anwendung, die Verhältnisse des Raumes in abstrakte Begriffe niedergelegt besitzen wollten: unmittelbar konnten jene nicht in diese eingehen, sondern nur durch Vermittelung der rein zeitlichen Größe, der Zahl, als welche allein der abstrakten Erkenntniß sich unmittelbar anfügt. Noch ist bemerkenswerth, daß, wie der Raum sich so sehr für die Anschauung eignet und, mittelst seiner drei Dimensionen, selbst komplicirte Verhältnisse leicht übersehen läßt, dagegen der abstrakten Erkenntniß sich entzieht; umgekehrt die Zeit zwar leicht in die abstrakten Begriffe eingeht, dagegen aber der Anschauung sehr wenig giebt: unsere Anschauung der Zahlen in ihrem eigenthümlichen Element, der bloßen Zeit, ohne Hinzuziehung des Raumes, geht kaum bis Zehn; darüber hinaus haben wir nur noch abstrakte Begriffe, nicht mehr anschauliche Erkenntniß der Zahlen: hingegen verbinden wir mit jedem Zahlwort und allen algebraischen Zeichen genau bestimmte abstrakte Begriffe.

Nebenbei ist hier zu bemerken, daß manche Geister nur im anschaulich Erkannten völlige Befriedigung finden. Grund und Folge des Seyns im Raum anschaulich dargelegt, ist es, was sie suchen: ein Eukleidischer Beweis, oder eine arithmetische Auflösung räumlicher Probleme, spricht sie nicht an. Andere Geister hingegen verlangen die zur Anwendung und Mittheilung allein brauchbaren abstrakten Begriffe: sie haben Geduld und Gedächtniß für abstrakte Sätze, Formeln, Beweisführungen in langen Schlußketten, und Rechnungen, deren Zeichen die komplicirtesten Abstraktionen vertreten. Diese suchen Bestimmtheit: jene Anschaulichkeit. Der Unterschied ist charakteristisch.

Das Wissen, die abstrakte Erkenntniß, hat ihren größten Werth in der Mittheilbarkeit und in der Möglichkeit, fixirt aufbehalten zu werden: erst hiedurch wird sie für das Praktische so unschätzbar wichtig. Einer kann vom kausalen Zusammenhange der Veränderungen und Bewegungen natürlicher Körper eine unmittelbare anschauliche Erkenntniß im bloßen Verstande haben und in derselben völlige Befriedigung finden; aber zur Mittheilung wird sie erst geschickt, nachdem er sie in Begriffen fixirt hat. Selbst für das Praktische ist eine Erkenntniß der erstern Art hinreichend, sobald er auch die Ausführung ganz allein übernimmt, und zwar in einer, während noch die anschauliche Erkenntniß lebendig ist, ausführbaren Handlung; nicht aber, wenn er fremder Hülfe, oder auch nur eines zu verschiedenen Zeiten eintretenden eigenen Handelns und daher eines überlegten Planes bedarf. So kann z. B. ein geübter Billiardspieler eine vollständige Kenntniß der Gesetze des Stoßes elastischer Körper auf einander haben, bloß im Verstande, bloß für die unmittelbare Anschauung, und er reicht damit vollkommen aus: hingegen hat nur der wissenschaftliche Mechaniker ein eigentliches Wissen jener Gesetze, d. h. eine Erkenntniß in abstracto davon. Selbst zur Konstruktion von Maschinen reicht jene bloß intuitive Verstandeserkenntniß hin, wenn der Erfinder der Maschine sie auch allein ausführt, wie man oft an talentvollen Handwerkern ohne alle Wissenschaft sieht: hingegen sobald mehrere Menschen und eine zusammengesetzte, zu verschiedenen Zeitpunkten eintretende Thätigkeit derselben zur Ausführung einer mechanischen Operation, einer Maschine, eines Baues nöthig sind, muß der, welcher sie leitet, den Plan in abstracto entworfen haben, und nur durch Beihülfe der Vernunft ist eine solche zusammenwirkende Thätigkeit möglich. Merkwürdig ist es aber, daß bei jener erstern Art von Thätigkeit, wo Einer allein, in einer ununterbrochenen Handlung etwas ausführen soll, das Wissen, die Anwendung der Vernunft, die Reflexion ihm sogar oft hinderlich seyn kann, z. B. eben beim Billiardspielen, beim Fechten, beim Stimmen eines Instruments, beim Singen: hier muß die anschauliche Erkenntniß die Thätigkeit unmittelbar leiten: das Durchgehen durch die Reflexion macht sie unsicher, indem es die Aufmerksamkeit theilt und den Menschen verwirrt. Darum führen Wilde und rohe Menschen, die sehr wenig zu denken gewohnt sind, manche Leibesübungen, den Kampf mit Thieren, das Treffen mit dem Pfeil u. dgl. mit einer Sicherheit und Geschwindigkeit aus, die der reflektirende Europäer nie erreicht, eben weil seine Ueberlegung ihn schwanken und zaudern macht: denn er sucht z. B. die rechte Stelle, oder den rechten Zeitpunkt, aus dem gleichen Abstand von beiden falschen Extremen zu finden: der Naturmensch trifft sie unmittelbar, ohne auf die Abwege zu reflektiren. Ebenso hilft es mir nicht, wenn ich den Winkel, in welchem ich das Rasiermesser anzusetzen habe, nach Graden und Minuten in abstracto anzugeben weiß, wenn ich ihn nicht intuitiv kenne, d. h. im Griff habe. Auf gleiche Weise störend ist ferner die Anwendung der Vernunft bei dem Verständniß der Physiognomie: auch dieses muß unmittelbar durch den Verstand geschehen: der Ausdruck, die Bedeutung der Züge läßt sich nur fühlen, sagt man, d. h. eben geht nicht in die abstrakten Begriffe ein. Jeder Mensch hat seine unmittelbare intuitive Physiognomik und Pathognomik: doch erkennt Einer deutlicher, als der Andere, jene signatura rerum. Aber eine Physiognomik in abstracto zum Lehren und Lernen ist nicht zu Stande zu bringen; weil die Nüancen hier so fein sind, daß der Begriff nicht zu ihnen herab kann; daher das abstrakte Wissen sich zu ihnen verhält, wie ein musivisches Bild zu einem van der Werft oder Denner: wie, so fein auch die Musaik ist, die Gränzen der Steine doch stets bleiben und daher kein stetiger Uebergang einer Tinte in die andere möglich ist; so sind auch die Begriffe, mit ihrer Starrheit und scharfen Begränzung, so fein man sie auch durch nähere Bestimmung spalten möchte, stets unfähig, die seinen Modifikationen des Anschaulichen zu erreichen, auf welche es, bei der hier zum Beispiel genommenen Physiognomik, gerade ankommt Ich bin dieserwegen der Meinung, daß die Physiognomik nicht weiter mit Sicherheit gehen kann, als zur Aufstellung einiger ganz allgemeiner Regeln, z. B. solcher: in Stirn und Auge ist das Intellektuale, im Munde und der untern Gesichtshälfte das Ethische, die Willensäußerungen, zu lesen; – Stirn und Auge erläutern sich gegenseitig, jedes von beiden, ohne das andere gesehen, ist nur halb verständlich; – Genie ist nie ohne hohe, breite, schön gewölbte Stirn; diese aber oft ohne jenes; – von einem geistreichen Aussehen ist auf Geist um so sicherer zu schließen, je häßlicher das Gesicht ist, und von einem dummen Aussehen auf Dummheit desto sicherer, je schöner das Gesicht ist; weil Schönheit, als Angemessenheit zu dem Typus der Menschheit, schon an und für sich auch den Ausdruck geistiger Klarheit trägt, Häßlichkeit sich entgegengesetzt verhält, u. s. w..

Diese nämliche Beschaffenheit der Begriffe, welche sie den Steinen des Musivbildes ähnlich macht, und vermöge welcher die Anschauung stets ihre Asymptote bleibt, ist auch der Grund, weshalb in der Kunst nichts Gutes durch sie geleistet wird. Will der Sänger, oder Virtuose, seinen Vortrag durch Reflexion leiten, so bleibt er todt. Das Selbe gilt vom Komponisten, vom Maler, ja vom Dichter: immer bleibt für die Kunst der Begriff unfruchtbar: bloß das Technische in ihr mag er leiten: sein Gebiet ist die Wissenschaft. Wir werden im dritten Buch näher untersuchen, weshalb alle ächte Kunst aus der anschaulichen Erkenntniß hervorgeht, nie aus dem Begriff. – Sogar auch in Hinsicht auf das Betragen, auf die persönliche Annehmlichkeit im Umgange, taugt der Begriff nur negativ, um die groben Ausbrüche des Egoismus und der Bestialität zurückzuhalten, wie denn die Höflichkeit sein löbliches Werk ist; aber das Anziehende, Gratiose, Einnehmende des Betragens, das Liebevolle und Freundliche, darf nicht aus dem Begriff hervorgegangen seyn: sonst

»fühlt man Absicht und man ist verstimmt.« –

Alle Verstellung ist Werk der Reflexion; aber auf die Dauer und unausgesetzt ist sie nicht haltbar: nemo potest personam diu ferre fictam, sagt Seneka, im Buche de clementia: auch wird sie dann meistens erkannt und verfehlt ihre Wirkung. Im hohen Lebensdrange, wo es schneller Entschlüsse, kecken Handelns, raschen und festen Ergreifens bedarf, ist zwar Vernunft nöthig, kann aber, wenn sie die Oberhand gewinnt und das intuitive, unmittelbare, rein verständige Ausfinden und zugleich Ergreifen des Rechten verwirrend hindert und Unentschlossenheit herbeiführt, leicht Alles verderben.

Endlich geht auch Tugend und Heiligkeit nicht aus Reflexion hervor, sondern aus der innern Tiefe des Willens und deren Verhältniß zum Erkennen. Diese Erörterung gehört an eine ganz andere Stelle dieser Schrift: nur so viel mag ich hier bemerken, daß die auf das Ethische sich beziehenden Dogmen in der Vernunft ganzer Nationen die selben seyn können, aber das Handeln in jedem Individuo ein anderes, und so auch umgekehrt: das Handeln geschieht, wie man spricht, nach Gefühlen: d. h. eben nur nicht nach Begriffen, nämlich dem ethischen Gehalte nach. Die Dogmen beschäftigen die müßige Vernunft: das Handeln geht zuletzt unabhängig von ihnen seinen Gang, meistens nicht nach abstrakten, sondern nach unausgesprochenen Maximen, deren Ausdruck eben der ganze Mensch selbst ist. Daher, wie verschieden auch die religiösen Dogmen der Völker sind, so ist doch bei allen die gute That von unaussprechlicher Zufriedenheit, die böse von unendlichem Grausen begleitet: erstere erschüttert kein Spott: von letzterem befreit keine Absolution des Beichtvaters. Jedoch soll hiedurch nicht geleugnet werden, daß bei der Durchführung eines tugendhaften Wandels Anwendung der Vernunft nöthig sei: nur ist sie nicht die Quelle desselben; sondern ihre Funktion ist eine untergeordnete, nämlich die Bewahrung gefaßter Entschlüsse, das Vorhalten der Maximen, zum Widerstand gegen die Schwäche des Augenblicks und zur Konsequenz des Handelns. Das Selbe leistet sie am Ende auch in der Kunst, wo sie doch ebenso in der Hauptsache nichts vermag, aber die Ausführung unterstützt, eben weil der Genius nicht in jeder Stunde zu Gebote steht, das Werk aber doch in allen Theilen vollendet und zu einem Ganzen geründet seyn soll Hiezu Kap. 7 des zweiten Bandes..


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