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Lebensweisheit und Lebensgenuß

Jede Zeit prägt ein paar für ihre geistigen Inhalte wesentliche Worte, noch öfter gewinnen längst bestehende Worte plötzlich einen neuen Charakter für eine bestimmte Zeit. Alle unbefriedigte Sehnsucht der nach innerer und äußerer Vollendung Strebenden klammert sich nun an dieses Wort wie ein Ertrinkender an die Stange, die man ihm reicht. Nach einiger Zeit aber fühlt sich der so Gestützte stark genug, die Stange loszulassen, um selbst weiterzuschwimmen. Er braucht die Stange nicht mehr und lächelt sogar über die Schwächeren, die noch nach ihr tasten. Solche Worte sind im Laufe des 19. Jahrhunderts gewesen: Idealismus, Freiheit, Sittlichkeit, Kultur, Persönlichkeit usw. Alle diese Worte haben das Charakteristische, daß sie längst der Sprache angehören, auf einmal aber für bestimmte Zeitrichtungen wesentlich erscheinen, dann aber wieder verblassen und so abgegriffen erscheinen, daß Menschen, welche die Worte als exakten, plastischen Gedankenausdruck benutzen, d. h. einen Stil schreiben, schließlich vor ihrer Anwendung zurückschrecken. So war z. B. das Wort Idealismus, das seinerzeit mit das Beste ausgedrückt hat, was die deutsche Klassik bewegte, noch vor kurzem fast ausschließlich von Menschen mit unklarem Denken und verwaschenem Fühlen belegt, so daß der gute Stil es vermeiden mußte. Neuerdings aber scheint dieses Wort dadurch, daß es eine Zeitlang bei reinlichen Leuten außer Brauch geblieben ist, wieder an Frische gewonnen zu haben, und wieder gewinnt es an Glanz und Kraft gegenüber der schnöden Ideallosigkeit gewisser moderner, nach amerikanischem Muster geformter Typen. Ebenso ist es mit dem Wort Sittlichkeit. Seitdem es Sittlichkeitsschnüffler gibt, hat das Wort Sittlichkeit, das im Munde Schillers die größte Würde besaß, ein nicht unberechtigtes Mißtrauen zu erwecken begonnen. Aber ich sehe schon am Horizonte die Wahrscheinlichkeit, daß es eines Tages wieder Bedeutung gewinnen wird, wenn der innere Bankrott gewisser moderner männlicher und weiblicher Individualitäten, die sich »auszuleben« wünschen (auch ein solches Wort!), noch mehr zutage getreten sein wird. Auf dem Aussterbeetat stehen auch bereits Worte, wie Freiheit und Persönlichkeit, mit denen augenblicklich die breiten geistigen Mittelstände noch einen ungeheuren Unfug treiben, während sie in den oberen Schichten unseres geistigen Lebens bereits vermieden werden.

Ein Wort nun, welches augenblicklich in der ganzen westlichen Kulturwelt eine starke Wirkung ausübt, ist sonderbarerweise das Wort Leben. Noch niemals haben die Menschen so viel vom Leben gesprochen wie heute. Gelebt hat man immer, und am Leben gehangen hat wohl jede Zeit, aber nie ist man sich so klar darüber gewesen, daß man – als erstes Prinzip der Daseinsgestaltung – sich nicht durch Torheiten sein Leben selbst verpfuschen, oder durch Unachtsamkeit von anderen verpfuschen lassen soll. Immer dünner wird die Schicht derer, die ihr Leben dumpf verträumen und ungenutzt vorübergehen lassen. Jeder will etwas von seinem Leben haben, etwas daraus machen, auch diejenigen, bei denen dieser Drang kein Zerrbild geworden ist, indem sie sich »ausleben« wollen. Sehr oft stößt man in dem Munde ganz einfacher Naturen auf den Satz, wenn sie dieses oder jenes tun, dann hätten sie doch wenigstens einmal etwas von ihrem Leben gehabt. Also bloß das Erinnerungsbild einer gut ausgefüllten Lebensspanne scheint der heutigen Menschheit bereits als ein wichtiges Lebensgut, dessen Wert bis ans Ende der Tage gefühlt wird. Immer allgemeiner verbreitet sich auch die Ansicht, daß man die größte Dummheit, die man begehen kann, nicht so sehr bereuen könne, als die ausgeschlagene Gelegenheit, einem Lebensabschnitt höheren Inhalt oder helleren Glanz zu geben.

Die Berückung durch das Wort Leben findet sich keineswegs nur in den Meinungen heutiger Durchschnittsmenschen, auch in Dichtung und Wissenschaft stoßen wir in einem fort auf dieses Wort. In der Dichtung war der Naturalismus noch eine einseitige und verfehlte Methode, dem Leben auf die Spur zu kommen. Man glaubte das Leben in der Beobachtung des einzelnen, bisher vernachlässigten Details zu sehen, sehr bald aber zeigte sich, daß dieser Naturalismus nur eine Episode der Entwicklung war, als man erkannte, daß das Leben doch viel stärker in den inneren Vorgängen pulsiert; die Dichtung suchte nicht mehr objektive Detailschilderungen, sondern sie ging den weiteren Schritt, in der Impression der Seele selbst das Leben zu sehen. So kamen die viel erfreulicheren Werke von Künstlern zustande, welche nicht mehr Abschrift der Natur, sondern möglichst ehrlichen Ausdruck des Empfundenen, der »Impression,« kurz des Erlebnisses suchten. Man kam zu der Ansicht, daß Kunst und Dichtung im Grunde gar nichts anderes seien, als das Festhalten des besonders verdichteten Erlebens. Und dadurch warfen die Werke der Kunst einen Widerschein auf das Leben selber, das man möglichst verdichtet empfinden wollte; das führte zu der Forderung einer durch Kunst kultivierten Lebensführung.

In trunkenen Worten hat in Italien Gabriele d'Annunzio, hat in Frankreich eine ganze jüngere Dichterschule die Wonne des Daseins gepriesen. Bei uns in Deutschland findet sich der schönste Ausdruck dieses Umfassenwollens des Lebens selber nach Nietzsches dionysischer Lebenstrunkenheit in den früheren Gedichten von Hofmannsthal:

Ein namenloses Heimweh weinte lautlos
In meiner Seele nach dem Leben;

und Hofmannsthals Stück »Der Abenteurer und die Sängerin« ist ja nichts anders als eine Verherrlichung eines ausgefüllten, lebendigen Daseins.

Auch in der Wissenschaft, so sagten wir schon, stoßen wir heute überall auf das Wort Leben. Wir haben nicht nur eine Wissenschaft vom Leben selbst, die Biologie, welche neuen Datums ist, sondern auch die Philosophie nähert sich wieder einer längst aufgegebenen Lehre von der Lebenskraft, und ein Neo-Vitalismus blüht auf, der nicht mehr, wie der Materialismus, das Leben in physische und chemische Vorgänge auflösen will, sondern ihm selbst wie einer Substanz zuleibe geht. Die folgerichtigste Leistung aber auf diesem Gebiet ist die Philosophie Henry Bergsons, der in dem »Lebensschwung« (élan vital) den tiefsten Grund aller Dinge sucht. Bis in die Moralphilosophie und die Betrachtung der letzten Dinge ist diese neue Bewertung des Lebens gedrungen, und fast will's scheinen, als ob auch ein überzeugter Jenseitsglaube sich wohl vereinen läßt mit der Ansicht, daß wir schon hienieden unser Licht nicht unter den Scheffel stellen, sondern die Kräfte dieses Daseins auf die denkbar höchste Stufe entwickeln sollen. Immer mehr kommen wir davon zurück, unsere Pflicht von allzu stark festgelegten Forderungen abzulesen, vielmehr machen wir die Forderungen des Lebens selber, und diese sind für jedes Individuum andere, zur Grundlage auch unserer moralischen Wertungen. Jeder Glaube an ein Jenseits ist verknüpft mit der moralischen Bewertung dessen, was einer im Diesseits getan hat, und es dürfte wohl heute nur noch wenige geben, welche in einer blinden Askese die beste Vorbereitung für die Seligkeit sehen. Vielmehr wird wohl der mit ruhigster Seele und heiterstem Blick auch die Pforten des Todes durchschreiten, welcher sich auf dem Sterbebette sagen kann: Ich habe hier mein Pfund nicht vergraben, sondern aus den Kräften, die in mir waren, die reichste Lebensgestaltung erzielt.

Kein Wunder, daß eine Zeit, die sich in dieser Richtung bewegt, eine Fülle von Büchern hervorbringt, in deren Titeln schon das Wort Leben zu lesen ist. Das Studium längst toter Zeiten und Menschen wird in Büchern für unsere Kultur lebendig gemacht; der Lehrstoff der Schule soll dem Leben der Lernenden nahegebracht werden; wir graben Dokumente und Memoiren über Menschen und Zeiten aus, die das Leben besonders gut verstanden. Es hat seinen guten Grund, daß das Studium der Renaissanee heute so modern geworden ist, daß Bücher, wie der Cortigiano des Grafen Castiglione wieder Leser finden, und daß um eine Gestalt wie Casanova plötzlich ein ernsthaftes Interesse entstanden ist, nachdem er früher für nicht mehr als einen vergnüglichen Abenteurer gegolten hat. Unsere Zeit fühlt in diesem Rokokomenschen mit besonderer Kraft das Pathos des Lebens ausgedrückt.

Es sei hier von einigen Büchern die Rede, die im Grund von nichts anderem als dem Leben handeln, deren Erscheinen oder Wiedererscheinen für die letzten Jahre vor dem Krieg bezeichnet war. Eines über »Lebensformen« von W. Fred (bei Georg Müller, München) spricht aus der klugen Überlegung einer vielfältigen Lebenserfahrung heraus, ein anderes über »Lebensgenuß« von Willem van Wulffen (Hyperionverlag, München) gebiert aus der Esse eines lebenshungrigen Temperaments einen glühenden Hymnus auf das Dasein, der eine Philosophie des Lebensgenusses enthält. So verschieden beide Bücher in ihrem Rhythmus sind, so haben sie beide doch das Gemeinsame einer starken, positiven Forderung. Wenn Fred von den Formen des Lebens spricht, so ist er fern davon, jenem bekannten Buch der 90er Jahre »Es schickt sich nicht« einen Nachfolger zu geben, denn es kommt ihm weniger darauf an, daß man allerlei Unarten, Ungezogenheiten und Formlosigkeiten vermeidet, so nötig ihm dies auch scheint, es ist ihm vielmehr wichtig, daß unser Verkehr, unsere Zusammenkünfte, unsere Feste, unser ganzes Leben wieder irgend eine Schönheit haben oder auch nur eine anmutige Form. Es genügt nicht, daß Keiner gestört hat, daß Keiner aufgefallen ist, es handelt sich vielmehr darum, den Beziehungen wieder positive Formen zu geben, in denen Lebendigkeit ist. Und das ist allen jenen für unsere Zeit so charakteristischen Formsuchern, die den Anarchismus der Boheme und des »fröhlichen Künstlervölkchens« bekämpfen, gemeinsam, daß sie keineswegs wieder in das provinzielle »es schickt sich nicht« einer halbvergangenen Epoche zurückfallen wollen, sondern daß sie, wie die moderne Architektur, welche die Stilanarchie der 80er und 90er Jahre verwirft, gern an die Formen der Zeiten anknüpft, die wirklich ihr Leben schöpferisch auszudrücken verstanden. Der letzte gesellschaftliche Stil war der des 18. Jahrhunderts, und an ihm müssen wir lernen, so wie die moderne Architektur etwa an den Empirestil und Biedermeierstil sich anlehnt, um von dieser Grundlage aus selbst freie Formen schaffen zu können; denn es ist nun einmal wahr, daß die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts in Fragen der Kultur eine Epoche der Barbarei gewesen ist. Darum sieht auch Wulffen, wenn er den Lebensgenuß predigt, diesen keineswegs in den Errungenschaften des modernen Komforts und Luxus erfüllt, die nichts anderes sind, als ein Vermeiden von Unannehmlichkeiten. Das wäre noch kein positiver Lebensgenuß. Wahrhaftig, an Leuten, die ihrem Plaisier nachgehen, fehlt es heute nicht, und die mögen sich vielleicht mit besonderer Begierde auf dieses Buch von Wulffen stürzen, in der Meinung, darin Rezepte für ihr kümmerliches Amüsement zu finden. Sie werden enttäuscht sein, denn der Genußmensch, den Wulffen predigt, ist keineswegs der Lebemann. Was er vor allem verlangt, ist Disziplin der ganzen Persönlichkeit. Wir sollten weder – und darin stimmt er mit Fred genau überein – schulmeisterlich unsere Triebe und Neigungen knebeln, noch aber sie anarchistisch wuchern lassen, daß sie die übrige Persönlichkeit zur Verkümmerung bringen. Mit scharfem Hohn wendet er sich vor allem auch gegen die Kümmerlinge, die heute sich auszuleben meinen, indem sie aus ihrem Leben eine Reihe von Zuchtlosigkeiten machen. Zu den Genußtugenden, die er besonders preist, gehören: Mut, Selbständigkeit, Unabhängigkeit des Charakters, Aktivität, Selbstzucht, Abhärtung, Wohlwollen, Geistesklarheit, Selbsterkenntnis, Klugheit, Geistesgewandtheit, wohlerzogene Phantasie, ein das Negative ausschließendes Gedächtnis, denn ohne diese Tugenden ist eine Beherrschung der Materie des Lebens nicht möglich. In dieser Beherrschung aber sieht Wulffen die Grundlage jedes edlen Lebensgenusses.

Eine gewisse Einseitigkeit des Fredschen Buches liegt darin, daß es die Gewohnheiten gewisser begüterter, mit der höheren Boheme verflochtener Großstadtkreise zur Grundlage für die Beobachtung moderner Lebensformen wählt. Es ist nur ein, wenn auch charakteristischer Ausschnitt der Welt; in dieser Einseitigkeit aber liegt gleichzeitig der Vorzug des Buches, da Fred diesen Ausschnitt gut kennt und die Sitten und Formen dieser mit der wirklichen wetteifernden Gesellschaft in so präziser Form darzustellen weiß, daß sein Buch zweifellos einmal ein gewichtiges Dokument für den Kulturhistoriker unserer Zeit werden wird. Er schildert – wo er auf moderne Dinge zu sprechen kommt – ausschließlich jene Gesellschaft, die – um seine eigenen Worte zu gebrauchen – »sich in den großen Halls der Luxushotels, im Engadin, an der Riviera, in den Seebädern trifft, dort miteinander Bekanntschaft macht, dort mit immer mehr Gelingen sucht, in die andere »große« hineinzuschlüpfen, oder einzelne Glieder aus ihr sich herauszuholen«. –

In der von Otto Julius Bierbaum begründeten Bücherei der Abtei Thelem sind bei Georg Müller in München die Briefe Lord Chesterfields an seinen Sohn deutsch erschienen. Was der »Cortigiano« für die Renaissance ist, bedeuten diese Briefe für das 18. Jahrhundert. Ihr Verfasser gehört zu den Personen, denen die Welt niemals gerecht wird. Von Puritanern wird ihre offen zugestandene Weltlichkeit, von den Fanatikern der schlechten Manieren und der Unsauberkeit ihr Wertlegen auf die Dinge des äußeren Lebens getadelt. Der Snobismus, dessen Residenz augenblicklich (1913) in Deutschland aufgeschlagen ist, überschätzt wieder ihre Lehren aufs bedenklichste und macht eine Kapitalangelegenheit daraus, ob man auch wirklich zu jeder Stunde ganz genau dem guten Ton entsprechend angezogen ist. Will man nun die Gestalt Lord Chesterfields, die aus seinen Briefen mit der wünschenswertesten Deutlichkeit in ihren Umrissen hervortritt, richtig fassen, so wird man sagen müssen: Er hat, wie alle nach Vollkommenheit strebenden Menschen, eine Menge freundlicher menschlicher Dinge unterdrückt, die dieser Vollkommenheit im Wege gestanden hätten, als Unbefangenheit, Harmlosigkeit, Naivität und dergleichen. Die von ihm erstrebte Vollkommenheit hat er dagegen durchaus erreicht. Sie bestand darin, » the world and the books« zu vereinigen.

Er war ein Mann von großem Wissen und weitreichender Belesenheit, gleichzeitig ein tüchtiger Staatsmann und einer der glänzendsten Vertreter der äußeren Kultur des 18. Jahrhunderts. Er ist einer der besten Verwalter Irlands gewesen, und das will viel heißen, denn es war nie leicht, mir diesem englischen Schmerzenskinds auszukommen. Ferner hat er in England, das im 18. Jahrhundert noch nach dem alten (julianischen) Stil rechnete, den gregorianischen Kalender eingeführt. Dies sind seine äußeren Verdienste. Bekannt, bis zu einem gewissen Grade sogar unsterblich ist er durch seine Briefe geworden, an deren Veröffentlichung er nie gedacht hat.

Die Briefe sind an seinen unehelichen Sohn Philip Stanhope gerichtet, der offenbar kein geeignetes Objekt für die Erziehungsversuche des Vaters war. Er soll ein schwerfälliger, nach innen gekehrter Mensch gewesen sein, der sich in der großen Welt niemals zu Hause fühlte. Seine schlechte Ausdrucksweise und seine ungeschickten Bewegungen haben daher dem Vater viele Sorgen gemacht. Er hätte gern den Sohn eine große Rolle in der Politik spielen sehen, aber es gelang ihm nicht, bei dem König das Vorurteil gegen dessen uneheliche Geburt zu beseitigen. Philip Stanhope ist früh gestorben und hinterließ – eine Ironie des Schicksals – zwei Kinder und eine Frau, mit der er heimlich in Südfrankreich verheiratet gewesen war. Sein Leben entsprach gewiß nicht dem Ideale des alten Earls, aber zu dessen Ehre muß man anführen, daß er, wenn auch die Verhältnisse sich nicht nach seinem Willen gestaltet hatten, sie als vollendete Tatsache anerkannte. Er hat nicht die geringste moralische oder soziale Entrüstung gegen die überlebende Familie des Sohnes geäußert, vielmehr ihr seine großväterliche Liebe gewidmet.

Es ist merkwürdig zu sehen, wie er in seinen an die kleinen Enkel gerichteten Briefen, die in der deutschen Ausgabe fehlen, einen ganz anderen Ton anschlägt als gegenüber dem eigenen Sohn. Alle großen Erziehungspläne sind aufgegeben, und er ist einfach der freundliche Großvater, der sich an den Spielen und dem Übermut der Kleinen erfreut, der den Wunsch hat, sie etwas Ordentliches werden zu lassen, ohne aber den Eifer zu zeigen, wie gegenüber dem eigenen Opus, wie er den Sohn bisweilen genannt hat. Die strengsten Väter pflegen schwache Großväter zu werden.

Die Briefe sind gerade in unserer Zeit, wo so viele Fragen der guten Erziehung nicht mehr selbstverständlich sind, recht nützlich zu lesen, besonders für jüngere Leute. Chesterfield warnt sie vor Liebeshändeln in den niederen Sphären und gedenkt dabei häufig der gesundheitlichen Gefahren. Es sei besser, in der guten Gesellschaft sein Herz als in niederen Kreisen seine Nase zu verlieren, was bei dem damaligen Stand der ärztlichen Wissenschaft wohl oft die Folge mutwilliger Ausschweifung gewesen sein mag. Indem er den Sohn lehrt, wie er den Frauen der Gesellschaft gefallen soll, warnt er ihn fortgesetzt, diese Dinge zu ernst zu nehmen, damit er kein Frauenknecht werde, denn die Frauen selbst lieben nicht den Mann, der nur für sie da ist und von seinem eigenen Geschlecht nicht geschätzt wird. Liebe und Eitelkeit sind bei ihnen gleich stark, und der Ruf eines Mannes soll seiner Liebenswürdigkeit vorauseilen. Auch auf die Wichtigkeit des Verkehrs mit älteren Damen macht Chesterfield häufig aufmerksam:

»Es gibt eine Art erfahrener Frauenzimmer von Stande, die stets in der großen Welt gelebt, vielleicht einige Liebeshändel gehabt haben und eine Erfahrung von 25 bis 30 Jahren besitzen. Diese bilden einen jungen Menschen besser aus als alle Regeln, die man ihm nur geben kann. Besonders in Paris ist es diese Art von Frauen, die einen jungen Mann in Mode bringt.«

Im Gegensatz zu der trockenen Kühle dieses Buches schwirrt es einem im Kopf wie die Melodie aus dem alten Lannerschen Walzer »Die Werber«: »Es gibt nur a' Kaiserstadt, es gibt nur a' Wean«, wenn man das reizende Werk »Aus dem Leben eines Wiener Phäaken« 1781-1862 von J. S. Castelli liest. Es ist ein Verdienst von Adolf Saager, die umfangreichen Memoiren dieses einst sehr bekannten und heute vollkommen vergessenen Lustspiel- und Liederdichters Castelli geordnet und in einem nicht zu umfangreichen Bande so zusammengestellt zu haben, daß nur Lebendiges beieinandersteht, und man, ohne einen Augenblick zu ermüden, in dieser Altwiener Atmosphäre schwelgen kann, in den traulichen, alten Theatern, in den verrauchten Bierschänken, in den vielen kleinen Caféhäusern, wo die Schauspieler zusammenkamen. Das bei Robert Lutz erschienene Buch gibt das überzeugendste Bild von jenem Altwien, wo immer Feiertag war, wo sich unaufhörlich am Herde der Spieß drehte, von jenem Wien, dessen Festzeit zwar für immer verrauscht ist, von der aber auch heute noch in den Straßen der Kaiserstadt ein Hauch zu verspüren ist. Österreich wandelt sich langsamer als der Westen, und darum kann man in diesem Lande noch besonders spüren, was wir mit all unserer modernen Zivilisation an tiefem Lebensbehagen verloren haben. Noch immer klingt dort bisweilen »ein rosenrotes Tönen wie von Geigen«. Diese Worte aus dem Anfang der neunziger Jahre entstammen einem Jugendgedicht von Hugo v. Hoffmannsthal. Aber in wieviel volleren Akkorden muß diese Daseinslust geklungen haben in jener Zeit, als Castelli zusammen mit Bauernfeld, Saphir, Carl Maria v. Weber, Grillparzer und vielen anderen mehr oder weniger Vergessenen die Abende in der originellen Gesellschaft der Ludlamshöhle verbrachte. Kulturhistorisch interessant ist es zu lesen, wie die damalige Zensur hinter diesem Schlaraffenleben eine politische Gefahr witterte, weil die Gesellschaft ihren verreisenden Mitgliedern beim Abschiedsmahl einen humoristischen Paß zu überreichen pflegte. Ein solcher Paß wurde in Petersburg in den Taschen eines Wiener Komödianten gefunden. Die Polizei wußte nicht, was sie damit anfangen sollte, schickte das gefährliche Schriftstück nach Wien, wo mit dem ganzen umständlichen Apparat der vormärzlichen Zensur die Ludlamshöhle beobachtet wurde, um dann als staatsgefährlich aufgehoben zu werden.

Castelli besitzt eine außerordentlich feine Beobachtungsgabe und erzählt uns über das Leben und Treiben des Wiener Alltags gerade die Dinge, die uns heute psychologisch und kulturhistorisch am meisten locken. Auch seine Liebesgeschichten sind von großem Reiz. Jene österreichische Innigkeit, die sich durchaus mit einem gewissen Epikureertum zu paaren versteht, spricht aus jeder Zeile. Castelli ist kein Wüstling gewesen, sondern ist bis zu seinem Ende ein naiver Frauenverehrer geblieben, den aber sein leichtes Temperament doch immer wieder von einer Liebesgeschichte in die andre warf. Er hat fast sein ganzes Leben lang als Beamter gelebt, aber in einer jener Sinekuren, die wohl nur in Österreich denkbar sind. Vormittags ging er ein paar Stunden ins Amt, falls er nichts besseres zu tun hatte, und man drückte ein Auge über seine Nachlässigkeit zu, denn er war ja der berühmte Castelli, eine der volkstümlichsten Persönlichkeiten des damaligen Wien. Sehr interessant sind auch seine Reisebeschreibungen. Er begab sich mehrmals in Amtsgeschäften ins Ausland. Als die Franzosen vor Wien rückten, mußte er wichtige Akten seiner Behörde nach Ungarn schaffen, von dessen Sitten und Gebräuchen er ein höchst anziehendes Gemälde entwirft. Ebenso reizvoll ist sein Aufenthalt in Frankreich nach dem Einzug der Verbündeten in Paris. Eine sehr schöne Liebesangelegenheit verklärt diese Zeit. Im Jahre 1848 ließ ihn sein gesunder Menschenverstand die Berechtigung mancher Forderungen des Volkes wohl erkennen, aber als er sah, wohin die Bewegung zu führen drohte, stellte sich der kaisertreue, loyale Mann wieder auf die Seite der Autorität. Bei dieser Gelegenheit wurde ihm fast von den Bauern sein Landhaus gestürmt, aber seine natürliche, das Herz der Landbevölkerung kennende Art ermöglichte ihm, die mit Dreschflegeln und Heugabeln in seinen Garten dringende Masse nach wenigen Worten zu veranlassen, sich mit ihm um den Tisch herum zu setzen, Backhändl zu essen und Heurigen zu trinken und in ihm wieder den alten, prächtigen Castelli zu erkennen, als den ihn ganz Österreich liebte.

Dieses Buch ist weit mehr als Unterhaltungslektüre, obwohl es ausgezeichnet unterhält. Es ist ein kulturgeschichtlicher Beleg ersten Ranges, aber alles ist durch ein so bezauberndes Temperament gesehen, daß man es besonders in grauen, abgespannten Stunden mit Genugtuung lesen wird, obgleich uns bei der Lektüre die Wehmut darüber beschleicht, was für schöne Dinge heute unwiederbringlich dahin sind, und mit welchem unerhörten Preis wir die Segnungen der modernen Zivilisation bezahlen müssen.

 


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