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Napoleon

Aus der ungeheuren Literatur über Napoleon treten drei grundverschiedene, gleich ernst zu nehmende Auffassungen dieser rätselhaften Erscheinung hervor. Die älteste, klassische, und unter den Napoleonfreunden noch immer verbreitetste Auffassung ist die von Thiers. Hier ist Napoleon ein zweiter Alexander, ein Held, ein Halbgott. Thiers strebte mehr ein Homer, als ein Thukydides seines Helden zu sein. Genaue Geschichtsforschung hat ihn in vielen wichtigen Punkten widerlegt, aber das ist der Einbildungskraft eines begeisterten Volkes gleichgültig. Ihrem Heldenbild kann nur ein neues, an dessen Stelle rückendes Bild, nicht ein wenn auch noch so scharfer wissenschaftlicher Beweis gefährlich werden. Ein solches neues Bild schuf Hippolyte Taine. An Stelle des Halbgottes zeigte er in Napoleon den Menschen, aber er hob ihn, ohne zu wollen, in einen romantischen Schimmer, indem er in Napoleon den letzten großen Renaissance-Menschen und italienischen Condottiere zeigte. Auch bei ihm bleibt Napoleon übergroß, aber der Riese ist menschlich und zwar gerade durch seine zahlreichen Härten und Häßlichkeiten, die Thiers verschweigt, um das Heldenbild nicht zu stören, und die Taine gerade hervorhebt, um das Menschenbild zu verdeutlichen. Hier die meisterhafte Schilderung Taines: »Ein guter Condottiere, der sich niemals gibt, sich nur leiht und zwar dem ersten besten oder dem Höchstbietenden, um sich später wieder zurückzunehmen und zuletzt, wenn die Gelegenheit kommt, alles für sich selbst zu ergreifen. Als Condottiere, d. h. wie ein Räuberhauptmann, wird er immer unabhängiger und treibt bei scheinbarer Unterwerfung, unter dem Vorwand öffentlicher Interessen, nur seine Geschäfte und bezieht alles auf sich. So ist er während seines italienischen Feldzuges, vor und nach dem 18. Fructidor, General auf eigene Rechnung und zum eigenen Nutzen, aber ein Condottiere von der größten Art, der nach den höchsten Gipfeln strebt, ohne anderes Stillstehen als den Thron oder das Schafott. Er will Frankreich meistern und von Frankreich aus Europa. Er ist immer mit seinen eigenen Plänen beschäftigt und zwar ohne Zerstreuung. Er schläft drei Stunden die Nacht, spielt mit den Gedanken und den Völkern, mit den Religionen und den Regierungen, alles dies mit einer Geschicklichkeit und Härte, die unvergleichlich sind. Er ist derselbe bei der Wahl der Mittel wie bei der Wahl des Zieles, ein großer Künstler, unerschöpflich in Blendwerk, Verführung, Bestechungen, Einschüchterungen, wunderbar und noch mehr erschreckend, ein prachtvolles wildes Tier, das plötzlich auf eine zahme wiederkäuende Herde losgelassen wird.« ( Les Origines de la France contemporaine, 9. Band.)

Diesen beiden Auffassungen entgegengesetzt ist die dritte, neuzeitlich-sachliche, die russische, wie sie Tolstoj in seinem ungeheuren Epos »Krieg und Frieden« (deutsch in 4 Bänden bei Eugen Diederichs, Jena) zu einer Darstellung gebracht hat, die manche vielleicht am meisten überzeugen wird. Hier ist Napoleon einfach der große Komödiant, der sich und die Welt belügt, das kleine Werkzeug der Vorsehung, die aus unerforschlichen Gründen wollte, daß eine große Menschenbewegung von Westen nach Osten ging, und dann wieder von Osten nach Westen zurückflutete. Sie begann in Paris, reichte bis Moskau, wo sie umkehrte, um wieder in Paris zu endigen.

Der Verlag Robert Lutz in Stuttgart hat sich das Verdienst erworben zur Hundertjahrfeier der Freiheitskriege in seiner Memoirenbibliothek eine Reihe von Bänden erscheinen zu lassen, die in der angenehmsten Weise über die Vorgänge jener Zeit unterrichten. Die Denkwürdigkeiten des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen waren in demselben Verlag schon einmal 1909 erschienen, leider ohne besonderen Erfolg. Boyen gehörte zu jenen Leuten, die niemals, wie ihnen zukommt, gewürdigt worden sind. Seinen Denkwürdigkeiten scheint dasselbe Schicksal vorbehalten zu sein. Neben Scharnhorst gebührt ihm das Hauptverdienst an der Neuschaffung des preußischen Heeres nach Jena, hat er doch das sogenannte Krümpersystem eingeführt, wodurch es möglich wurde, trotz der Beaufsichtigung der französischen Behörden, in Preußen heimlich dienstfähige Männer im Waffendienst auszubilden. Die von Napoleon erlaubte Heeresstärke wurde scheinbar aufrecht erhalten, aber alle paar Monate wechselte die Mannschaft. Es gibt wohl kein Werk, das so lebendig wie Boyens Denkwürdigkeiten die Unterströmungen fühlen läßt, die zwischen 1806 und 1813 dem Großen zustrebten. Jedermann wußte, daß die Auseinandersetzung mit Napoleon kommen würde, aber niemand ahnte, wie es geschehen sollte. An einen Angriffskrieg dachte wohl keiner, Alexander von Rußland ebensowenig, wie der ängstliche Friedrich Wilhelm der Dritte, aber daß man bei einem neuen Angriff Napoleons anders gerüstet sein müßte als 1806, erkannte jeder, selbst der zaudernde König. Wie nun die Kriegsvorbereitungen im geheimen vor sich gingen, schildert Boyen spannend wie eine Romanhandlung. »Mitten unter den feindlichen Landesbehörden und französischen Truppen wurde ein über ganz Norddeutschland bis nach Franken hinein reichendes Beobachtungsnetz durch eine Auswahl solcher Einwohner gebildet, die von Station zu Station jede ihnen bekannt gewordene Veränderung mitteilten, so daß wir beinah täglich die genauesten Nachrichten von allen in diesem Kreise vorkommenden Bewegungen und ein genaues Tableau über die französischen Streitkräfte zusammenstellen konnten.« Diese Tätigkeit war natürlich mit den größten persönlichen Gefahren verbunden, und jeder, der sich ihr hingab, mußte mit dem Schicksal des Buchhändlers Palm rechnen, standrechtlich erschossen zu werden. Die heikle Lage dieser Männer wurde aufs Peinlichste verschlimmert, als sich der König plötzlich doch an Napoleon anschloß. Sie hatten auf vorteilhafte Stellungen in Westfalen verzichtet, sich verdächtig gemacht und waren nun ohne Zuflucht dem Feind preisgegeben. Unter allen möglichen Vorwänden hielten sich französische Beobachter in Deutschland auf. So genoß zum Beispiel ein französischer Hauptmann lange Zeit Scharnhorsts Gastfreundschaft, unter dem Vorwand, dessen Werke ins Französische zu übersetzen. Scharnhorst aber, der gleichzeitig ohne Falsch war wie die Tauben und klug wie die Schlangen, durchblickte den Plan und zeigte seinem täglichen Tischgenossen die größte Unbefangenheit. Als Scharnhorst dem Mißtrauen Napoleons weichen mußte, wurde Boyen an seine Stelle berufen. Zwar nahm er nicht von Amts wegen dessen Platz als Kriegsminister ein, aber mittelbar fiel ihm ein großer Teil der Scharnhorstschen Tätigkeit zu. Mit großer Anschaulichkeit schildert Boyen die Wühlarbeit der sogenannten Maulwürfe, wie er die franzosenfreundliche Umgebung des Königs nannte, deren Ziel war, die Erhebung von 1813 zu hemmen.

Wie alle wirklich großen Preußen, ist Boyen ein hervorragender Schriftsteller. Fast noch in höherem Maße als Bismarck und Moltke besitzt er die Gabe, Orte und Menschen anschaulich zu schildern. So rollen sich in bewegten Bildern die Tage von Breslau im Frühjahr 1813 vor uns ab. Noch bunter geht es in Dresden zu, wo die letzten Hoffnungen der Verbündeten scheitern, Sachsen an ihrer Seite zu sehen. Zum Ärger Friedrich Wilhelms sind in der Gemäldegalerie bereits die wertvollsten Bilder weggenommen, und auf die Frage, warum dies geschehen sei, entschuldigt sich der Galeriedirektor mit dem Hinweis auf etwaige Kriegsereignisse. »Dies nahm nun der König gewaltig übel«, erzählt Boyen, und er sagte ganz laut: »Es ist niemals meine Manier gewesen, andern ihr Privateigentum zu nehmen, und es ist dies eine Beleidigung meiner Gesinnungen und der des Kaisers von Rußland; doch man muß sich nicht wundern, der König von Sachsen hat, wie ich zu meinem Schaden erfahren habe, schon lange die Grundsätze seines Verbündeten angenommen, und da ist denn ein Mißtrauen wegen verdienter Repressalien wohl zu erwarten.«

Das Beste in Boyens Memoiren sind vielleicht die Schilderungen der hervorragenden Persönlichkeiten des großen Dramas. Hier ein Beispiel, die Charakteristik Kutusows: »Kutusow, dieser in der Weltgeschichte merkwürdige Mann, war damals über siebzig Jahre alt. Körperlich klein und wohlbeleibt, würde sein Äußeres eher einen gutmütig heiteren deutschen Bürger, als den Feldherrn angedeutet haben, wenn nicht eine bedeutende und höchst seltene Schußwunde, die auf der einen Seite unter der Schläfe in den Kopf gegangen und auf der andern beinah in derselben Richtung herausgekommen war, dabei das eine Auge hervorgedrängt, das andere ganz zerstört hatte, seinem Gesicht einen kriegerischen Ausdruck gegeben hätte. Beobachtete man diese eben geschilderten Formen genauer, so entdeckte man in dem übriggebliebenen Auge eine noch nicht erloschene Lebendigkeit und bei scheinbar großer Gutmütigkeit schlaue Entschlossenheit.«

Noch reicher als die Boyenschen Denkwürdigkeiten sind die beiden unter dem gemeinsamen Namen »Napoleons Untergang« in demselben Verlag erschienenen, von Kircheisen herausgegebenen Bände, die Memoirenbruchstücke verschiedener Verfasser enthalten, zur Beleuchtung der Ereignisse von 1812 und 1813. H. von Brand führt uns über Smolensk nach Moskau. W. von Löwenstern zeigt uns dieselben Vorgänge von der russischen Seite aus. Er stand im Dienste Barclay de Tollys und Kutusows. Einem größeren Leserkreis noch willkommener als diese Aufzeichnungen sind vielleicht die mehr persönlich-anekdotisch gehaltenen Erinnerungen des Barons von Bourgoing, der mit außerordentlicher Anschaulichkeit Napoleons Trennung von der großen Armee schildert. Bourgoing verteidigt den Kaiser. Er will in seinem Verlassen der Armee weder Egoismus noch Feigheit sehen, vielmehr war nach seiner Auffassung das Durchqueren eines Landes, über das sich bereits die Streifzügler der russischen Armee verbreitet hatten, für den Kaiser ein höchst verwegenes und gefahrvolles Unternehmen. Bourgoing war in jener nebeligen Nacht in Smorgoni Augenzeuge der Abreise des Kaisers. Von seinem Fenster aus sah er zwei reitende Jäger vorübereilen, von jener alten Garde, die während des ägyptischen Feldzugs von dem Konsul Bonaparte gebildet worden war. Ihre dunkelgrünen Mäntel hoben sich von dem weißen Schnee ab; einige Augenblicke später folgte ein Schlitten, dann drei verschiedene Wagen, unter denen das allen so wohl bekannte Kupee des Kaisers kenntlich wurde. Eine Abteilung Soldaten beschloß den Zug. Es war acht Uhr abends. Bei dem Kaiser saß der General Caulaincourt, auf dem Bocke der Mameluck Rustam. Der Kaiser übergab seine Pistolen seiner Umgebung und sagte: »Im Falle ich mich in wirklicher Gefahr befinde, so töten Sie mich lieber, als daß Sie mich den Feinden überlassen.« So fuhr die kleine Karawane durch die siebzehnstündige russische Dezembernacht, von leichtem Nebel begünstigt. Durch die Biwakfeuer, die unregelmäßig am Horizont aufleuchteten, konnte man sich überzeugen, daß man durch feindliche Lager mußte. Der schweigende Zug vermochte die Stimmen der feindlichen Wachen zu hören. Aber seine schwarze Linie zeichnete sich nicht deutlich genug ab, um von den Kosaken, die herumstreiften, erkannt zu werden.«

Besonders fesselnd sind die Erinnerungen der Madame L. Fusil, einer französischen Schauspielerin, die während des Brandes von Moskau diese Stadt bewohnte und die Flucht der großen Armee mitmachte. Sie zeigt sich als eine kühne, entschlossene Frau, die mit großer Geistesgegenwart den furchtbaren Ereignissen zu trotzen und sie gleichzeitig mit weiblicher Lebendigkeit auf dem Papier festzuhalten versteht. Wie eine teuflische Posse wirkt ihre Schilderung des Theaterspiels in dem brennenden Moskau. Napoleon ließ alle Künstler, die sich in der Stadt befanden, zusammenrufen und befahl im Kreml zu singen und Komödie zu spielen. »Dies war äußerst schwierig in einer von unten bis oben geplünderten Stadt. Die Schauspielerinnen besaßen weder Kleider noch Schuhe, die Schauspieler weder Fräcke noch Stiefel. Für die Dekorationen waren keine Nägel, für die Lampen war kein Öl da, und so fort. Man richtete dennoch im Kreml eine Bühne her und ließ ein anderes Theater in der Stadt, das vom Feuer verschont worden war, wieder ausbessern. In den Kasernen der Soldaten fanden sich Bänder und Blumen, und so tanzte man auf den rauchenden Trümmern. Als man uns mitteilte, daß Theater gespielt werden würde, glaubte ich, man scherze, aber nichts war wahrer als das, man spielte bis einen Tag vor dem Aufbruch der Armee, und Napoleon war gegen uns sehr großmütig.«

In dem Bande, der das Jahr 1813 behandelt, finden sich die ausgezeichneten Aufzeichnungen des Freiherrn von Odeleben über Napoleons Charakter und Lebensweise im Feld. Wir sehen ihn in seinem Reisewagen, wie er ißt, wie er schläft, wie er seine Geschäfte erledigt und dazwischen nervös in französischen Romanen blättert, die er, wenn sie ihn langweilen, aus der Kutsche wirft. Wir erfahren, wie der Kaiser, dauernd mit mathematisch-geographischen Berechnungen beschäftigt, die Sorge für das leibliche Wohl und Wehe seiner Soldaten vernachlässigte, wie er von den Zahlmeistern und Intendanten hintergangen wurde und niemand den Mut hatte, ihn über die furchtbaren Zustände in den Lazaretten aufzuklären. Zweifellos ist das mangelhafte französische Verpflegungssystem mit Schuld an dem furchtbaren Elend während des Rückzugs von Rußland gewesen, wie an dem entsetzlichen Zustand Sachsens nach der Einnahme von Leipzig. Napoleon hatte eine psychologische höchst seltsame Abneigung gegen diesen rein materiellen und doch so wichtigen Teil des Kriegswesens.

Odeleben gibt höchst eigentümliche Einblicke in das Leben um die Person Napoleons. Er erzählt, wie aufbrausend und brutal er seine Marschälle anschnauzte, und wie ungezogen unter Umständen kleine Offiziere wagten, dem Kaiser zu widersprechen und mit lebhaftem Gebärdenspiel ihr Recht zu vertreten. Wohl niemals ist in einem Heer zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, ja zwischen dem Kaiser und den Soldaten selbst ein derartig formloser Verkehr gewesen, aber die Erfolge zeigen, wie wenig so etwas in romanischen Ländern bedeutet. Man sollte sich an diese Umstände erinnern bei der Beurteilung des heutigen Antimilitarismus (1913) in Frankreich. Es ist ganz richtig: wenn in Preußen einmal Ähnliches vorkäme, das wäre das Ende vom Lied, denn Preußens Kraft steht und fällt mit der Disziplin. Ganz anders bei den romanischen Völkern. Dort wird eine viel größere Auflockerung der Disziplin zeitweise ertragen, da ein viel größerer persönlicher Schwung im entscheidenden Augenblick die Massen weiterreißt.

Die Aufzeichnungen des Obersten von Löwenstern über die Ereignisse des Jahres 1813 sind äußerst unterhaltend zu lesen, wenn man auch bei der etwas selbstgefälligen Schilderung dieser Reiterstückchen ein wenig geneigt ist, an Jägerlatein zu glauben. Immerhin geben sie die Stimmung in dem Heer der Verbündeten vortrefflich wieder.

Die Schilderung der Schreckenstage von Leipzig durch jenen Leipziger Bürger Hussell, der während der Schlacht in der Stadt eingeschlossen war, erfreuen sich schon lange einer gewissen Berühmtheit. Wir sehen Napoleon in den letzten Tagen vor seinem Zusammenbruch im Verkehr mit dem König von Sachsen, den er schließlich verzweifelt in der Stadt zurückläßt, um selbst den großen Rückzug anzutreten.

Den Schluß dieser Sammlung von Denkwürdigkeiten bildet ein Auszug aus den »Wanderungen und Wandlungen mit dem Reichsfreiherrn Heinrich Karl Friedrich von Stein« von Ernst Moritz Arndt. Arndt wird immer seine Bedeutung in der Geschichte des Journalismus behalten. Er ist einer der ersten, vielleicht der erste Deutsche gewesen, der in einer volkstümlichen, äußerst fesselnden Form Zeitereignisse zu behandeln wußte und durch die Tendenz, mit der es geschah, auf die Massen zu wirken verstand. Dabei ist ihm eine gewisse altfränkische Derbheit eigen, die dem heutigen deutschen Journalismus fehlt; der bemüht sich meist vergeblich, französischen Vorbildern nachzueifern.

Man sollte alle diese Denkwürdigkeiten außer zur privaten Lektüre vor allem den Geschichtslehrern in den höheren und mittleren Schulen zur Ergänzung des Unterrichts empfehlen. Wieviel lebendiger würden den jungen Menschen die Ereignisse werden, wenn sie von Zeit zu Zeit die vielleicht persönlich gefärbten, aber die Geschichte farbig machenden Berichte von Augenzeugen zu hören bekämen. –

Kein Volk ist so leicht wie die Franzosen geneigt, Mißerfolge durch Verrat zu erklären. Nun sollte man meinen, der Begriff des Verräters sei leicht zu umschreiben, wir verstehen darunter einen, der die große Sache im Stich gelassen hat. Die Schwierigkeit entsteht erst, wenn die große Sache selbst allmählich sich verändert und nun gewissermaßen ihr bisheriger Träger der Verratene ist. So etwas war in der preußischen Geschichte damals nicht denkbar. Wer sich 1813 für sein Vaterland einsetzte, für den konnte dieser Begriff nie ungewiß sein. Anders in Frankreich: Waren die durch den Staatsumsturz von 1789 vertriebenen Adligen, die mit den Verbündeten in ihr Vaterland einfielen, um das Königtum wieder herzustellen, Verräter oder nicht? Solange Napoleon mit den Gedanken von 1789 den Ruhm Frankreichs über die Erde trug, war der Begriff der Treue ihm gegenüber für jeden Franzosen klar. Als aber Napoleon, von Größenwahn befallen, sich mit dem Haus Habsburg verschwägerte und auf Kosten Frankreichs seiner krankhaften Ruhmsucht folgte, waren die dann Verräter, die von ihm abfielen? Hat Napoleon III. bei Sedan wirklich Frankreich verraten, oder waren diejenigen Verräter, welche ihn preisgaben und nur in der neuen Republik das Vaterland sahen? Schon bei Beginn des Weltkrieges fragte man sich lächelnd nach den ersten französischen Niederlagen, wen die Franzosen wohl dieses Mal zum Verräter ernennen würden, ja es schien einen Augenblick, als sei bereits ein unbeliebter Führer für alle Fälle von der Regierung vorgemerkt worden. Hoffentlich gelingt es beim Friedenschluß, die Neigung der Franzosen auszunutzen und auf das rechte Ziel zu lenken, sie nämlich erkennen zu lassen, wer sie diesmal wirklich verraten hat.

Das Gegenteil des Verrats ist die Treue. Bei den Deutschen ist sie ursprünglich Mannentreue, von Mensch zu Mensch, vom Vasallen zum Herrn. Dadurch erklärte sich z. B. die Treue der deutschen Balten zum Zaren, während sie sich gleichzeitig in der Gesittung an das Deutschtum klammerten. Die Treue zum Boden oder gar zu einer bestimmten Gesittung ist weniger greifbar als die persönliche Treue und erst später entstanden. Sind nun die Balten Verräter, falls sie vom Zaren abfallen und zu uns hinübertreten, oder aber sind sie es, wenn sie dem Zaren Treue halten auf Kosten ihres Deutschtums? Aus alledem ersieht man, daß unsere Zeit, die alles verwickelt hat, sogar den ursprünglichen Begriff der Treue nicht verschont.

Kehren wir zu Frankreich zurück, dem Land der »Verräter«. Nirgends wird klarer als gegenüber Napoleon I., wie bei den »nach Neuem begierigen Galliern« notgedrungen auch der Begriff der Treue schwanken mußte. Bis zu dem großen Staatsumsturz 1789 hatte der fränkische Adel das Königtum gefestigt. Nach der Enthauptung dieses Adels brach das Galliertum hervor und war bis heute maßgebend in der französischen Geschichte. Für diese Rasse war Napoleon der wahre Held. Was ihn von allen Helden der Geschichte unterscheidet und weshalb man ihm vielleicht mit Fug den Namen »groß« weigern kann, ist das Flüchtige, Meteorhafte in seiner Erscheinung. Er ist kein Baum, der in tiefem, altem Erdreich wurzelt und seine Krone gen Himmel erhebt. Wurzellos, ohne Verbindung mit der Vergangenheit, ist er plötzlich da, und auf der Höhe seines Lebens sinkt er, gefällt, darnieder. So wurzellos sein Werk war, so unfruchtbar blieb es als Ganzes. So wenig wie er an die Überlieferung anknüpfte, so wenig knüpften seine Nachfolger an ihn an, und der Versuch seines Neffen, das Reich des Oheims zu erneuern, nahm ein ebenso klägliches Ende.

Nie wurde daher ein Mensch so sehr verraten wie er, und auch dies beweist den mangelhaften Grund, auf dem er stand, die Zufälligkeit seines Wertes. Als der Staat Friedrichs des Großen nach Jena zu bestehen aufgehört hatte, war die Idee dieses Staates überhaupt nicht getroffen; im Gegenteil: dadurch, daß sie in eine Verteidigungsstellung gedrängt wurde, zeigte sie eine Zähigkeit, die ihr niemand, kaum ihre eigenen Träger, zugetraut hätten; denn diese Idee ist so tief in die Ereignisse verwurzelt, daß sie selbst ohne ihre Verwirklichung im Körperlichen eine Zeitlang weiterzuleben vermochte. Eine Idee des Napoleonischen Reiches dagegen gab es nicht. Zwei oder drei verlorene Schlachten, und das ganze Werk war dahin; selbst der sieche Leib des Kaisers hat die Idee seines Kaisertums überlebt, auf das nichts besser als der abgebrauchte Vergleich von der geplatzten Seifenblase paßt. Wie konnten hier Treue und Hingebung gedeihen, abgesehen von den paar Freundschaften, die jeden nicht ganz unansehnlichen Menschen durchs Leben, ja vielleicht in den Tod begleiten? Ney ist ihm wohl treu gewesen, aber das war doch nichts anderes als Spitzbubentreue. Nachdem er Ludwigs XVIII. Vertrauen erweckt und eine halbe Million aus ihm herausgelockt hatte, kehrte er zu dem von Elba kommenden Napoleon zurück, erzählte ihm den Vorfall und sagte: »Ich habe nicht schlecht über das dicke Schwein gelacht.«

Außer Bertrand verließen ihn alle, Weib und Kind, die besten Freunde und Waffenkameraden bis zu seinem Leibmameluken Rustan, der nach dem ersten Einzug der Verbündeten in Paris geschickt zu verschwinden wußte, um nach der Abholung der Leiche des Kaisers von St. Helena bei der Bestattung im Invalidendom, wo es wieder Glanz und Prunk gab, plötzlich auf seinem alten Hengst in buntem Gepränge noch einmal aufzutauchen. So hat auch Bonaparte nicht der Ruhm im Sinne des Altertums, im Sinne Plutarchs überlebt, sondern nur jener Schemen, den die Franzosen » grandeur« nennen, und den neuzeitliche Fürsten mit Bühnenkünstlern teilen. Das ist der Ruhm demokratischer Zeiten, der mehr auf Blendwerk als wahrhaften Eigenschaften beruht, und der von der jeweiligen Stimmung der Parteien abhängt und besonders von dem für den wahren Ruhm viel unerheblicheren Erfolg. In unserer Zeit hat den demokratischen Ruhm vielleicht am stärksten Roosevelt genossen, der ebenso sinnlos von der Parteien Gunst emporgetragen, als er dann wieder beschimpft wurde. Komödiantenlos! Hier spricht man kaum mehr von Verrat, da von vornherein niemand Treue erwartet.

R. Lutz hat seinen beiden Bänden: 1812, 1813 einen dritten Band: 1814 zur hundertjährigen Erinnerung an Napoleons Untergang folgen lassen. Er enthält wie die früheren Bände geschickt ausgewählte, zum Teil bisher unübersetzte oder vergriffene Aufzeichnungen aus der Zeit, und zwar aus den verschiedensten Lagern. Das Kriegsgeschichtliche, das Politische, das persönlich Psychologische, das Gesellschaftliche und Anekdotenhafte ist in gleicher Stärke berücksichtigt, und das meiste in diesem Buch beweist die Unmöglichkeit der Treue da, wo kein fester Grund ist. Man erlebt darin die Geburt des neuen politischen Geistes jenes sich stets verraten fühlenden Frankreichs. Es ist kein Heldengedicht, dem wir folgen, sondern eine große Oper mit bunten Kulissen und viel szenischer Kunst, gefolgt von der Offenbachiade des Jahres in Elba, das in dem Buch von Augenzeugen besonders ergötzlich geschildert wird.

Der wichtigste Teil des Bandes, um dessentwillen wir ihn hier hauptsächlich erwähnen, sind wohl die Aufzeichnungen des »Verräters«, des Marschalls Marmont, der bei der Einnahme von Paris 1814 zu den Verbündeten überging. Es klingt besonders hart, daß gerade Marmont, der mit Napoleon zusammen auf der Kriegsschule in Paris gewesen und ihm durch persönliche Freundschaft verbunden war, ihm untreu geworden ist. Dennoch läßt sich Marmonts Schritt aus der ganzen Art des Napoleonischen Wesens begreifen, das überhaupt Treue kaum möglich werden ließ. Daß Marmont keine gemeine Seele war, beweist schon seine große Tapferkeit. Während des ganzen Feldzugs trug er infolge einer in Spanien erhaltenen Wunde einen Arm in der Binde. An der anderen Hand waren zwei Finger verwundet worden, so daß ihm überhaupt nur noch drei gesunde Finger zum Tragen seines Degens blieben. Er gibt eine Erklärung für seinen Schritt, die ihn zwar nicht einwandfrei erscheinen läßt, aber ihn doch erheblich mildert: »Für einen Ehrenmann«, heißt es auf Seite 165, »ist es nicht schwer, seine Pflicht zu erfüllen, wenn ihm der Weg vorgezeichnet ist. Aber wie entsetzlich ist es, wenn man in Zeiten lebt, wo man sich fragen muß: Wo ist die Pflicht? Und diese Zeiten habe ich erlebt. Wie glücklich sind doch die, die unter einer sich immer gleichbleibenden Regierung leben, oder die, welche in einer unbedeutenden Stellung dieser Prüfung entgangen sind. Sie sollen sich des Tadelns enthalten, denn sie können keine ihnen unbekannte Angelegenheit beurteilen! Ich sah auf der einen Seite Napoleons, des Freundes und Wohltäters, Sturz, der sicher und schnell kommen mußte, denn alle Verteidigungsmittel waren erschöpft; und die Napoleon feindlich gewordene Gesinnung der Hauptstadt sowie eines Teiles von Frankreich vermehrte all das Unglück, das uns bedrängte. Zog dieser Sturz, der nur einige Tage noch aufgehalten wurde, nicht den Ruin des Landes nach sich? So groß auch mein Interesse (!) für Napoleon war, so konnte ich ihn doch nicht von dem Unrecht freisprechen, das er Frankreich zugefügt hatte. Er allein hatte den Abgrund gegraben, der uns jetzt verschlang. Was hatten wir nicht alles versucht, und ich mehr als ein anderer, um zu verhindern, daß er in den Abgrund stürzte!« Wo die Person des Führers mit dem Land und seinem Wohl eng verknüpft ist, da gibt es für die Gefolgschaft keine derartigen Zwiespalte. Wo es sich aber um ein rein persönliches Unternehmen eines bestenfalls hochbegabten Menschen handelt, da liegt der Umgebung nicht in demselben Maß die Verpflichtung ob, ihm durch dick und dünn zu folgen, wenn er trotz eindringlichen Vorstellungen blindlings in den Abgrund eilt. Die Treue gegen den Kondottiere ist nichts anderes als die Treue gegen einen Unternehmer, sie kann nicht mit der Treue gegen das Vaterland selbst verglichen werden. Trotzdem können wir auch dem verratenen Napoleon das menschliche Mitgefühl nicht versagen, etwa angesichts der 100 jungen Pariser Stutzer zu Pferd, in schwarzen Fräcken, weißen Glacéhandschuhen und weißer Binde um den rechten Arm, die sich, wie der Prinz Eugen von Württemberg (Seite 201) erzählt, unter das Gefolge der verbündeten Fürsten mischten, jedem Offizier übertriebene schmeichelhafte Lobreden spendeten und sich in Schmähungen gegen den vor kurzem noch bejubelten Kaiser ergingen. Waren sie nicht gemeinere »Verräter« als der tapfere Marmont? Am Abend dieses Tages, erzählt der Oberst von Löwenstern (Seite 121) saßen die Pariser im Theater; in der Comédie Française zwangen sie den berühmten bonapartistischen Künstler Talma von der Bühne herab Lobverse auf Ludwig XVIII. und die Bourbonen zu lesen.

Der menschlichste Augenblick in dem Leben des Kaisers war gewiß der bekannte Abschied in Fontainebleau von seinen getreuen Grognards, wobei selbst die fremden Kommissare, die den Kaiser durch Südfrankreich begleiten sollten, zu Tränen gerührt waren (S. 216-217). Vierzehn Tage später zog Napoleon in Elba ein. »Ein aus drei Violinen und zwei Baßgeigen bestehendes Orchester überraschte jetzt diesen zärtlichen Landesvater, der unter einem mit altem Scharlach und neuem Goldpapier ausgeschmückten Baldachin seinen feierlichen Einzug in die Residenz hielt.« (S. 243.)

Kann man da überhaupt entscheiden, wer der Verräter, wer der Verratene ist? Und kündet sich nicht in Napoleon zum ersten Mal im Symbol die große Dissonanz der Auflösung aller überkommenen Begriffe an, die seit 1914 allen vernehmlich die Welt durchkreischt und nun nicht mehr zu übertönen, nur in ganz neue, noch ungeahnte Harmonieen übergeleitet werden kann?


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