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Fünftes Kapitel.
Mutter und Tochter

»Also ist auch Er in seinen alten Tagen noch übergeschnappt? Es ist ausgemacht, scheint's, daß Alles um mich herum den Verstand verliert und ich allein den meinigen behalte, um mich über die allgemeine Narrheit zu ärgern!«

So eiferte die Räthin Führer auf den alten Diener Beppo los, der in ehrerbietig unterwürfiger Stellung vor ihr stand und das Ungewitter gelassen über sich ergehen ließ. Nur zuweilen warf er einen Blick auf ein großes Zeitungsblatt, das er in der Hand hielt, als wenn er sich aus diesem Geduld holen wollte.

Die Räthin ließ sich aber durch die leidende Ergebung ihres Opfers nicht zur Milde bewegen, sondern fuhr in ihrem Unmuthe unerbittlich fort. »Ist so etwas je erhört worden!« rief sie. »Ist der Mensch nicht seit mehr als vierzig Jahren wie das Kind im Hause, hat Freud' und Leid mit uns erlebt, ist mit uns alt geworden, und jetzt mit eisgrauem Kopfe will es ihm auf einmal nicht mehr behagen! Jetzt will er noch in die Welt hinaus, um sein Glück zu versuchen! Es ist, als wenn mir einfiele, noch einmal heirathen zu wollen!«

Sie blieb vor dem Alten stehen und sah ihn, die Arme in die Hüften gestemmt, an. »So sag' Er nur, Er altes Kind, was Ihm im Hause nicht mehr behagt? Warum will Er denn fort?«

»Ich habe Ihnen schon gesagt, Frau Räthin«, erwiderte Beppo, »daß ich nicht deshalb fort will, weil es mir in Ihrem Hause nicht mehr behagt; es ist mir ja wie ein Vaterhaus lieb geworden, aber –«

»Nun, was aber?«

»Aber ich hab' es selbst nie so gewußt und gefühlt, daß ich in dem Lande nicht daheim bin, daß ich auch ein Vaterland habe, als ich das jetzt fühle, seit ich die neuen Nachrichten von dorther gehört habe.«

»Laß Er mich mit seinem Vaterland und seinen neuesten Nachrichten zufrieden! Es ist eben derselbe Schwindel, der den Leuten in Italien die Köpfe verrückt, wie hier! Was wird ihm sein Vaterland viel helfen! Er wird keinen Menschen mehr dort kennen, und Er wird auch ein Wildfremder für alle sein. Es ist nicht so glänzend dort, das könnte Er von seiner Jugend her noch wohl wissen!«

Der Alte sah einen Augenblick vor sich hin und seine Augen schimmerten, als ob sie feucht geworden wären. »O Frau Räthin«, sagte er, »ich bin nicht undankbar! Ich habe es nicht vergessen, daß ich ein blutarmer Bursche war, als ich nach Deutschland kam. Niemand wollte mein schönes Schattenspiel sehen und ich wäre bald vor Hunger und Kälte in dem ungewohnten Klima zu Grunde gegangen. Da fand mich der Herr Rath, damals auch noch ein junger Herr, an der Landstraße und hat sich meiner angenommen und hat mich lieb gehabt bis –«

Der gerührte Alte vermochte nicht weiter zu sprechen. Auch die Räthin wurde etwas milder gestimmt. »Na, meinetwegen«, sagte sie, indem sie sich der Thür näherte und sie öffnete, »ich kann Ihn nicht halten und nicht zwingen zu bleiben, aber mit meinem Willen geschieht's nicht, daß Er geht!«

Sie ging. Beppo blieb wie unschlüssig noch eine Sekunde stehen und wollte sich eben kopfschüttelnd entfernen, als Ulrike aus einem Seitenzimmer trat. Sie war in reizender Abendtoilette, die sie nicht für die einsamen Zimmer ihrer Wohnung gemacht zu haben schien.

»Haben Sie dem Kutscher meinen Befehl gebracht?« fragte sie.

»Ja, Signora«, antwortete Beppo. »Punkt sieben Uhr wird er vorfahren.«

»Gut, gehen Sie, aber«, fuhr sie fort, ihn näher ins Auge fassend, »was haben Sie denn, Beppo? Sie sehen wie bestürzt aus? Was ist Ihnen zugestoßen?«

»Mir ist nichts Uebles zugestoßen, Signora«, erwiderte der Alte, »die Frau Räthin haben mir nur ein wenig die Meinung gesagt!«

Ulrike lächelte. »Ich verstehe«, sagte sie dann, »das kommt ja in neuerer Zeit immer öfter vor! Was war denn die Veranlassung?«

»Ich habe um meine Entlassung gebeten!«

Ueberrascht sah ihn Ulrike an. »Sie wollen fort? Wohin? Weshalb?« fragte sie.

»Ich bin nicht mehr im Stande, die Sehnsucht nach meinem Vaterlande zu bemeistern, ich muß Italien noch einmal sehen, muß noch einmal Rom und die Tiber sehen!«

»Sonderbar, und erst jetzt, nach so langer Zeit der Abwesenheit, in Ihrem Alter kommt Ihnen dieser Wunsch?«

»Ich will Ihnen sagen warum, Signora, Sie verstehen mich gewiß und werden mich nicht ausschmälen wie die Frau Räthin, die mich einen Undankbaren nennt. Sehen Sie hier das Zeitungsblatt. Sehen Sie, Signora, da steht's, auch Italien, auch Rom hat sich erhoben, auch Italien will frei sein und wird es sein! Kann ich nun noch länger hier in der Fremde bleiben? Sapete bene ch' all' Italia fin adesso non mancava altro che la libertà per essere il paradiso. Bisogno vedere questo paradiso!

›Senza dubio non ci avete piu parenti?

Avro almen un sepolcro nell' Italia libera.‹«

»Nun wohl«, sagte Ulrike, »Sie sollen nicht aufgehalten sein, dem zu folgen, worin Sie Ihr Glück suchen. Ich werde mit meinem Mann sprechen.«

Der Alte haschte wie begeistert nach Ulrikens Hand, die er ehrerbietig und feurig küßte. »Oh, vi ringrazio!« rief er, »vi ringrazio!« und entfernte sich freudig.

Die wieder eintretende Räthin hatte die letzten Worte noch gehört. »Der alte Schwärmer«, sagte sie, »ist nun gewiß zu Ihnen gekommen, mein Kind, weil ich ihm kein Gehör schenkte. Nicht wahr, er hat auch von seiner Thorheit erzählt, daß er auf einmal Knall und Fall nach Italien will?«

»Das hat er allerdings gethan«, erwiderte Ulrike und nahm auf dem Sopha Platz, während die Räthin sich an ihre gewohnte Stelle in der Fensternische setzte und sich Arbeit zurecht legte.

»Kann mir's denken«, begann die letztere dann wieder. »Der alte Mensch ist wie umgewandelt, und zu Ihnen hat er immer besonderes Zutrauen, weil Sie ihm erlauben, in seiner Sprache mit ihm zu reden. Ohne Zweifel haben Sie ihm seine Thorheit vorgehalten und ihm den Kopf zurecht gesetzt?«

»Das eben nicht«, antwortete Ulrike und blätterte leicht in einem Buche, das sie ergriffen hatte. »Ich meinte, es sei eben nichts Unrechtes, wenn er durchaus sein Vaterland wiedersehen will. Deshalb habe ich ihm versprochen, mit Friedrich zu sprechen und ein Fürwort für sein Gesuch einzulegen.«

Die Räthin ließ die Arbeit einen Moment auf das Tischchen sinken. »So?« sagte sie gedehnt. »Doch auch das hätte ich denken können, bin ich doch schon seit geraumer Zeit so unglücklich, immer verschiedener Meinung mit Ihnen zu sein. Sie werden es aber mir darum nicht verargen, wenn ich dennoch bei meiner Meinung bleibe. Ich sage, der Alte ist kindisch geworden vor Alter, und statt ihn in die weite Welt laufen zu lassen, wäre es besser, ihn einzusperren!«

Ulrike lachte. »O nicht doch!« sagte sie. »Sie thun dem guten Alten doch wohl zu viel und nehmen die ganze Sache zu schlimm. Daß einem der Wunsch kommt, sein Vaterland wiederzusehen, ist am Ende wohl etwas Verzeihliches, und begreifen läßt es sich auch, wenn in einem Italiener dieser Wunsch gerade unter den jetzigen Umständen entsteht.«

»Freilich, freilich«, erwiderte die Räthin in steigendem Unmuth. »Was läßt sich nicht Alles begreiflich machen und begreiflich finden, wenn man will! Entschuldigen Sie nur meinen alten störrigen Kopf, der sich ins Begreifen nicht mehr recht schicken will. Bei Ihnen ist das freilich etwas Anderes. Sie gehören auch der neuen Zeit an, die es nirgends zu erleiden vermag und immer hinausdrängt in die Welt, immer hinaus! Drum nehmen Sie den alten Gecken in Schutz, weil er auch hinauswill.«

Ulrike schwieg. Eine zornige Aufwallung stieg in ihr auf, aber sie that sich Gewalt an und kämpfte sie nieder. »Ich bitte Sie«, sagte sie dann, »ereifern Sie sich doch nicht so sehr wegen solcher Kleinigkeiten. Die Beziehungen, die Sie in Ihre Worte zu legen scheinen, könnten uns zu weit führen.«

»Es ist nicht meine Art, Beziehungen in das zu legen, was ich sage«, entgegnete die Räthin spitzig. »Ich bin so frei, was ich sagen will, gerade herauszusagen. Wenn sich Beziehungen finden, mag es wohl daher kommen, daß man sich mancher Dinge bewußt ist, auf welche sie vielleicht passen.«

Ulrike stand auf. Im nämlichen Augenblicke hörte man im Hofe einen Wagen vorfahren. »Wir wollen abbrechen«, sagte sie, »es wird das Klügste sein.«

Die Räthin bemerkte den Wagen und nahm zugleich wahr, daß Ulrike vor den Spiegel getreten war, ein Tuch umlegte und sich so zum Ausgehen bereit machte.

»Wollen Sie heute noch aus?« fragte sie dann. »Ich sehe jetzt erst, daß Sie vollkommen angezogen und geputzt sind.«

»Allerdings, ich fahre zur General Helmhang. Es ist heute unser Gesangkränzchen bei ihr«, erwiderte Ulrike, indem sie ihren Anzug vollendete.

»Aber ich bitte Sie um des Himmels willen, Frau Tochter«, begann die Räthin, deren Unmuth die schon lange nur mühsam erhaltene Fassung zu durchbrechen begann, »wo soll denn das hinaus? Schon wieder in Gesellschaft! Ich weiß nun schon gar nicht, was Sie bei den fremden Leuten und in dem Getreibe für Vergnügen finden. Ihnen macht es einmal Vergnügen, aber was zu viel ist, ist zu viel! Sie sind ja mehr außer dem Hause als im Hause; kaum daß man Sie über Tisch zu sehen bekommt, und daß Sie einen Abend bei uns zugebracht hätten, erinnere ich mich fast gar nicht mehr!«

»Hat sich Friedrich darüber gegen Sie geäußert?« fragte Ulrike, indem ein eigenthümliches Lächeln über ihre Züge ging.

»Ei, was wird der sagen!« fuhr die Räthin fort. »Der ist die Güte selbst und hat Sie viel zu lieb, aber Sie können sich doch selber vorstellen, was er fühlen und denken muß! Da kommt er aus seinem schweren, sorgenvollen Berufe, nachdem er sich müde und matt gearbeitet, nach Hause. In seiner einfachen, schlichten Art will er da die Erholung von seiner Mühe und den Lohn dafür suchen, und der Platz seiner Frau ist leer! Die er sich zur Lebensgefährtin ausgewählt hat, schwärmt in Gesellschaften, Theatern, Concerten und was weiß ich in welchen Unterhaltungen herum und läßt ihre erste Pflicht unerfüllt!«

»Ich bin Ihnen für Ihre Bemühung, mir meine Pflichten ins Gedächtniß zurückzurufen, sehr verbunden«, antwortete Ulrike kalt und hochmüthig. »Es war jedoch vollkommen überflüssig! Ich weiß selbst –«

»Nein, Sie scheinen nicht zu wissen«, unterbrach sie die Räthin heftig; »es ist durchaus nicht überflüssig, Sie an Ihre Pflichten als Hausfrau und Gattin zu erinnern! Aber der Grundfehler ist bei Ihnen, daß Sie nichts arbeiten, daß sie müßig gehen, und Müßiggang ist aller Laster Anfang. Ein bischen auf dem Klaviere klimpern, einen Roman lesen und, wenn es hoch kommt, ein bischen sticken oder häkeln, das ist den ganzen Tag über Ihre Beschäftigung! Drum haben Sie Langeweile und denken, um die zu vertreiben, auf lauter Unterhaltungen! Ich sag' es Ihnen, Frau Tochter, für Sie ist die Erhöhung meines Sohnes kein Glück gewesen, die hat Ihnen den Kopf verdreht, daß Sie meinen, Sie müssen es den vornehmen Müßiggängerinnen gleichthun. Sehen Sie sich im Hause um, nehmen Sie sich irgend einer Sache an, das wird Ihnen die dummen Gedanken vertreiben und steht der Frau Minister so gut wie der Frau Professor! Sie müssen anders werden, das sage ich Ihnen, sonst nimmt es kein gutes Ende. Ja, wenn Sie auch den Mund noch so spöttisch verziehen, ich – ich sage Ihnen das; ich habe das Recht, Ihnen das zu sagen, Frau Tochter, denn es ist mein Sohn, den ich nicht durch Sie unglücklich gemacht wissen will.«

»Wie sehr ich Sie als die Mutter meines Gatten verehre und achte«, begann Ulrike, als die Räthin erschöpft inne hielt, »habe ich Ihnen wohl am besten dadurch bewiesen, daß ich alles das schweigend angehört habe. Nur eine Bemerkung erlauben Sie mir dagegen. Wenn mein Mann mir etwas über meine Lebensweise sagen würde, würde ich überlegen und wissen, was ich zu thun hätte, noch hat er es nicht für nöthig gefunden. Ermahnungen jeder dritten Person aber bin ich so frei zurückzuweisen!«

Sie verneigte sich förmlich und ging. Der Wagen rollte fort und ließ die Räthin in sehr unangenehmen Gedanken und Bildern zurück. Es begann völlig zu dämmern und wurde ganz dunkel; sie bemerkte es in ihrem Brüten ebenso wenig, als daß der Winter, der bereits seit geraumer Zeit mit voller Stärke eingetreten war, vor den Fenstern ein dichtes Schneegestöber umtreiben ließ.

Erst als Beppo mit Licht eintrat und ihm Friedrich folgte, riß sie sich aus ihrem Sinnen auf, ihn zu begrüßen.

Friedrich hatte einen Brief in der Hand, den ihm Beppo eben übergeben hatte und den er nach den ersten Begrüßungen las. »Mutter«, sagte er dann, »lassen Sie das kleine Eckzimmer neben der Bibliothek heizen.«

»Heute noch?« fragte die Räthin verwundert. Etwas näher zu ihr hintretend, damit es Beppo nicht höre, der eben beschäftigt war, den Tisch zum Abendessen zu decken, erwiderte Friedrich: »Dies Billet kündigt mir für heute Abend noch einen seltsamen Besuch an, den ich dort am besten empfangen kann. Das Zimmer ist abgelegen. Lassen Sie auch Punsch machen und bereit stellen.«

Die Räthin nickte. »Wo ist Ulrike?« fuhr er fort, als er bemerkte, daß Beppo nur zwei Gedecke auf den Tisch gelegt hatte. »Werden wir allein speisen?«

»Deine Frau ist ausgefahren«, erwiderte die Räthin, »es ist heute Gesangkränzchen bei der Generalin.«

Friedrich schwieg. Auch die Räthin hielt an sich, bis Beppo das Abendessen aufgetragen und sich auf einen Wink entfernt hatte.

»Du wirst vielleicht ungehalten über mich sein«, begann die Räthin, »wenn ich Dir sage, daß ich mit Deiner Frau einen ziemlich heftigen Auftritt gehabt habe.«

»Das ist mir in der That sehr unlieb zu hören«, erwiderte Friedrich staunend. »Wie ist das gekommen und weshalb?«

»Ach, fange Du mir nicht auch an, mich zu ärgern! Stelle Dich nicht, als ob Du das nicht errathen könntest!« rief die Räthin. »Ich habe ihr meine Meinung über ihre Lebensweise gesagt und daß es nicht recht ist, daß sie fast jeden Abend außer dem Hause zubringt, in das sie nun einmal gehört.«

»O, das hätten Sie nicht thun sollen, Mutter. Sie können nicht sagen, daß ich, als ihr Mann, mich je mißbilligend geäußert habe, also –«

»Also ginge es mich auch nichts an? Nicht wahr? O, ich hab's verstanden, wenn Du mir auch die Pille vergoldest, die mich die Frau Tochter recht ungenirt hinunterschlucken ließ. Für sie bin ich schon nichts mehr, als eine wild- und landfremde Person, sie hat es mir rund heraus erklärt, daß sie jede Ermahnung einer dritten Person zurückweise.«

»Ich wollte das nicht sagen, Mutter. Sie wissen ja, wie ich über solche Dinge denke und wie lieb ich Sie habe, aber ich meinte nur, es würde besser gewesen sein, wenn Sie abgewartet hätten, bis ich mich in Ihrem Sinne geäußert hätte. Jedenfalls wäre die Sache am geeignetsten doch zuerst zwischen mir und Ulrike zur Sprache gekommen.«

»Das läuft auf eins hinaus«, erwiderte die Räthin. »Ich hätt' es auch wohl können bleiben lassen, mich einzumischen, aber der Aerger riß mich eben hin! Ich war schon über Beppo und seine alberne Reiselust ungehalten – er wird Dir schon gesagt haben, was er vorhat?«

»Ich weiß davon«, entgegnete Friedrich.

»Nun also«, fuhr die Räthin fort, »ich hatte dem Alten eben tüchtig den Kopf gewaschen, Deine Frau war, wie natürlich, anderer Meinung, und so gab ein Wort das andere. Freilich hätt' ich abwarten können, bis Du selbst den Mund aufgethan hättest, aber da hätt' ich wohl lange warten dürfen! Du bist allzu gut und bist allzu sehr in Deine schöne Frau vernarrt, als daß Du ihr ein hartes, ernsthaftes Wort sagen könntest, und so ist es doch recht gut gewesen und reut mich auch gar nicht, daß die alte Mutter etwas früher an den Zünder gekommen ist. Nun mußt Du reden. Du magst wollen oder nicht!«

»Es ist mir unangenehm genug«, antwortete Friedrich nach einigem Nachdenken. »Ulrike ist lebhaft und lebenslustig; das neue Leben, in das sie so plötzlich und so unvermuthet eingetreten ist, hat sie durch die Neuheit seiner Vergnügungen mit fortgerissen. Sie läßt sich auf der spiegelnden Flut in kindischem Vergnügen forttreiben –«

»Bis der Kahn«, fiel die Räthin ein, »an einen Felsensturz kommt und mit dem spielenden Kinde in den Abgrund stürzt!«

»So weit soll es nicht kommen«, lächelte Friedrich. »Ein kundiger Steuermann kann noch wohl vorbeugen, wenn es nöthig werden sollte; ich fürchte das aber nicht, weil ich Ulrike und den edlen Kern ihres Gemüths kenne. Lassen wir ihr noch eine Weile das Vergnügen an den bunten künstlichen Blumen, bald wird sie sich selbst überzeugen, daß ihnen Duft und Leben der echten Blumen fehlt. Ihre Rückkehr wird dann, weil freiwillig, desto erfreulicher und gründlicher sein!«

»Gott gebe, daß Du Recht behältst«, sagte die Räthin ernst. »Ich verlasse mich lieber auf den Steuermann als auf die andere Hoffnung. Ich will Dich damit nicht kränken, mein Sohn, aber ich meine, wenn eine solche freiwillige Umkehr zu erwarten stünde, so hätte sie in der langen Zeit schon vor sich gehen müssen. Es wird aber immer ärger und seit dem Ball auf dem Rathhause ist vollends gar kein Halten mehr!«

»Nun, nun, Mütterchen«, sagte Führer, indem er sich erhob und der Räthin lächelnd die Hand drückte, »ereifern Sie sich nicht nochmals. Was geschehen muß, wird geschehen. Das Wann aber überlassen Sie mir und haben Sie bis dahin Nachsicht mit Ulrike! Ihr Unwille ist nur ein Beweis Ihrer großen Liebe zu mir, thun Sie es denn mir zu Liebe, daß Sie ihre Schwäche noch eine Weile ertragen!«

Da die Räthin seinen Händedruck blos stillschweigend erwiderte, fuhr er fort: »Lassen Sie nun bereiten, um was ich Sie gebeten habe. Mein Gast hat sich bis um neun Uhr angekündigt. Ich will indeß noch einen Gang ins Freie thun und nach dem vielen Sitzen Luft schöpfen. Und nun, denn Sie werden doch wohl bald zu Bette gehen, herzlich gute Nacht!«

Er ging. Die Räthin sah ihm lange mit einem Blicke nach, in welchem der wärmste Segenswunsch eines liebevollen Mutterherzens schimmerte. Dann erhob sie sich, um nach der Küche zu sehen und den verlangten Punsch anzuordnen. An der Thür trat ihr Beppo geheimnißvoll entgegen.

»Draußen«, sagte er, »steht ein Mann, der dringend mit Ihnen zu sprechen begehrt.«

»Mit mir? Um diese Zeit?« antwortete staunend die Räthin. »Er wird sich verhört haben, meinen Sohn wird der Mann sprechen wollen.«

»Nein, nein«, antwortete Beppo, »ich habe ganz recht gehört. Er will zu Ihnen, zur Frau Räthin Führer, sagte er; er habe Ihnen etwas sehr Wichtiges mitzutheilen, was den Herrn Sohn betrifft.«

»Meinen Sohn? So laß Er ihn hereinkommen.«

»Er will aber von Niemand gesehen sein; er käme jetzt, sagte er, weil er den Herrn Minister eben habe fortgehen sehen.«

»Sonderbar!« sagte die Räthin kopfschüttelnd. »Doch wer weiß, was dahinter steckt. Hören muß ich den Mann doch. So mach' Er, daß die Mägde ihn nicht ins Haus kommen sehen, und führ' Er ihn gleich in die grüne Eckstube. Jedenfalls aber bleib' Er in der Nähe.«

Kurze Zeit hernach trat die Räthin in das bezeichnete Zimmer, wo sie einen großen alten Mann, in einen dunklen Mantel gehüllt, antraf, während Beppo, auf dem Gange auf und ab gehend, Wache hielt.

Der Fremde war Overbergen.

»Ich komme wie der Dieb um Mitternacht«, sagte er feierlich, die Eintretende begrüßend, »aber was ich bringe, wird mich entschuldigen, denn es gilt den Dienst des Herrn.«

Ueberrascht blickte die Räthin den Sprechenden an, als wollte sie fragen, was die ungewöhnliche Einleitung bedeute. »Ich will mich kurz fassen«, fuhr dieser fort, »denn meine Zeit ist gemessen. Sie, würdige Frau, sind eine der wenigen Auserwählten, welche sich in diesem unglücklichen Lande, das sich ganz dem reformirten Glauben zugewendet hat, zu der einen wahren und seligmachenden Kirche bekennen –«

»Ich bin Katholikin«, erwiderte die Räthin.

»Darauf bauend, schicken mich unsere unterdrückten Glaubensgenossen an Sie.«

»An mich?«

»Ihrem Sohne ist das Vertrauen des Herzogs in seltenem Grade zu Theil geworden, es steht bei Ihnen, daß aus ihm ein auserwähltes Rüstzeug des Herrn werde und die spätesten Geschlechter ihn segnen.«

»Bei mir stünde das?«

»Bewegen Sie ihn, daß er seine Macht dazu gebrauche, der Kirche alle die Rechte wiederzugeben, die Unglaube und Bosheit ihr entrissen haben, daß er –«

»Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche. Was mein Sohn in seinem Amte thut, hat er vor Gott zu verantworten, wie könnte ich alte ungebildete Frau mir in den Sinn kommen lassen, ihm dabei dreinzureden!«

»Nicht die Bildung ist es, auf die es hier ankommt, sondern ein brennendes, gläubig begeistertes Herz! Dieses muß zu Ihrem Sohne sprechen, dieses sprechen zu lassen ist Gewissenspflicht!«

Die Räthin schwieg einen Augenblick. »Sollten Sie nicht wissen«, sagte sie dann, »daß mein Sohn, wie sein Vater, nicht von unserm Bekenntnisse ist?«

»Wir wissen das, aber wir wissen auch, daß der Einfluß einer Mutter groß ist auf einen gehorsamen Sohn.«

»Es will mir nicht recht einleuchten, wozu ich diesen Einfluß, wenn ich einen solchen hätte, anwenden sollte. Nach meinem geringen Verständniß hat der Herzog das, was Sie verlangen, bereits gethan. Er hat die Gewissen frei gegeben – kann man da noch sagen, daß ein Glaubensbekenntniß gedrückt sei?«

»O Kurzsichtigkeit des menschlichen Verstandes!« rief Overbergen salbungsvoll. »Was soll dieser Schein von Freiheit, der ärger ist als alle Sklaverei? Das kann nur die Kirche von ihrem erhabenen Standpunkt aus beurtheilen – die Kirche ist nicht frei, wenn sie nicht herrschen kann!«

»Aber wie wäre das möglich?«

»Der Himmel hat das Herz einer hohen Person gerührt, daß sie ihren Irrthum erkannte und wieder in den Schooß der Mutter zurückkehrte, bei der allein Heil zu finden ist. Auch in der Stadt und überall im Lande hat der Geist durch die stillen Bemühungen gottseliger Männer eine große Anzahl Herzen erweckt, daß sie sich nach dem wahren Lichte sehnen und vor Begierde brennen, ihren Glauben offen aussprechen zu dürfen. Wenn Sie denn nicht direct für uns wirken wollen, bewegen Sie Ihren Sohn doch, daß er unserer Thätigkeit nicht entgegentritt. Ja, sobald er sie, wenn nicht befördert, doch so zu sagen übersieht, so sind wir zufrieden. Es wird dann ein Leichtes sein, allmälig immer festern Fuß zu fassen, das ganze Land zum Seelenheile zurückzuführen und das zu erreichen, was wir wollen.«

»Ich bedauere«, erwiderte die Räthin nach einigem Besinnen, »daß Sie sich dieserwegen zu mir bemüht haben. Wie ich auch für meine Person über solche Dinge denke, ich kann mich meinem Sohne gegenüber nicht zu der gewünschten Thätigkeit hergeben.«

»Wie, Sie weigern sich, zu einem so erhabenen, frommen Werke mitzuwirken?«

»Ich bin meinem Glauben mit Liebe und Wärme zugethan, es ist nichts an ihm, weshalb er das Licht zu scheuen hätte; darum gehören vor meinen Augen auch solche Heimlichkeiten, wie Sie vorhaben, nicht zum Glauben!«

Overbergen sah einen Augenblick vor sich hin. »Ihr Sohn«, sagte er dann, »ist, soweit wir ihn kennen, kein Gottesleugner. Die ersten Erfolge der gewährten Gewissensfreiheit könnten ihn überzeugt haben, daß er eine Giftsaat gesäet hat. Wie Pilze sind über Nacht die freien Gemeinden, diese Ausgeburt der Hölle, emporgewachsen. Mit diesem ganz heidnischen Treiben können auch Sie nicht einverstanden sein. Bewegen Sie ihn denn wenigstens, daß er hier einschränkend entgegentritt und nicht duldet –«

»Der Hauptgrund, warum ich Ihren ersten Wunsch ablehnen mußte«, antwortete die Räthin, »ist, weil ich nicht thun will, was meines Amts nicht ist. Es ist freilich schlimm, wenn derlei vorkommen kann, aber ich kann so wenig dazu oder davon thun, als wenn ich höre oder lese, daß das Feuer eine halbe Stadt verschlungen oder daß das Wasser eine ganze reiche Gegend zerstört hat, ich kann nur zu dem hinaufblicken, der allein weiß, warum er solches Unheil in seiner schönen Welt zuläßt.«

»Bedenken Sie, was Sie thun, würdige Frau«, rief Overbergen mit Pathos. »Mit meinem Antrag schlagen Sie eine Warnung in den Wind, die für Ihren Sohn von höchster Wichtigkeit ist! Geht er nicht auf unsere Absichten ein, beschränkt er nicht wenigstens das Treiben jener Unchristen, so bereitet er uns allerdings einen Kampf, aber einen Kampf, den wir nicht fürchten und der nur zu seinem Nachtheile enden wird!«

Die Räthin besann sich einen Augenblick. »Sie drohen«, sagte Sie dann, indem sie Overbergen mit bedächtigem Blicke maß, »ungeachtet Sie kurz vorher von Unterdrückung sprachen? Nun denn, ich will meinem Sohne den Inhalt unserer Unterredung mittheilen, aber nur als Warnung; er mag dann thun und beschließen, was er für gut hält. Doch nur unter einer Bedingung will ich das thun.«

»Diese Bedingung?« fragte Overbergen gespannt.

»Daß ich ihm auch den Namen seines Warners nennen kann«, fuhr die Räthin mit festerer Betonung fort.

»Wozu das?« rief Overbergen. »Was thut der Name zur Sache?«

»Mich dünkt doch, der Name sei eben hier von Bedeutung«, erwiderte die Räthin und schritt zur Thür. »Wenn Sie jedoch Gründe haben, aus demselben ein Geheimniß zu machen, so sind wir zu Ende.«

Damit öffnete sie die Thür und verbeugte sich. »Joseph«, rief sie, »geleit' Er den Herrn hinaus.«

Finster und tief in den Mantel gehüllt, schritt Overbergen dem voranleuchtenden Diener nach.

Die Räthin begab sich in ihr Schlafzimmer.

»Was man nicht Alles erlebt!« sagte sie vor sich hin. »Soll ich meinem Sohne von der sonderbaren Unterredung etwas sagen oder nicht? Ich will mir's beschlafen und Gott bitten, daß er mich das Rechte finden läßt!« Sie griff nach ihrem Gebetbuche, um ihre Nachtandacht zu verrichten. Damit kam Ruhe und Ergebung in ihr Gemüth, sie löschte das Licht und entschlief.

Nach Verlauf einer halben Stunde wurde leise ans Hofthor geklopft. »Wer da?« sprach Beppo, der an demselben Wache gehalten hatte. »Es ist neun Uhr«, antwortete eine gedämpfte Stimme von draußen. »Kommen Sie herein«, sagte Beppo, die Eingangsthür in dem großen Thore öffnend. »Es ist Alles bereit.«

Ohne den Angekommenen zu besehen, schritt er ihm quer durch den Hofraum nach der Ecke voraus, in welcher der Ueberrest eines Thurms stand, dessen Erdgeschoß nun zu einem kleinen niedlichen Zimmer umgewandelt war. In diesem pflegte Friedrich, da es in den Garten ausmündete, im Sommer zu studiren und zu arbeiten. Durch einen kurzen, schmalen Gang hing dasselbe mit dem ehemaligen Speisesaale des Klosters zusammen, welcher nun zur Bibliothek eingerichtet war. An diesen stieß das jetzige Wohngebäude, aus welchem eine kleine gewundene Treppe in den Saal herunterführte. Jetzt empfing den Eintretenden eine behagliche Wärme, welche sich bei der draußen herrschenden starken Winterkälte um so angenehmer empfand. Neben dem Ofen lud ein kleines Sopha zum Ausruhen ein; vor demselben auf einem runden Tische stand, sanfte Helle verbreitend, eine Kugellampe und von der Durchsicht des Ofens her aus einer stattlichen Terrine zog der Duft von würzigem Punsch einladend durch das Gemach.

Stumm entfernte sich Beppo; bald verhallten seine Schritte und die tiefste Stille waltete durch das Zimmer, in welchem nun der Fremde, den Mantel ablegend, behaglich Platz nahm.

Bald kam auch Friedrich nach Hause und schritt, auf Beppo's Meldung, daß er erwartet werde, dem Thurmzimmer zu. An der Thür verabschiedete er den Alten und trat ein.

»Nun, Du Sonderling«, redete er den Fremden, der ihm grüßend entgegentrat, an, »habe ich es Dir recht gemacht? Sind die Vorbereitungen alle nach Deinem Wunsch?«

Ueber alle Erwartung!« lachte Riedl, denn er war es. »Dein alter Beppo hat mich nicht mit einem Blick angesehen und so geheimnißvoll empfangen, wie weiland einen Boten der heiligen Vehme.«

»Gut also«, erwiderte Führer, »Du siehst, daß ich Dir die brüske Art, mit der Du mich verließest und über die ich wohl das Recht hätte, ungehalten zu sein, nicht nachtrage, aber nun rücke mit den Mittheilungen heraus, die Deine wiederholte Mummerei und all diese geheimnißvollen Anstalten rechtfertigen.«

»Nicht doch! Gedulde Dich damit!« rief Riedl, indem er die Punschbowle auf den Tisch stellte, die Gläser füllte und sich behaglich eine Cigarre anzündete. »Laß uns erst des Wiedersehens froh werden, eh' wir uns durch Gedanken und Erörterungen über die Art erbittern, wie wir uns wiedersehen!«

Er stieß mit dem lächelnden Freunde an. »Wie sich's fügen kann!« rief er. »Der mächtige Minister sitzt mit dem halbflüchtigen Demokraten bei einem Glase Punsch zusammen, in bonissima caritate, als wären wir noch die harmlosen Studenten der alma Augusta!«

Friedrich vermied es nicht, auf die Ideenreihe einzugehen, die Riedl's Wort vor beiden aufthat. Er folgte mit Vergnügen, als Riedl Erinnerungen jener Zeit hervorzurufen anfing und sie mit Liebe und Humor ausmalte. Auch sein Auge weilte nicht ungern aus diesen Bildern, die vor ihn traten wie die Aussicht auf eine schöne durchwanderte Landschaft, die sich vor dem Wanderer im Dunkel des Hochwaldes durch eine Lichtung überraschend plötzlich aufthut. So entspann sich ein munteres, von Witz und Gelächter belebtes Gespräch, über dem ein Stündchen rasch verflog.

Draußen hatte der Wintersturm nach kurzer Ruhe mit doppelter Wuth begonnen. Ein heftiger Wind brauste durch die Bäume des Gartens und heulte zwischen den Mauern, die ihn einzwängten, in raschen Stößen hin.

Dieser Lärm, sowie die Entfernung des Gemachs und der hoch liegende Schnee, welcher das Rollen der Räder dämpfte, waren die Ursache, daß weder Friedrich noch Riedl es hörte, als nach einiger Zeit ein Wagen in den Hof fuhr. Es war Ulrike, die zum allgemeinen, schlecht verhehlten Staunen der Dienerschaft ungewöhnlich früh nach Hause kam.

Rasch überblickte sie, als sie aus dem Wagen stieg, die Anwesenden. Sie schien etwas betreten, als sie nur Beppo und ihr Dienstmädchen wahrnahm, und eilte nun die Treppe so hastig hinauf, daß beide Mühe hatten, ihr zu folgen.

Oben angekommen, richtete sie den Schritt nach dem allgemeinen Wohnzimmer; als ihr jedoch Beppo bemerkte, daß die Frau Räthin sich bereits zur Ruhe begeben habe, wandte sie sich ebenso rasch und schritt ihren Zimmern zu. An der Thür zog sich Beppo, der noch immer eine Frage erwartet haben mochte, gute Nacht wünschend, mit Kopfschütteln zurück.

Im Zimmer angekommen warf sich Ulrike, ohne zu sprechen, in einen Stuhl und ließ es wortlos geschehen, daß das Mädchen, darin einen unausgesprochenen Befehl erblickend, sie auszukleiden begann. Nach längerem Zögern wagte es das Mädchen, eine Bemerkung über die ungewöhnlich frühe Nachhausekunft ihrer Gebieterin zu äußern.

»Ich habe heftige Kopfschmerzen«, erwiderte Ulrike leichthin, »ich bedarf der Ruhe.«

Hierdurch ermuthigt fuhr das Mädchen fort: »Der gnädige Herr wird sehr bedauern, daß er eben heute nicht zu Hause ist.«

»Mein Mann ist ausgegangen?« fragte Ulrike und bemühte sich, in den Ton der Frage die möglichste Unbefangenheit zu legen.

»Gleich nach dem Abendessen«, erwiderte dienstfertig das Mädchen. »Seitdem ist er noch nicht nach Hause gekommen.«

Ulrike klagte über steigendes Kopfweh und schickte das Mädchen fort, obwohl dasselbe bat, bei ihr bleiben zu dürfen, um ihr in ihrem Unwohlsein behülflich zu sein.

Als sie sich endlich zögernd und auf wiederholten Befehl entfernt hatte, schloß Ulrike die Thüre hinter ihr und schritt nun in bedeutender Erregung in dem Gemache auf und nieder. Eine Menge widerstreitender Empfindungen bestürmten sie. Obwohl die Ermahnungen der Räthin im Augenblick wie Wassertropfen an einer Marmorfläche abgeglitten waren, hatten sie doch in ihr eine ungewohnte unbehagliche Stimmung zurückgelassen. Als sie so befangen in die Gesellschaft trat, vermochte auch diese nicht, ihr die sonstige Lebhaftigkeit zurückzubringen. So kam es, daß sie dieselbe todter und geistloser als sonst fand, obwohl das, was sie vermißte, nicht außer, sondern nur in ihr lag. Es war das erste Mal, daß die Unterhaltung sie nicht fesselte und daß ihre Gedanken über dieselbe hin nach Hause schweiften. Sie sah Friedrich im Geiste nach Hause kommen, sah, wie er sie vermißte, sie glaubte seine stillen Klagen, nur der Mutter gegenüber ausgesprochen, zu hören, und siedend heiß stieg es ihr vom Herzen zum Kopfe empor. Die Neigung zu Friedrich, die im Grunde ihres Herzens lebte, gewann bei diesen Vorstellungen den Sieg über ihren Leichtsinn und ihre Vergnügungssucht. Rasch gedieh der Entschluß in ihr, heim zu gehen und den harrenden Gatten zu überraschen, und ebenso rasch war er ausgeführt. Starke Kopfschmerzen, die sie vorschützte, gaben den Vorwand zu der ungewohnten Entfernung. Mit einer Art von Hast machte sie sich von den Bezeigungen des Bedauerns los, mit denen man sie überhäufte, und fühlte sich ungemein erleichtert, als sie endlich im Wagen saß. Während des Fahrens malte sie sich's immer bestimmter und wärmer aus, wie erstaunt Friedrich sein, welche Freude er zeigen werde, sie so früh heimkehren zu sehen. Dann wollte sie ihm um den Hals fallen und ihm sagen, daß sie nun öfter bei ihm bleiben wolle, daß sie gekommen sei, ihre verwaiste Stelle an seinem Tische einzunehmen. Je lebhafter diese Bilder sich in ihr gestaltet hatten, desto schmerzlicher war ihre Enttäuschung als sie bei ihrer Ankunft von Niemand als der Dienerschaft empfangen wurde. Als sie vollends von derselben hörte, daß die Räthin schon zu Bett, daß ihr Mann ausgegangen sei, mußte sie ihre ganze Fassung aufbieten, um nicht zu verrathen, was in ihr vorging. Sie konnte sich keine bestimmte Rechenschaft geben, aber sie fühlte sich verletzt und die warmen Aufwallungen ihres Herzens fielen als erkältende Dämpfe auf dasselbe zurück. Sie sah allerdings ein, daß Niemand Grund hatte, sie zu erwarten, und dennoch kränkte es sie, daß sie nicht erwartet worden war, daß das Leben im Hause ohne sie und ohne Rücksicht auf sie dennoch seinen Gang ging.

In diesem Zwiespalt war sie ans Fenster getreten und sah achtlos in den Sturm und das Schneegestöber hinaus. Plötzlich wurde ihr Blick von einem Lichtstreifen festgehalten, der durch das Dunkel schimmerte. Sie sah schärfer hin und überzeugte sich bald, daß sie sich nicht getäuscht hatte. Es war Licht, das durch den Luftausschnitt eines geschlossenen Fensterladens sichtbar wurde, und kam offenbar aus dem Thurmgemach neben der Bibliothek. Sie wußte dasselbe, zumal im tiefsten Winter, völlig unbenutzt und konnte sich daher nicht erklären, wer sich dort befinden und was dort vorgehen könne. Sollte Friedrich doch zu Hause sein? Sollte er dort arbeiten? Aber warum war er dann zum Scheine fortgegangen, wie das Mädchen gesagt hatte? Warum arbeitete er so spät an dem ungewöhnlichen Ort? Tausend Vermuthungen durchkreuzten sich in ihr und wurden ebenso rasch verworfen, als sie aufstiegen. Aus allen blieb zuletzt der Wunsch bestehen, der Sache selbst auf den Grund zu kommen. Sie erinnerte sich der Treppe, die in den Bibliotheksaal führte; von dort konnte sie unschwer erkunden, was in dem anstoßenden Gemach vorgehe. Schnell entschlossen löschte sie das Licht, nachdem sie ein leichtes Tuch umgeworfen hatte, und lauschte durch die leise geöffnete Thür in den Hausflur hinaus. Alles war grabesstill. Lautlos schlüpfte sie nun zu der Treppenthür hin, öffnete sie und stieg mit vorsichtig angehaltenen Tritten die leichten Stufen nieder. Der Saal war vollständig dunkel; nur die etwas hellern Fenster ließen sie erkennen, wohin sie ihren Fuß zu wenden hatte. Die letzte Stufe knarrte hörbar – athemlos stand sie einen Augenblick, aber Alles blieb still. Nur vom Thurmgemach her vernahm man ziemlich deutlich lachende Männerstimmen und Gläserklingen. Ulrike schwanden beinahe die Sinne: sie erkannte die eine Stimme schnell und bestimmt; es war Friedrich. Die Kälte drang in dem weiten Raume empfindlich auf sie ein, aber sie fühlte es kaum vor der innern Glut, die sie durchströmte. Jetzt war sie der Thür zum Thurmgemach so nahe, daß sie jeden Laut hören, fast jedes Wort verstehen konnte.

Eine starke Männerstimme, deren Ton Ulrike bekannt schien, erzählte etwas. Jetzt hörte sie deutlich, wie die Stimme lachend endigte, Gläser klangen an einander und zu der ersten Stimme gesellte sich lachend eine zweite. Friedlich lachte so herzlich, so harmlos heiter, aber um so tiefer schnitt jeder Ton in Ulrikens Herz. Jetzt wußte sie Alles, jetzt empfand sie mit schmerzlicher Bitterkeit, daß ihre vorige Gefühlswallung nichts als Selbsttäuschung gewesen war. Dieser Mann sollte sie vermißt, sollte sich nach ihr gesehnt haben, der es vermochte, sich so leicht beim Glase zu entschädigen, der es, um bei dieser kostbaren Unterhaltung ja nicht gestört zu werden, nicht verschmähte, sich anzustellen, als verließe er das Haus? Unmöglich! Und vor diesem Manne hatte sie sich demüthigen wollen! Um dieses Mannes willen hatte sie sich in Ketten schmiegen und jeder Freude der Jugend entsagen wollen! In Ketten ohne andern Zweck, als sie zu knechten, durch nichts verschönt, durch kein Gegenopfer aufgewogen! Nimmermehr!

Fest entschlossen wandte sich Ulrike den Weg zurück, den sie gekommen war. Unbemerkt gelangte sie in ihr Schlafgemach. Doch kam keine Ruhe über sie; erst gegen Morgen löste sich ihre fieberhafte Spannung in einen Schlummer der Ermüdung auf.

Inzwischen hatte das Gespräch zwischen Friedrich und Riedl seinen Gegenstand so ziemlich erschöpft und der eigentliche Zweck der abenteuerlichen Zusammenkunft trat auf Führer's Anregung wieder in den Vordergrund.

»So muß ich denn«, begann Riedl, »Deinem Drängen nachgeben und Dir mittheilen, was ich auf dem Herzen habe. Vorher also erfahre zur Aufklärung meiner Rückkehr, daß ich in der festen Absicht abgereist war, nicht so bald wiederzukommen. Ich gedachte nach Amerika zu gehen und mir die dortigen Zustände mit eigenen Augen zu beschauen, der Gedanke an Dich, mein Freund, hielt mich aber davon zurück.«

»An mich?«

»Ja, lächle nur, so ist's. Schon immer hatte mich's im Stillen gewurmt, daß ich Dich verlassen hatte, wo Du meiner vielleicht am nöthigsten bedurftest. Ich machte mir im Geheimen Vorwürfe darüber und schwankte eben zwischen dem Entschlusse, mich einzuschiffen oder umzukehren, als der Ruf Deiner staatsmännischen Thätigkeit für das Letztere entschied. Schon Deine Berufung hatte, wie Du Dir wohl denken kannst, in allen Ländern großes Aufsehen gemacht. Die Spannung, mit der man Deinem Auftreten entgegensah, war daher keine geringe. Siehe da, da kommt die ersehnte Nachricht! Man sieht, man liest – man traut seinen Augen kaum! Jedermann hatte von Dir erwartet, Du würdest ein großes wohlgegliedertes Ganzes schaffen, da kommst Du mit ein paar Bruchstücken, die aussehen wie Zweige ohne den Stamm, fast als hättest Du Dich mit Deiner Gesinnung durch ein Scheinmanöver abfinden wollen. Man stutzte, man combinirte, Einige sahen darin einen verdeckten Rückzug, Andere witterten eine ganz besondere diplomatische Feinheit dahinter.«

»Was dachtest Du?«

»Was ich bei meiner Ankunft vollkommen bestätigt fand, daß gleich Dein erstes Wirken auf Hindernisse gestoßen war, daß eine fremde Hand Deinem Baume das Herzblatt ausgebrochen hatte! Ich kam also an, und war eitel genug zu glauben, daß meine Ankunft unter den obwaltenden Umständen zu Vermuthungen Anlaß geben könne, die Dich bloßzustellen und zugleich mich in meiner ungestörten Beobachtung zu stören geeignet wären. Dies veranlaßte mich, zu dem Incognito zu greifen, das, wie ich mir schmeichle, bisher noch undurchschaut geblieben ist.«

»Nun, und der endliche Kern der wunderlichen Schale?«

»Ich komme so eben dazu: er ist zweitheilig. Ich reiche Dir zuerst den einen Theil – eine Bitte.«

»Diese wäre?«

»Eine dringende, wenn sie auch etwas sonderbar klingen mag, ganz ernsthaft und herzlich gemeinte Bitte: gib Dein Ministerium auf!«

Friedrich lächelte. »Und warum soll ich Das?«

»Weil Du nun Zeit und Gelegenheit genug gehabt hast, um Dich von der Unmöglichkeit der Ausführung Deiner Pläne zu überzeugen. Sage mir nichts und laß mich ausreden, um Dir zu beweisen, ob ich von der Sachlage unterrichtet bin. Du arbeitest daran, das Grundgesetz, das Dir durch die Dazwischenkunft der Herzogin-Mutter vereitelt wurde, nun doch zu Stande zu bringen. Du rechnest dabei auf die Gesinnung des Herzogs gegen Dich und auf seine Ansichten. Du stützest Dich darauf, daß er auf Dein Zureden den Bau des Lustschlosses unterlassen hat, aber ich sage Dir trotz alledem, Du setzest Deine Absicht nicht durch! Jetzt kannst Du noch mit Ehren zurücktreten, ein Grund ist in den Verzögerungen nicht schwer zu finden; darum die Bitte, gib Dein Ministerium auf, tritt freiwillig zurück und komme Deinem Falle zuvor!«

»Du bist allerdings auffallend gut von dem unterrichtet, was am Hofe vorgeht«, sagte Friedrich nach einer Pause, während welcher er den Sprechenden scharf betrachtet hatte, »allein Du wirst es doch begreiflich finden, daß ich vor aller Antwort nach den Gründen frage, die Dich meinen Fall als so ausgemacht ansehen lassen.«

»Diese Gründe will ich nicht verschweigen«, entgegnete Riedl, »aber sie gehören eigentlich zum zweiten Theile meines Anliegens, zur Warnung.«

»Auch eine Warnung? Und wovor?«

»Davon später; antworte mir zuerst einfach auf meine Bitte. Du gehst nicht darauf ein?«

»Wie kannst Du das nur denken von mir?«

»Ich sah es voraus, es bleibt also leider blos bei der Warnung. Versuche denn Dein Glück weiter, aber damit Dich der Fall nicht zu plötzlich überrasche und zerschmettere, so wisse, daß Du auf einem unterhöhlten Boden stehst, jeder bedeutende Schritt von Deiner Seite kann die Explosion herbeiführen.«

»Rede bestimmter! Worauf zielst Du?«

»Die Regierung des großen, an uns angrenzenden Königreichs ist entschlossen, die beabsichtigten Neuerungen, durch welche sie sich in ihrer einstigen Anwartschaft auf den Thron dieses Landes verkürzt findet, um jeden Preis zu hintertreiben!«

Friedrich stand überrascht auf. »Wenn Du auch das weißt«, antwortete er, »ist Dir wohl auch die Antwort bekannt, die der Gesandte des Königs darauf erhielt. Mit dieser ist die Einmischung sicher abgethan.«

»Die öffentliche, ja, denn zum Kriege wird man es deshalb nicht kommen lassen; um so thätiger und um so gefährlicher wird nun aber die geheime Einmischung sein!«

»Ich sehe nicht, was geschehen könnte«, warf Friedrich ein.

»So höre denn«, fuhr Riedl, indem er Friedrich wieder neben sich auf das Sopha niederzog, leiser fort: »Die Politik jenes Landes hat sich bei uns einen beträchtlichen Anhang zu schaffen gewußt, die Religion hat dazu als Hebel gedient.«

»Was soll das heißen?«

»Es ist Dir gewiß nicht unbekannt, daß sich bei uns eine Sekte von pietistischen Schwärmern gebildet hat, welche mit der verständigen Auffassung des hier vorherrschenden Bekenntnisses unzufrieden sind. Das Bestreben, die Religion wieder mehr zur Sache des Gemüths zu machen, hat sie, wie das wohl unvermeidlich ist, der alten Kirche wieder nahe gebracht, und diese, welche überall Augen hat, versäumte denn auch nicht, die ihr günstige Stimmung zu benutzen.«

»Ich weiß davon. Ich halte aber die Bewegung ihrer kleinen Ausdehnung wegen für unbedeutend, auch bin ich, von meinem Standpunkte aus, wohl am wenigsten in der Lage, etwas dagegen zu thun.«

»Die Zahl der Anhänger dieser Sekte ist nicht unbeträchtlich und wächst so zu sagen stündlich. Es ist nichts unterlassen worden, um die Schaar zu vermehren und die Jünger eines gewissen Ordens haben in allerlei Trachten und Gestalten redlich das Ihrige dazu beigetragen. Auf diese geheimen Verbündeten gedenkt sich nun die Politik unseres freundlichen Nachbars zu stützen und will so mit unsern eigenen Waffen im eigenen Lande gegen uns operiren!«

»Ich erstaune! Sollte man es wagen, so weit zu gehen?«

»Man wird's, weil man nichts dabei wagt! Das Bündniß, um nicht zu sagen die Verschwörung, besteht fest und wohlgeleitet im Stillen; wie weit man zu gehen beabsichtigt, weiß ich noch nicht. Vor der Hand mag Dir die Thatsache genügen und meine Rede bekräftigen, indem sie Dir die Mine unter Deinem Wege zeigt. Du siehst zugleich aus dem Umstande, daß Du als Minister nichts von der Sache weißt, wie weit verzweigt die Sache ist und wie sie die Sympathie für Deine Bestrebungen vernichtet.«

»Und Du selbst«, fragte Friedrich nach einer Pause, »woher weißt Du das Alles?«

»Das erräthst Du nicht?« lachte Riedl. »Weil ich ein Glied des geheimen Bundes bin, in den ich mich aufnehmen ließ, um ihn zu durchschauen.«

»Pfui!« rief Friedrich.

»Warum?« fuhr der Andere gelassen fort. »Ist es dem Feldherrn unrühmlich, die Minen auszuforschen, die man ihm gräbt, und dagegen Contreminen anzulegen?«

»Und die Beweise Deiner Behauptung?« fragte Friedrich nach einigem Besinnen.

»Die mußt Du vorläufig in meinen Worten finden. Man ist vorsichtig und hat mir als Neuling noch nichts Greifbares anvertraut. Für heute soll es, da Du meine Bitte abgeschlagen hast, nichts als eine Warnung sein, die Dir eine Blöße Deiner Stellung zeigt. Versuche sie zu decken, wenn Du es vermagst, und nimm das Ganze als die Warnung eines Mannes hin, der, wenn auch nicht Deinem System, doch Dir selbst herzlich Freund ist! Ich brauche wohl nicht beizufügen«, fuhr er, als Friedrich schwieg, fort, »daß zunächst Du der Gegner bist, den es zu gewinnen oder zu beseitigen gilt. Bist Du unschädlich gemacht, so denkt man mit dem Herzog, der dort nicht beurtheilt wird, wie Du ihn beurtheilst, leicht ins Reine zu kommen. Als Beleg, wie all Deine Schritte beobachtet sind, mag Dir dienen, daß der Bund eine schöne Summe daran wendet, zu erfahren, mit wem Du in der Aufruhrsnacht gesprochen hast oder vielmehr – denn darauf wird's wohl hinausgehen – wer der geheimnißvolle Besuch im rothen Stern war. Du erinnerst Dich doch?«

Friedrich war aufgesprungen; er litt unsäglich, daß er sich mit dem Bewußtsein des treuesten Eifers und des redlichsten Willens solchen hinterlistigen Gegnern bloßgestellt, von solchen niedrigen Ränken umgeben sah. Riedl, der ihn vollkommen kannte, durchschaute, was ihn ihm vorging; er trat zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Ich weiß, was Du jetzt fühlst«, sagte er mit Theilnahme. »Du fühlst, daß der kalte Beobachter Recht behält gegenüber dem begeisterten Schwärmer. Du bist in das Netz einer Spinne geflogen und fühlst nun, wie sich Dir die kalten eigennützigen Fäden erstickend um das Herz schnüren. Fliehe aus ihren Kreisen, Friedrich, Du Jüngling gebliebener Mann mit der schönen Seele und den reinen Gluten darin! Erkenne, daß das, was wir beide wollen, eine Schöpfung ist, die alles Bestehende verletzt und die darum nur über dem Schutt des Bestehenden möglich ist! Du willst nicht«, fuhr er fort, als Friedrich wiederum schwieg, »Dein Schweigen sagt's. Wohlan, so laß uns dieses Thema abbrechen. Was ich Dir mittheilen wollte, weißt Du, nun laß uns die Neige Punsch, die hier noch winkt, bei freundlichern Bildern leeren. Setze Dich wieder zu mir, trinke und erzähle mir von Deinem Leben, von Deinem Hause. Bin ich noch immer der Guignon Deiner guten Mutter? Wie befindet sich Deine Frau und wie habt Ihr Euch zusammen eingelebt?«

Friedrich fuhr sich mit der Hand über die Stirn, gleich als wollte er die trüben Gedanken, die sich ihm aufgedrängt, wegwischen. »Du hast Recht«, sagte er, »wir wollen von angenehmem Dingen reden – cras ingens iterabimus aequor!«

Er setzte sich neben den Freund und bald war das Gespräch auf seine häusliche Lage abgeleitet.

»Du bist mir immer noch mit der Erzählung im Rückstande, wie Du Deine Frau kennen lerntest«, sagte Riedl, als von Ulrike die Rede war. »Wir haben noch ein Stündchen bis Mitternacht, verwende es dazu, mich mit diesem Abschnitt Deines Lebens bekannt zu machen.«

Friedrich hatte nichts dagegen zu erinnern; die Gläser wurden wieder gefüllt und er begann:

»Du erinnerst Dich wohl noch meines Abgangs von Göttingen. Du bliebst zurück, während ich von dem Willen meines Vaters nach Hause gerufen war, um einen praktischen Beruf anzutreten. Ich beschloß deshalb, die letzte Muße zu einer längern Reise durch das nördliche Deutschland zu benutzen. So kam ich nach Hamburg. Eben hatte ich mir das lärmende Leben dieser Kaufmannswelt mit seinen raffinirten Genüssen und seinem bodenlosen Elend einige Tage beschaut, als sich mir eine unvermuthete Reisegelegenheit nach Berlin bot, die mich veranlaßte, meinen Aufenthalt abzukürzen. Ich beschloß am nächsten Morgen abzureisen und hatte, da noch Mancherlei zu besorgen war, noch spät in den Straßen zu thun. Es mochte nahe an Mitternacht sein. Das ist die Zeit, wo sich in Hamburg das Leben von den Straßen in die Keller und andere Häuser flüchtet, um dort desto ungebundener losstürmen zu können. Ich hatte so eben noch das Alsterbassin umwandelt und mich an dem Lichtmeere ergötzt, das aus der dunklen Flut zurückstrahlte, und bog nach der Hermannsstraße ein, um in mein Hotel zu gelangen, als ich athemlos und keuchend eine dicht verschleierte Frauengestalt an mir vorbeistürzen sah. Vielleicht hätte ich gar nicht besonders darauf geachtet, wenn nicht unmittelbar darauf einige Männer gefolgt wären, deren derbes Aussehen mit der erwähnten Erscheinung so sehr contrastirte, daß sich mir unwillkürlich die Vermuthung eines besondern Vorkommnisses aufdrängte. Gefesselt dadurch sah ich der Gruppe nach und meine Theilnahme stieg, als ich bemerkte, daß die Verfolgte, von der Flucht erschöpft, an einen Mauervorsprung hingesunken war und daß die Verfolger nahe daran waren, sie zu erreichen. Ohne eigentlich recht zu bedenken, was ich that, eilte ich hin und kam eben dazu, als der eine der Burschen das halb ohnmächtige Mädchen mit schonungsloser Faust vom Boden emporriß. »Da haben wir die Mamsell«, rief er mit rohem Gelächter. »Nun soll sie uns nicht wieder entwischen und das Trinkgeld wäre verdient!« Die Andern – es waren Matrosen – schickten sich an, zuzugreifen, als sie mich gewahr wurden und, durch die Anwesenheit eines Fremden etwas aus der Fassung gebracht, einen Moment zurücktraten. Das entging mir nicht und veranlaßte mich, ihnen energisch die Frage hinzuwerfen, was sie mit dem Mädchen vorhätten und wer ihnen das Recht gäbe, sie zu verfolgen. Schnell gefaßt rief mir aber der eine zu, indem er wieder Hand an das Mädchen legte: »Was mengen Sie sich in Dinge, Herr, die Sie nichts angehen? Die Mamsell ist ihren Aeltern entlaufen, zu denen bringen wir sie zurück!« Trotz der Barschheit, mit der diese Worte hervorgebracht wurden, blickte doch etwas wie die Unsicherheit eines schlechten Bewußtseins durch dieselben und bestärkte mich in meinem Verdacht. Auch war die kleine Zögerung hinreichend gewesen, um die Hauptperson der ganzen Verhandlung zu sich selbst und zum Ueberblick ihrer Lage zu bringen. Blitzschnell hatte sie sich von dem Burschen losgerissen und stürzte auf mich zu. »Retten Sie mich, mein Herr!« rief sie. »Es ist nicht wahr, daß man mich zu meinen Aeltern bringen will, ich bin meiner Mutter nicht entflohen!« Ich glaubte genug zu wissen. »Ihr hört selbst«, sagte ich zu den Burschen, die verblüfft dastanden, »wollt Ihr's darauf ankommen lassen, daß der Polizeiherr die Sache untersucht?« Sie zögerten und hätten ihre Beute vielleicht nicht so leicht fahren lassen, wenn nicht gleichzeitig die Straße herab das Blinken von Waffen die Annäherung der Wache angekündigt hätte. Das entschied: die Matrosen traten fluchend den etwas eiligen Rückzug an. Jetzt wandte ich mich zu meiner Geretteten, die mir noch immer voll Angst zur Seite stand, und bot ihr den Arm, mit der Frage, wohin sie geleitet sein wolle. »Zu meiner Mutter, mein Herr«, antwortete sie rasch. »Gott, was wird die Gute um mich schon ausgestanden haben!« Sie bezeichnete mir Wohnung und Richtung und so schritten wir, nicht weiter belästigt, durch die Nacht dahin. Während des Gehens brach sie in immer wärmere Ergießungen des Dankes aus, je mehr sich die Nachwirkungen des gehabten Schrecks zu verlieren begannen. Sie erzählte, daß sie mit ihrer kranken Mutter zusammenlebe, die sie mit ihrer Hände Arbeit zu erhalten genöthigt sei. Zu diesem Ende begebe sie sich jeden Tag in das Haus eines großen Kaufmanns, wo ihre Beschäftigung darin bestehe, bis zum späten Abend mit vielen Andern Hemden und andere Leibwäsche für den Verkauf zu nähen. Eines Tages habe sie die Aufmerksamkeit eines jungen Mannes auf sich gezogen, der sie von dieser Stunde an mit Anträgen aller Art verfolgt. Obwohl sie ihn auf das bestimmteste zurückgewiesen, habe er doch nicht nachgelassen, sie zu belästigen, und habe sogar ihre Wohnung ausfindig zu manchen gewußt; sie glaube daher auch ganz gewiß, daß der heutige Ueberfall von Niemand anders als von ihm herrühre. Ohne Zweifel habe er sie, der fruchtlosen Bewerbungen müde, auf diese Art in seine Gewalt bekommen wollen. Sie war, erzählte sie weiter, heute Abend von der Arbeit weg kaum einige Straßen weit gegangen, als sie sich auf einmal an einem etwas menschenleeren Platze von einigen Matrosen ergriffen und fortgetragen fühlte. Man hatte ihr den Mund verbunden und schleppte sie so zu einer unweit bereitstehenden Kutsche hin. Zum Glück fingen die Pferde, als die Leute im vollen Laufe mit ihr heraneilten, unruhig zu werden und zu bäumen an. Dadurch entstand ein Aufenthalt und einige waren genöthigt, dem Kutscher in der Bändigung der Pferde beizustehen. Diesen Augenblick hatte sie rasch benutzt, hatte sich losgerissen, das Tuch vom Munde weggeschleudert und war so glücklich entflohen. »O«, rief sie wieder, »ich kann Ihnen nicht genug danken, mein Herr! Was wäre aus mir, aus meiner guten Mutter geworden! O kommen Sie, sie muß Ihnen selbst danken, das Entzücken eines liebenden Mutterherzens mag Ihnen vielleicht einiger Lohn für Ihre edle That sein!« Ich hatte ihr gut bemerklich machen, daß mein Verdienst um sie im Grunde ein blos zufälliges sei, daß ich nichts gethan, als was jeder Andere an meiner Stelle auch gethan haben würde, sie ließ nicht ab, in mich zu dringen, bis ich mich entschloß, nachzugeben und sie zu ihrer Mutter zu geleiten. Zum Theil bewog mich dazu das Interesse an dem Mädchen selbst, das schnell in mir entstanden war, denn es lag etwas in ihrem ganzen Benehmen, in ihrer Erzählung, was wie Wahrheit zum Gemüth sprach, theils hatte ich sie während der Erzählung genauer betrachtet und war von der hohen Schönheit, die ich entdeckte, überrascht. Eine Schilderung ist unnöthig, denn Du wirst wohl schon errathen, daß es Ulrike war. Du kennst sie und so brauche ich nur hinzuzufügen, daß sie damals kaum siebzehn Jahre zählte und in der vollen Blüte der ersten jugendlichen Entfaltung stand.«

Friedrich hielt einen Augenblick inne; es war, als verweile er in Gedanken bei einem freundlichen Bilde, das ihm vorüberzog.

»Als ich mit Ulrike ihre Wohnung betrat, fand ich ein paar ärmlich, aber sauber eingerichtete Zimmer. Einige Stücke der Einrichtung schienen die Ueberbleibsel frühern Wohlstandes, verblichener Eleganz zu sein. Desto unangenehmer war dafür der Eindruck, den Ulrikens Mutter auf mich machte. Es war eine Frau in guten Jahren, aber ein unverkennbar schon sehr weit vorgeschrittenes Lungenleiden ließ ihre Züge um Vieles älter erscheinen. Mit der krankhaften Blässe derselben und der ganzen welken Haltung standen aber die Augen in einem eigenthümlich widrigen Gegensatz. In denselben flackerte nämlich ein so unstätes begehrliches Feuer, daß, was in einem jüngern Gesichte vielleicht Munterkeit oder Koketterie geheißen hätte, hier ein grauenhaftes Gepräge unverbesserlichen Leichtsinns bildete. Ich hatte natürlich nicht anders gedacht, als wir würden die Mutter bei unserer Ankunft in Verzweiflung und in Thränen gebadet finden, ich hatte eine Scene des rührendsten Wiedersehns erwartet, statt dessen kam die Frau, als sie nach längerem Pochen endlich die Thür öffnete, sichtbar vom besten, sorglosesten Schlafe her und sah uns mit Blicken an, die ebenso gut Staunen als Mißvergnügen ausdrückten. Desto stürmischer war Ulrike: sie flog dem Weibe unter einem Strome von Thränen an die Brust. Es dauerte lange, bis sie sich von der Erschütterung erholte, die sie bei dem Anblick der Mutter alle Schrecken und Besorgnisse des erlebten Abenteuers nochmals durchempfinden ließ. »O meine Mutter, meine gute liebe Mutter«, rief sie unter lautem Schluchzen, »bald hättest Du Deine Ulrike nicht wiedergesehen!« Als es endlich zu einer ruhigen Erzählung des Vorgefallenen kam, hatte sich die Mutter schon so weit in die Lage gefunden, daß sie in Ausrufungen des trostlosen Schreckens und des Jammers ausbrach und mich dazwischen wieder als den Retter ihres theuren Kindes mit Dankesausbrüchen überschüttete. Mein Argwohn gegen sie war jedoch bereits zu wach geworden, als daß ich das Alles für baare Münze nehmen konnte, und so entging mir nicht, daß sie alle diese Empfindungen zwar ziemlich täuschend, aber doch wie eine eingelernte Rolle spielte. Sie jammerte, wie arglos sie sich zu Bette gelegt und nichts Uebles gedacht habe! Es sei schon öfter vorgekommen, daß die Arbeit ungewöhnlich lange gedauert und daß Ulrike dann gleich bei der Familie ihres Arbeitsherrn über Nacht geblieben. Das habe sie auch heute vermuthet, und währenddessen sei sie in Gefahr gewesen, ihr Liebstes, ihr Einziges auf der Welt, ihr Kind, ihren Engel zu verlieren! Ich brauche Dir kaum zu sagen, wie mich das anwiderte. Ich konnte mich des Verdachts nicht erwehren, als sei es darauf abgesehen, mir eine Komödie vorzuspielen, in der auch Ulrike eine Rolle habe, allein ein Blick auf letztere reichte wieder hin, diese Besorgniß zu widerlegen. Ihr Schmerz, ihre Freude war echt und wahr, und das trat um so mehr hervor, je näher die unechte Folie dabei war. Ich ermüde Dich wohl durch meine breite Detailmalerei!« unterbrach sich Friedrich. »So will ich mich kürzer fassen!«

»Du erzählst einem Freunde«, antwortete Riedl, »also erzähle, wie sich Dir die Sache gibt. Es ist um so interessanter für mich.«

»So kam es denn«, fuhr Friedrich fort, »daß ich gehen und Abschied nehmen mußte. Ulrike sah mich, als ich es that, mit ihren großen dunklen Augen so schmerzlich bewegt an, als wolle sie mich nochmals um Hülfe bitten. »Und ich sehe Sie nicht wieder?« fragte sie und ihre Stimme zitterte. Ich wollte ihr eben antworten, daß ich bereits am Morgen abzureisen gedenke, da fiel mein Blick auf die Mutter und begegnete in deren Zügen einem so lauernden, widerwärtigen Ausdruck, daß ich erschrak. Ich sah Ulrike an und der Gedanke, daß sie wohl noch Hülfe brauchen könne, wurde mir zu Gewißheit. Ich versprach, sie am kommenden Abend nochmals zu besuchen, und ging. Mein Entschluß gereute mich jedoch bald. Ich machte mir Vorwürfe, daß ich die gute Reisegelegenheit ohne mich abgehen und mich von einem Abenteuer hatte hinhalten lassen. Warum sollte ich das Mädchen nochmals besuchen! Es war kein Grund dazu vorhanden und doch wollte ich mein gegebenes Versprechen nicht unerfüllt lassen. Ueber diesen Zweifeln war es Abend geworden, und ohne selbst recht zu wissen, wie das so gekommen war, befand ich mich in der Nähe des mir bekannten Handlungshauses, in dem Ulrike arbeitete. Nun nahm ich mir vor, sie zu erwarten und bis nach Hause zu begleiten; auf diese Weise hatte ich meine Zusage erfüllt und brauchte den zwecklosen Besuch nicht zu machen. Bald kam Ulrike, und als ich ihr entgegentrat, leuchtete aus ihrem schönen Antlitz eine so lebhafte innere Freude, daß es mir warm zum Herzen drang. Wir gingen zusammen und brachten den Abend in so vergnügter Weise zu, daß ich mit Scheu an die Abreise dachte und nicht ungern zusagte, als mich Ulrike schmeichelnd, die Mutter höflich kalt wiederzukommen einlud. Ich kam auch wieder und – doch was soll ich da weiter erzählen! Da der Schluß des kleinen Romans schon feststeht, haben diese Einzelnheiten der Schürzung kein Interesse für den Zuhörer. Ich verschob die Abreise von Tag zu Tag, gab dann meine Reise ganz auf und schrieb zuletzt sogar nach Hause, daß ich mich noch einige Wochen in Hamburg aufzuhalten gedächte. Der Grund ist zu errathen. Ich liebte Ulrike, ich ward geliebt, und die Tage flossen uns in Seligkeit wie Stunden dahin. Inmitten meines Glücks verließ mich aber der Gedanke an die Zukunft nicht. Ich nahm mir vor, nächstens vor die Mutter zu treten und durch eine offene Werbung die Sache zum erwünschten Ende zu führen. Diese hatte ohne Zweifel wahrgenommen, wie es mit uns beiden stand, aber sie gab sich streng den Anschein des Gegentheils, ja es kam mir sogar vor, als ob hier und da durch alle ihre Höflichkeit Widerwille und Haß gegen mich durchblickte. Ehe ich jedoch weiter erzähle, muß ich auch aus der Lebensgeschichte dieser Frau das Wesentlichste einschalten, wie ich es inzwischen von Ulrike erfahren und durch seither eingezogene Erkundigungen ergänzt habe. Sie war die Tochter eines Cantors im Hannoverischen. Eine schöne Erscheinung, besondere Lebhaftigkeit und mehr als dies, ihre ungewöhnlich schöne Stimme veranlaßten sie, sich dem Theater zu widmen. Der Schritt war von entschiedenem Erfolg begleitet und schnell befand sich die junge gefeierte Sängerin in einer Stellung, die nichts zu wünschen übrig ließ. Ein nachgeborener Prinz des Hofes, an dessen Theater sie glänzte, fühlte sich bald von ihr angezogen und sie war leichtgläubig genug, seinen glänzenden und verführerischen Bewerbungen Gehör zu geben. Ulrike ist die Frucht dieser Verbindung, die man von seiten des Hofes übersah, bis der Prinz, der sie wahrhaft geliebt zu haben scheint, daran dachte, sie zu seiner Gemahlin zu erheben. Das entschied Henriettens Loos – so hieß sie – zum Unheil. Der Prinz wurde theils beredet, theils gezwungen, sie aufzugeben, sie mußte das Land verlassen; doch ließ sie der Prinz nicht hülflos, er suchte sie durch den Besitz eines ansehnlichen Vermögens mindestens in etwas für das zu entschädigen, was ihr zu bieten ihm verwehrt war. Auch für das Kind, das jedoch im Lande zurückblieb und einer braven Familie zur Erziehung übergeben worden war, wurde ein beträchtliches Kapital ausgesetzt. Leider wurde aber Henriettens Leichtsinn und Genußsucht immer überwiegender, sie verschwendete ihr Vermögen in kurzer Zeit und mußte froh sein, wieder als Sängerin unterkommen zu können. Auch diese Existenz wurde zuletzt immer kärglicher, je mehr mit der Zeit die Stimme abnahm. Dazu kam noch, daß durch ihre Lebensweise ein infolge der Anstrengung entstandenes Brustübel sich zur wirklichen Krankheit steigerte. So stand sie denn nach etwa zwölf Jahren dem bittersten Mangel, der hülflosesten Zukunft gegenüber. Indessen war Ulrike bei den Leuten, denen sie übergeben worden war, weniger erzogen worden, als herangewachsen. Man ließ es ihr zwar des bedeutenden Kostgeldes wegen an nichts fehlen, sie ward unterrichtet; aber das Alles mit einer widerwilligen Strenge, die dem weichen Herzen des Kindes bald fühlbar wurde und ihm die Jugendtage verbitterte. Sie empfand nur zu bald, daß sie anders behandelt wurde als die eigenen Kinder der Familie, und die Liebe, die sie vermißte, ward in dem jungen Gemüthe ein traumhaftes, heiß ersehntes Ideal. So kam es, daß sie in ihrer kindischen Phantasie das Bild der ungekannten Mutter, von der sie nur selten aus weiter Ferne hörte, mit allem Schönen und Reizenden umgab und all ihren Vorrath von Liebe an dieses Bild wendete. Die Jahre hatten diese schwärmerische Zärtlichkeit nur gesteigert und ihre Briefe an die Mutter waren der lautere Erguß hiervon, wenn auch deren Antworten immer kurz und kalt blieben. So standen die Sachen, als in der Stadt, wo Ulrike wohnte, eine ansteckende Krankheit ausbrach und viele Menschen hinwegraffte. Auch der Prinz, auch ihre Pflegeältern waren unter den Opfern, sodaß sie mit einem Mal ganz verlassen und verwaist dastand. In dieser Noth wandte sie sich, wie natürlich, an den Abgott ihrer Seele, an ihre Mutter, und beschwor sie in einem glühenden Briefe, sie zu sich zu nehmen. Dieser Brief kam gerade an, als Henriette dem Nichts gegenüber stand; aus ihm schöpfte sie neue Hoffnung, denn ihr Kind hatte ja Vermögen, das sie beide in den Stand setzte, anständig leben zu können. Sie schrieb um das Kind, das man ihr, froh, es los zu werden, übergab. Wohl aus gleichem Grunde wurde ihr auch dessen Eigenthum ohne lange Weigerung verabfolgt. Ulrike war zwei Jahre alt gewesen, als sie von der Mutter getrennt wurde; jetzt war sie zu einem vierzehnjährigen Mädchen voll der schönsten Hoffnungen herangewachsen. Das Entzücken des Wiedersehens bei ihr war so stürmisch, daß es auch die Mutter mit fortriß, die, wenn auch über das Aussehen ihrer Tochter erfreut, dennoch mehr den Vortheil berechnete, den sie ihr brachte. So begann beiden eine angenehme Zeit: der Mutter in den besten Vorsätzen, die wiedererlangte Wohlhabenheit zu behaupten, der Tochter in dem namenlosen Glück, daß sie nun auch eine Mutter hatte, eine Mutter, die sie hätschelte und mit Liebkosungen überhäufte. Leider wurde aber in dieser der alte Hang zum Wohlleben nur zu bald wieder rege; einige Zeit kämpfte sie dagegen, dann brach der Damm der Scheu und im Strome rasender Verschwendung rann das kostbare Vermögen bald unwiederbringlich dahin. Ulrike entging natürlich die eingetretene Veränderung der Lebensweise nicht; aber theils ließ ihr unbegrenztes Vertrauen aus ihre Mutter keine ernstliche Befürchtung in ihr Wurzel fassen, theils hätte es ihre Liebe nicht zugelassen, sie durch irgend eine Bemerkung von der Erfüllung auch nur des kleinsten Wunsches abzuhalten. Sie hatte darum auch, als die unvermeidliche Ebbe eintrat, nicht nur keinen Laut des Vorwurfs für die thörichte Mutter, sondern sie fand sich sogar mit einer Art von Vergnügen in die neue Lage, welche nun die ganze Last des Unterhalts für die geliebte Mutter auf sie legte und ihr dadurch jede Arbeit zum Genüsse machte. So lebten sie eine geraume Zeit spärlich, aber ohne eine andere drückende Sorge als den immer mehr wankenden Gesundheitszustand der Mutter. Ulrike war vergnügt, die Mutter mit geheimem Groll in das Unvermeidliche ergeben. Die Bewerbung des jungen Mannes, aus dessen Hand ich Ulrike gerettet hatte, war die erste Störung dieser gleichmäßig sich abspinnenden Tage.

Eines Tags nun, während ich Ulrike von Hause abwesend wußte, begab ich mich dahin, um mit der Mutter Abrede zu nehmen. Als ich hinkam, traf ich die äußere Thür gegen Gewohnheit offen und wollte schon eintreten, als mich ein Klang, wie wenn Geld auf einen Tisch gezählt wird, veranlaßte, einzuhalten. Zugleich hörte ich eine mir unbekannte Männerstimme im Gespräche mit der Mutter und in diesem Gespräche die Bestätigung meiner Vermuthung. Es war ein Diener des Grafen, wie er ihn nannte, der ihr goldene Berge von der Gunst seines Herrn versprach, wenn er diesmal zum Ziele käme. Mit einer Empfindung, die ich nicht zu beschreiben vermag, hörte ich, wie das entmenschte Weib die Tochter, von der sie so grenzenlos geliebt war, um elenden Sündenlohn, um sich ein paar Tage des Wohllebens zu verschaffen, verkaufte und einen Plan verabredete, der nur aus der Seele eines solchen Teufels kommen konnte. Damit ich nicht im Wege stände, sollte ich unter einem Vorwande veranlaßt werden, früher zu gehen als gewöhnlich; dann sollte die Mutter Ulrike in einer Taste Thee ein schlafbringendes Mittel eingeben, das sie willenlos in die Hände ihres Verderbers liefern würde. Sie selbst wollte sich den Anschein geben, als habe auch sie von dem Schlaftrunk genossen und sei dadurch außer Stande gewesen, dem Kinde zu helfen. So dachte sie sich gegen Ulrikens Vorwürfe zu schützen, wenn diese ja nicht gute Miene machen und sich in das einmal Geschehene fügen sollte. Das Geräusch des Aufbruchs trieb mich zu rechter Zeit die Treppe hinunter, die ich dann, als wenn ich eben käme, wieder hinaufstieg. So begegnete ich dem Bedienten, an dem ich wie völlig arglos vorüberging. Er mochte, mich kennen, denn er sah mich mit einem so niederträchtig höhnischen Lächeln an, daß es mir unvergeßlich geblieben ist. Ich glaube, unter Tausenden würde ich diese Galgenphysiognomie auf den ersten Blick erkennen. Ich kehrte mich nicht an ihn und trat rasch, ohne anzuklopfen, in das Zimmer. Die Schändliche, keines Ueberfalls gewärtig, hatte es in der Hast, sich am Anblick ihrer Beute werden zu können, verschmäht, die Thür zu schließen. So traf ich sie denn völlig unvorbereitet vor dem Tische stehend, auf welchem eine Anzahl Goldstücke blitzte. Schweigend standen wir uns einen Moment gegenüber, dann sank sie keuchend in einen Stuhl zusammen, denn sie las in meinem Blick, daß ich Alles wußte. Erlaß mir die Schilderung der Erbärmlichkeit, in der sich das Weib vor den vernichtenden Worten meines Zorns wand. Das Ende war, daß ich ihr erklärte, Ulrike solle meine Gattin werden; sie selber aber solle uns nicht folgen, sondern fern von uns erhalten, was sie bedürfe. Unter der Bedingung ihrer Zusage versprach ich, Ulrike ihre Schändlichkeit zu verschweigen. Zerknirscht versprach sie Alles!«

Friedrich athmete auf, um sich von der Aufregung zu erholen, in die ihn noch die bloße Erinnerung versetzte. Riedl ehrte den Zustand des Freundes durch theilnahmvolles Schweigen.

»Laß uns zu Ende kommen«, begann Friedrich nach einer Weile wieder. »Als ich am Abend mit Ulrike in die Wohnung zurückkehrte, theilte ich ihr mit, daß es der Wille ihrer Mutter sei, daß sie von ihr gehe, und daß ich sie zu einer Schwester meiner Mutter zu bringen gedenke, wo sie bleiben solle, bis unsere Verbindung geschlossen werden könne. Obwohl ihr die Trennung von der Mutter schwer fiel, willigte Ulrike doch ein und tröstete sich mit der Hoffnung baldigen Wiedersehens. Zu Hause angekommen, trafen wir die Scene so verändert, daß alle unsere Pläne eine Aenderung erlitten. Die Mutter war tödtlich erkrankt. Die Erschütterung des zwischen uns Vorgefallenen war für den morschen Körper zu stark gewesen – ein Blutsturz hatte die letzten Reste der Kraft hinweggenommen. Aschenfahl lag die Sterbende da und vermochte kaum ein leises Wort herauszubringen. Den Schmerz Ulrikens zu beschreiben ist unmöglich; aber je leidenschaftlicher sich derselbe Luft machte, desto herzzerreißendere Qualen litt die elende Mutter, die nun, so plötzlich dem Ende aller Erdenfreuden gegenüber, von der bittersten Reue zerfleischt wurde. Jeder Klagelaut, jede Thräne der Tochter war ein Todesstoß in das vom Gefühl seiner Unwürde gemarterte Herz, und doch vermochte sie es nicht, Ulrike die eigene Schandthat zu entdecken. Sie fürchtete dadurch auch diese von ihrem Lager zu scheuchen. Diese grenzenlose und so schlecht vergoltene Liebe war ja der einzige Trost auf ihrem ruhelosen Sterbelager. Als sie schwächer wurde, hob sie die Hände noch wie zu einer Bitte, die Lippen versuchten zu sprechen, indem ihr Auge vergehend auf Ulrike hinzeigte. Ich faßte Ulrikens Hand und gelobte der Sterbenden feierlich, sie zu meiner Gattin zu machen. Sie lächelte, und bald lag das traurige Opfer des Leichtsinns und der Verschwendung nach einem neuen Anfall des Blutbrechens entseelt da!

Was nun folgt, ist einfach. Ich brachte Ulrike, wie ich zuvor beschlossen, zu meiner Tante, die sie gütig aufnahm. Bei ihr blieb sie fast fünf Jahre, bis mir meine Verhältnisse es möglich machten, sie heimzuführen. Dieser Aufschub aber war mir zum Heile, denn sie hat sich während dieser Zeit in einer Weise bewährt, die mich meine rasche Wahl und mein Gelöbniß nicht bereuen ließ. Ich hoffe der schönen Tage noch viele an ihrer Seite zu verleben!«

»Das gewähre Dir der Himmel!« rief Riedl und drückte Führer die Hand. »Es heißt wahrlich mit Recht: Wohl dem Manne, der ein tugendlich Weib hat, deß lebt er noch eins so lange!«

Damit schieden sie. Friedrich geleitete Riedl zum Thore, das er hinter ihm schloß. Erheitert und gehoben blickte er in den Nachthimmel hinaus, der inzwischen aufgeklärt von zahllosen Sternen blitzte und ihn mit erfrischender Kühle anwehte.

Dann schritt er auf demselben Wege, den wenige Stunden zuvor Ulrike mit so schwerem Herzen gewandelt war, in freudiger Stimmung seiner Wohnung zu.


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