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III.
Der Sturm auf München.

Es ist grimmig kalt heute,« sagte der alte Diener des Pflegers Ettlinger zu seinem Herrn, welcher in der wohlgeheizten Schlafstube seiner Amtswohnung im Schlosse zu Starnberg hin und wieder wandelte. Er trug hohe, bis über die Kniee reichende Stiefel aus weichem Leder und ein stark gefüttertes, pelzbesetztes Wams, welches erkennen ließ, daß er im Begriffe war, das Schloß zu verlassen. »Der Wind schneidet einem fast das Gesicht auseinander,« begann der Alte wieder, »wer ausgehen muß, dem hängen Haar und Bart über und über voll Eiszapfen …«

Ettlinger erwiderte nichts, sondern trat ans Fenster, vor welchem sich eine herrliche Winterlandschaft auftat, von jenem leichten rötlichen Dämmerdufte überflogen, der an Wintermorgen und Abenden ein sicheres Zeichen starker Kälte ist. Der Würmsee war rasch überfroren und bildete eine unabsehbare, spiegelblitzende, hie und da sternartig mit weißen Flocken bestreute Fläche, zu deren Seiten die Hügel schneebedeckt und mit schwarzen oder entlaubten Wäldern umgürtet emporstiegen, während über ihnen in weiter Entfernung die Gebirge in die blaue Luft emporragten, ein riesiger, von bläulichen Schatten durchfurchter Eiswall. »Die Hände werden Ihnen am Gewehr anfrieren,« sagte der Diener nochmals, während er beschäftigt war, eine weidenumflochtene Flasche und allerlei Mundvorrat in die am Tische liegende Weidtasche zu verpacken. »Euer Gestrengen sollten heut lieber daheimbleiben …«

»Warum, alter Tölpel?« fuhr ihn Ettlinger, sich rasch umwendend, an. »Es ist das herrlichste Jagdwetter, das man nur wünschen kann.«

»Jagdwetter wohl,« erwiderte der Alte, »aber nicht Jagdzeit. Morgen ist Weihnachten – heut ist der heilige Abend … ich sag's nicht aus mir und möchte Euer Gestrengen nicht erzürnen – aber der Tag ist doch zu heilig zum Jagen … – wenn's die Bauern hören, wird's wieder böses Blut machen!«

»Die Bauern?« rief Ettlinger mit verächtlichem Lachen und versetzte dem am Fenster kauernden Jagdhund einen Fußtritt, daß das Tier einen kurzen heulenden Laut ausstieß und sich unter einen Stuhl verkroch: es war, als ob er durch den Fußstoß zeigen wollte, daß er die Bauern und seinen Hund gleich beachte und wie viel er nach beiden frage. »Geh in die Küche,« rief er, während der Alte achselzuckend in seiner Beschäftigung fortfuhr, »frage meine Frau, ob ich ohne Frühstück gehen soll! Es ist hohe Zeit, bald neun Uhr, um zehn soll ich in Feldafing sein – ich habe mehr als eine Stunde zu reiten …«

Schweigend wollte der Alte sich eben entfernen, als der Hund schwach anschlug und vor der Türe Geräusch hörbar wurde, wie das eines Mannes, der mit schweren Fußtritten den Schnee von den Stiefeln stampft und sich zum Eintritt anschickt. »Was soll das heißen? Was gibt's da draußen?« rief der Pfleger rauh.

»Ich weiß es nicht,« antwortete der Diener, »vermutlich werden es Bauern sein, welche ein Geschäft schon so früh zu Euer Gestrengen führt …«

»Was! Ein Geschäft?« brauste Ettlinger auf. »Dazu ist ihnen der Tag nicht zu heilig? Dazu soll ich Zeit haben, ich mag wollen oder nicht? Aber ich will den Unverschämten sogleich gehörig die Meinung sagen!«

Vor der stürmisch aufgerissenen Türe stand eine sonderbare Gestalt, klein, verkümmert, einen starken Höcker auf dem Rücken, auf dem Kopfe eine eisbereifte Pelzmütze, unter der fuchshaarähnliche starre Borsten vorstanden und ein blatternarbiges Gesicht mit blöden und doch verschmitzten Augen sichtbar wurde. Über das grobe, graue Lodenwams trug er einen Lederriemen, an welchem eine Gürteltasche hing. Der Blöde schien erschrocken über den Anblick des in der Türe stehenden zornigen Mannes und kramte angstvoll suchend in der Tasche umher. Er vermochte nicht zu antworten, als der Pfleger ihm unwillig zurief, wer er sei und was er begehre.

»Kennen denn Euer Gestrengen den armen Burschen nicht?« sagte der Diener. »Man heißt ihn halt den Narren-Veitl: es weiß kein Mensch, wer seine Eltern gewesen sind … in der Schwedenzeit ist er in Benediktbeuern als ein kleines Kind vor dem Kloster gefunden worden und die Chorherren haben ihn großgezogen und ernährt. So ist er noch immer im Kloster, muß Holz hacken und Wasser tragen und botenweis' gehn …«

Inzwischen hatte der Narren-Veitl aus seiner Tasche ein Schreiben hervorgestört und hielt es Ettlinger hin. Dieser winkte dem Boten, einzutreten, und ging mit dem Schreiben ans Fenster, während Veitl, von dem Jagdhunde bedenklich beschnuppert, sich in die Nähe des hohen Ofens aus Eisenguß machte, die starren Hände daran wärmte und die Tropfen vom auftauenden Haare strich. Die Nachrichten, welche das Schreiben enthielt, schienen nicht die angenehmsten zu sein, denn das Gesicht des Lesenden verfinsterte sich zusehends und zuletzt warf er das Blatt unwillig auf den Tisch. »So wird dies törichte Treiben niemals ein Ende nehmen!« murmelte er ärgerlich. »Sie werden nicht ruhen, bis sie sich alle unglücklich gemacht haben und bis noch ein paar Hunderte ans Messer geliefert sind!« Damit trat er vor den blöden Boten hin und prüfte ihn mit den Augen, als ob der Inhalt der Botschaft mit dem Aussehen des Boten nicht übereinstimme. Kopfschüttelnd ergriff er das Schreiben noch einmal und las halblaut: »Wie selbigesmal vor einigen Monaten ein Haufen von denen rebellischen Bauern vor das Kloster gekommen, auch mit bauernhaftem Ungestüm die Herausgabe der Gewehre ertrutzet, so in der Sacristei unter einem Steine verborgen gewesen; wie es ferner dem Kloster unmöglich gewesen, solchem fast scharfen und zwangsweisen Andringen zu widerstehen, indem sonst Massacre und Devastation zu befürchten gewesen: solches habe seiner Zeit einem hohen kaiserlichen Pflegamte des Mehreren zu vermelden nicht unterlassen. Wenn es aber inzwischen geschienen, als habe die verblendete Bauernschaft sothane rebellische Intentionen aufgegeben, weilen sie seither sich mitigirt benommen, habe einem hohen kaiserlichen Pflegamte nit wöllen unverhalten lassen, wie diese Mitigirung nur ein Schein und eine simulierte Kriegslist gewesen, was maßen die Bauern damit umgehen sollen, sich zusammen rottiren und in heutiger Nacht die Stadt München zu überrumpeln, und wann gleichwohl nicht zu befürchten sein mag, daß hinter einem solchen unsinnigen Projectum mehr zu suchen, als ein bloßes Gerede, habe doch nicht unterlassen wollen, hohem kaiserlichem Pflegeamte davon pflichtschuldigst Anzeig' zu machen. Wie ich Solches erfahren, mag des Breiteren aus der Erzählung des Veitl hervorgehen, den ich mit dem Briefe schicke, wonach Euer Gnaden selbst werden ermessen und erwegen wollen, ob und was in Sachen weiter zu geschehen habe. Benedictbeuern, am vierundzwanzigsten des Wintermonats. – Jodocus, Abt.«

Ettlinger trat nochmals vor den Boten, nahm dem eben eintretenden Diener einen Becher stark duftenden Würzweines aus der Hand und begann zu schlürfen, während er dem Alten winkte, sich zu entfernen. »Ich soll mir von dir erzählen lassen, Bursche,« begann er dann. »Du bist also nicht so blöde, als es scheint.«

Ein listiger halber Blick unter der Fuchshaube hervor streifte den Fragenden. »Der Veitl hat seine Liegerstatt in der Bodenkammer,« sagte der Bucklige, in sich hineinkichernd, »da sitzen die Spinnen im Winkel … Veitl hat die Spinnen gern … sie verkriechen sich im Winkel und lauern von dort auf alles, was geschieht … Veitl hat auch einen solchen Winkel, – o – mehr als einen,« fuhr er in zutraulicher Selbstgefälligkeit fort … »Veitl hat's von den Spinnen gelernt, das Lauern und das Fangen …«

Die Augen des Halbnarren funkelten bei den Worten wie die eines raubgierigen Tieres.

»Und was hast du mir zu erzählen?« frug Ettlinger. »Was weißt du von den Bauern?«

Die Augen des Narren-Veitl leuchteten noch grimmiger. »Ich will's erzählen,« knurrte er, »ich will sie fangen, die Bauern – sie sollen es spüren, daß ich sie hasse …«

»Du hassest sie – warum?«

»Weil sie mir den Fang verderben … Weil die Spinne ihre Fäden spannt – weiß der Veitl Schlingen zu legen und Fallen für die Ratten in Boden und Keller, für die Schermaus im Felde, für den Iltis und den Hundsigel im Walde … aber die Bauern verderben mir die Freude, sie nehmen meine Nester aus und holen den Fang aus den Fallen und Schlingen … sie heißen mich den Narren-Veitl und verspotten mich, wenn ich ihnen in den Weg komme … sie werfen mit Steinen nach mir … der Narren-Veitl will ihnen auch einen Stein in den Weg werfen …«

»So erzähle.«

»Weiß nit,« begann der Blöde, »wie oft es Nacht geworden ist seitdem … ich hatte Sprenkel eingerichtet gehabt drüben überm Kochelsee, am Kesselberg – wie ich nachsah, waren sie zugegangen, aber leer … die Bauern haben die Wildtauben gestohlen, die Spur war noch zu sehn im frischen Schnee … da bin ich ihr nachgegangen, sie hat auf die Straße geführt: da waren viele andere Fußspuren … die gingen alle miteinander zur Mühle am Joch … Es war Licht in der Stube … durch eine Spalte im Laden konnt man hineinsehen … es waren viele Bauern beim Müller … sie haben geglaubt, es hört sie niemand als der Schneesturm, der die Tannen schüttelte … aber der Veitl kann an der Wand hinanklettern wie die Spinne und ist wie die Spinne im Winkel gesessen … In der Christnacht … Schlag zwölf Uhr … der Veitl hat alles gehört, wollen die Bauern heimlich in die Stadt ziehen und sie überfallen … Aber sie sollen nicht … der Veitl will ihnen auch die Freud' verderben und den Fang …«

Der Pfleger beachtete die letzten Reden gar nicht mehr. Er schritt im Gemache hin und wider und schien bei sich zu überlegen. »Es ist zwar ein Wahnsinn,« murmelte er, »purer Wahnsinn … aber der Bursche da hat doch die Geschichte nicht aus dem Finger gesogen … Für alle Fälle will ich an Vacchieri schreiben …« Er setzte den Becher mit dem Würzweine auf einen Schrank neben dem Ofen; Veitl, den Duft gewahrend, zog gierig die Nüstern auf. »Der Wein scheint dir zu gefallen?« sagte er. »Du sollst einen Becher davon haben und ein Stück Fleisch dazu, wenn du deine Botschaft noch weiter tragen und auch dort erzählen willst, wohin ich dich schicke …«

Zustimmend grinste der Blöde, während Ettlinger sich an den Schreibtisch setzte. »Geh hinunter in die Küche und warte dort!« rief er. »Es könnte leicht sein, daß du unterwegs einem Bauerntrupp in die Hände fielest, daß sie dich kennen oder sonst Verdacht schöpfen … ich will dem Bürgermeister einen Festbraten schicken … das wird der unverfänglichste Deckmantel sein …«

Einige flüchtige Zeilen genügten zu der verhängnisvollen Mitteilung: sie waren bald geschrieben. Ettlinger faltete das Blatt so klein zusammen, daß es überall leicht versteckt werden konnte, siegelte und wollte eben nach dem Klingelzuge greifen, um den Boten wieder herbeizurufen, als auf dem Gange wieder Geräusch hörbar wurde und ein derber Finger an die Tür klopfte.

Auf das verwundert unwillige »Herein« des Pflegers öffnete sie sich und einige Bauersmänner traten ein, hinter welchen auf dem Korridor eine noch beträchtlichere Anzahl sichtbar wurde. »Was soll das heißen?« fuhr Ettlinger sie an, indem er das gesiegelte Schreiben zornig auf den Tisch schleuderte. »Was wollt ihr? Wie könnt ihr euch unterstehen, mich hier in meinem Schlafzimmer zu überfallen? Hinaus – auf der Stelle hinaus, oder ich lasse euch durch die Schergen weisen, wo der Weg in die Amtsstube führt, und daß heute kein Amtstag ist …«

Uneingeschüchtert hatten sich die Männer vor dem Zürnenden in eine Reihe gestellt; es waren lauter entschlossen aussehende Gesichter mit kurz geschnittenem Haar, das an den Schläfen scharfe Ecken bildete, hinter den Ohren aber und im Nacken in schlichten Locken herabhing. Sie trugen Mäntel von grobem dunklen Tuche, wie sie zur Winterzeit auf dem Lande überall üblich sind; davon war der ganze übrige Anzug verdeckt bis auf die starken, mit schweren Nägeln beschlagenen Bundschuhe. Der Vorderste, der Hammerschmied von Gauting, ragte eine halbe Kopflänge über die anderen hinaus. »Wir wissen sehr wohl, gestreng' Herr,« sagte er, für alle das Wort ergreifend, »daß das nicht die Amtsstube ist – aber wir haben unten gehört, daß Sie ausreiten wollen, und haben gefürchtet, Sie drüber nicht anzutreffen …«

»Nun, was wollt ihr?« rief der Pfleger mit finsterer Amtsmiene. »Denkt ihr, weil ihr eben auf dem Wege ins Wirtshaus seid, müsse ich euch nebenher auch gleich zu Willen sein? Wißt ihr nicht, welch ein Tag heute ist!?«

»Wohl wissen wir das,« entgegnete der Hammerschmied, »aber wir haben gemeint, wenn dem gestreng' Herrn der Tag nicht zu heilig ist, auf die Jagd zu gehn, könnt er uns alleweil auch anhören …«

»Nun denn … was soll es sein?« rief Ettlinger etwas minder barsch.

»Der gestreng' Herr wissen, daß unter den Aufkirchnern schon lang ein Streit besteht über die Bahn, auf der das Holz im Winter aus dem Forste geschafft werden darf … Sie haben gesagt, wir sollten einmal an einem halben Feiertage das Feld- und Waldgericht bestellen, damit der Weg begangen wird, und da's jetzt gerade einen tüchtigen Schnee herausgemacht hat, haben wir gemeint …«

»Warum nicht gar!« rief Ettlinger wieder auffahrend. »Davon kann heute keine Rede sein! Ich habe keine Zeit! Packt euch fort – ich werd' es euch schon wissen lassen, wenn es mir angenehm ist …«

Trotz des befehlenden Tones und der gebieterischen Gebärde standen die Männer wie festgewachsen und mit unveränderten Mienen. Betroffen blickte der Pfleger sie an – der Schatten eines Argwohns glitt über seine Züge.

»Wir wollten halt den gestreng' Herrn noch einmal schönstens gebeten haben – daß er mit uns gehn möchte …« begann der Hammerschmied wieder.

»Ich habe euch schon gesagt, daß ich nicht will!«

»Dann …,« fuhr der Redner etwas zögernd fort, »dann wird es sich kaum anders tun lassen – es ist jetzt einmal alles hergerichtet – dann wird der gestreng' Herr wohl mitgehn müssen!«

»Müssen?« rief Ettlinger und trat einige Schritte zurück; sein Verdacht war Gewißheit geworden – das Geschäft mit dem Aufkirchner Waldgerichte war nur ein Vorwand; er hatte es mit Aufständischen zu tun und war gewissermaßen schon ihr Gefangener. Er war überrascht, aber gewandt genug, die Lage augenblicklich zu übersehen. »Müssen?« wiederholte er. »Erkühnt ihr euch, in solchem Tone zu mir zu sprechen? Meint ihr, ich hätte eure Keckheit so lange ertragen, wenn ich nicht euch und euer ganzes Vorhaben durchschaute?«

Die Reihe, überrascht zu werden, war jetzt an die Landleute gekommen.

»Aufrührer seid ihr alle!« fuhr er fort, »Verschwörer und Rebellen gegen den Kaiser, euren gegenwärtigen Landesherrn! Ist es nicht so? Habt ihr nicht heimliche Zusammenkünfte gehabt vor wenig Tagen noch in der Jochmühle am Kochelsee? Habt ihr euch nicht verabredet, heut nacht vor München zu ziehn und mit dem Schlage zwölf die Stadt zu überrumpeln?«

»Ja, so ist es!« rief der Hammerschmied und andere mit ihm. »Wir leugnen es nicht, wenn Sie's doch schon einmal wissen …«

»Seid ihr nicht eben auf dem Wege nach dem Versammlungsorte?« fuhr der Pfleger triumphierend fort. »Habt ihr die ganze Sache nicht vor mir geheim gehalten, weil ihr gemeint habt, ich sei gut kaiserlich und würde euch entgegen sein? Seid ihr nicht jetzt eben deswegen bei mir und gedachtet mich unschädlich zu machen und mit euch zu führen?«

»Der gestreng' Herr könnten's schier erraten haben,« entgegnete der Hammerschmied mit etwas gezwungenem Lächeln.

»Ihr seht – ich weiß alles!« rief der Pfleger wieder. »Ich habe euch in der Hand! – Wenn ich wäre, wofür ihr mich gehalten habt, meint ihr, ich hätte euer Vorhaben nicht schon längst der Landesadministration angezeigt? Ich bin es nicht – wenn ich auch auswendig einen anderen Schein gegeben habe, im Herzen bin ich so gut bayerisch wie jeder von euch! Obwohl ich das Geheimnis nicht eurem Vertrauen verdanke, habe ich es doch bewahrt …«

Unter den Landleuten war eine starke Bewegung entstanden: die Mitteilung des gefürchteten und gehaßten Beamten war zu unerwartet, als daß die schlichten Leute damit sogleich ins klare zu kommen vermocht hätten. Sie ahnten nicht, welche Gedanken und Entschlüsse in dem überlegenen Kopfe ihres Gegners aufgetaucht und schnell zur Reife gekommen waren. Gelang, was er vorhatte, so war er nach beiden Seiten gesichert – wenn der Aufstand siegte und Max Emanuel in seine Staaten zurückkehrte, hatte er sich das Verdienst eines Patrioten erworben; mißlang das Vorhaben, so war ihm die beste Gelegenheit geboten, die Pläne der Empörer kennen zu lernen und so zu lenken, wie es im Interesse des Kaisers lag.

»Das muß ich schon sagen,« sagte der Hammerschmied nach einer Pause der Verwunderung, »das hätt' ich mir nicht im Traume einfallen lassen, daß der gestreng' Herr einer von den Unsrigen wär'! Ihr gewiß auch nicht, Männer? Aber dann ist's desto besser und wir bitten herzlich gern um Verzeihung, wenn wir Ihnen unrecht getan haben!«

»Das habt ihr, meine Freunde,« rief Ettlinger in zutraulich biederem Tone. »Ihr habt eben nach dem Scheine geurteilt, und ich verdenk' es euch nicht! Ihr habt nicht bedacht, wie schwankend und unsicher die Stellung eines Beamten ist! Ihr, auf euren Gütern, Anwesen und Gewerben, ihr seid unabhängig – was kann ein Beamter tun, der brotlos wird mit Weib und Kind, wenn er eine eigene Meinung haben will? Ich konnte nicht anders – ich mußte mich verstellen, so hart es mir ankam … darum verzeih' ich euch gern, ihr wackeren Männer … Ja, ich tue noch mehr! Ich gehe mit euch – ich will einer von den Eurigen sein …«

»Ein Mann, ein Wort?« rief der Hammerschmied und streckte seine Rechte hin, in welche der Beamte wacker einschlug. »Das ist recht … damit ist der letzte Stein gehoben! – Also eilen Sie sich ein wenig, gestreng' Herr, damit wir nicht zu spät kommen; wir haben ein gutes Stück Weg vor uns …«

»Gut, gut,« entgegnete Ettlinger unbefangen, indem er den Mantel umwarf, »geht nur voran, meine tapferen Freunde – ich folge euch sogleich …«

»Das braucht's nicht!« sagte der Hammerschmied, ihn fixierend, »es wird wohl das Gescheiteste sein, wir bleiben gleich beieinander …«

»Wie? Habt ihr noch Mißtrauen gegen mich?«

»Das gerade nicht, gestreng' Herr … Sie werden kein solcher Judas sein, daß Sie selber mit uns gehen und uns heimlicherweis' doch verraten täten … aber besser ist besser … die Sach' ist auf alle Fäll' ein bissel geschwind gegangen, und was so gar geschwind geht, dauert oft nicht lang …«

»Nun – wie ihr wollt … Dann will ich nur noch dies Schreiben abschicken …«

»… Ein Schreiben? Wohin denn?«

»Nach München – an einen guten Freund – dem ich einen Weihnachtsbraten schicken will …«

»Oho, das braucht's auch nicht!« rief der Hammerschmied mit eigentümlichem Lachen. »Den Botenlohn können Sie ersparen … bis morgen früh sind wir selber in der Stadt und können den guten Freund selber grüßen und einen Braten mit ihm speisen … Brauchen keine Sorg' zu haben, gestreng' Herr,« fuhr er fort, da Ettlinger schwieg und in verborgenem Ingrimm seinen Anzug vollendete, »es ist alles so verabredet und veranstaltet, daß es gar nicht fehlen kann. Sollen sich auch unserer Kameradschaft nicht zu schämen haben … Zeigt einmal, Landsleute, daß wir auch unsern Mann stehn …«

Wie auf Befehl saßen die Hüte auf den Köpfen der Bauern; die Mäntel schlugen zurück, und in den Händen blinkten Stutzen und klirrende Musketen; aus den Gürteln sahen Pistolengriffe hervor, und an mancher Hüfte hing der stachliche Morgenstern, ein Beweis, daß der Träger sich gefaßt gemacht hatte auf ein tüchtiges Mordgewühl. Es war ein einfacher, aber kriegerischer Anblick. »Vortrefflich! Überraschend – in der Tat!« rief Ettlinger mit gezwungenem Lachen, »bei solcher Ausrüstung kann der Sieg nicht fehlen! Vorwärts also – nach München!«

Während er den Hirschfänger umgürtete, hatte er Gelegenheit gefunden, das kleine Briefchen unbeachtet in die Tasche seines Wamses gleiten zu lassen: er war gewiß, unterwegs noch einen Boten für dasselbe auszufinden.

Die Landesverteidiger verließen mit dem Pfleger das Schloß: sie wichen ihm ohne Auffallenheit nicht von der Seite, und alles hatte den Anschein, als ob der Beamte mit den Angehörigen des Pflegebezirks irgend ein Geschäft vorzunehmen habe.

Als sie an der Küche vorüberkamen, kauerte der Narren-Veitl hinter dem Guckfensterchen derselben … Niemand gewahrte den Blick des Einverständnisses, der zwischen Ettlinger und ihm hin- und widerflog. –

Indessen hatte sich im engen und tiefen Isartale bei Schäftlarn bereits ein sehr belebtes kriegerisches Bild entwickelt. Alle Zugänge in das Tal, von Ebenhausen herunter und gegenüber, wo die Brücke von Grünwald über die Isar führt, nicht minder alle Fußwege und Bergpfade an den Flußleiten stromauf und stromab waren mit zahlreichen Wachen und Vorposten besetzt, welche die heranrückenden, befreundeten Scharen zu empfangen und jeden Späher oder Unberufenen anzuhalten hatten. Es ging schon stark gegen Mittag, die Kälte hatte sich etwas gebrochen und die Sonne schien so recht in den Talkessel hinein, daß die schneeige Sohle desselben glitzerte und die Schneeflocken von Tannenästen und dürren Buchenzweigen niederglitten. Am linken Ufer zieht sich erst unter Obstbäumen, dann unter hohen Buchen ein kleines Sträßchen, langsam aufsteigend, bis zur Kante des Höhenrandes, welcher als ein Übersichtspunkt weithin die Hochebene beherrscht. Wo das Sträßchen aus den Buchen ins Ackerland hervortritt, war ein solcher Vorposten aufgestellt; es waren Gebirgsbewohner in der Tracht, wie sie um Miesbach, dann die Schlierach entlang und am Schliersee bis heraus nach Hundham und Marbach getragen wurde. Auf den grünen Hüten steckte ein Tannenreis und um den Ärmel der Joppe war ein weißblaues Band geschlungen, während Leutnant Abel als Kommandierender des Pikets eine Schärpe von gleicher Farbe um den Leib trug. Unter den grauen, leeren Baumgerippen kräuselte der Rauch eines kleinen Wachtfeuers hinan, um welches die Schar gelagert war – ein schöner junger Bursch, der trotz der bloßen Kniee die Kälte nicht zu spüren schien, stand als Wache am Wegrande; auf einem Steine nebenan saß ein alter Mann: der Lagerbrauch schien nicht zu verbieten, daß beide sich miteinander unterredeten.

»Es dauert doch hübsch lang, bis alle zusammenkommen,« sagte der Bursche; »es muß jeden Augenblick Zwölfe läuten, und die Tölzer und die von der Valley sind noch nicht da …«

»Werden nicht ausbleiben,« erwiderte der Alte, »sie haben den weitesten Weg. Sind doch die Starnberger so nahe dabei, und sind erst vor einer halben Stunde durch die Ebenhauser Leiten heruntergekommen …«

»Wenn man den Wolf nennt, kommt er gerennt!« rief der Junge und deutete mit dem Gewehrlaufe nach dem gegenüberliegenden Ufer hin, wo eben ein Zug von Bewaffneten aus dem Walde hervorkam und auf die Isarbrücke loszog. »Das werden die von der Valley sein! Sie haben ein weißes Fähnl mit dem bayerischen Löwen in der Mitt' … die Gräfin Tattenbach hat's ihnen gestickt, mit eigener Hand gestickt …«

»Der zu Pferde voraus,« sagte der Greis, »ist der Pfleger Allram von Valley – ich kenne seinen Rotschecken …«

Von den Türmen des Schäftlarner Klosters scholl das mittägliche Glockengeläute hell und klar durch die blattlosen Waldwipfel herauf. Die ländlichen Krieger bekreuzten sich und sprachen andächtig ihr frommes Gebet.

»Und jetzt wird's auch Zeit sein, daß ich mich auf den Heimweg mach',« begann nach augenblicklichem Schweigen der Greis und erhob sich von seinem Sitze. »Ich verspat mich sonst und komm' in die sinkende Nacht hinein … es geht nimmer recht mit dem Marschieren …« Das Wanken und Zittern seiner Kniee bestätigte das; der Mann war hinfälliger, als die sitzende Stellung ihn vorher hatte erscheinen lassen.

»Bleib nur noch ein wengel, Großvater,« sagte der Bursche, »es muß alle Bot' die Ablösung kommen – dann begleit' ich dich noch ein Stückel …«

»Nein, Peter – ich habe schon meinen Begleiter, meinen Rosenkranz: auseinandergehen müssen wir doch einmal, also ist's gescheiter, wir tun's freudig gleich jetzt. Ich will den Rosenkranz abbeten für euch alle, weil ich selber doch nimmer mitmachen kann, und für dich, daß du gesund wieder kommst und in Ehren, damit es einmal heißt, wenn die Red' ist von der bayerischen Landesdefension, daß von den Hafnern von Marbach auch einer dabei gewesen ist … Mach's so, halt dich brav, Peter, und b'hüt' dich Gott …«

»B'hüt Gott auch,« erwiderte der Bursche etwas beklommen. »Grüß mir die Mutter und das Forstner-Reserl von der Fischbachau, wenn du sie morgen antriffst auf dem Kirchenweg … und wenn mich ein Kügel treffen sollt', so bet't fein für mich und mein' arme Seel' und laßt mir einen Jahrtag halten bei unserer lieben Frau am Birkenstein …«

»Du wirst ja wohl wieder kommen, Peter,« sagte der Greis mit zitternder Stimme, »unser Herrgott wird wohl ein Einsehen haben, daß ich dich nicht geraten kann … also b'hüt' dich Gott, Peter – wir wollen nit lang' Abschied nehmen …«

Trotz dieses Vorhabens hätte der Abschied vielleicht doch noch länger gedauert, wäre nicht ein Mann mit einem Räderkarren das Sträßchen herangekommen und hätte die Aufmerksamkeit der Wache in Anspruch genommen. Mehrere Burschen traten hinzu, während der alte Hafner seinen sorgenvollen Rückweg antrat. »Was ist denn das für eine Figur?« rief einer von ihnen. »Der hat ja einen Buckel wie ein kleines Hüthaus, und das Gesicht unter der Fuchshauben schaut aus, als wenn die Katzen darin gerauft hätten … Halt, Karner!« fuhr er fort, als der Ankommende zwischen den Wachehaltenden wie völlig arglos hindurchfahren wollte. »Wo willst hin? Was hast auf deinem Karren?«

Aus den Augen des Narren-Veitls blitzten Ingrimm und List, aber wie ein Blitz waren sie auch im Nu wieder in den Wolken der Einfalt und Blödigkeit verborgen. Er hatte den Wink Ettlingers mit tierischem Scharfsinne aufgefaßt und kam ihm auf einem verdachtlosen Umwege nach, um in seiner Nähe und zu seinem Befehle zu sein. »Halt's mich nit auf!« murrte er. »Ich bin der Kloster-Veitl von Benediktbeuern, und auf dem Karren ist ein frischgeschlachtetes Schwein – das muß ich noch vor Abend nach München bringen … zum Hallmayerbräu …«

»Das geht nit!« riefen die Bauern durcheinander. »Es darf kein Mensch mehr hinein auf den Weg nach München – ihr müßt Geduld haben bis morgen, du und der Hallmayerbräu – dein Schwein wird über Nacht nicht verderben …«

»Ich muß! Ich muß!« winselte Veitl und verzog das Gesicht, als ob er weinen wollte. »Ihr dürft mich nicht aufhalten … wenn das Schwein nicht noch rechtkommt zu den Mettenwürsten, krieg' ich Schläg' …«

»Die spürst du nicht!« rief lachend der Bauer. »Bist gar gut ausgepolstert! Nur vorwärts mit dir; da kommt eben die Ablösung – kannst gleich mit uns nach Schäftlarn hinunter, da wirst du von dem Kommandanten selber hören, daß du Geduld haben mußt bis morgen früh …«

Eine neue Abteilung ländlicher Soldaten kam zwischen den Bäumen die Leite heran, die Ablösung war rasch erfolgt und die Abziehenden nahmen lachend den Blöden in die Mitte, der unwillig und lauernd seinen Karren zwischen ihnen dahinschob – er hatte den Anschein eines tief Betrübten, aber manchmal schoß aus seinen lauernden Augen ein Blick des Grimmes auf die verhaßten Bauern.

Aus dem Tale tönte den Näherkommenden das Geräusch verworrener Stimmen und dareinklirrender Waffen immer stärker entgegen; als an der Mühle vorüber der Torbogen des Klosterhofes erreicht war, hatten sie Mühe, sich einen Weg durch die versammelte Menge zu bahnen. Die niedrige Stube des zur linken Seite sich hinziehenden Klosterbräuhauses, in der es summte wie in einem Bienenschwarme, vermochte nur einen kleinen Teil der bewaffneten Landleute zu fassen, die meisten hatten sich im Hofe selbst auf Fässern und Gerüstbalken zurecht gemacht, und wer die Versammlung flüchtig überblickte, hätte kaum an eine kriegerische Absicht derselben gedacht, sondern eher ein Fest vermutet, das nach der gemütlichen Sitte des Landes gefeiert werde. Das treffliche Klosterbier in deckellosen Steinkrügen schäumte in den Händen der Trinker, und ein Faß war in die Ecke gewälzt, um auch im Freien ausschenken zu können. Nebenan brannte ein loderndes Feuer; die Küche im Hause war nicht im stande, den Anforderungen zu genügen, darin schmorten riesige Pfannen mit Nudeln und Schmarren, denn es war der heilige Abend und der fromme Sinn des Volkes blieb auch in seinem kriegerischen Ausnahmszustande dem gewohnten Fastengebote treu.

Vor dem Tore des Brauhauses standen die Anführer der verschiedenen Scharen und hielten eine Art Kriegsrat über den Narren-Veitl, der arglos im Kreise hielt und mit dummem Lächeln die Erlaubnis zu erbitten schien, mit dem Festbraten auf dem Karren seiner Wege ziehen zu dürfen. In dem Ringe standen unter anderen Pfleger Ettlinger von Starnberg, Herr Allram, der Pfleger von Valley, der Gerichtshalter des Grafen Törring zu Seefeld, Kriegskommissarius Fux, Hauptmann Mayer, die Leutnants Abel und Huy, der Zimmermeister Reifenstuel von Tegernsee, der Förster von Fischbachau, der Posthalter von Walchensee, der Wirt von Bayerbrunn, der Hammerschmied von Gauting und der Fahnenträger des Loisachzuges, der starke Schmiedbalthes. Die Meinungen waren geteilt: einige wollten den Burschen als einen unverdächtigen, gefahrlosen Menschen ziehen lassen; andere, namentlich die ehemaligen Soldaten, wollten ihn festgehalten wissen, weil er nun in die Sache eingeweiht sei und daher eben durch seine Blödigkeit zum vielleicht unfreiwilligen Verräter werden könne.

Noch war eine Entscheidung nicht erfolgt, als das Gespräch durch das Erscheinen von zwei Reitern abgelenkt wurde, welche in den Hof gesprengt kamen. Absitzend warfen sie den Zunächststehenden die Zügel zu, um die dampfenden Tiere in den Stall zu bringen, und schritten den versammelten Kommandanten entgegen, während ein Geflüster und Murmeln durch die Menge ging. »Das ist das Haupt von den Münchner Bürgern,« hieß es, »der Jägerwirt im Tal … der andere ist ein Vetter von ihm und sein Adjutant … die bringen wohl Nachricht, wie's in der Stadt ausschaut – jetzt wird's bald losgehn …«

Die Menge bildete eine Gasse und die Führer alle traten Jäger grüßend entgegen: unausgesprochen lag es in Blick und Gebärden aller, daß der Münchner Wirt die Hauptperson, die Seele des Unternehmens war – sein entschiedener, fester Wille, seine erprobte, landbekannte Redlichkeit hatten ihm das allgemeine und unbedingte Vertrauen erworben; er war die Angel geworden, um welche der ganze Anschlag, München zu erstürmen, sich drehte.

Jägers Haltung war fest und männlich, wie immer, aber schlicht und einfach; nur sein Auge war noch ernster, als sonst wohl, und sein Angesicht war trüb, als hätte ein großer Schmerz, der darüber hinweggegangen, seinen Schleier darauf zurückgelassen. »Was ist denn das?« rief er, die Grüße der Anwesenden erwidernd. »Die Tölzer sind noch nicht da? Das ist ja völlig unbegreiflich! Das kann ja unseren ganzen Anschlag zernichten! Wie wär's, Männer, wenn man ihnen eine kleine Streife entgegenschicken tät'?«

Der Vorschlag ward angenommen, und bald schwenkte ein Zug durch das Hoftor ab.

Während dieser Vorgänge war in der Nähe des Tores, im Rücken der Versammlung, an einem der Küchenfenster ein Mädchen sichtbar geworden, mit dunklen Haaren und bräunlichem Antlitz unter der bäuerischen Haube, aber mit Augen von wunderbarer Bläue, welche eigentümlichen Ausdrucks auf Gesicht und Gestalt des Jägerwirts hafteten. Niemand nahm die Erscheinung wahr; als Xavers Blick zufällig an dem Fenster vorüberstreifte, war sie augenblicklich verschwunden. »Sonderbar!« murmelte er vor sich hin. »Wenn das Bauerngewand nicht wär' und das dunkle Haar, wollt' ich darauf schwören, sie wär' es … aber wie käm' die Walpi hierher nach Schäftlarn …«

»Nun, wie soll's werden mit dem Menschen da?« rief Reifenstuel und deutete auf den Blöden, der die ganze Zeit über wie achtlos sich auf seinen Karren niedergehockt hatte. Dennoch hatte er Gelegenheit gefunden, mit Ettlinger einen Blick zu wechseln, und hatte kaum merklich genickt, als dieser die Hand an die Tasche legte, in welcher das Briefchen verborgen war.

»Je nun, wie kann es mit ihm werden!« rief Ettlinger in unbefangenem Tone, indem er lachend an den Karren trat und das darüber gebreitete Tuch von dem Tiere hob. »Ich denke, man läßt den Burschen laufen … wir werden uns doch nicht vor einem solchen Simpel fürchten? – Und dann wäre es wirklich schade,« fuhr er fort, indem er das Tier wie prüfend betastete, »wenn wir unsere guten Freunde in München um einen so delikaten Braten bringen würden … Sacre bleu, es ist wirklich ein Prachtstück!« Dabei schlug er die Decke wieder zurück, die Männer lachten und hatten in ihrer Arglosigkeit nicht gewahrt, daß das Briefchen unter Tier und Decke geglitten war. Niemand wollte weiter einen Einspruch erheben, und Veitl legte wohlgemut die Hand an die Karrenstange.

Jäger war bis jetzt im Gespräche abgewendet gestanden; bei Ettlingers letzten Worten wandte er sich um.

»Ich irre mich nicht,« sagte er, ihm gerade gegenübertretend, »die Stimme und den französischen Spruch habe ich schon einmal gehört … Kennt mich der Herr nicht mehr?«

»Daß ich mich nicht zu erinnern wüßte …« erwiderte Ettlinger unsicher.

»Dann muß ich mich freilich ein zweites Mal selber vorstellen,« fuhr Jäger fort. »Wundert mich aber, daß mich der Herr schon vergessen hat – es ist doch nicht so gar lang, daß wir uns gesehen haben! … Ich bin der Jägerwirt von München – vielleicht erinnern Sie sich jetzt, wie ich Ihnen auf der Hochbrücke im ›Tal‹ den Gaul angehalten habe, als Sie an demselben Tage, an dem München von den Kaiserlichen besetzt worden ist, es so überaus eilig gehabt haben, zu dem Bürgermeister Vacchieri zu kommen!«

»Was? Zu dem Vacchieri?« rief der Hammerschmied dazwischen. »Das ist ja einer von den Allerschlimmsten, ein Erzösterreicher!«

»Allerdings. Der Vacchieri ist's gewesen, der München so eilfertig übergeben hat …«

»Und mit einem solchen ist der Herr Pfleger so wohlbekannt? Einer, der's mit den Österreichern hält, kann mitten unter uns sein?«

»Warum nicht, meine Freunde?« entgegnete Jäger ruhig. »Bei jetziger Zeit kommen die Leute gar sehr auseinander: gar mancher ist aus einem Freunde ein Feind geworden – warum sollt' es nicht auch umgekehrt möglich sein? Aber genau muß man's nehmen und nichts übereilen – das wollen wir auch jetzt. Der Herr Pfleger weiß ja, daß ich das so gewohnt bin: er hat's selber gesagt, wie er mich selbiges Mal für einen Stadtknecht gehalten hat, dessen Geschäft das Aufbringen ist … Drum mein' ich, der Bursch da bleibt in Verwahrung bis morgen – sein Karren dazu und was er drauf hat! Das Schwein bleibt ja wohl frisch bei der Kälte, – es muß ja erst vor kurzer Zeit geschlachtet worden sein!« Er hob das Tuch, als wolle er sich von dem überzeugen, was er gesagt. »Und das Briefe! da,« fuhr er fort, indem er das Schreiben hervorzog – »das wird auch wohl Zeit haben bis morgen früh …«

Ettlinger schrak zusammen, daß ihm die Kniee brachen – ein Schrei der Überraschung, des Entsetzens und der Entrüstung ertönte aus dem Munde der Umstehenden. »Was?« riefen sie durcheinander, »ein Briefe! steckt in dem Karren? Was steht darin? Von wem ist es? Und an wen?«

Jäger hatte das Blatt erbrochen. »Mit Verlaub, Gnaden Herr Pfleger!« sagte er und las Aufschrift und Inhalt mit lauter Stimme vor.

Es war die flüchtige Anzeige Ettlingers an Vacchieri über den beabsichtigten Überfall.

Die Wirkung war ungeheuer. Eine Sekunde lang waltete das tiefste Schweigen; dann brach ein Geschrei wütenden Unwillens los und trug die Kunde zu den Entferntesten hin, daß alles wie ein Knäuel durcheinanderdrängte und auf Ettlinger eindrang, dessen erdfahles Gesicht mehr dem eines Toten als eines Lebenden glich. Büchsenläufe richteten sich nach ihm, Kolben, Sensen und Äxte schwebten über seinem Haupte. »Schuft von einem Menschen!« brüllte der Gautinger Hammerschmied, indem er ihn bei der Gurgel faßte und schüttelte. »Also es ist wirklich so? Du gehst bloß mit, um deine Landsleute selber auf die Schlachtbank zu führen und ans Messer zu liefern?«

»Schlagt ihn tot, den Schandkerl!« tobten die anderen, »brecht ihn in der Mitte auseinander, den Judas!« Mit Mühe gelang es Jäger, ihnen den Bedrohten zu entreißen: es bedurfte das ganze Ansehen eines Volksmannes, wie er es war, um sie zu beschwichtigen und durchzusetzen, daß der Pfleger mit Veitl und unter sicherer Bedeckung in den Klosterkeller gesperrt, dort bis zum anderen Tage bewacht und dann dem Gerichte übergeben werden solle. Vielleicht wäre es selbst Jäger nicht gelungen, die allgemeine Erbitterung über den Verräter zu meistern, wären nicht von ferne Trommeln und Pfeifen hörbar geworden, die Ankunft der so lange erwarteten Tölzer verkündend.

Darüber wurde die allgemeine Aufmerksamkeit abgelenkt und die Gefangenen dem Bräumeister übergeben, einem bewährten Patrioten, der sie so zu bewahren versprach, daß weder Sonne noch Mond sie finden solle, geschweige denn ein Österreicher.

Mittlerweile marschierten die Tölzer durch die jubelnde Menge in den Klosterhof: ein paar Hunderte schöner, kräftiger Männer und Jünglinge, teils Bürger und Einwohner des Marktfleckens, teils Landleute aus den umliegenden Dörfern bis Holzkirchen und Warngau hin. Sie trugen grüne, schmalkrempige Spitzhüte, Joppen und meist schöne Birsch- und Scheibenstutzen; in der Mitte wehte eine weiße Fahne mit dem Bilde der allerseligsten Gottesmutter, wie sie über dem Halbmonde auf der Mariensäule zu München steht. Dem Zuge voran schlugen einige frische Buben auf lange, schmale Trommeln los, dann folgten ein paar ältere mit kurzen Querpfeifen, auf denen sie einen einfachen, altertümlichen Marsch bliesen. Hinter den Tölzern kamen in langen Reihen die Mannschaften aus dem Länggries, schlank wie die Tannen, die sie fällten und flößten, und in den langen, grasgrünen Röcken die streitbaren Scharen aus der Jachenau. An der Spitze des ganzen kleinen Heeres schritt Kapitän Gauthier, neben ihm der Bruder des Jägerwirts, ein beträchtlich jüngerer Mann, aber eine nicht minder bedeutende Erscheinung als dieser.

Der Zuruf, der die Schützen begrüßte, schien nicht enden zu wollen: überall streckten sich ihnen Hände entgegen, winkten Tücher und geschwungene Hüte. Der Zug in seiner strammen, geschlossenen Haltung, mit der fast gleichmäßigen Bewaffnung und Kleidung, hatte beinahe das Aussehen einer Abteilung von regelrechten Soldaten: es waren die Scharfschützen der ganzen Volksarmee.

»Ihr seid lang ausgeblieben, Hans,« sagte der Jägerwirt, den Bruder begrüßend, »aber ihr schaut stattlich aus – das Herz lacht einem im Leibe, wenn man euch ansieht!«

»Es war nicht eher möglich,« antwortete der Tölzer Schütze, »wir mußten doch die Länggrieser und die Jachenauer abwarten. Daß wir aber so zusammenseh'n wie gedrechselt, daran ist niemand schuld, als der Kapitän, der Gauthier: das ist ein ganzer Mann, einer, der das Herz auf dem rechten Flecke hat – seit der nach Tölz gekommen ist, ist alles noch einmal so gut gegangen …«

»Aber wie war das möglich? Er versteht doch sehr wenig Deutsch?«

»Wir haben einen Schreiber am Landgerichte,« war die Antwort, »der heißt Jehle, und der hat so ein bissel Französisch aufgeschnappt. Den hat er zu seinem Dolmetscher gemacht, und da kamen wir schon miteinander zurecht. Meine Schützen, Bruder, sind so furios, daß sie ins Feuer gehn werden, wie die hellichten Teufel …«

Im weiteren Gespräche schritten die Brüder langsam dem Hause zu.

Inzwischen hatte Xaver dem Verlangen, sich über das rätselhafte Mädchen am Küchenfenster Gewißheit zu verschaffen, nicht zu widerstehen vermocht. Erst jetzt fiel ihm ein, daß ihm ein Imbiß nach dem starken Ritte willkommen sei, und er fand darin einen willkommenen Vorwand, sich nach der Küche zu begeben. Er war aber bei seiner Nachforschung nicht glücklicher: zwar fand er die Gesuchte sich gegenüber am Herde stehen, aber im nämlichen Augenblicke war sie auch in eine Nebenkammer verschwunden – es war nicht zu erkennen, ob es aus Zufall geschah, oder ob sie dem Beobachter entgehen wollte. Der Meister Tuchmacher hatte seinen Holzteller voll Schmarren längst erhalten und bezahlt, aber er stand noch immer wie unschlüssig in der Küche. »Was will der Herr noch?« rief ihn die Bräumeisterin an, eine derbe, in ihrem Gebiet unumschränkt herrschende Frau. »Bei mir ist kein Platz zum Herumstehn – es gibt noch mehr Leute zum Bedienen!« Xaver war verlegen; er brachte nur notdürftig die Frage heraus nach dem Mädchen, das soeben aus der Küche gegangen sei; die Frau aber war nicht im geringsten gesonnen, seiner unberechtigten Neugier zu entsprechen. »Das geht den Herrn nichts an!« rief sie. »Er hat in meiner Kuchel nach dem Essen zu fragen, und sonst nach gar nichts. Ich mein', der Herr könnt' heut' auch andere Gedanken im Kopfe haben, als an ein Mädel!«

Xaver ging tief beschämt, namentlich die letzten Worte waren mit aller Kraft eines begründeten Vorwurfs an sein Herz gedrungen. Trotz aller Hingabe und Begeisterung für die Sache des Vaterlandes hatte er doch Augenblicke und Stunden, wo Walpis lieblos schönes Bild hartnäckig nicht aus seiner Seele wollte, und seit sie aus München nach Tölz gebracht worden war, hatte das Übel sich nur noch verschlimmert. »Die Frau hat recht,« schalt er sich selbst in seinen Gedanken, »was kümmr' ich mich noch um das Mädel! Wenn sie mich nun einmal nicht mag … wenn ihr der Ungar lieber ist als ich, soll ich mich darüber hinunterkränken und wohl gar betteln bei der hoffärtigen Dirn'? … Freilich, sie geht auf bösem Wege, es ist schade um sie, wenn sie so zu Grunde gehen soll … aber sie will es selber nicht anders! Sie ist's wohl auch gar nicht gewesen … die sitzt behaglich in Tölz und würde mich nicht wenig verspotten, wenn sie wüßte, was ich für ein weichherziger Narr bin!«

So sehr er aber bemüht war, sich die Sache auszureden: er hatte doch recht gesehen.

Es war wirklich Walpi, die in die Kammer entsprungen war und nun, da diese keinen zweiten Ausgang hatte, darin Xavers Entfernung abwarten wollte. Sie drängte sich schmal in den vordersten Winkel, hart hinter die verblendeten Fenster, denn in der Tür befand sich ebenfalls ein kleines Guckloch und sie besorgte, Xaver werde seine Nachforschung so weit treiben, durch dasselbe hereinzuspähen. Sie hatte es damit nicht besser getroffen. Wohl ward sie nicht gesehen, aber sie selbst sah durch die trüben Scheiben die Umrisse von zwei Männergestalten, die ihr augenblicklich bekannt waren, auch wenn die Stimme des einen ihrem Ohre minder fremd geklungen hätte. Es war ihr Vater und der Oheim, welcher in vertrauter Unterredung vor den Fenstern stehen geblieben waren. Sie durfte sich nicht bewegen, und mußte so die unfreiwillige Zuhörerin derselben werden. Hätten beide durch die Scheibe das Mädchen erblicken können – sie würden dieselbe ganz verändert gefunden haben: nicht bloß durch die bäuerische Tracht und die sonst angewendeten Entstellungsmittel. Sie war noch schön wie zuvor, aber eine wilde, unheimliche Glut in den Augen und auf den Wangen verriet, welch ein Feuer der Leidenschaft dahinter brannte – alles zerstörend bis auf einen unseligen Gedanken, der ihr ganzes Sein, Wollen und Tun erfaßt, umsponnen und erstickt hatte. Nur mit Widerwillen und stündlich steigendem Unmute hatte sie das unabänderliche Gleichmaß des Lebens in dem still bürgerlichen Hause des Vetters in dem geräuschlosen Tölz ertragen: ihre Gedanken und Wünsche hatten immer hinausgestrebt über die enge Umgrenzung, und als von Istvan die bei der letzten Unterredung so unverbrüchlich zugesagten Nachrichten immer nicht eintreffen wollten und ihr kein Zweifel darüber bleiben konnte, daß man selbe vor ihr verbarg und sie in einer Art Gefangenschaft hielt: da war ihr Entschluß schnell gefaßt und schnell vollzogen. Sie wollte und mußte aus dieser Umgebung fort, das stand fest in ihrem Gemüte; sie mußte zu Istvan und mußte hören, warum alle Nachricht von ihm ausgeblieben – aber sie war klug genug, einzusehen, daß man ihre Spur gar bald entdeckt haben würde, wenn sie geradezu nach München gehen oder sich anderswo in ihrer gewöhnlichen Kleidung zeigen würde. Sie war daher im Gewande einer Bäuerin entflohen und hatte sich, um vorerst ihren etwaigen Verfolgern ganz aus den Augen zu kommen, als Magd in Schäftlarn verdungen, wo niemand sie kannte und niemand sie zu suchen einfallen mochte.

Sie hörte anfangs dem Gespräche nur mit halber Aufmerksamkeit zu: es war mehr der Ton der väterlichen Stimme, was ihr trotz Widerstrebens mächtig an Ohr und Seele schlug; bald aber hielt auch der Inhalt sie mit immer steigender Spannung gefesselt: er betraf die Vorbereitungen zum Überfalle der Hauptstadt, welche von den Brüdern nochmal durchgegangen und besprochen wurden. »So weit wär' denn alles in der schönsten Ordnung,« sagte Hans Jäger. »Wir sind hier im ganzen doch nahezu dreitausend Mann stark, die Unterländer von Anzing her machen wenigstens das Doppelte aus – da können wir's wohl mit der Besatzung aufnehmen.«

»Damit hat's keine Gefahr,« erwiderte Georg. »Es ist alles gut verabredet. Die Reichstruppen, die in der Stadt liegen, sind im Grunde nicht gegen uns; sie sehen die Sache jetzt ganz anders an und meinen, wenn sie an unserer Stelle wären, sie würden es nicht anders machen als wir – die eigentlichen Kaiserlichen aber, die Panduren und die Ungarn, mit denen würden wir freilich einen härteren Stand haben. Drum ist die erste Vorsorge dafür getroffen, daß sie in ihren Kasernen überfallen und eingeschlossen werden … Geben sie sich dann gutwillig, so ist es recht; wollen sie sich wehren, so müssen sie eben ins Gras beißen – sie haben es längst nicht besser verdient ums Land!«

Der Kopf der Lauschenden glühte wie in Fieberhitze – ein unwillkürlicher Seufzer drängte sich aus ihrer Brust.

»Was war denn das?« fragte Hans. »Hast du nichts gehört? Mir war, als ob etwas geseufzt hätte …«

»Ich habe nichts gehört,« erwiderte Jäger und wollte gehen.

Der Bruder hielt ihn zurück … »Und sonst hast du mich um gar nichts zu fragen?« sagte er.

»Ich wüßte nicht, um was …«

»Ich sollt's doch meinen – sie ist und bleibt doch immer dein Kind …«

»Rede mir nicht von ihr!« rief Jäger in schmerzlich ausbrechendem Grame. »Schweig davon für immer – wenn du mir nicht etwas anderes sagen kannst, als was in deinem Briefe steht …«

»Das kann ich leider nicht …«

»Dann bleibt es dabei! Dann ist sie auf und davon …, dann hat sie mir alle Lieb' und Treu' mit Schlechtigkeit vergolten und hat Schimpf und Schande auf meinen grauen Kopf gebracht … Schweig, Bruder, ich will nichts mehr hören von der Landfahrerin!«

»Wo sie nur sein mag!« begann der Bruder nach einer Pause. »Überall habe ich um sie gefragt und nach ihr suchen lassen – es war umsonst, sie ist wie vom Erdboden verschwunden!«

»Wird schon zu ihrem Krawaten gelaufen sein,« erwiderte Jäger finster.

»Hast du ihr denn nicht nachgefragt in der Stadt?«

Der Wirt richtete sich hoch und mit ungewöhnlichem Stolze auf. »Ich denk', du soll'st mich bester kennen, Bruder! Was hab' ich nach dem Krawaten zu fragen und nach der verlaufenen Dirn? … Ich hab' keine Tochter – ich hab' nie eine gehabt … und wenn ich an die denk', die einmal so geheißen hat, dann geschieht es nur, damit mich das Blut weniger reut, das heut vergossen werden muß, denn es ist schuldiges Blut: die ganze lang geborgte Rechnung wird auf einmal gezahlt …«

Sie gingen. Walpi war allmählich wie betäubt in die Knie gesunken. Die Worte des Vaters zermalmten den noch immer besseren Teil ihres Herzens, dennoch blieb nichts davon in ihren Gedanken haften – die dem Geliebten drohende Gefahr verdrängte und verdunkelte alles. In wenig Stunden sollte er überfallen werden, einem gewissen, vielleicht grausamen Tode entgegengehen – und sie sollte das wissen und keinen Versuch machen, ihn zu retten? Das vermochte sie nicht! Sie dachte nicht daran, das Geheimnis des Vaters preiszugeben – aber ebenso klar stand es vor ihr – der Geliebte mußte gewarnt, er allein mußte wenigstens aus dem Verderben gerettet werden, das der anderen wartete. Sie wußte nicht, wie sie das vollbringen könne, aber ein Ausweg, ein Vorwand mußte gefunden werden – sie wollte ihn finden, sie hoffte es zu erreichen … Wie mechanisch wankte sie in die Küche zurück, ergriff einen noch halbgefüllten Eimer, wie um Wasser zu holen … auf dem Vorplatze stellte sie denselben nieder und eilte hastig die Stiege hinan zu ihrer Schlafkammer. Halb außer sich, raffte sie ihre Habseligkeiten zusammen, schlug ein großes Tuch über Kopf, Hals und Rücken – eilte auf den an der Hinterseite des Hauses sich hinziehenden Gang und schwang sich mit beherztem Ansätze von dem Geländer hinunter in den Schnee.

Im nächsten Augenblicke war sie in der stark einbrechenden Dämmerung und dem bergansteigenden Gehölze verschwunden. – –

– Im Klosterhofe rasselten indes die Trommeln, zum Zeichen, sich zu sammeln und zum Aufbruche bereit zu machen. In ein weites Viereck standen die Landesverteidiger geordnet, nach ihren Heimatsorten abgeteilt. Neben den Tölzern, Länggriesern und Jachenauern standen die Kämpfer von Schliersee mit den Zuzügen von Marbach und Hundham, aus Geudau und Bayerisch-Zell; an diese reihten sich die Männer von Tegernsee, Egern und Gmund, die von Walchen- und Kochelsee und die der Loisach entlang Wohnenden. Die Wolfratshausener und Starnberger bildeten den Schluß, mit ihnen die weiter Herbeigekommenen von Ettal, Eschenloh, Partenkirchen und Ammergau, wie von Murnau und Weilheim. Die Anführer standen in der Mitte, bei ihnen die Fahnenträger und einige Leute mit Fackeln: der rote Schein derselben zuckte wandelbar und von schwarzem Rauchqualm unterbrochen über die ernst schweigenden Reihen hin und ließ die Umrisse der Klosterkirche erkennen, deren Türme feierlich in die nicht sternenlose, aber ungewöhnlich finstere Winternacht emporstiegen.

Wieder schlugen die Trommeln ein; vom Kloster her kam ein Benediktiner geschritten, um den Landleuten den Segen zu erteilen, um den sie gebeten hatten.

Totenstille herrschte ringsum: von einer erhöhten Stelle breitete der Pater einen Augenblick die Arme schweigend über die Menge aus und begann dann: »Herausführen wirst du mich aus der Trübsal, o Herr! und wirst zerstreuen meine Feinde in deiner Barmherzigkeit – also hat der Psalmist gebetet und also betet auch ihr! Und ihr betet so mit Recht, denn der Herr, unser Gott, hat gesagt: ›Und wenn eine Mutter ihres Kindleins vergäße – ich will euer nicht vergessen!‹ Ihr habt Haus und Hof, Weib und Kind verlassen und seid ausgezogen, zu kämpfen für das Land, das uns alle geboren, an dem unser ganzes Herz hängt – für unseren Landesherrn, für seine armen, unmündigen Kinder – ihr geht einem ernsthaften Streite entgegen, und die glückselige Stunde, in welcher der Herr und Heiland geboren wurde, wird für manchen unter euch das Stündlein werden, das ihn da abrufet aus dieser Zeitlichkeit … Aber seid getrost – auf eurer Fahne führt ihr die beste Vorbitterin mit euch, und mit goldenen Buchstaben habt ihr um sie herum geschrieben: ›Mutter Maria, steh uns bei!‹ – Ja, sie wird euch beistehen! Sie wird eure Fürsprecherin sein, und der Heiland wird sagen: ›Du guter und getreuer Knecht, geh ein in die Seligkeit, die mein Vater bereitet hat von Anbeginn.‹ Darum, so ziehet getrost in den Kampf, denn es ist ein guter Kampf, und auf allem, was gut ist, ruhet der Segen des Himmels! In seinem Namen segne ich euch – zum Leben und Sterben, wie es sein heiliger Wille ist – im Namen des Dreieinigen, der da war und ist und sein wird von Ewigkeit zu Ewigkeit … Amen!«

Bei den letzten Worten waren alle lautlos auf die Knie in den Schnee gesunken – dreimal, in kurzen Absätzen, wirbelten die Trommeln und die Fahnen senkten sich, als wollten sie in Ehrfurcht die Todesweihe empfangen, die aus der Nacht geheimnisvoll auf sie niedersank. –

Als wieder Leben und Bewegung in die Gruppe kam, begannen die Mannschaften nach dem Rufe der Führer sich in zwei große Abteilungen zu ordnen. Der Jägerwirt und Xaver hatten ihre Pferde vorführen lassen und wollten fort, um die Stadt noch rechtzeitig zu erreichen. Wohlgemut, mit fröhlichem Handschlage schieden die Männer voneinander. »Gott behüt' uns alle miteinander!« rief Jäger noch vom Sattel herunter. »Auf Wiedersehn um Mitternacht und morgen früh, so Gott will, beim Lob- und Dankamt in der Frauenkirche!« Sie sprengten fort, und bald war der Hufschlag den Berg hinan verhallt.

Jetzt waren die beiden Züge geordnet. Der eine, worunter die Tölzer, sollte über die Isarbrücke bei Schäftlarn nach Grünwald vordringen, von dort auf dem rechten Flußufer vorrücken und den roten Turm mit der Isarbrücke angreifen; der andere sollte über Ebenhausen, Bayerbrunn, dann Thalkirchen und Sendling vordringen und, wenn vom Petersturme die Rakete aufsteige, das Sendlinger- und Neuhausertor stürmen. Die letzte Abteilung führte Hauptmann Mayer, die andere hatte sich einstimmig Kapitän Gauthier zum Kommandanten gewählt.

Schon war das Signal gegeben und die Tölzer Schützen begannen bereits durch das Hoftor zu marschieren, als von ferne lautes Rufen hörbar wurde, in welches sich der Hufschlag eines heranstürmenden Pferdes mischte. Unruhig und verwirrt hielt alles inne, und nach wenig Augenblicken kam Posthalter Kirner von Anzing atemlos auf schweißtriefendem Gaule in den Hof gejagt. »Gott sei ewig Lob und Dank!« rief er, noch ehe er aus den Bügeln kam, den sich herandrängenden Kommandanten und den Umstehenden zu. »Mein Leibrössel! Mein Goldfüchsel!« fügte er hinzu, das Tier streichelnd. »Das hat's zuwege gebracht – einen solchen Ritt von Anzing her, den macht ihm kein zweites nach! Gott sei Dank, daß ihr doch noch nicht abmarschiert seid …«

»Warum? Warum?« schallte es von allen Seiten. »Was ist geschehn?«

»Nichts! Nichts ist geschehen!« rief Kirner. »Ihr braucht nicht zu erschrecken, aber es kann auch nichts geschehn – der Sturm auf München ist unmöglich heut nacht …«

»So sagt doch, warum …«

»Es ist Botschaft da von denen am Inn und von den Unterländern: sie können nicht eintreffen, wie's verabredet ist – der Wendt und der Kriechbaum stehn mit zehntausend Mann dazwischen und verlegen ihnen den Weg. Drum hat der Plinganser Nachricht von Burghausen geschickt: er muß erst Verstärkung haben, eh' er die zwei angreifen und sich durchschlagen kann – drum soll heute nacht nichts mehr unternommen werden …«

Die Anführer traten zur Beratung zusammen, natürlich nicht streng unter sich: die lockere Unterordnung hinderte die Untergebenen nicht, zuzuhören und nach Gutdünken auch daran teilzunehmen. Die Beratung mußte daher eine sehr laute und stürmische werden, denn die Meinungen gingen scharf auseinander, Gemüter und Köpfe waren in jeglicher Weise aufgeregt und erhitzt. Eine nicht geringe Anzahl war dafür, auseinanderzugehen und eine bessere Stunde abzuwarten; dazu gehörten Allram, der Pfleger von Valley, sowie der von Wolfratshausen, fast alle Beamten und Militärs; dagegen waren es die meisten Landleute, besonders die Tölzer, Länggrieser und Jachenauer, welche ihre Kampfbegierde nicht mehr zu zügeln vermochten; ein dritter Teil war dafür, zwar nicht sofort loszuschlagen, aber auch nicht auseinanderzugehen, sondern sich einfach zurückzuziehen, und in der Gegend von Valley feste Stellung zu nehmen, bis weitere Nachricht da sei, und dann mit den Unterländern vereinigt und gleichzeitig vorzudringen.

»Wir können jetzt nicht mehr zurück!« rief der Gautinger Hammerschmied. »Wenn wir auseinandergehn oder uns zurückziehn, ist es gerade so gut, als wenn wir's ganz aufgeben. Wir kommen nie wieder so einmütig zusammen, drum wollen wir das Eisen schmieden, weil's warm ist!«

»Ich sehe das nicht ein,« entgegnete Allram. »Die Begeisterung, die uns heute zusammengeführt hat, ist echt und wahr und kein Flugfeuer, das im Augenblicke verflackert! Wir können jeden Tag wieder so zahlreich dastehn wie heute …«

»Ich muß dem Hammerschmied recht geben,« sagte Jäger von Tölz. »Was der Herr sagt, ist nicht möglich, weil das, was bis jetzt geschehen ist, nicht verborgen bleiben kann. Der Feind wird dann schon sorgen, daß uns das Wiederzusammenkommen versalzen wird!«

»Das sag' ich auch!« rief der Wirt von Bayerbrunn. »In jedem Falle hätten wir dann einen schlimmen Stand … was wir vorhaben, kann nur durch die Geschwindigkeit geraten, durch die Überraschung – und nur heut' nacht, wo kein Kaiserlicher an einen Überfall denkt!«

»Und geben wir's für heute auf, so ist's für immer aufgegeben!« rief Jäger wieder. »Ich bleib' dabei!«

»Aber liebe Landsleute und Freunde,« begann Allram, »laßt uns die Sache doch ruhig überlegen und nicht in der Hitze abmachen. Wir sind gewiß nicht minder begeistert und kampfbereit als ihr, aber ihr müßt doch zugestehen, daß die Überrumpelung von München eine Unmöglichkeit ist, nachdem die Unterländer von uns so gut als abgeschnitten sind. Rücken wir jetzt vor München, so haben wir die Kaiserlichen auch im Rücken und kommen geradezu zwischen zwei Feuer …«

»Das fürchten wir nicht,« unterbrach ihn Jäger. »Haben wir nur erst einmal München – dann können die Unterländer angreifen, und dann sind's die Kaiserlichen, die zwischen zwei Feuer kommen!«

»Dazu müßten wir doch die Stadt zuvor haben – aber um sie allein zu nehmen, sind wir viel zu schwach! Es wäre eine Tollkühnheit, und hieße sich geradezu selbst ans Messer liefern!«

»Zu schwach? Wo drinnen in der Stadt die Bürgerschaft zu uns steht? Wer ein rechter Patriot ist, denkt nicht so – wir haben dem Kurfürsten versprochen, daß wir die Stadt nehmen und die Prinzen retten, und wir wollen unser Wort auf gut bayerisch halten!«

Allram zuckte die Achseln. »Der Kurfürst?« sagte er. »Was das Land tut, tut's aus eigenem Antriebe – woher wißt ihr, ob der Kurfürst überhaupt die Erhebung gutheißt und etwas davon wissen will?«

»Warum soll er's nicht gutheißen? Ist doch ein eigenes Schreiben da von ihm.«

»Aber ein Schreiben, das nur wenige gesehen – dessen Inhalt niemand kennt!«

Jetzt war es an Gauthier, welchen seine unvollkommene Sprachkenntnis bisher an der Teilnahme verhindert hatte, die Gemüter zu beruhigen, denn es war unverkennbar, daß die ruhig kalten Einwendungen des Pflegers in manchen zaghafteren Seelen Wurzel zu fassen begannen. In seinem gebrochenen Deutsch erzählte er den Landleuten, wie er das Schreiben insgeheim aus dem Kabinett Seiner Durchlaucht mit dem Auftrage erhalten habe, es der wackeren bayerischen Landesdefension zu bringen, aber nicht eher zu öffnen, bis ein neuer Befehl ihn dazu ermächtigte, und wie er allen Grund habe, anzunehmen, dieser Befehl werde, wenn sie nur erst innerhalb der Mauern von München wären, nicht lange auf sich warten lassen.

»Das ist alles recht schön, Herr Kapitän,« begann Allram wieder, »und wir sind natürlich weit entfernt, in Ihre Worte irgend einen Zweifel zu setzen – aber über den Inhalt bleiben wir immerhin unaufgeklärt, und ich glaube daher, Seine Durchlaucht können es nicht ungnädig vermerken, wenn das Schreiben in der eigentümlichen Lage, in der wir uns befinden, schon jetzt geöffnet wird. Ich ersuche Sie daher …«

»Um keinen Preis!« rief Gauthier, der das kostbare Schreiben in einer Lederhülle auf der Brust trug und jetzt hervorgezogen hatte. » Mes braves!« rief er, indem er vor Allrams ausgestreckter Hand zurücktrat und sich zu den Landleuten wendete, die Linke an die Brust, die Rechte an den Degen legend. »Ihr haben gehabt Vertrauen zu mir bis zu diesem Augenblick – zu ein' Chevalier, der verdanken sein Leben à son Altesse Maximilien Emanuel! – zu ein' Mann, der ihm hat geweihen dafür das Leben, sa vie toute entière … Habt Vertrauen noch ferner zu le chevalier de Gauthier! Ick werde gehen niemals von euch – ick werde sterben mit euch, mes braves … aber verlangen nit zu offnen cette dépêche avant der bestimmten Stunden … ick werden auck hier stehn pour ma parole, jusqu'à la mort!«

Es war etwas von unwiderstehlicher Wahrheit in dem ritterlichen Wesen des Franzosen, was auf die Landleute seine Wirkung nicht verfehlte, bei denen er, besonders bei den Scharen von Tölz und Umgebung, durch seine Treuherzigkeit und Freundlichkeit ohnehin bereits bedeutenden Einfluß gewonnen hatte. Viele gaben ihm recht, und es war nur der Ausdruck einer sehr großen Anzahl, als sein Unterkommandant Jäger ausrief: »Wir glauben dem Herrn Kapitän und wollen das Schreiben noch nicht aufmachen! Schlafhauben seid ihr alle, wer ans Umkehren denkt! Wir wollen euch zu Schanden machen – wir Schützen sind's kapabel und nehmen die Stadt allein!«

»Hoho,« entgegnete rasch der Wirt von Bayerbrunn, »ihr braucht das Maul nicht so aufzureißen, ihr Tölzer! Was ihr tut, getrauen sich andere auch – das muß sich erst zeigen, wer in die Schlafhaube hineingehört!«

»Ruhig, Freunde, um Gotteswillen ruhig!« rief Hauptmann Mayer dazwischentretend. »Es ist beinahe, als ob wir schon vor dem Feinde ständen – soll da Zwietracht unter uns aufkommen? Wir Soldaten sind gewiß nicht die letzten, wenn es ans Dreinschlagen geht – aber wir wollen auch, daß jeder seine freie Meinung haben und daß er sie frei heraussagen darf! Wird der Zug beschlossen, so sind wir dabei – wir sind wohl schon öfter in einer noch schlimmeren Patsche gesteckt und haben uns herausgehauen!«

»Und wir wollen uns auch heraushauen!« rief Jäger wieder. »Nicht wahr, bayerische Landesverteidiger, wir wollen nichts mehr hören von Auseinandergehn oder von Rückzug? Habt ihr's auch bedacht, was die Folge wär', wenn wir umkehren täten? Die Münchner Bürger wissen's nicht anders, als daß wir kommen – die schlagen um zwölfe los, wie sie in die Christmetten gehn! Sie verlassen sich auf uns und sind verloren, wenn wir nicht eintreffen! Die Münchner Bürger sind immer gute Landsleut' und Nachbarn gewesen zu uns … wollen wir unser Versprechen nicht halten? Wollen wir uns die Schand' aufbürden, daß es heißen soll in alle Ewigkeit – die Münchner hätten ihre Schuldigkeit getan, aber sie haben nichts ausrichten können, denn die Oberländer haben sie im Stich gelassen?«

Allgemeiner stürmischer Zuruf unterbrach ihn: mochte bisher noch mancher in seinem Innern geschwankt oder gezaudert haben – dieser Grund schlug durch und entschied: mochte geschehen, was da wolle, das verpfändete Wort mußte eingelöst werden. »Wir lassen die Münchner nicht im Stiche!« rief alles durcheinander, und die geschwungenen Sensen, Hellebarden, Äxte und Gewehrläufe blitzten im Fackelscheine. »Wir halten Wort! Nichts mehr von Umkehren! Mutter Maria steh uns bei … Es geht nach München!«

Eine halbe Stunde später waren beide Abteilungen in den bestimmten Richtungen unterwegs.

… Es war schon stark elf Uhr vorüber, als der Vortrab der ersten hinter Harlaching herankam und in die Spitzen des Tannenwaldes vorrückte, welcher damals noch weit gegen das alte Giesinger Bergkirchlein und die wenigen um dasselbe gescharten Wohnhäuser heranreichte. Der Schein der Sterne war hinter Wolken vollständig erloschen, die Nacht war noch finsterer geworden und nur das Schneelicht diente den rasch Vorrückenden zum Wegweiser. Als der Höhenrand erreicht war, von welchem die Isarebene und die Stadt in ihr zu überschauen ist, lag es stumm und schwarz wie ein Grab zu ihren Füßen – nur ganz scharfe Augen vermochten in schwachen Umrissen die Rundkuppeln der Frauentürme oder die Spitze des Petersturmes zu unterscheiden. Auf den Türmen aber war alles still, und mit befremdeter Verwunderung dachte und fragte mancher, warum sich noch kein Geläute hören lasse, es müsse doch schon um die Zeit sein, zu welcher sonst das erste Glockenzeichen zum nächtlichen Gottesdienste gegeben zu werden pflege.

Gauthier hatte den Befehl erlassen, nur mit äußerster Behutsamkeit vorzugehen und alles unnötige Geräusch zu vermeiden – als aber die ersten Schützen gegen die Felder vorrückten und eine Schar von Reitern gewahrten, welche hinter Giesing Posten gefaßt hatten, waren Befehl und Vorsicht im Ungestüm der Kampfbegierde vergessen und die ersten Schüsse knallten verräterisch durch die Nacht. Mit Jubelgeschrei sahen die Schützen einige der Reiter stürzen, die übrigen aber abschwenken und in der Nacht davonsprengen; die ledig gewordenen Pferde wurden eingefangen als leichte Beute und als willkommene Anzeichen eines eben so raschen und völligen Sieges. Vergebens ereiferte sich Gauthier: das Unheil war geschehen und es galt nur, auf die in die Stadt gelangende Meldung des Anrückens auch unmittelbar den Angriff folgen zu lassen. Im Sturmschritt und in gedrängten Haufen ging es den Giesinger Berg hinab, dann längs desselben unter den kurfürstlichen Jägerhäuseln bis an das Paulanerkloster hin; bei diesem sollte die erste Abteilung der Münchner stehen und die Ankommenden empfangen.

»Wer da?« rief es hin, und »Bayerische Landesverteidiger!« scholl es zurück, und von beiden Seiten wurden die willkommenen Freunde mit Händedruck und Umarmung begrüßt. Es war die streitbare Schar der Zimmerleute aus der Vorstadt Au, welche mit Schurzfell und Beil sich bereit hielten, falls man ihrer bedürfen sollte beim Brückensturme.

Unangefochten wurde das Ende der Vorstadt erreicht.

Der Brückeneingang war unbesetzt; drüben ragte der denselben überwölbende und abschließende rote Turm, ein viereckiges, fest gefugtes Gebäude, unheimlich herüber – nichts regte sich als die Wellen der Isar, welche winterlich seicht über ihren Kieseln dahinrauschte.

Auch die Landesverteidiger standen fest wie Mauern und geräuschlos wie Schatten – sie harrten der entscheidenden Stunde und des Zeichens zum Angriffe. Jetzt hoben auf den Türmen der Stadt nacheinander die Glockenhämmer aus und die Schläge der Mitternacht hallten vielstimmig durch das Dunkel – dann war es wieder still … kein Glockengeläute rief zur Mette … kein Feuerzeichen stieg über den finstren Giebeln empor, um zu verkünden, daß die Genossen bereit waren, die Befreier zu empfangen … Immer langsamer und bänger verstrichen den Harrenden die Augenblicke und jede Viertelstunde schien sich zu einer Unendlichkeit zu erweitern – immer unruhiger starrten die erwartenden Blicke in die Nacht – immer ängstlicher schlugen die Herzen und ein unheimliches Geflüster durchlief die Reihen. »Was hat das zu bedeuten?« hieß es. »Nun sind wir da – und nun lassen die Bürger uns im Stiche?« Es war aber nur ein einziger Augenblick des Zagens, der die Gemüter beschlich – im nächsten ward es allen klar, daß die Münchner sicher nicht wortbrüchig waren, daß es also nur Gewalt sein konnte, was sie verhinderte. Der Kochler Schmiedbalthes, welcher mit den Auer Zimmerleuten zuvorderst stand, gab den Ausschlag. »Es hilft kein Zittern vorm Frost!« rief er mit hochgeschwungener Eisenkeule. »Was besinnen wir uns lang? Wort halten heißt's. Vorwärts, Kameraden! Mutter Maria, steh uns bei! Den Münchnern helfen! Die Buben retten!«

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Die Erstürmung des Roten Turmes von München durch den Schmied von Kochel am Weihnachtsmorgen des Jahres 1705.
Nach einem Gemälde von Franz v. Defregger.

Voran stürmten die Scharen, die Zimmerleute an der Spitze – aber so still es im roten Turme gewesen, schien man die Ankommenden dennoch erwartet zu haben, denn kaum hatten die ersten Reihen die Brücke betreten, als es aus allen Turmluken aufblitzte und große und kleine Kugeln in die dichtgedrängte Menge todbringend einschlugen. Viele stürzten; mancher, unfähig, sich zu halten, taumelte über das niedere Geländer in den Fluß hinab – in der ersten Verwirrung stockte der Anlauf; aber die Vordersten hatten schon den Turm selbst erreicht, gewaltsam dröhnten und schmetterten die mächtigen Zimmermannsbeile an das Tor, und mit nur noch heftigerem Andrange ging es vorwärts. Die Eichenbohlen des Tores vermochten in die Länge den Hieben nicht zu widerstehen … krachend stürzten die Flügel nach innen, aber den darüber Eindringenden blitzte ein noch wilderer Kugelhagel entgegen, denn die Kaiserlichen hatten sich im Torwege geschart, und ein wütendes Handgemenge begann. Da waren die Keulen, die Äxte und Morgensterne an ihrem Platze – gegen sie fruchtete kein Widerstand: ehe eine halbe Stunde verging, lag die Turmbesatzung erschlagen und die Landesverteidiger stürmten dem inneren, dem eigentlichen Isartore zu, bis zu welchem der Zwischenraum mit Holzplätzen und Gärten ausgefüllt war; eine kleinere Abteilung schwenkte rechts gegen das Kosttörl ab, dessen Öffnung verheißen war. Am Isartore erwartete die Bauern ein weit furchtbarerer Widerstand: die Brücke über den Graben war aufgezogen und es galt vor allem, sie niederzuzwingen. Während einzelne versuchten, durch den Graben zu schwimmen, um an den Mauern emporzuklimmen und die Brückenseile zu durchhauen, mußten die Schützen sich darauf beschränken, mit ihren nicht fehlenden Kugeln die Mauern von ihren Verteidigern zu säubern; andere schleppten die beiden im roten Turme erbeuteten Geschütze herbei und begannen das Tor zu beschießen. Schon war es einigen Waghälsen gelungen, in der Tiefe des Grabens mit Leitern an Turm und Mauern zu gelangen, und der begeisterten Todesverachtung der Bauern hätten auch diese Bollwerke nicht mehr auf lange zu widerstehen vermocht.

Da dröhnte von fern ein Kanonenschuß durch die Nacht …

Im Rücken der Stürmenden begann es unruhig zu werden – das entnervende Fluchwort »Verrat … Verrat …« wurde immer lauter, immer häufiger. »Das ganze Vorhaben«, hieß es, »sei den Kaiserlichen haarklein verraten gewesen – der Kriechbaum und der Wendt seien von Anzing da und ständen den Angreifern im Rücken …« Vergebens bemühten sich die Führer, zu halten und anzuspornen … vom Gasteigberg begannen schon die Kugeln Wendts unter den Bauern einzuschlagen … das Geschrei im Rücken von der Brücke her wurde immer lauter und wilder … die nicht genügende zurückgelassene Besatzung des roten Turmes, aus diesem gedrängt, warf sich auf die übrigen … schon sah man die Säbel der Panduren über den Hintersten blinken und hörte die Flüche, unter denen sie niedersausten – da fiel auch die Brücke des Isartores herab, die Kaiserlichen fielen wütend aus, und von zwei Seiten sandten Grimm und Erbitterung den Tod in die treue Schar.

Ungeübt im regelmäßigen Kampfe, weit schwächer an Zahl und ungleich an Waffen, vermochte diese nicht standzuhalten aber sie floh nicht – mannhaft geschlossen, immerfort fechtend, zogen sich die Landesverteidiger langsam Schritt um Schritt zurück, in ihrer Mitte Gauthier, überall der erste, wo die Gefahr am höchsten war – über ihren Häuptern die Marienfahne. So zogen sie sich längs der Isar bis an die Thalkirchner Fluren hin, aber nur, um neuen Feinden zu begegnen: eine Abteilung Panduren war oberhalb über den seichten Fluß gegangen und fiel ihnen jetzt in die Flanke – so von allen Seiten umschwärmt und gedrängt, mit Blut und Leichen jede Stelle bezeichnend, schwankte die immer kleiner werdende Schar dem Höhenzuge von Sendling zu.

Dort bot sich ein letzter Halt.

Die ans Sendlingertor bestimmte zweite Abteilung war lange vor diesem gestanden, hatte vergeblich der Zeichen gewartet, und als diese ausblieben, vom Isartore aber das Schreien und Schießen herüberhallte, einen Angriff gegen das ebenfalls durch Graben und Zugbrücke gedeckte Tor unternommen. Sei es aber, daß dem Angriffe durch die Ungewißheit der Lage die eigentliche Spitze abgebrochen, oder daß zu lange damit gezaudert worden war – eine Abteilung des Wendtschen Korps, die bei Föhring übergegangen war und die Stadt umflügelt hatte, faßte sie von der Seite und zwang sie nach hartnäckigem und blutigem Gefechte zu ziemlich ungeordnetem Rückzuge. Der die Straße beherrschende Sendlinger Kirchhof erschien vollkommen geeignet, diesen zu decken: er war rasch besetzt und die Straße durch ein Verhau abgesperrt. Gauthier mit dem Reste seiner Schar kam eben recht, sich mit ihnen zu vereinigen: es schlug sieben Uhr auf dem Turme der Dorfkirche – aber es war noch fast vollständig finster, denn die Winternacht weicht langsam und spät von den Fluren der Hochebene.

Ein neuer, letzter Kampf begann – kurz und hoffnungslos, denn die überlegene Zahl der Feinde hatte auch von der Landsberger Straße her die Anhöhe umgangen und umringte die Bauern, welchen, da der Verhau unhaltbar geworden, keine andere Schutzwehr verblieb als die Mauern des Kirchhofes. In einem Winkel desselben stand bald der letzte Rest der Kämpfer um Gauthier zusammengedrängt, darunter der starke Schmiedbalthes mit seinen Söhnen, der Wirt von Bayerbrunn, der Gautinger Hammerschmied, der Tegernseer Reifenstuel, der Hafner von Marbach, vierunddreißig Mann von den wackren Auer Zimmerleuten und ein letztes Häuflein derer aus Lenggries, Tölz und Jachenau – Hans Jäger war schon auf dem Rückzuge gefallen. Nur wenigen war zu entfliehen gelungen; unter ihnen dem vorsichtigen Allram.

Es war kein Gefecht mehr, nur ein Gemetzel: auch die sich auf Zusicherung des Lebens ergeben hatten, wurden trotz der Zusage niedergehauen; bald stand kein Mann mehr aufrecht in dem Kirchhofe von Sendling.

Gauthier lag, an die Mauer gelehnt, im Sterben; ein Lanzenstoß hatte ihm die Brust durchbohrt; der Chevalier mitten unter den Bauern, die als Ritter gekämpft und ausgehalten hatten – bis in den Tod. Im Sterbekrampfe, wie willenlos, hob sich seine Hand nach der verwundeten Stelle … er fühlte das verhängnisvolle Schreiben des Kurfürsten … und zog es hervor. Hülle und Umschlag waren vom strömenden Blute erweicht, das Siegel gebrochen … Er faltete das Blatt auseinander … sein darauf ruhender Blick ward starr und starrer – er versuchte die brechenden Augen anzustrengen, als müsse es eine Täuschung sein, was sie ihm zeigten … dann hob ein schwerer, schmerzlicher Seufzer die Brust … er sank zusammen … das Blatt entfiel der sterbenden Hand in den Schnee.

In diesem Augenblicke blitzte die Sonne des Weihnachtsmorgens empor über dem leichenbesäten, blutgetränkten Schneegefilde … von der Stadt her ertönte feierliches Glockengeläute und rief zu Gebet und Gottesdienst in allen Kirchen – auf dem Kirchhofe hörte niemand mehr den Ruf: sie ruhten aus, denn sie hatten wacker geholfen sie mitzufeiern – die Mordweihnacht von Sendling.

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