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I.
Der Überfall.

Herrlich lag der Morgen des fünfzehnten Mai 1705 über den Dächern und Türmen von München. Ein frischer Ostwind hatte den Himmel so völlig rein gefegt, daß die Zacken und Stufen der Giebel in ein wolkenloses Blau emporstiegen, und die runde Blechkuppel des Rathausturmes im hellsten Sonnenglanze schimmerte. Noch jetzt blies es lustig vom Gasteig herab, durch das Isartor, über die hohen, braunroten Stadtmauern herein und hinauf durch das »Tal«, daß auf der Kirche zum heiligen Geist die Turmfahne schrie, und die Laternen knarrend in den Ketten hin und wieder schwankten, an denen sie in der Mitte der Straße aufgehangen waren.

Sie waren das einzige, was sich bewegte und hören ließ; das ganze »Tal« entlang war kein Mensch zu erblicken, und auch in den Häusern war es so still, daß man das Wasser des Kaibelbaches brausen hörte, der eilig unter dem Bogen der Hochbrücke dahinschoß.

Plötzlich wurde die Stille durch den Laut von Hufschlägen unterbrochen, und durch das Isartor kam ein Reiter angesprengt, unbekümmert um den am Schilderhause stehenden Soldaten, der, um ihn aufzuhalten, ihm das Gewehr entgegengestreckt hatte und nun ein nicht besser beachtetes »Halt!« nachrief. Der Reiter war eine ansehnliche Gestalt in den mittleren Jahren, welche die hohen, bequemen Stulpstiefeln, der gestickte Sammetrock und das dreieckige Bortenhütchen auf dem gepuderten Kopfe als einen Mann vom Stande bezeichneten. Der Hochmut sah ihm aus den grauen, glänzenden Augen, und mit einem Lächeln des kältesten Hohnes vernahm er das Rufen der Wache hinter sich, wie nebenan das Schreien der Neugierigen, die nach und nach aus den Häusern hervorkamen oder die Köpfe durch die kleinen Schieber in den Fensterkreuzen steckten. Es waren meist Handwerker und Gesellen, die von der Arbeit aufgesprungen waren, Mägde und Weiber, welche der Lärm aus Küche und Kinderstube hervorlockte. Zugleich war eben in der Kirche zum heiligen Geist die Frühmesse zu Ende gegangen und ein Teil der Andächtigen vermehrte die Versammlung, welche den Ausgang abwarten wollte. Der Posten hatte die Wache ins Gewehr gerufen, und ein Korporal mit einigen Soldaten kam eilig das »Tal« heran, um den Reiter einzuholen; es war aber wenig Hoffnung, daß sie ihn erreichen würden, denn trotz des schlechten, lückenhaften Pflasters sprengte dieser auf seinem sicheren Pferde bereits die kleine Erhöhung gegen die Brücke hinan. Hatte er erst die enge Brücke hinter sich, dann war in wenigen Sätzen auch das Rathaustor und die innere Stadt erreicht.

Am Ende des Brückengeländers stand jetzt ein stattlicher, stämmiger Mann in langem, dunkelgrauem Oberrocke, einen schlichten aufgekrempten Hut auf dem Haupte, dessen Haar in langen, stark grau gemischten Rundlocken auf Hals und Nacken fiel. Das Gebetbuch unter dem Arme zeigte, daß der Mann soeben von seinem Morgensegen aus der Kirche zurückkam. Ohne ein Wort zu sagen, überschaute er mit ruhigem Blicke die Volksmenge und faßte den Heransprengenden fest ins Auge – wie der Reiter hart neben ihm angekommen war, fiel er dem Pferde mit einem raschen Griffe, der den gewandten Reiter und Pferdekundigen verriet, in die Zügel und hielt es an mit einem so mächtigen Rucke, daß das Tier beinahe in die Hinterfüße zusammenknickte, und nur wenig fehlte, daß der Reiter von der plötzlichen Erschütterung aus dem Sattel geschleudert wurde.

» Sacre bleu,« rief der Reiter mit zornfunkelnden Augen, »was unterfängt man sich?«

Er schwang dabei die Reitpeitsche über dem Haupte des Mannes, allein ehe der Hieb niederfallen konnte, hatte dieser mit der anderen Hand den aufgehobenen Arm des Reiters gefaßt und hielt ihn unbeweglich wie in einer Eisenklammer fest. »Was erfrecht Er sich, mich aufzuhalten, Er unverschämter Mensch?« rief wütend der Angehaltene, indem er vergebens Zügel und Arme freizumachen strebte.

»Den unverschämten Menschen,« sagte der Bürger ruhig, »den geb' ich vor allem dem Herrn zurück, wie's Brauch im Bayerland – aufgehalten aber hab' ich den Herrn, damit er den Wachtposten, die ihn suchen, Red' und Antwort gibt …«

»Ah, ich errate,« entgegnete höhnisch der Reiter, »das ist Sein Geschäft … Er ist wohl einer von den Stadtknechten …«

»Das bin ich nicht,« erwiderte der Bürger mit unerschütterlicher Ruhe. »Ich heiße Georg Jäger, bin ein Wirt meines Zeichens, und das da …,« fuhr er fort, indem er auf ein stattliches Haus rechts von der Hochbrücke deutete, »das ist mein Haus! In einer Zeit aber wie die unserige, wo man es dem Spitzbuben nicht mehr am Gewande ansieht, wer er ist … da müssen alle zusammenhelfen, die's noch gut und ehrlich meinen, zumal in unserer armen, betrübten Münchnerstadt! – Hat der Herr sich nichts zu scheuen, wie's denn wohl der Fall sein wird, so kann er auch die Wacht abwarten und Red' und Antwort geben, wie sich's gehört!«

Der Kreis der Neugierigen hatte sich dichter gezogen und drängte noch enger zusammen, als der Korporal von der Torwache ankam mit einigen Musketieren in hellblauen Röcken mit breiten Ärmelklappen und weißen Schoßumschlägen.

Der Unteroffizier, eine gedrungene Soldatenfigur mit starkem grauen Schnurrbarte, hielt vor dem Reiter an, salutierte militärisch und fragte: »Mit Verlaub – der Posten hat den Herrn am Tor angerufen … warum hat der Herr nicht angehalten?«

»Weil ich es nicht für nötig befunden habe,« entgegnete der Gefragte hochmütig.

»Aber es ist einmal die Vorschrift so,« fuhr der Korporal fort. »Bei gegenwärtig bedenklichen Zeitläuften ist angeordnet, daß männiglich, so einpassieret, am Tore angehalten und examiniert werden soll. So dann einer sich nicht zu legitimieren vermöchte, ist er zu inhaftieren und zum Kommandanten zu führen. Wolle also der Herr sich belieben lassen, uns dahin zu folgen.«

Aufschub und Forderung schienen dem Fremden gleich unangenehm zu sein; er murmelte eine halblaute Verwünschung zwischen den Zähnen und sah unschlüssig in dem Menschenknäuel umher. Sein Auge blieb an einem Manne haften, der, obwohl hinter den übrigen stehend, alle fast um eine Kopflänge überragte. Seine Haltung war straff und verriet, wie der weiße Rock, von welchem nur die Achselschnüre, die roten Klappen und Aufschläge abgetrennt waren, den ehemaligen Soldaten.

Der Reiter deutete mit der Gerte nach ihm hin und rief: »Komm Er einmal anher – Er da hinten! Ich glaube mich an Sein Gesicht zu erinnern: ist Er nicht Wachtmeister bei Minuzzidragonern?«

»Wachtmeister gewesen!« erwiderte der Mann vortretend, indem das Volk zu beiden Seiten eine Gasse bildete. »Mein Name ist Dallmayer … seit die kurbayerische Armee aufgelöst worden ist bis aus die Münchner Besatzung, bin ich entlassen!«

»Gleichviel!« rief der Fremde. »Ich hoffe, Er wird mich erkennen, denn Er hat mich beinahe täglich bei Seinem Obersten, Grafen Paumgarten, gesehen … Er wird diesen zudringlichen Leuten bestätigen können, wer ich bin!«

Dallmayer war näher getreten und hatte den Reiter mit scharfem Blick gemustert. »Nun, wie ist es, Herr Wachtmeister?« rief der Unteroffizier, indem er ihm die Honneurs machte, als ob er nicht abgedankt wäre. »Kennt Er den Herrn?«

»Allerdings,« war die Antwort. »Ich habe diesen Herrn oft bei meinem Oberst gesehen – es ist der Pfleger von Starnberg, Herr Joseph von Ettlinger …«

»Der bin ich auch,« sagte der Reiter. »Nun kennt Er mich also, kann Seine Meldung machen und wird mich nicht länger aufhalten …«

»Bin's auch nicht gewillt, Gnaden Herr Pfleger,« entgegnete der Unteroffizier. »Brauchen mir nur noch anzugeben, in was für Geschäften Sie in die Stadt kommen, und warum Sie durchs Isartor einpassieren, sintemal das meines Wissens nicht die Route von Starnberg ist …«

»Bin ich Ihm darüber Rechenschaft schuldig?« rief Ettlinger in steigendem Unwillen.

»Mir nicht – aber dem Rocke, den ich anhabe,« erwiderte fest und bescheiden der Soldat. »Muß also schon bitten …«

»Alberne Plackerei!« murmelte Ettlinger. »Der Weg durch den Forstenrieder Wald war mir zu langweilig. Ich hatte ein Geschäft beim Abt in Schäftlarn und zog es also vor, die angenehmere Straße über Aufkirchen, Schäftlarn und Grünwald einzuschlagen. Nach München aber komm ich, weil ich mit dem Bürgermeister Herrn von Vacchieri befreundet bin und ihn besuchen will … Ist's nun genug mit der Fragerei? Auseinander … oder ich reite ein paar von euch nieder, ihr …«

Das weitere war unverständlich, denn Ettlinger drückte seinem Gaule, dessen Zügel der Jägerwirt längst losgelassen hatte, die Sporen ein, daß er sich bäumte und mit den Vorderfüßen um sich hieb. Schreiend und schimpfend stob die Menge auseinander, der Reiter sprengte fort und war in wenigen Augenblicken im Bogen des Rathausturmes verschwunden.

»Übermütiger Kerl!« rief ihm ein rußiger Mann nach, der die Blechschere in der Hand hielt. »Und, wenn er zehnmal Pfleger ist, braucht er darum nit so grob zu sein!«

»Und an der Wache hätt' er wohl auch anhalten können!« rief ein anderer aus der Menge. »Als Pfleger sollt' er doch die bayerische Uniform kennen und respektieren und den Löwen und die weißblauen Wecken am Tor!«

»Er hat sie halt nicht sehen wollen!« rief der Spengler wieder. »Wird schon auch einer von denen sein, die's heimlich mit den Österreichern halten! Verdächtig ist's aus jeden Fall, und man hätt' ihn wohl ein bißchen schärfer aufs Korn nehmen sollen!«

»Wahr ist's!« riefen andere Stimmen wieder. »Wenn er von Starnberg käme, müßt' er die ganze Nacht geritten sein, und das müssen sonderbare Geschäfte sein, die er bei eitler Nacht mit dem Abt von Schäftlarn abzumachen hatte …«

»Was hilft es jetzt, ihm nachzuschreien?« sagte der Spengler, indem er seiner Werkstatt zuschritt. »Aber wenn ich das gewiß wüßte, daß der Mensch ein heimlicher Österreicher ist, dann tät' es mich reuen, daß ich ihn nicht ein paarmal im Kaibelbache umgekehrt und ihm Isarwasser zum Kosten gegeben habe!«

Die Menge verlief sich rasch, wie sie gekommen war.

Der Jägerwirt schritt bedächtig seinem Hause zu; im Torwege aber hielt er inne und rief den Wachtmeister Dallmayer an, der mit flüchtigem Gruße an ihm vorüberschreiten wollte.

»Guten Morgen, Herr Wachtmeister!« rief er ihm zu. »Er läßt sich ja gar nicht mehr bei mir sehn und hat doch sonst ein kleines Frühstück bei mir nicht verschmäht?«

»Das hat aufgehört,« erwiderte Dallmayer finster, indem er nur wie gezwungen einen Augenblick stillstand. »Seit ich brotlos geworden bin, muß ich meine paar Kreuzer verdammt zusammenhalten. Das kann sich der Herr denken, daß man sich weiland vom Traktamente (Löhnung) nichts hat ersparen können, und wenn ich mich auch nicht schämen wollte, Holz zu hacken, mein' ich doch immer, ich wollt's dem Rocke nicht antun, den ich einmal getragen hab'!«

»Freilich wohl,« antwortete der Wirt und ließ einen fragenden Blick über das Antlitz des Wachtmeisters gleiten – »aber sollte es denn so schwer sein, wieder Dienste zu kriegen?«

»Das nicht – die Kaiserlichen nähmen mich vielleicht nicht ungern auf; aber ich mag nicht dienen bei den Landverderbern! Noch leb' ich der Hoffnung, daß es einmal wieder eine bayerische Armee gibt – ich will mir die Freude nicht verderben, daß ich dann in der Zwischenzeit nicht einem anderen Kommandoworte gefolgt bin!«

»Das hoffen auch andere Leute!« rief Jäger, indem er die Hand des Widerstrebenden faßte und schüttelte. »Jetzt darf mir der Herr schon gar nicht an meinem Hause vorbei, ohne daß wir ein Glas miteinander getrunken haben! Komm Er nur,« fuhr er zutraulich fort, da der mürrische Wachtmeister noch immer zögerte, »Er trifft bei mir manches Gesicht, das Ihm wohltun wird! – Auch erwarte ich jede Stunde, daß mein Vetter Xaver von Osterhofen zurückkommt und mir Nachrichten bringt aus dem Unterlande!«

Der Wachtmeister schwankte noch; der verbitterte Groll über die Lage des Landes und seine eigene trieb ihn fort; dagegen zog ihn der Reiz, irgend etwas Neues aus der Gegend zu erfahren, die ihm vor allem am Herzen lag. »Aus dem Unterlande?« fragte er. »Freilich – von daher hab' ich schon lange nichts mehr gehört … und der Herr Wirt weiß wohl, daß es meine Heimat ist …«

»Also geschwind herein und ohne Widerrede!« lachte Jäger, indem er die vom Hausflur in die Gaststube führende Türe aufstieß und den Gast mit gutmütiger Freundlichkeit hineinschob. »Geh der Herr nur voraus,« rief er, »ich komme nach im Augenblick … Will nur Hut und Stock und Gebetbuch ablegen …«

Der Wachtmeister trat in die schmale, etwas niedrige Stube, in welcher eine eigentümlich gebrochene Helle herrschte, hervorgebracht durch die grünen Gittergestelle an den Fenstern, welche das Eindringen des vollen Lichts ebenso wie das neugierige Hereinblicken von Vorübergehenden verhinderten. Es war noch früh am Tage, daher hatten sich keine Gäste eingefunden, und nur im Winkel der Stube, am Ofen neben der Küchentüre, saß ein Bursche in abgetragenen und abgerissenen Kleidern, wie die zum Viehankaufe über Land reisenden Metzger sie zu tragen pflegten. Der Bursche hatte die Arme über den Tisch gebreitet und den Kopf darauf; die Ermüdung eines weiten Weges, oder das tiefe, im Zimmer herrschende Schweigen schien ihn eingeschläfert zu haben; es war auch so still wie in einer Klosterzelle, man hörte nur die große Sanduhr in ihrem Holzgehäuse gehen, und die Fliegen summen, welche die Stubenwärme oder ein erster Sonnenstrahl aus dem Winterschlafe erweckt hatte. Die wehmütig-träumerische Ruhe schien so recht zu der Stimmung des Eintretenden zu passen, so daß er, am Tische in der Fensterecke niedersitzend, ebenfalls das kummerschwere Haupt in die Hand stützte und gedankenvoll vor sich hinsah.

Der Jägerwirt war in dem kleinen halbdunklen Raume vor der Türe stehen geblieben und schien nicht von der Stelle zu können.

Seitwärts führte eine Nebentüre in ein kleines Gemach, welches den Tag über dem Wirte und seinen Angehörigen zum Aufenthalt diente, um immer in der Nähe der Gäste zu sein und doch die nötigen Geschäfte besorgen zu können. Der obere Teil der Türe bestand aus einer Lichtung von Glas, von welcher der grüne Vorhang etwas zurückgezogen war, daß man den kleinen Raum zu überschauen vermochte. Es war ein freundlicher Anblick, und doch lag es auf den männlichen Zügen des Wirtes wie eine Wolke schweren Unmuts.

Die Einrichtung des Gemachs bestand aus einem breiten altertümlichen Schreibtische mit allerlei Schnörkeln und von Holz eingelegten Verzierungen. In der Nähe des Fensters stand ein Tisch mit schwarzer Schieferplatte, die zu gleicher Zeit als Zählbrett und als Rechentafel diente. An der sichtbaren Wand zog sich ein bequemer Ruhesitz mit hoher Lehne und schwarzem Lederbezuge hin, und darüber prangte in mächtigem geschnitzten Rahmen ein ansehnlicher Spiegel zwischen zwei nicht minder stattlichen Gemälden, welche die Vorfahren des Hauses darstellten. Das eine zeigte einen ehrenfesten Mann in bürgerlichem Rocke und mit breiter Halskrause, und während ein über die Schulter hereinhängendes schwarzes Mäntelchen den Ratsherrn kennzeichneten, ließen die Gerstenähren und Hopfenblüten in der gehobenen Rechten erraten, daß er zur ehrsamen Zunft der Bierbrauer gehört habe. Die Frau gegenüber war ein würdiges Seitenstück, in der Tracht mit Goldhaube, Schnürmieder und Halskette, wie in der ganzen echt altbürgerlichen und hausfraulichen Erscheinung.

Vor dem Spiegel stand ein junges Mädchen, dessen stattliche und doch schlanke Gestalt durch ein schwarzes Mieder mit Silbergeschnür ebensosehr hervorgehoben wurde, als die silbergestickte Riegelhaube dazu diente, den Reichtum des blonden Haars und die seltene Schönheit des Angesichts noch mehr zu zeigen. Das Mädchen schien sich auch dieser Vorzüge vollkommen bewußt zu sein, denn mit sichtbarem Wohlgefallen und Selbstgefühl ruhte das blaue, lebhaft glänzende Auge auf dem Spiegelbilde, das ihm entgegenstrahlte, volle, blühende Wangen und blendendweiße Zahnreihen zwischen den fast übermütig lächelnden Lippen zeigend. Der aus dem Falbelbesatze des kurzen Mieders hervortretende gerundete Arm war erhoben und hielt ein hübsches Geschmeide an das Ohr, während das Köpfchen sich pfauenhaft drehte, wie um die Stellung zu suchen, in der sie sich am glänzendsten zeigte.

Jäger war einige Augenblicke stehen geblieben und hatte dem Tun des Mädchens schweigend zugesehen; dann legte er die Hand auf den Drücker der Türe, daß diese rasch aufflog, und er unerwartet auf der Schwelle vor dem Mädchen stand, das erschreckt zusammenfuhr und die Hand auf den Rücken legte, um die Ohrringe zu verbergen.

Der Wirt sah sie stumm und beinahe traurig an. »Was fährst so zusammen vor mir, Walpi? Brauchst dich vor deinem Vater nicht zu scheuen, wenn du dich vor dir selber und vor unserem Herrgott nicht zu scheuen hast! … Ist es denn möglich!« fuhr er eintretend fort, indes das Mädchen, mit dunkler Röte übergossen, regungslos zu Boden sah. »Kannst du dir die nichtsnutzige Eitelkeit so über den Kopf wachsen lassen? Für den Teufel ist's genug, wenn er einen heimlich und hinterrücks an einem Haar erfassen kann – du gibst ihm selber gleich die ganze Hand!«

Das Mädchen fing an, sich von der Überraschung zu erholen und wieder Mut zu gewinnen. »Was hab' ich denn so Unrechtes getan?« sagte sie mit einem leisen Anfluge von Trotz, wenn auch ihre Augen noch immer scheu die Erde suchten. »Die Frau Base, die Stadlerin, hat mir ein Paar Ohrringe zum Anschauen gebracht – die hab' ich probiert …«

»Und deswegen stehst du viertelstundenlang vor den Spiegel hin und schneidest Gesichter hinein und drehst den Kopf wie ein Turteltauber? – O Madel, Madel … bild dir doch nichts auf dein bissel Schönheit ein – das ist eine zerbrechliche Gab' und eine gefährliche dazu! Nimm statt dem eitlen Zeug lieber einen Rosenkranz in die Hand und bet, daß dich unser Herrgott erleucht', und daß die unglückselige Schönheit dich nicht einmal ins Unglück bringt und andere mit!«

Die anfängliche Verwirrung war immer mehr von dem Mädchen gewichen: sie hielt es zwar nicht für geraten, etwas zu erwidern, aber um ihre Lippen zuckte es wie der unwillkürliche Beginn eines Lächelns, als dächte sie, das Unglück, das ihre Schönheit anrichten würde, müßte nicht so sehr furchtbar sein, daß sie es nicht darauf ankommen ließe, etwas davon kennen zu lernen.

Das Antlitz des Vaters, der in ihren Zügen las, wurde immer finsterer. »Ich seh' dir's an,« sagte er, »du lachst innerlich über mich! … Walpi, Walpi – denk an diese Stunde … es könnt' eine Zeit kommen, wo dir das Lachen vielleicht schwer aufs Herz fallen wird! … Wenn du aber in gutem nicht folgst, dann weiß der Jägerwirt, was seine Pflicht und Schuldigkeit als Vater ist: dann will ich dir aus einem anderen Tone aufspielen und zeigen, daß ich's versteh', einer verdrehten Putzgretel den Kopf zurechtzusetzen! – Merk dir das – und jetzt marsch … hinüber in die Zechstuben; es sind Gäste drinnen … Ich komm' gleich nach … will nur erst bei meinen Tauben im Hofe nachschauen, damit mir nicht gleich jeder die Freud' am Gesicht ablesen kann, die du mir machst!«

In der Gaststube war es noch still und dämmerig wie zuvor; der Wachtmeister sah trübselig vor sich hin und schien es gar nicht auffallend zu finden, daß noch niemand gekommen war, ihn nach seinem Begehren zu fragen. Als Walpurg nun mit hochgerötetem Angesicht eintrat und diese Frage endlich an ihn richtete, blickte er, in seine Gedanken versunken, gar nicht empor und antwortete nur mechanisch – der Bursche am Ofen aber hob bei Walpurgs Eintreten das Gesicht etwas auf, ließ es aber gleich wieder sinken und schien ungestört weiterzuschlafen. Das Mädchen würdigte den abgerissenen Menschen keines Blicks und schob dem Wachtmeister mit gleichgültiger Verdrossenheit das Fläschchen bayerischen Landweins hin, wie er damals an der Isar bei Landshut und auf den Donauhügeln bei Wörth nicht bloß gezogen, sondern auch getrunken wurde. Dann setzte sie sich seitwärts an ein Tischchen, auf welchem Nähzeug stand, und fing an, ein etwas derbes Tischtuch zu säumen; es ging aber so langsam von statten, und sie stellte die zierlichen Finger so spitz, daß man auf den ersten Blick sah, wie unangenehm ihr die grobe Arbeit war, und wie weit ihre Gedanken von derselben abschweiften.

Das Erscheinen des Wirts unterbrach die beinahe unheimlich gewordene Stille; er hielt die Türe geöffnet und ließ ein paar von den Bekannten des Hauses eintreten, welche als Stammgäste gewohnt waren, dort Vormittags ihr Gläschen Wein zu trinken und als Imbiß einige Würstlein mit Sauerkraut oder ein Stück Tellerfleisch zu sich zu nehmen. Es waren zwei Männer von sehr verschiedenem Aussehen. Der eine war eine starke, fast vierschrötige Gestalt, mit derben Schultern, auf welchen ein dicker Kopf mit schwarzem Haare saß, das nur widerstrebend sich in die schlicht hinters Ohr gestrichenen Locken fügen wollte, und mit dessen unschönen Zügen nur die ehrlichen braunen Augen versöhnten. Die Arme verrieten, daß ihre Kraft in der Schmiedewerkstatt geholt und am Amboß gehärtet wurde, und daß sie nicht immer so feines Tuch getragen, als jetzt hinterm Ladentische. Es war der Eisenkrämer Senser vom Schrannenplatze.

Der andere Herr war klein und schmächtig und beinahe dürr zu nennen, namentlich schien das fahlweiße Antlitz, aus welchem eine kluge Nase zwischen wohlwollenden Augen vortrat, nur aus Haut und Falten zu bestehen – es war der Lizentiat und Hofkammerrat Urban Neusönner, der fast gegenüber im Eckhause »Zum Auge Gottes« mit einer betagten Schwester schon seit vielen Jahren eine stille, nachbarlich verträgliche Haushaltung pflog.

Mit biederer Freundlichkeit geleitete der Wirt seine Gäste an den Tisch zu Dallmayer, den er, während die beiden Platz nahmen, ihnen vorstellte. »Ein erprobter alter Freund von mir,« sagte er, – »einer, der ein Herz hat fürs Land, ein guter Bayer!«

»Das ist allemal eine sonderbare Konsolation,« erwiderte der Hofkammerrat, sich gegen den Wachtmeister verneigend, »einen Patrioten mehr zu finden; mache daher die Proposition, das erste Glas als eine Libation zu behandeln für das, was uns allen gleichmäßig am Herzen liegt! Es gelte unserem armen bayerischen Vaterlande! Daß es prosperiere, floriere und sich erhebe aus der tiefen Kalamität und Erniedrigung, in die es versunken ist … das gebe Gott und die Patrona Bavariä!«

Kräftig stießen die Gläser aneinander, aber es gab keinen hellen, fröhlichen Klang, sondern nur einen stumpfen, harten Schall, als würden Waffen aneinander geschlagen.

»Ja, das gebe Gott und geb es bald!« rief der Wachtmeister und stieß heftig sein Glas auf den Tisch. »Bis jetzt ist sehr wenig Aussicht dazu! Das ganze Land bis auf das Rentamt München und die Stadt ist in den Händen der Kaiserlichen … die Kurfürstin ist in Venedig … der Kurfürst lebt in Brüssel wie im ewigen Leben und brockt den Niederländern noch vollends den Rest von Bayern ein!«

»Was der Herr Wachtmeister sagt,« erwiderte Neusönner gelassen und begütigend, »ist leider vielfach nur zu wahr – und doch hat die Erbitterung manches übertrieben. Die Frau Kurfürstin Durchlaucht mußte nach Venedig reisen, weil ihre erschütterte Gesundheit nach einem milderen Klima verlangt – Kurfürst Max Emanuel kann nicht zurück, weil er Statthalter in den Niederlanden ist, und wegen des Krieges, seit der unglücklichen Bataille bei Höchstädt und am Schellenberge, – aber seine Kinder, die Prinzen und Prinzessinnen, hat er uns hier gelassen als ein pretiöses Pfand seiner Wiederkehr und als Beweis, daß er sie nirgends besser aufgehoben glaubt als bei uns …«

»Alles recht, Herr Hofkammerrat!« entgegnete Dallmayer. »Aber bis er wiederkommt, wird, so fürcht' ich, von Pfand und Land nichts mehr zu finden sein … er wird nichts mehr antreffen als Einöden, Schutthaufen und Freithöfe …«

»Ja, es ist arg,« sagte Senser mit gepreßter Stimme, »Bürger und Bauer können die Lasten nicht mehr erschwingen, die sie ihnen draußen aufbürden. Die gewöhnlichen Steuern sind schon hoch genug – nun sollen von jeder Feuerstatt wöchentlich fünf Gulden darüber gezahlt werden an die kaiserliche Administration in Landshut, und wer nicht zahlt, wird gepfändet und von Haus und Hof gejagt …«

»Dazu kommt noch die immerwährende Einquartierung,« bemerkte der Jägerwirt. »Wenn auch der Acker alle Jahr' wieder gibt, der immerwährende Krieg verzehrt zu viel, und es fehlt schon bald an Händen, die noch Lust und Kraft haben, den Acker zu bauen … Die Reichssoldaten aber und die Kaiserlichen legen sich dem Bürger und Bauer ins Haus und fragen nicht, wo er die Nahrung hernimmt … Wir im Münchner Rentamt haben das Elend noch gar nicht so erfahren, aber ich habe Nachrichten vom Inn und aus dem Unterlande – da gibt's kein Gesetz mehr und kein Recht … da ist kein Haus mehr sicher und im Hause kein Leben, keine Ehr' und kein Eigentum!«

»Es ist eine furchtbare Heimsuchung, die der Herr über Bayern geschickt hat!« sagte Neusönner erschüttert. »Aber sie muß, sie wird vorübergehen – die Hilfe muß kommen!«

»Sie kommt nicht,« rief der Wachtmeister stürmisch, »wenn wir uns nicht selber helfen … und das können wir nicht! Alles im Lande hat seine Waffen abliefern müssen bis auf den armseligsten Sackpuffer … die ruhmreiche kurbayerische Armee ist aufgelöst und auseinandergejagt wie eine nichtsnutzige Bande! O, ich vergess' die Stunde auf meinem Totenbett nicht, wie wir in Ingolstadt zum letzten Male ausgerückt sind, und mußten absteigen und die Karabiner und die Säbel niederlegen, und wie die Kaiserlichen darüber hergefallen sind und über die schönen Pferde und haben uns ins Gesicht gelacht und zugeschrieen, wir sollten einen Stecken nehmen und daraus heimreiten … Herrgott, Herrgott! was mir da durchs Herz geschnitten hat – ich vergess' es nicht, und wenn ich so alt werde wie Methusalem … damals, da hat die letzte Stund' für unser Bayerland geschlagen!«

»Das verhüte Gott!« sagte Senser nach einer kurzen schweren Pause. »Aber ist denn gar kein Ausweg zu finden? Ich bin freilich nur ein einfacher Bürgersmann, aber ich hab' mich schon oft gefragt und nachgegrübelt in der Stille, ob's denn nicht möglich wär', dem Land all die Drangsal zu ersparen? … Ob denn der Kurfürst gar nicht nachgeben könnt' und könnt' Frieden machen?«

»Das eben ist das Deplorable in solchen Affären,« erwiderte der Hofkammerrat, »daß der erste Schritt in ihnen oft zu Komplikationen führt, aus welchen die Rückkehr unmöglich ist, weil die Ehre sie nicht gestattet!«

»Die Ehre? Das will mir nicht einleuchten … ich mein', Leben und Tod, Glück und Unglück von einem ganzen Volke sollt' schwerer wiegen – und was ist dabei wider Ehr' und Reputation? Ein alter guter Spruch sagt: Der nachgibt, ist auch ein Mann!«

»Ich will Ihm das wohl explizieren, Herr Senser, wenn Er mich anhören will,« sagte Neusönner. »Er weiß doch, daß der gegenwärtige Krieg, der schon im vierten Jahre währt, darüber entstanden ist, wer König von Spanien und von all den Ländern sein soll, die dazu gehören, von den Niederlanden, Neapel, Sizilien, von Mailand und den beiden Indien …«

»Freilich weiß ich das! – Der kranke König von Spanien hatte ja den ältesten Sohn unseres Kurfürsten zum Herrn und Erben all dieser Reiche eingesetzt – leider ist der Knab' gleich darauf gestorben, und weiß noch heutigestags kein Mensch so recht, wie es mit diesem plötzlichen Todesfälle zugegangen ist!«

»Ganz richtig,« fuhr der Hofkammerrat fort, »die anderen Mächte aber, voraus der Kaiser Leopold, wollten nicht, daß das ganze ungeheure und übermächtige Reich unter einem Zepter zusammen bleiben sollte, und hatten sich im geheimen schon über die Teilung verständigt – Prinz Karl von Spanien aber, der das Vorhaben erfuhr, setzte noch kurz vor seinem Tode einen französischen Prinzen, Philipp von Anjou, zum Erben ein. Der bestieg auch den Thron – die Mächte aber erkannten das Testament nicht an, und darüber brach der Krieg mit Frankreich aus.«

Senser nickte. »Auch das weiß ich,« sagte er, »und auch, daß Holland und England und das Reich zu dem Kaiser stehen, und daß der Kurfürst Max Emanuel von Bayern es ganz allein mit Frankreich hält! Das aber ist's gerade, was ich nicht begreife!«

»Vielleicht kann ich Ihm das ausdeutschen,« sagte Wachtmeister Dallmayer. »Er weiß, was der Kurfürst alles fürs Kaiserhaus getan hat – ich weiß es noch besser, denn ich hab' es mit angesehn und bin überall mit dabei gewesen seit meinem sechzehnten Jahre. Ich war mit als Troßbub', wie wir mit dem Polenkönig, dem Sobieski, die Türken von Wien verjagten: ich hab' mitgetrommelt zum Sturm auf Ofen und Belgrad und bin mitgeritten in die Kampagne am Rhein – ich war bei der Erstürmung von Mainz und bei der Belagerung von Carmagnola – das alles hat dem Lande viel Blut und Geld gekostet, und welchen Dank hat der Kurfürst vom Kaiser gehabt, der noch dazu der Vater seiner ersten Frau war? Keinen anderen, als daß er ihm nicht einmal die versprochenen Kriegsgelder gezahlt hat, und daß er heimlich all seinen Plänen und Unternehmungen entgegenarbeitete!«

»So ist's,« bestätigte Neusönner; »auch haben Frankreich und Bayern sich das Wort gegeben, daß keines ohne Vorwissen und Zustimmung des anderen Frieden machen soll, und dies Wort will Max Emanuel halten und sich nicht von Frankreich trennen, zumal jetzt, wo das Kriegsglück sich eine Zeitlang von dem Bundesgenossen gewendet hat.«

»Da ist's freilich schlimm,« entgegnete Senser betrübt, »das Wort muß er freilich halten, und im Unglück kann er sich nicht lossagen von dem Verbündeten! Da bleibt uns also nichts übrig, als stillhalten …«

Ein Fuhrwerk fuhr rasselnd vor dem Gasthause an und hielt still, eine willkommene Unterbrechung bringend. Der Wirt, der hinausgeeilt war, kam bald mit einem kleinen etwas beleibten Manne zurück. Das stark rotgefärbte Gesicht desselben und die spärlichen blonden und kurzen Haare verkündeten die leidenschaftliche Gemütsart des Ankommenden, die sich schon in den ersten Worten kundgab. »Was ich in München will?« rief er, indem er die Fahrpeitsche in eine Ecke lehnte und kurz grüßend neben den Anwesenden Platz nahm. »Was werd' ich wollen? Warum werd' ich fort sein von Anzing? Weil der Teufel los ist! Weil es nicht mehr auszuhalten ist, und weil ich es nicht mehr ertragen konnte, das Elend mit anzusehn!«

»Also schon wieder ein neues Unheil?« fragte der Wirt.

»Als ob ein Tag verginge, ohne ein neues zu bringen! Jetzt aber ist dem Fasse der Boden aus! Ich sitze nun bald in die dreißig Jahre in Anzing, und wird niemand sagen können, daß der Posthalter Kirner lamentiert hat, und sind doch wahrhaftig die Zeiten mitunter hart genug gewesen – jetzt aber steh' ich jeden Tag mit dem Gedanken auf und leg' mich mit dem Gedanken nieder, ob es nicht das beste wär', alles im Stiche zu lassen und auf und davon und in die weite Welt zu gehn! … Schaut mich nur verwundert an, Ihr Herren! Jetzt sind sie dahintergekommen, unsere Peiniger, wie sie das Land für immer unterkriegen können … sie nehmen uns alles weg, was jung und kräftig ist! Zwölftausend von unseren jungen Burschen sollen ausgehoben und unter die slawonischen und ungarischen Regimenter eingeteilt werden! Viele sind schon bei Nacht und Nebel aus den Betten geholt, auf die Wägen geworfen und fortgeführt worden, wie gebundene Kälber – viele haben sich geflüchtet und treiben sich in den Wäldern herum – – da werden sie aufgespürt, gejagt, gehetzt und niedergeschossen wie die wilden Tiere …«

Der Jägerwirt atmete schwer auf, der Wachtmeister ballte die Fäuste – alle schwiegen.

»Mein Nachbar,« fuhr der Posthalter fort, »ein armer Schlucker, der zuvor nicht viel zum besten hatte, hat einen einzigen Sohn gehabt – der sollt' ihm genommen werden; da ist er fort, und der Alte hat einen Trupp Rotmäntel ins Haus bekommen, die mußten ihn schinden und plagen bis aufs Blut, daß er den Sohn wieder schaffen oder ihn loskaufen sollt'. In der Desperation hat sich der Alte entschlossen, hat das Blutgeld zusammengebettelt und zusammengescharrt und hat's den Panduren gebracht. Inzwischen hat der Bursch auch davon gehört, wie sie seinen Vater schinden um seinetwillen, und ist freiwillig zurückgekommen, um sich zu stellen. Wie es eben sein will, kommt er gerade an, wie die Plagegeister mit dem Geldsacke abziehn – da haben sie gelacht wie die Teufel und haben den Burschen mitgenommen und das Geld dazu … Der Bursch will sich's nicht gefallen lassen und setzt sich zur Wehr – da haben sie ihn vor den Augen des Alten und keine zwanzig Schritt vom Hause weg niedergehauen wie einen wütigen Hund … Slak zu, hat der Slowakenkorporal geschrieen … Is nix Schaden um Kerl … is schon gezahlt!«

Der Hofkammerrat war aufgesprungen und schritt in höchster Erregung die Stube hin und wieder. Der Wachtmeister drückte sich die Ballen der Hände vor die brennenden Augen, der Jägerwirt biß die Lippen übereinander, und sein Gesicht zuckte, um das Weinen zu verhalten. »Es ist nicht mehr zu ertragen,« murmelte er.

»Das sagen die Bauern auch,« begann der Posthalter wieder; »im ganzen Burghauser Rentamte geht das stille, heimliche Gerede herum – sie wollen der Sache mit Gewalt ein Ende machen und sich selber helfen!«

»Es ist furchtbar … furchtbar!« wehklagte Neusönner. »Weh denen, durch die es so weit gekommen ist!«

»Es rührt sich halt überall!« begann Kirner wieder. »Die Soldaten, die man brotlos auseinandergeschickt hat, kommen verstohlen bei Nacht in die Häuser und reden's mit den Leuten ab, wie sie sich im Gebrauche der Waffen üben wollten, und wie man die Waffen wieder holen soll, die man allerorts vergraben hat, um sie nicht abliefern zu müssen. Im Kloster Benediktbeuern unterm Hochaltar soll allerlei Geschütz verborgen sein, und im Hohenburger Schloß allein liegen heimlicherweis' viele tausend Musketen …«

Wieder wurde die Unterredung durch Geräusch von der Straße her unterbrochen. Man hörte rufen und das Laufen von vielen Leuten; auch die Gäste traten ans Fenster. Über die draußen stehende Menge hinweg gewahrte man die vergoldeten Enden und durchbrochenen Zieraten eines schönen, mit vier Pferden bespannten Staatswagens. Durch die Glaswände erblickte man ein paar schöne Knabenköpfe, welche mit gewinnendem Ausdruck den Rufenden und Grüßenden nach allen Seiten dankten und freundlich zunickten. »Darauf hatten wir ganz vergessen!« begann der Hofkammerrat, indem man an den Tisch zurückkehrte. »Ihre Durchlaucht, die Frau Kurfürstin, soll ja heute aus Venedig zurückkommen, und die Prinzen fahren ihr bis an die Grenze entgegen! Das ist doch ein Trost – man weiß doch wieder, an wen man sich zu wenden hat!«

»Sie kommt zur rechten Zeit, um den Ausbruch noch aufzuhalten,« sagte Jäger, »es rührt sich nicht bloß um uns herum, sondern auch in der Oberpfalz und im Unterlande, wo es ebenso schlimm hergehn soll. Schon vor vierzehn Tagen ist mein Vetter, der Xaver Loderer, der Tuchmacher im Krottental, nach Osterhofen und in die Umgegend hinunter, als wenn er Wolle einkaufen tät' … im Grund aber ist er nur hingegangen, um bei Befreund'ten, die er dort hat, sich ein wenig umzuschauen und nachzufragen. Ich erwart' ihn seit gestern schon jede Stunde zurück und kann's gar nicht begreifen, warum er so lang ausbleibt …«

»Das begreift sich leicht,« sagte vom Ofen her der abgerissene Bursche, auf den niemand geachtet hatte, indem er vortrat und sich breit in die Stube stellte, »es ist keine Kleinigkeit, sich durchzuschleichen …«

Alle sahen verwundert auf ihn, der Jägerwirt maß ihn einen Augenblick vom Kopfe bis zum Fuße. »Träumt mir denn?« rief er. »Oder bist du's wirklich, Xaver? In welchem Aufzuge kommst du denn daher?«

»In dem allerschönsten,« lachte der Bursch, »und in dem allerneuesten – die Fetzen sind jetzt der einzige Anzug, in dem man durchs Bayerland reisen kann, ohne von den Soldaten ausgezogen oder von den Schergen herumgezogen zu werden. Die Kaiserlichen plagen das Volk bis aufs Blut, und die meisten von den Beamten und Pflegern … es ist eine Schand', daß man es sagen muß … die meisten helfen ihnen dabei, nur damit sie im Amte bleiben können; sie fürchten aber doch, es könnt' ein Augenblick kommen, wo dem Volke die Geduld reißt, und drum soll's ganz ohnmächtig gemacht und zernicht't werden. Der Administrator, Graf Löwenstein in Landshut, hat von Wien aus eine neue Instruktion bekommen, die so schrecklich sein soll, daß er selber nicht das Herz hat, sie auszuführen, und lieber seinen Posten niederlegen will.«

Eine augenblickliche Stille trat ein, man hörte die Atemzüge der Anwesenden.

»Ist der Herr nicht auch ins Rottal und nach Pfarrkirchen gekommen? Wie geht es dort?« fragte der Wachtmeister aus beklommener Brust. »Ein Viertelstündchen außerhalb des Marktes liegt das Dallmayergut … ich hab' den alten Mann, dem's gehört hat, gut gekannt … Wie ist es mit ihm?«

»Gestorben – er hat es nicht verwinden können, wie ihm das Haus überm Kopfe zusammengebrannt ist …«

»Der Mann hat auch einen Sohn gehabt,« fuhr Dallmayer erschüttert fort, … »der war Bürger und Rotgerber im Markt … weiß der Herr auch von dem?«

»Gestorben und verdorben! Er hat die Kontribution nicht zahlen können – Haus und Gewerb' sind ihm verkauft worden … die Wittib muß vom Almosen leben …«

Der Wachtmeister stand auf und schickte sich zu gehen. »Halt' Herr, wo hinaus in der Furie?« rief der Jägerwirt und faßte den Widerstrebenden freundlich, aber entschieden am Arme.

»Ich geh' dahin, wo ich schon sein sollt',« antwortete er, »ins Unterland, in meine Heimat – ich will bei meinen Landsleuten sein und ihnen helfen, wenn ich kann, und mit ihnen dreinschlagen und sterben, wenn's losgeht …«

»Da kommt der Herr eben recht,« begann der Bursche wieder, »die Bauern sind alle schon einig unter sich. Am Himmelfahrtstage geht's überall los im Unterlande, in jedem Markte, in jedem Dorf und in jedem Hause – um dieselbe Stunde wird alles massakriert, was kaiserlich ist!«

»Um Gottes willen!« rief Neusönner und rang entsetzt die Hände. »Das wäre schrecklich! Ich beschwöre euch, Freunde, bietet alles auf, was ihr könnt, damit das nicht geschieht! Ihr kennt mich alle und wißt, wie ich gesinnt bin – aber dafür kann ich nicht stimmen – das wäre ein Schandfleck fürs Land auf ewige Zeiten! Wenn's nicht anders sein kann, in Gottes Namen, so muß man zu den Waffen greifen, aber nicht heimlich wie Mörder, sondern offen und ehrlich, wie richtige Kriegsleute! Glaubt mir, es könnte kein größeres Unglück geben für Bayern – jetzt hat der Kaiser nur die Übermacht, das Recht aber ist bei uns: eine solche Tat gäb' ihm zu der Übermacht auch noch das Recht in die Hand … Nichts davon! Alles kann sich rüsten in der Still', aber bis der rechte Augenblick da ist, muß man aushalten, was noch auszuhalten ist, und darf ja nichts tun, den Vertrag von Ilbersheim zu verletzen!«

»Es gibt viele, die anders denken,« sagte der Wachtmeister, »und die meinen, der Vertrag sei just an dem ganzen Unglücke schuld!«

Über das blasse Gesicht Neusönners glitt ein rascher Anflug von Röte; er richtete sich trotz seiner unansehnlichen Gestalt mit Würde empor und rief mit vor Erregung bebender Stimme: »Das sollte der Herr nicht sagen – sollte es wenigstens nicht zu mir sagen, denn dem Herrn Wachtmeister kann nicht unbekannt sein, daß gerade ich es war, der den Ilbersheimer Traktat als Mandatarius Kurfürstlicher Durchlaucht mit abgeschlossen und unterzeichnet hat! Auch ich habe die Feder zu dieser Unterschrift in mein Herzblut getaucht, aber ich war und bin überzeugt, daß der Vertrag der einzige Ausweg war, vorderhand doch wenigstens etwas zu retten. Mußten auch die Festungen übergeben, die Armee entlassen und das ganze Land abgetreten werden bis auf das Rentamt München – wer die Hauptstadt hat, hat doch noch eigentlich immer das Land, und kann es von da aus wieder gewinnen. Zudem ist, wie bekannt, Kaiser Leopold, als welcher mit Max Emanuel am meisten verfeindet war, vor wenigen Tagen Todes verblichen, und ist zu verhoffen, daß Josephus, der römische König, so nun den Kaiserthron bestiegen, gegen Bayern größere Klemenz zu erweisen gewillt sein dürfte …«

Der alte Herr hätte im Eifer noch länger fortgesprochen, aber auf der Straße wurde es wieder laut. Man sah einzelne Leute im scharfen Laufe gegen das Isartor eilen, und dazwischen tönte ein gellender, langgezogener Ruf, als solle er die Einwohnerschaft aufrufen und versammeln gegen eine gemeinsame Gefahr. »Das klingt ja wie Feuerlärm!« rief Senser und näherte sich mit den übrigen den Fenstern, während Jäger zur Türe schritt, um unmittelbar auf der Straße Erkundigungen einzuziehen.

Die Tür flog ihm schon geöffnet entgegen, und einige Bürger aus der Nachbarschaft stürzten herein in Arbeitsjacken und Schürzen, wie sie aus der Werkstätte aufgescheucht worden waren.

»Wißt ihr denn noch nichts?« rief der erste, Spenglermeister Eder. »Weißt du wirklich noch nichts, Jägerwirt? Und Sie auch nicht, Herr Hofkammerrat? Die Prinzen kommen wieder zurück!«

»Das versteht sich doch,« entgegnete Neusönner, »sie sind der Kurfürstin, ihrer durchlauchtigen Frau Mutter, entgegengefahren und kommen mit ihr wieder zurück!«

»Nein, so ist es nicht gemeint!« rief Eder. »Allein kommen sie wieder – ohne die Kurfürstin!«

»Sollte Nachricht da sein, daß sie vielleicht nicht kommen kann?«

»Gefehlt! Aber die Nachricht ist da, daß sie nicht kommen darf! Wie die Prinzen gegen die Grenze hinkamen, war kaiserliches Militär aufgestellt, und ein Oberst ritt auf sie zu und bedeutete ihnen, sie seien umsonst gefahren – der Kaiser erlaube nicht, daß die Kurfürstin nach Bayern zurückkehre – in Kufstein sei sie angehalten und nach Innsbruck zurückgebracht worden …«

»Himmelschreiend!« rief Jäger. »Die Mutter wird nicht einmal mehr zu ihren Kindern gelassen? Herr Hofkammerrat – die größere Klemenz des neuen Kaisers fängt gut an!«

»Das ist noch nicht alles!« fuhr der Spengler fort. »Die Prinzen mußten freilich wohl oder übel wieder umkehren – aber die Kaiserlichen haben sie begleitet und sind ihnen nachgerückt …«

»Was? Über die Grenze?«

»Freilich! Bis hinter Haidhausen! Dort und auf dem Gesteig steht der General Gronsfeld und fordert die Stadt auf, sich zu ergeben …«

»Unmöglich! Das ist ein Irrtum!« rief Neusönner. »Das wäre eine flagrante Verletzung des Ilbersheimer Traktats!«

»Was Traktat! Sie sagen, der Kurfürst hätt' ihn zuerst gebrochen – er hätte einen geheimen Aufstand angezettelt im ganzen Lande … ein Kurier, der von Brüssel kam, soll aufgefangen sein, der hab' es so bei sich gehabt in seinen Briefereien …«

Ratlos, unschlüssig standen die Männer, draußen aber ward das Gedränge immer größer, das Geschrei immer drohender und lauter. »Nur ruhig und gelassen!« rief der Wirt, indem er Hut und Stock ergriff. »Die Stadt kann und darf nicht übergeben werden … das ist gewiß! Kommt aufs Rathaus: dort werden wir wohl das Richtige hören!«

Schnell leerte sich die Stube; der letzte, der zur Türe schritt, war der abgerissene Bursche. Walpi hatte an allem, was vorging, keinen sichtbaren Anteil genommen und entweder an ihrem Tischtuche gesäumt oder ab und zu in der anstoßenden Küche nachgesehen. Jetzt legte sie die Arbeit zusammen und wollte hinaus, um das Treiben auf der Straße unterm Haustore bequemer zu betrachten.

Sie wollte achtlos an Xaver vorüber, der zurückblickend an der Schwelle stehen geblieben war. »Verzeih' die Jungfer,« sagte er, »wenn ich Sie aufhalt' – ich weiß wohl, daß es sich nicht recht schickt in einem Verzuge wie der meinige – aber ich denk', die Jungfer schaut nicht auf das, was draußen, sondern auf das, was inwendig ist, und verschmäht meinen Gruß nicht.«

Dabei streckte er ihr aus seinen Lumpen die Rechte entgegen und schien ihre Hand fassen zu wollen, die sie aber mit Abscheu und Ekel zurückzog, während ein verächtlicher Zug um ihren Mund spielte. »Ich weiß nicht, was der Herr will,« sagte sie kurz.

»Ich hab's ja gesagt: Grüß Gott will ich sagen, denn die vierzehn Tag', die ich fort war, sind mir vorgekommen wie eine Ewigkeit! Hat Sie mich denn gar nicht irr' gegangen, liebe Jungfer? … Sie sollt' nicht so ungut mit mir sein – Sie weiß ja doch, daß ich Sie ins Herz geschlossen hab', und daß in meinem Haus im Krottental alles vom Laden bis unters Dach schon spiegelblank ist und auf Ihren Einzug wartet …«

Walpi lachte. »Bis das geschieht, können die Spiegel blind werden!« sagte sie spitzig und suchte an dem lästigen Werber vorbeizukommen, der sie ernst und betrübt ansah. »Die Jungfrau ist nicht gut aufgelegt,« rief er, »ich merk's wohl, aber verdient hab' ich's nicht, daß Sie Ihren Verdruß an mir ausläßt!«

»Verdruß!« rief Walpi ärgerlich. »Ich hab' keinen Verdruß! Der Herr wird sich wohl erinnern, was ich Ihm gesagt habe, wie Er fortgereist ist: ich hab' Ihn gebeten, daß Er dableiben soll – ich hab's als eine Prob' Seiner Lieb' von Ihm verlangt – ich hab' Ihm gesagt, daß es aus ist mit uns zweien, wenn Er geht … Er ist doch gegangen, und was will Er jetzt noch von mir? Ich hab' meinen Willen, so gut wie Er den Seinigen!«

»Das ist nicht Ihr Ernst, Jungfer! Sie weiß, Ihr Vater hat's verlangt, daß ich geh' – Sie weiß, warum ich fort bin … das Land geht vor allem!«

»Meinetwegen – aber ich mag keinen Schatz, dem ich nicht vor allem geh'!«

»… Ich kann nur noch mal sagen … das ist nicht Ihr Ernst, Jungfer …«

»Mein völliger Ernst.«

»Und Sie weiß doch, um was es sich handelt? Daß das Gespiel um Leben und Tod, um Glück und Elend vom ganzen Bayerland und um unseren guten Kurfürsten gilt? … Ja – dann hat die Jungfer recht – dann taugen wir zwei nicht zusammen … ein Weib, das kein Herz hat fürs Vaterland … und wenn sie noch schöner wär' als Sie, Jungfer Walpi – die mag ich nicht!«

Er drückte den alten, verbogenen Bauernhut trotzig in die Stirn und schritt an ihr vorüber zum Tore hinaus. Sie lachte ihm laut nach, aber das Lachen klang doch nicht so übermütig und höhnend, als sie es im Sinne trug – es war, als rege sich im tiefsten Grunde ihrer Seele etwas, was nicht damit übereinstimmte. –

Im Rathause wandelte indessen der Bürgermeister Vacchieri ruhig in dem schöngetäfelten Gemach hin und wieder, in das man durch den kleinen Rathaussaal gelangt, und dessen Fenster die Aussicht über das »Tal« gewähren. Er war ein ungemein großer und so hagerer Mann, daß er den Kopf nachlässig vorgebeugt trug: die gelbe Farbe, wie der längliche Schnitt des Gesichts ließen auf den ersten Blick erkennen, daß seine Heimat im tiefen Süden zu suchen war. Die eine Hand spielte mit den Gliedern der goldenen Kette, die er unterm weißen Spitzenkragen auf dem schwarzen Amtskoller trug, mit der anderen drehte er unablässig den rabenschwarzen Knebelbart in zwei ringelnde Spitzen auseinander.

Ihm zur Seite schritt Pfleger Ettlinger von Starnberg mit gleichmäßigen Schritten hin und wieder.

»Noch einmal, liebwertester Herr und Freund,« sagte Vacchieri, indem er stehen bleibend sich an den mit Akten bedeckten Tisch lehnte, wie jemand, der eine Unterredung abzubrechen wünscht, »ich danke Ihnen im Namen der Stadt und der Einwohnerschaft! Hätten wir Ihre hochwichtige Mitteilung nicht so zeitig und ohne alles Aufsehen erfahren, wir wären vielleicht unabsehbarem Elende entgegengegangen!«

»Die Gelegenheit bot sich so günstig,« entgegnete Ettlinger leichthin, »daß es beinahe unmöglich war, sie nicht zu benützen! Als ich vor einigen Jahren die Rheinkampagne zu meinem Pläsier mitmachte als Verpflegskommissarius, hatte ich Gelegenheit, viele der österreichischen Kavaliere kennen zu lernen – darunter den jetzigen Präsidenten der Landesadministration zu Landshut, dann den Grafen Mollart und manchen anderen … Die Herren waren so gütig, sich meiner als eines ergebenen Sujets zu erinnern und mich ohne alles Aufsehn mit allerlei delikaten Missionen und vertraulichen Affaires zu beehren … Ich habe keinen Grund gefunden, meine Dienste zu verweigern – mit Kurbayern ist es doch vorbei, und es ist nur eine Forderung der Klugheit, sich mit dem neuen Herrn auf guten Fuß zu setzen!«

»Kaiserliche Majestät,« sagte Vacchieri, »wird uns sicher ein gnädiger Gebieter sein. Die meisten vom Beamtenstande und von der hohen Noblesse denken wie wir beide – einige Phantasten abgerechnet, die mit den trotzigen Bürgern und den störrischen Bauern halten. Aber man wird Mittel finden, ihnen den Sinn zu brechen. Ich bitte nur, bei Ihren hohen Referenzen hervorheben zu wollen, wie bereitwillig …«

»Ohne Sorge!« rief Ettlinger mit einer Beschützermiene. »Ich hab' es zum Teil schon getan und habe bereits diesen Morgen, als ich von den Ebersberger Forsten wegritt, wo General Gronsfeld in der Stille sich konzentriert hatte, Gelegenheit genommen, Herrn von Vacchieri als einen Mann zu bezeichnen, der sich vor allen Überstürzungen zu wahren weiß …«

Vacchieri drehte den Spitzbart noch vergnügter, hielt aber plötzlich inne und wandte den Kopf halb seitwärts gegen die Talfenster, zu welchen ein verworrenes Brausen heraufscholl. »Was ist das?« rief er. »Welch ein Lärmen? Sollte schon etwas ruchbar geworden sein?«

Er trat zum Fenster, wohin Ettlinger schon vorangeeilt war. Das ganze »Tal« bis hinab zum Isartor war gedrängt voll Menschen, die schreiend und wehklagend durcheinander wogten, die Hände rangen, oder drohend mit denselben in die Luft fuhren. Dazwischen brachen sich einzelne Männer von der Bürgerwehr Bahn, welche Säbel und Patronentasche über die gewöhnlichen Kleider geworfen hatten und nun, die Muskete auf der Schulter und die weißblaue Binde am Arme, den einzelnen fernen Trommelschlägen folgend, zu ihren Sammelplätzen eilten.

»Diavolo!« knirschte Vacchieri, noch gelber vor Ärger. »Die Unsinnigen scheinen es wohl gar auf Widerstand abgesehen zu haben!« Er wandte sich der Türe zu und wollte die Glocke ziehen, als die Flügel aufgingen, der Ratsdiener ängstlich hereinstürzte und mit stotternder Stimme meldete, die Kaiserlichen stünden droben auf dem Gasteigberge und wollten die Stadt bombardieren, wenn sie binnen einer Stunde sich nicht gutwillig ergebe.

»Wer hat befohlen, Alarm zu trommeln?« schrie ihn Vacchieri wütend an.

Der Diener stammelte und schwätzte verwirrt durcheinander vom Bombardement und Soldaten, von der Bürgerschaft und vom Rathaussaale.

»Wer hat befohlen, Alarm zu trommeln?« wiederholte der Bürgermeister noch grimmiger und riß selbst die Türe auf, die in den kleinen Rathaussaal führte. »Man soll aufhören damit! Augenblicklich …«

Er verstummte, denn der ganze Saal war gedrängt voll Menschen, und er stand einer Schar von Männern gegenüber, deren vorderste mit erhitzten Gesichtern eben im Begriffe gewesen waren, in das Zimmer einzudringen. Der erste war der Jägerwirt mit Eder und Senser, der Koch Engelhard, der Weißbierbrauer Schwöger; hinter ihnen kamen Wachtmeister Dallmayer und Posthalter Kirner – auch der feine Hofkammerrat Neusönner hatte nicht verfehlt, sich einzufinden.

»Aufhören?« rief Jäger. »Gnaden Herr Bürgermeister haben sich wohl versprochen? Immer mehr trommeln sollen sie, und stärker, damit auch die Weiber und Kinder nach Beil und Stange greifen!«

»Verblendete!« entgegnete Vacchieri, sich in die Brust werfend und doch wie unsicher einen Schritt zurücktretend. »Man wird doch nicht daran denken, einen Widerstand zu leisten, der die Übermacht nur erbittern könnte? General Gronsfeld steht mit achtzehntausend Mann und mehr als dreißig Geschützen auf dem Gasteigberge …«

»Das glauben wir nicht!« rief eine starke Stimme aus der Ecke des Saales; sie gehörte dem Anzinger Posthalter, welcher die dort befindliche und mit einem Eisengitter umgebene Erhöhung erstiegen hatte, um alles besser übersehen zu können. »Vorgestern ist der Gronsfeld noch mit einem ganz kleinen Korps und ein paar Feldschlangen bei Anzingen gestanden … wo sollen auf einmal die achtzehntausend Mann herkommen?«

»Ja, wir glauben's nicht,« rief Eisenhändler Senser und hob seine herkulischen Arme. »Und wenn's wahr wäre, wir lassen's darauf ankommen! Wir haben sämtliche streitbare Mannschaften von der Bürgerwehr, dazu die vierhundert Mann Leibguardia der Frau Kurfürstin – wir nehmen's auf mit den Kaiserlichen!«

»Aber auf wie lange!« entgegnete Vacchieri. »Wäre die Macht der Kaiserlichen auch nicht so groß, so wird sie in wenigen Tagen zwiefach furchtbar sein – die Stadt kann sich doch nicht halten und würde dann ihr Los durch die unsinnige Opposition nur verschlimmert haben! Übergeben wir sie nicht, so hat General Gronsfeld gedroht, sie in Brand zu schießen und der Plünderung preiszugeben!«

»Wie gesagt – wir lassen's darauf ankommen, Gnaden Herr Bürgermeister!« sagte der Jägerwirt ruhig, aber entschieden. »Wagen wir doch unsere Köpfe dran – sollen wir mit Hab und Gut bedenklicher sein? Sollen uns die Häuser mehr gelten?«

»Aber der Wille, der Befehl Eurer Obrigkeit …«

»Unsere Obrigkeit ist Seine Durchlaucht Max Emanuel, Kurfürst von Bayern … Er ist nicht im Land! Die Frau Kurfürstin wird nicht mehr hereingelassen … die Prinzen sind unmündige Kinder – da sind wir Bürger unsere eigene Obrigkeit und haben selber zu entscheiden, was wir wollen. Auf keinen Fall kann der Bürgermeister allein – nur der versammelte innere und äußere Rat kann darüber entscheiden …«

»Es war nicht möglich, den Rat zu berufen,« sagte Vacchieri in leichter Verwirrung, »der General gab nur eine Stunde Bedenkzeit – die Zeit war zu kurz!«

»Zu kurz?« lachte Senser darein. »Als ob es mehr brauchte, als dem Feinde das Tor vor der Nase zuzuschlagen! Fort, Freunde – nicht wahr, wir wollen München nicht übergeben? Wir wollen uns wehren und Max Emanuel seine Hauptstadt und die Prinzen, die er uns anvertraut hat, erhalten?«

»Ja, das wollen wir! Fort auf die Mauern!« riefen alle stürmisch durcheinander und drängten nach der Türe.

Der Bürgermeister aber richtete sich hoch auf und raffte alle Kraft zusammen. Seinem feinen Ohre war ein leiser Schall nicht entgangen, der aus der Ferne kam und seinen Mut erhob. »Man wage es nicht!« rief er mit gebieterischer, den Lärm durchdringender Stimme. »Man bleibe und gehorche! In solchen schwierigen Momenten hat man nicht lange Zeit, alle zu hören – da muß der einzelne für das Ganze denken und entscheiden. Ich hab's getan und nehme die Verantwortung auf mich – darum gehe man ruhig nach Hause, man füge sich in das Unvermeidliche und verscherze nicht selbst durch Widerspenstigkeit die günstige Kapitulation …«

»Nichts von Kapitulation!« rief Senser und mit ihm die Anwesenden. »Ans Tor! Auf die Mauern!«

»Halt!« rief Vacchieri nochmals mit donnernder Stimme. »Rennt doch nicht mit offenen Augen ins Verderben … die Befehle sind gegeben und unwiderruflich … es ist zu spät zum Widerstande … Hört!«

Eine augenblickliche Grabesstille verdrängte den Tumult – man vernahm kurzen, dumpfen und raschen Trommelschlag aus der Ferne.

»Kaiserliche Trommeln!« schrie alles durcheinander. »Sie sind schon in der Stadt!« und in wilder Verwirrung stürmte und stürzte alles die enge Stiege hinab auf den kleinen Platz hinter der Peterskirche und von da durch den niedrigen gewölbten Gang dem Rathaustorbogen zu.

Dort hörte man die Trommeln immer näher, immer deutlicher vermischt mit dem Knall einzelner Flintenschüsse, dem wilden Geschrei der einzelnen Soldaten, dem Jammern des Volkes, das in Flüchen, Verwünschungen, Gebeten und Tränen durcheinander drängte.

Vergebens suchte Jäger durch die Menge zu kommen, welche sich im Bogen staute: er ward vorwärts geschoben gegen die Ecke hin, wo zwischen der Trinkstube und dem Gebäude der bayerischen Landschaft die Dienersgasse gegen die kurfürstliche Residenz einmündet.

Jetzt kamen die ersten Reiter durch das Rathaustor auf kleinen unansehnlichen Pferden, verwegene, kecke Burschen mit blauen Pelzmützen, blauen Jacken und einem weiten, roten Mantel darüber. Die langläufigen Gewehre waren nach Tatarenart quer über die Schulter und Brust gehängt, die Säbel nach türkischer Weise leicht gekrümmt und am Ende breit geschliffen. Die Abteilung Fußsoldaten, welche hinter ihnen kam, bot einen weit minder furchtbaren, beinahe buntscheckigen Anblick: es waren Reichstruppen aus dem fränkischen Kreise, aus dem Pappenheimischen und aus den Gebieten anderer kleiner Reichsstände und Klöster zusammengewürfelt.

Eine Abteilung zog schräg über den Platz gegen die Weinstraße hin, um die Hauptwache am Unsernherrn- oder Schwabingertore zu besetzen; ein anderer Teil marschierte an der Mariensäule vorüber, der Kaufingergasse und dem Neuhauser Tore zu, um sich mit der von außen dahin verschobenen Mannschaft zu vereinigen.

Unweit der Mariensäule selbst stellte sich ein Trommler auf, und ein Profos in den österreichischen Farben las mit weithin schallender Stimme eine Proklamation des Kaisers Josephus, worin männiglich kund und zu wissen getan wurde, »wie Kurfürst Max Emanuel mit dem Reichsfeinde konspiriert, auch zuwider dem Traktate von Ilbersheim Unruhe und Rebellion wieder den Kaiser anzuzetteln intentioniert – wie demnach auch der Kaiser an besagten Traktat nicht mehr gebunden sei, derohalben sich entschlossen, die Hauptstadt des ehemaligen Kurfürstentums Bayern zu besetzen und dieselbe samt allem Gebiete für ewige Zeiten mit seinen kaiserlichen Erblanden zu vereinigen – somit habe durch diese feierliche Besitzergreifung das bisherige Kurfürstentum Bayern aufgehört, es gebe keinen Fürsten mehr, der sich zu nennen berechtigt sei, und seien dessen Nachkommen nicht befugt, einen anderen Titel zu führen, als den der Grafen von Wittelsbach«.

Ein Schrei des Jammers und der Entrüstung erklang in den Trommelwirbel – das Volk drängte vorwärts, denn eben erschien der Staatswagen, in welchem die Prinzen ihrer Mutter entgegengefahren waren, jetzt umgeben von wilden, bärtigen Sereschanern in roten Mänteln, welche mit Gewehr und Kolben die Menge zurückstießen.

Die Prinzen waren eben recht gekommen, um noch den Schluß der Proklamation zu vernehmen. Der ältere, etwa achtjährige Karl Albert starrte totenbleich durch die Glasscheiben, und dichte Tränen rollten ihm über die Wangen; der jüngere schien nicht völlig zu fassen, was vorging, und schmiegte sich ängstlich und schreckhaft an den Bruder. Lautes Schluchzen tönte ihnen von allen Seiten zu; viele sanken in die Kniee, andere streckten die Hände nach ihnen aus …

Der Jägerwirt schritt trotz der Panduren an den Wagen und reichte dem Kurprinzen tröstend seine Rechte in den Schlag hinein. »Weint nicht, Bübel,« sagte er mit schmerzbebender Stimme, »fürchtet euch nicht – noch hat der letzte nicht geschoben!«

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