Carl Ludwig Schleich
Das Ich und die Dämonien
Carl Ludwig Schleich

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Die Dämonien

Der Geist der Griechen, ihr besonderer Anschauungsapparat hat der Welt dies Wort beschert. Dies Volk, dessen eingeborene Weltanschauung von einer Tiefe und Eindringlichkeit war, daß keine Kultur nach der ihren den Reichtum und die Zündkraft ihrer Begriffe je wieder entbehrenkann, welche zu vielen Hunderten die Sprache aller noch lebenden Kulturvölker durchrieseln wie Adern im Marmor, wie Feuersteinzonen im Kalklager, woraus allein die Unentbehrlichkeit der sogenannten klassischen Bildung erhellt, dieses Volk hatte einen staunenswert naiven und doch so hoch künstlerischen, bildhaften Dichtersinn, daß es kaum einen Vorgang der Natur oder des Geistes gibt, den die »alten Griechen« nicht mit irgendeinem legendenhaften Märchen, mit einer phantasiedurchsättigten Symbolverdichtung den tiefen Träumen der Nation sinnfällig zugrunde gelegt hätten. Da führte Helios auf goldenem Wagen seine Rosse aus der Garage Jupiters an jedem Morgen in der Frühe und abends in den finstern Stall der Welt zurück, da waren die Seuchenursachen Pfeile aus Apollons Köcher, die über das Volk επι το δημοσ ausgeschüttet wurden, was lebhaft und wunderschön die winzigen bazillären, kleinen Lebewesen der Luft symbolisiert, und dem Genius epidemikos, dem Dämon, der »über das Volk kommt«, eine noch heute gültige Existenz garantierte, da war das Echo das Weib, das nie von selber zu reden beginnt, doch einmal angesprochen, nicht wieder aufhören kann zu schwatzen, da waren die Bernsteinstückchen Tränentropfen, die die Schwestern Phaetons in das Meer weinten, als sie ihren Bruder unerlaubt den Helioswagen besteigen und jäh abstürzen sahen aus der nicht beherrschten Flugbahn der Sonne, da war die unheimliche Glut, die Sommermittags über Feldern und Wäldern lag, der Schlaf des großen Pan, und so weiter in schier unendlicher Kette. Dieses Volk von geborenen Dichtern von Balladen, Legenden und Elegien, die alle Realitäten des Lebens in wundervolle Schleier hüllten, dieses Volk von Aristokraten der Idee und Kunst beseelte eben alles, was Auge, Ohr, Gefühl mit Motiven überschüttete – unser kalter physiologischer Anreiz war ihnen ein proteusartig umgewandeltes Wellenreich, das an dem Wehr ihres Geistes aufsprühte zu Märchenschaum und Ideenbrandung, zu einem bunten Spiel der Sonne in Millionen Tautröpfchen ihrer Ganglien. So waren auch die Vorgänge im Labyrinth der Brust, alle Innengeschehnisse und -zustände getragen von Geistern und Geistwesen, die Laren waren Gottheiten der häuslichen Behaglichkeit, der Reiselust, der religiösen Gefühle, Furien die Götter der Reue und der Seelenpein, Musen und Charitinnen die Feen der Kunst und Freude, die Parzen des Schicksals Spinnerinnen, und die Mänaden und Dämonen die Nachtgeister seelischer Abgründe und Klüfte des Unheils. Die Furcht, die gestaltete Unheimlichkeit dräuender Schrecknis und des Entsetzens war das Gorgonenhaupt, welches in Gold geprägt des Achilleus Schildfront voranleuchtete. Solche Dämonen waren eben eingedrungen in das Gefüge und die Gemächer des Ichs, wenn geistige Abnormitäten irgendwelcher Art aufleuchteten wie Irrlichtschein und Elmenfeuer aus dem dunkeln Rasen der Seelenwiese. Aber nicht nur den Nachtseiten des. Lebens gehörten solche Dämonen an, sondern auch abnorme, immerhin unheimliche Geister eines auffälligen Könnens, eines unbegreiflichen schöpferischen Künstlerwesens waren Fremdlinge der Seele. Und wir können der sinnigen Logik der Griechen getrost folgen, wenn auch wir das ungeheure. Gebiet geistiger Abnormitäten, die wir hier physiologisch zu analysieren haben, in zwei große Gruppen teilen, in die Welt der guten und bösen Geister. Das Eudämonion des Genies zum Beispiel gehört unbedingt zu jenen, gewöhnlichen Menschenkindern des normalen, gesunden Durchschnitts auffallenden Wesenheiten, welchen ein gewisser, halb frommer, halb umschielender Schein von Unheimlichkeit und Verdächtigkeit anhaftet. In das Bewundern der Genien, diesen Herolden der Götter, mischt sich Ergriffenheit mit Abkehr und eine gewisse leichte triumphierende Schadenfreude, die trotz all dem Menschenwunder, das sich hier offenbart, leise Gott dankt mit dem merkwürdigen Pharisäertum der Gesundheit, nicht so zu sein wie jener, von dem sie fühlen, daß vielleicht ebensoviel Fluch wie Segen über seinen erstaunlichen Geistigkeiten liegt. Alle Zustände der Begeisterung, der Ekstase, des Berauschtseins in gutem Sinne, des Fanatismus, des Hingerissen- und Ergriffenseins, der Beeindruckbarkeit durch Ereignisse und Faszinationen durch Persönlichkeitszauber – sie liegen alle innerhalb der, wenn man so sagen darf, positiven Dämonien, sie gehören zu den eudämonologischen Zuständen, sind Adern einer Eudämonie, einer wohlorientierten Hingabe an etwas anstaunbar Schönes des Daseins, sie haben einen Siegeldruck der Bestimmung und Berufung zu etwas Höherem, die Weihe eines Mandats, einer Mission des Gesamtgenius der Menschheit. Dahingegen ist die eigentliche Dämonie eine geistige Perversion, ein Stigma der Verworfenheit, das Offenbarwerden eines Ausgestoßen- und Abgetrenntseins von der gesunden Gleichartigkeit der Mitlebenden, ein Ausgeschleudertsein aus dem Rhythmus des Normalen, eine Blendung oder Verzerrung des Blicks für die sogenannte vernünftige Gesinnung und Handlungsweise des harmonischen Spießbürgertums, dessen Harmonie, der Dreiklangsakkord von Familienleben, Nahrung und Berufstum, nicht gestört sein will.

Wir werden uns also zu fragen haben, zunächst gemäß unsrer schon auf so vielen Gebieten psychischen Geschehens bewährten Methode, welcher Art physiologische Vorgänge am Apparat unsres geistigen Ablaufs gegeben sein müssen, um diese Art eudämonischer Spannungen von Erhobensein und von Übersteigerung des rhythmischen Gleichgewichts unsrer Gemüts- und Verstandeslage hervorzuzaubern, die sich ja normalerweise wie zwei Schalen an der Wage gegenüberschweben. Und da wollen wir uns zunächst daran erinnern, daß wir im Körper ja Stoffe produzieren, welche gleichsam als Betriebssteigerer und Erhalter und Förderer der Organtätigkeiten für den Ablauf unserer Geistigkeiten eine gewaltige Rolle spielen. Das sind die Hormone. Wir hatten sie gleich den Fermenten des Leibes, wie Pankreassaft-Trypsin, Magensaft-Pepsin, Gallensaft-Cholin, gleichsam für belebte Flüssigkeiten angesprochen; belebt, weil kleine Mengen davon genügen, um für lange Zeit und in großer Ausdehnung ihre zweckgemäße, segensreiche Organarbeit zu verrichten. Denkt man sich nun vermöge des sympathischen Nervengeflechts, welches ja der eigentliche Kommandeur und Direktor aller Saftfabrikationen in den geheimnisvollen Braustuben der Drüsen ist, Rhythmen rein geistiger Natur in ihnen erzwungen durch die Macht einer Idee, einer Persönlichkeit, einer gegebenen psychischen Ungewöhnlichkeit, einer eigenen »infizierenden« Situationsspannung und solche rhythmischen Stöße weitergegeben in die Kammern der Hormonsaftbereitung, so können diese Betriebssaftvermehrungen im Blute am Ganglienapparat einen Hochschwung der Funktionsleichtigkeit, eine Steigerung der persönlichen Betriebsleistung, eine höhere Intensität der Geistigkeit überhaupt vermitteln, die unschwer aus den oft besprochenen Funktionen der Neuroglia und der Ganglienharfe sich erklären läßt. Das führt dann zu einer Leichtigkeit der Anschlüsse, zu einem Tempo der aufzuckenden Ganglienlämpchen, zu einem Dahinrasen der kleinen Blitzzüge über die Gleise der nervösen Zellstationen, daß eine Gehobenheit des Gefühls vom Ich, ein inneres tiefes Bewegtwerden, eine Steigerung der Persönlichkeit resultiert. Das ist der Sinn des Berauschtwerdens im guten Sinne, ohne Alkohol, ohne Exzitantien außerhalb des chemischen Laboratoriums der eigenen Fabrikstätten in den Schächten des Leibes, das der Sinn der Ekstase, des Fanatismus, des Ergriffenseins unseres Ichs von der Macht der Ideen und dem Zauber einer berauschenden Menschennatur, sei es ein Dichter oder sein Werk, ein Instrumentalmeister oder ein Maler, oder überhaupt ein Vollmensch mit ungewöhnlichen Gaben, ein Redner, ein Agitator, ein Priester, ein Arzt. Ja, so kommt eine unserer heiligsten Massenemotionen, der Patriotismus, zustande, der die Gemüter hochsteigert bis zum höchsten Opfer, das der Mensch zu bringen hat, dem seines Lebens. Überall wirkt hier eine Idee zündend, befeuernd, ansteckend, aufreizend, durchglühend und stets mit demselben Mechanismus des Zustroms vermehrter Hormonsäfte zum Blut. Es sind Begeisterungsgifte, Optimine, Euphorine, welche hier durch die Sympathikusanrufe in den Krypten der verschiedensten Drüsen in höchster Menge gebraut werden, und welche Sporen und Peitsche haben, um Millionen mikroskopischer Ganglienpferdchen in Trab und Galopp zu treiben. Wo in jedem einzelnen Falle diese Hormone geboren werden, das kann die Wissenschaft heute noch nicht genau präzisieren, wird es aber sicher einst aufdecken. Heute wissen wir nur, daß erhöhte Aktion z. B. der Schilddrüse, der Sexualdrüsen gewisse Aufgeregtheiten bedingt, welche sich durch Ganglienerregung des Bewußtseins, durch Aktionen kundgeben, die einen Zuwachs an Leidenschaft und Erregbarkeit bedeuten. Solche Steigerungen des Betriebs von den Arsenalen des Unbewußten her können so stark werden, daß daraus Abblendungen der Vernunftzonen, Prävalenzen der Triebe vor dem Erwägen entstehen, welche zu Affekthandlungen führen können, und die Begeisterten, Berauschten zu Aktionen treiben, welche einen antisozialen Einklang erhalten können, wobei die Eudämonie in der Übersteigerung zur echten Dämonie umschlägt.

Wenden wir uns nun zu dieser, der wahren Dämonie, so müssen wir zunächst konstatieren, daß also das höchste Wohlgefühl, das Wirken einer Persönlichkeit in idealstem, ethischem Sinne nur dann gegeben sein kann, wenn die Rhythmen der drei Orgelregister genau eingestellt sind in den Rhythmus des Alls, wenn die Harmonie zwischen Sympathikus und Zerebrospinalaktion (Tätigkeit des Gehirns und Rückenmarks, also die der sekundären Nervensysteme) ungestört erklingt, wenn Wille des Alls mit meinen Vorstellungen und Willenstreibungen sich vollkommen parallel bewegen. Dann ist das Gefühl des äußersten Wohlbehagens, ja der Lust, der elysäischen Freude vorhanden, wie es der Frühling, die volle Gesundheit, der Nachlaß wilder Schmerzen, der schöne Anblick der Naturerscheinungen, die Gegenwart lieblicher Kinder, diesen Herolden der Ewigkeit des Menschenbestandes, erregt. Nirgends aber fühlen wir diese Harmonie als Einschwung unsrer Persönlichkeit in den Rhythmus des Alls so überwältigend innig, so schmelzend wonnevoll als bei der Liebe, und ihr Orgiasmus ist ein schwerwiegender Beweis dafür, daß nur Liebe und Güte des Allgedankens die Quelle und die Mündung des ganzen Lebens- und Weltstroms sein können. Wer wahrhaft liebt, ist im Moment höchster Erfüllung eins mit des Weltalls wildem Rausch. Wie ja denn auch in dem Moment der höchsten Lust der Schöpfungsgedanke, Opfer und Neuerstehen, sich auf das wunderreichste offenbart, ein Wunder, das niemand schöner und prägnanter auszudrücken vermochte als Goethe in dem Lied an den Schmetterling:

Und solang' du das nicht hast,
Dieses Stirb und Werde,
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde –

Verse, in denen der Gedanke wohnt, daß ohne Opfer und schöpferische Liebe die Erde gleichsam unbeachtet und ein großer Hexentanzplatz von Dämonien sein müßte.

Was ist nun aber der eigentliche Sinn der Dämonien, dieser Schattengeistigkeiten allen Glücks und allen Behagens, dieser Dunkelseite alles Menschentums und alles blühenden, rauschenden, leuchtenden Naturerscheinens? Wir wollen es kurz sagen: der sich gegen das Ethos, das Ziel der Welt hochbäumende Vernichtungs-, Verneinungs-, Zerstörungswille alles Individuellen. Er ist eine Kette von Protesten gegen die Bestimmungen, Ziele, Wirkungsweisen des Guten in der Welt. Die prometheische Auflehnung des Sonderwillens gegen den Allwillen. Es ist eine ungeheure Einseitigkeit Darwins gewesen, den Erhaltungstrieb als die einzige Quelle der Variation der Lebewesen hinzustellen unter völliger Verkennung psychologischer Tatsachen. Denn ist nicht der Wille zur Vernichtung in jedem Lebewesen genau so lebendig wie der zur Erhaltung des Bestandes und zu seiner Steigerung? Ist nicht dem stärksten Triebe der Selbsterhaltung, der Ernährung, fest angekettet die Methode der Vernichtung? Kann Leben bestehen, ohne Lebendiges zu vernichten? Morden die Herbeischaffer unsrer Nahrung nicht stündlich, täglich? Ist die belebte Natur nicht ein gewaltiges Schlachthaus des Lebendigen, wo Opfer um Opfer fällt und zu Atomen zermalmt wird, um vampirartig Blut und Saft zu saugen, damit es sich selbst zum Verzehrtwerden trefflich vorbereite? Schöpfung und Vernichtung sind Zwillinge. Und dies Verhältnis hat natürlich auch seine polare Spiegelung in der geistigen Sphäre des Psychologischen. Woher denn des unschuldigen Kindleins grausamer Trieb, Tiere zu quälen, lebende Vöglein zu rupfen, Maikäfer gefangen zu setzen, Blumen zu zerpflücken und sein Säuglingsbrüderchen in die Beine zu kneifen ? Aus Vernichtungstrieb, der sich übt!

Vernichtungstrieb und Dämonie. Woher stammt des Menschen fiebernde Lust, sich zu betäuben im Tanz, im Rausch, im Genuß Illusionen schaffender Gifte, Alkohol, Nikotin, Morphium, Haschisch, ein Trieb, der bis tief ins Tierreich als Berauschungslust, wie Bienen- und Schmetterlingsrausch am Saft der Blüten, durch Rhythmentaumel hinabreicht und hinauf bis zur Derwisch- und Fakirekstase und verzückter Katalepsie im religiösen Tanz zur angeblichen Verherrlichung des Herrn der Welt? Und so gelangen wir endlich zu einer Einsicht, welcherlei Funktionen es denn sein mögen, die beide Dämonien, die bösen und die guten, erzeugen, und wie diese beiden Teile des Aufstiegs und des Absturzes aller Erdenwanderer miteinander in den Labyrinthen der Brust, in dem Gefängnis unsres Ichs, im Zuchthaus des Leibes miteinander verkettet sind. Daß ich es gleich sage: es sind die beiden Systeme des unterbewußten Willens des Sympathikus und das des bewußten egoistischen Dranges, sich selbst, sein eigenes Ich gegen Gott und Welt als etwas Selbständiges, individuell allein Berechtigtes um jeden Preis durchzusetzen, welcher Trieb, ausgebrochenen Pferden vergleichbar, gebunden ist an die rasenden, ungehemmt entarteten Gangliensysteme des Vorderhirns, an eine größenwahnsinnig gewordene Mentalität mit der Wahnvorstellung der Selbständigkeit und der alleinigen Gültigkeit des Ichs und einem unermeßlichen Ichhunger. Denn wir können es uns nicht nehmen lassen: von Geburt an, von Ursprung her, vorgedacht und so geschaffen ist der Mensch gut und ohne Schuld. Der Sympathikus ist ja des Neugebornen einziger Steuermann, der dem Direktorium des unbewußten Weltwillens alleinig unterstellt ist. Dieses Direktorium ist aber, ob gut oder schlecht, die einzige Bezugsquelle organischer Bewegung. Ist die Welt schlecht und steuert sie in eine Nacht des Verderbens, dann allerdings müßte auch der Mensch böse von Natur sein. Das kann aber nicht angenommen werden angesichts der Schönheit und der gütigen Wunder des Frühlings, der Liebe, der Menschengüte, angesichts der Tatsache von Gesinnungen eines Christus, des heiligen Augustins, Tolstois, eines Goethe, Kant oder Schiller. Allein die Möglichkeit der Gipfelungen des Weltschaffens in diesen Positivitäten beweist, daß die Welt trotz allem und allem von der Hand der Güte und der Schönheit gesteuert wird, und es kann das Böse nur eine Entartung, eine Polarität, eine Perversion des Welttriebs sein. Ich möchte es das Aufbäumen, die Raserei, das Aktivwerden der Hemmung nennen, das prometheische Überheben des zähen Widerstands jeglicher Materie, die bewußt gewordene Selbststeigerung des Widerparts der Kraft, eben der Hemmung, ein Protest der Hochorganisation der bewußt gewordenen lebenden Prismen, ein Versuch, sich selbständig loszulösen vom Rhythmus des Alls. Die Harfe des Äolus, in der die Weltallsoden tönen, beginnt für sich, aus sich, durch sich zu spielen, sie ist es müde geworden, die alt-uralten Lieder zu singen, sie will selber dichten, tönen, singen, die überhebliche Törin, die doch erst durch die Allmacht der Luft das Klingen gelernt hat. Sie möchte Zephire und Orkane nachäffen und von selber klagen und trauern, und sollte doch erkannt haben, daß sie nur zittern oder grollen kann, wenn der kosmische Luftstrom ihr Klang und Lied gibt. Übertragen wir dies Bild auf die Organisation des Menschen, so können wir kühn behaupten, all unsre Geistigkeit ist eingespannt in die beiden Rahmen des Bewußten und Unterbewußten, gebunden an das zerobrospinale und das sympathische Hirnsystem, und alles, was »seelisch« geschieht, ist eine Mischung aus diesen beiden Quellen unsrer gefühlten Existenz. Nun kann sich das Vorderhirn gleichsam emanzipieren, es kann die Aolsharfenselbständigkeit revolutionär anstreben: entarten, entfliehen dem Banne der Rhythmen des Sympathikus, und wir haben die Tatsache, daß der Mensch zerfällt in zwei Existenzen, sein Doppelseelentum, seinen Faust und Mephisto, seinen Pfarrer Brandt und Peer Gynt, seinen Don Quichote und Sancho Pansa, seinen Claudius und Hamlet in einer Brust. Das Gute liegt im Unbewußten, das Böse im egoistischen Ich, im Bewußtsein. Der Mensch ist gut von Anlage, wird böse von Kultur, und zwar, weil aus der Lebenshemmung, welche der Sympathikus von der Umwelt erfährt, Störungen seiner Saftbereitung in den Drüsen resultieren, welche, dem Blute beigemengt, Perversionen des Ichs geradezu erzwingen auf dem Wege gestörter Neurogliatätigkeit. Genau so wie die physiologischen Produkte der Hormone den harmonischen Betrieb, das Gleichgewicht vom Bewußten und Unbewußten, garantieren, genau so stören die Dishormone, die gewandelten Brausäfte des Leibes diese Regulation, sie sind die Stromquellen nun scheinbar aus dem Unterbewußtsein aufsteigender Triebe, die Hetzer, Anreizer, Kuppler zu den Perversionen des Ichs, seinen antisozialen Entgleisungen, seinen Lüsten, seinen Verbrechen. So ist alle Ethik gebunden an die harmonische Regulation der Hormone, welche erzwingen, daß die Ganglien des Bewußtseins nur im Dienste des fördernden Allgefühls vom Sympathikus her gesteuert, vom Weltallsherzen in das Herz des Menschen übertragen, in voller schöner Federung den Uhrbetrieb des Individuums erhalten, und daß alle Sünde oder Schuld, bewußte oder erzwungene, Trieb der Disharmonie, des Zwiespalts, der Vermehrung der pathologischen Säfte der Drüsen, den Dishormonen oder der gestörten Korrelation der Blutbeimengungen aus den Braustätten der Hormone entstammt. Das Böse ist eine Krankheit, ein Leiden, eine Vergiftung der belebenden Flüssigkeit, des Blutes, das nun so wirklich ein besonderer Saft von höchstem seelischen Bedeuten wird, ansteckend und vererbbar.

Wir sind so weit, daß wir nunmehr in dem ungeheuren Gebiete geistiger Perversionen die Dämonie als eine durch Saftbildung erzwungene Störung im Ablauf normaler geistiger Funktionen definieren können, wobei wir festhalten wollen als unsre Grundanschauung über das Böse, über die Nachtseite im Labyrinth der Brust, daß diese Störungen nicht in der molekularen Struktur der Zelle gegeben sind. Nicht der Nervenapparat trägt die primären Stigmata alles dessen, was Schuld und Fehle erzwingt, sondern es sind Außenereignisse, sei es die Invasion von Giften, von den Stoffwechselprodukten verschluckter Bakterien, seien es die Produkte einer naturwidrigen Ernährung oder die Wirkung schädlicher Genußformen, sei es, daß katastrophale, tief erschütternde Erlebnisse die Bildung lebenfördernder Hormone verhindert resp. fremdartige Selbstgifte erzeugt – immer ist es die saftverändernde, trübende, verunreinigende Beimengung abnormer Stoffe, welche wir als das Primäre am Aufsteigen des Bösen aus den Fluten und Kratern der Geistigkeit erkennen. Der Nerven- und Ganglienapparat ist gar nicht so aktiv, wie die alte Psychiatrie annimmt, welche, gestützt auf eine unhaltbare Lehre vom Stoffwechsel auch der Ganglienzelle, auf die Theorie der Osmose und Diosmose, immer vergeblich für ihre Klassifikation der Geisteskrankheiten den pathologischen Prozeß innerhalb der Zelle suchte, mit dem Resultat, daß bei einer großen Zahl ihrer nur kasuistisch gestützten Klassifikationen geistiger Erkrankungen, bei dem Stumpfsinn (Demens), der Paralyse, der Hysterie, der Neurasthenie, bei der Manie und den Dämmerzuständen, in der Leiche solcher Unglücklichen nie die entscheidende anatomisch-mikroskopische Veränderung des Zelllebens gefunden wurde, die sie eifrig suchte. Für uns natürlich, weil ja die Vermittlerin geistiger Störung gar nicht in den Zellapparaten sitzt, sondern in dem Neurogliakanalsystem um die Ganglien herum, in welcher der krankmachende Stoff erst kreist, der dem normalen Blutsaft mit seinen Förderungsgiften, seinen lebenfördernden Hormonen sich beimengt aus den Fabrikstätten der inneren Sekretion der Blutdrüsen, die den reinen Wunderstrom des Blutes durchmengen, wie die dunklen Wellen aus einer Farbfabrik eingespült werden in die dem Meere entgegenrauschenden Fluten eines Flusses. Die Folge dieses vergeblichen Suchens, das dogmatische Festhalten an einer zellularen Stoffwechsel- und Ernährungstheorie, basiert auf der heute nur noch sehr bedingt richtigen Zellularpathologie Virchows. Daher denn auch die große Ohnmacht der psychiatrischen Heilversuche in unseren Anstalten für Gemüts- und Geisteskranke, ihr Absinken auf einen Betrieb, der zwischen Zuchthaus und Isolierhotel pendelt, der alles andre leistet, nur keine Heilung. So sind denn die Heilmethoden unserer Psychiater fast aussichtslos, wenn die Natur, d. h. der gute Doktor, »von Selber« nicht hilft, so bleibt ihr Handwerkzeug die Morphium- und Skopolaminspritze, die Isolierung, die Zwangsjacke, die Gitterstangen, die Bäder, die Gummizelle, der nicht immer liebevolle Wärter und die starre kasuistische Registrierung von Fall zu Fall. Erst die richtige Erkenntnis der Gesetze der innern Sekretion, die Auffindung von Gegengiften, Antigenen der Saftintoxikation von den Blutdrüsen könnte hier Wandel schaffen, auch die aktive Durchspülung der Neuroglia von dem Adersystem her, die aktiven, mehr chirurgischen Maßnahmen zur Entgiftung des Blutes werden den Weg zeigen, auf dem einst der Medizin auch hier in dem Urwald und in den Wolfsschluchten der Dämonien Triumphe erblühen werden. Doch das gehört nicht hierher. Es sollte nur auf die Sterilität psychiatrischer, gewiß ungeheuer sorgsamer Heilbestrebungen der Irrenkunde hingewiesen werden, welche so lange im Finstern dämonischer Niederungen herumtappen wird, ehe nicht klar erkannt wird, daß die Neurogliatheorie, wie sie der Chirurgie schon den Segen der lokalen Anästhesie und den einer rationellen Narkose gebracht hat, auch hier erst die Basis gibt für eine Aussicht auf aktives Eingreifen in die Grundbedingungen aller Dämonien zwecks ihrer therapeutischen Beseitigung.

Nach diesen bei der ungeheuren Ausdehnung des hier zu erörternden Stoffes unerläßlichen Vorbedingungen können wir darangehen, so etwas wie die Richtlinien aufzustellen, welche uns bei einer Heerschau über die Armee dämonischer Mächte zu orientieren geeignet sind. Hierbei muß unbedingt bemerkt werden, daß heute noch niemand in der Lage ist, für jede der zu behandelnden Perversionen des Geistes diejenigen Stoffe darzustellen oder auch nur zu nennen, welche eben die gleichsam vegetabilischen, elektromechanischen Apparate mit Kurzschluß, Nebenanschluß, Stromwendungen und Abbiegungen attackieren, es soll nur richtunggebend festgestellt werden, daß die wenig ernährte, ja unter Ernährungsmangel (Inanitionsdelirien, Brabbeln, Bewegungsdrang der Greise) um so heftiger funktionierende Nervengangliensubstanz, von deren Stoffwechsel wir so gut wie gar nichts wissen und sehr wenig bemerken, unmöglich die Basis einer Analyse auf Grund einer unhaltbaren Stoffwechseltheorie, fußend auf Osmose und Diosmose, abgeben kann, sondern daß erst eine allgemeine Umstellung der Psychiatrie auf diese Neuroglia- und Safttheorie der innern Sekretion, welche wir Senator verdanken, hier theoretische und praktische Förderung verspricht.

Wir wollen also an der Hand dieser Theorien herangehen an ein gewiß kühnes Unterfangen, die Dämonien insgesamt zu klassifizieren unter dem einheitlichen Gesichtspunkte einer durch primäre Blutsaftbeimengung elementar gestörten Funktion der Ganglienapparate. Dabei können wir uns ohne weiteres halten an die physiologische Analyse, welche wir diesem Werke von vornherein zugrunde gelegt haben, d. h. wir gruppieren die Dämonien folgendermaßen. Die Dämonie kann erfassen

die Funktionen:

des Ichs und der Individualität,
der Persönlichkeit und des Charakters,
der Logik, der Phantasie,
der Triebe und Zustände.

Diese letzteren, die Dämonien der Triebe, zerfallen in Unterabteilungen.

Störungen und Perversionen:

des Erhaltungstriebes,
des Ernährungstriebes,
der Triebe der Liebe,
der Triebe der religiösen Bindung,
des Triebes zur Kunst und Wissenschaft.

In diesen Rahmen hoffe ich im wesentlichen alle Muster hineinsticken zu können, welche den vielflockigen Teppich dämonischer Bilderskizzen wie einen Atlas des Innern auszubreiten erlauben.

Schon bei der Analyse des Ichs haben wir bemerkt, daß die Spaltung des Ichs in eine Doppelempfindung, in eine Ausfaserung des Individualgefühls in mehrere unvergleichbare, sich scheinbar fremde Ichbüschel, dieses naturgegebene Zweiseelentum einen durchaus physiologischen Typus hat in der zweiteiligen Arbeit beider miteinander kommunizierender Hirnhälften. Wir haben hinzuzusetzen, daß diese Teilung des Ichs, seine Spaltung in zwei Persönlichkeiten in uns elementar im Schmerz auftritt, wo einer ist, der heiß leidet, und ein andrer, kalter, völlig unbeteiligter Zuschauer in uns steckt, der unsre Qual betrachtet wie ein Wissenschaftler irgendein interessantes Bild unter dem Mikroskop. Zwischen unserem Leid, seinen Ursachen und seinen Wirkungen ist ein Jemand dazwischen (ein Wesen des Inter-esse), der kaltblütig unser Weh registriert. Das erklärt sich mühelos aus der Doppelfunktion unserer rechten und linken Hirnhälfte und dem Wesen ihrer links objektiven, rechts subjektiven Betätigung, die um so deutlicher wird, je mehr die Veranlagung eines Menschen je nach der Vorzugsaktion der einen oder der andern Hälfte drängt. So haben Geisteskranke und Phantasiemenschen überhaupt (bei Wahnvorstellungen ist die rechte Gehirnhälfte besonders in Anspruch genommen) nach privaten Mitteilungen eines Psychiaters tatsächlich ein höheres Gewicht als die linke, und Hutmacher bestätigen mir durchweg, daß jeder Mensch eine besondere Nuance von der Prävalenz einer Seite seines Kopfes hat, was auf verschiedene Dimension der einen oder der anderen Hälfte des Gehirns unmittelbar hinweist.

Wo also dieses Mißverhältnis besonders ausgebildet ist, da werden auch die Funktionen beider Seiten besonders leicht in das Wesensgefühl spaltende Aktionen geraten können, und zwar wird ein Rechtshirnüberschuß den Phantasiemenschen charakterisieren, eine Linkshirnprävalenz den Mann des realen Lebens anzeigen. Daraus erklärt sich ohne weiteres, daß es besonders Phantasiemenschen, Künstlernaturen, Leute von Talent und Genie sind, welche besonders wehleidig, hypochondrisch, mitteilsam über ihre innere Merkwürdigkeit sich geben und gerne reden von ihren sonderbaren Beobachtungen einer fast ununterbrochenen Vergnügungsreise in die innern Provinzen ihres lieben, übergeliebten Ichs. Es ist das schon eine leise Dämonie bei diesen Phantasieathleten, daß sie wie gepeitscht sind von ihrem so überaus wichtigen Ichgefühl und tyrannisch von ihren Mitmenschen, namentlich den geliebtesten, verlangen, daß sie gleichsam sklavisch angekettet sind an die leisesten Sensationen ihrer so überaus interessanten Persönlichkeit. Ja, es gibt Hysterische, die überhaupt nichts anderes denken können als sich, wobei anzunehmen ist, daß eben jede Art Innenerlebnisses stets unter die scharfe Lupe der Selbstbeobachtung geschoben wird, was aber nichts andres heißt, als daß ein reales Ich betrachtet, betastet, beherrscht und beleuchtet wird von dem Ich der Phantasie. Die Doppelfunktion beider Hirnhälften wird gespalten in zwei fast selbständige Tätigkeiten, während wir gesehen haben, daß normalerweise beide Teile in logisch vernünftiger, ruhig-harmonischer Arbeitsteilung den geistigen Betrieb beherrschen. Wir wissen aber von der Analyse des Traumes her, daß die Abblendungen der oberen Zonen des Gehirns, die Hemmung der Funktion für Raum und Zeit plus Kausalität und Logik einen Zustand herbeiführen, in dem das Ich alle Gestalten, ja die andrer, ja andrer Gegenstände annehmen kann. Da kann ich ein König sein oder ein Verbrecher, da kann mein Ich ein Stiefel, eine Badewanne werden, also das Persönlichkeitsgefühl sich unendlich vielgestaltig maskieren und kostümieren. Es ist aber in der Natur der Anordnung der Ganglien in jüngere und ältere Schichtlagen gegeben, daß im Traum der Mensch gleichsam in eine frühere Daseinsperiode herabsinkt, indem teils das Ich des Traumes in einer fernen Vergangenheit auflebt, wo unsre Toten noch unter uns weilen, teils aber auch bei Traumzuständen eines halbwachen Tageslebens Zustände auftreten können, welche tatsächlich auch für andre Betrachter die Persönlichkeit zu einer völlig veränderten Individualität verzaubern. Das ist das ungeheuer interessante Gebiet der epileptiformen Dämmerzustände. Hier ist die Grenze, an der die Schmugglerarbeit der Dämonie und ihr nächtlicher scheuer Gespensterspuk beginnt.

Durch die Tageszeitungen ging einst die erschütternde Kunde von dem verblüffenden Auftauchen eines verschwundenen Bürgermeisters aus Pommern, der, wie schon einmal vor Jahr und Tag, plötzlich spurlos verschollen war. Er wurde in Algier unter der schlimmen Schar der Fremdenlegionäre wiedergefunden. Eines Mittags nach einer Kreisausschußsitzung, woselbst er allem Anschein nach ohne Vorboten des über ihm kreisenden Verhängnisses ruhig teilnahm, riß der Faden, der ihn mit Familie, Amt, Würde und Heimat fest verband, und ein gewandeltes Ich, ein Schatten seiner Persönlichkeit ging hin, löste sich ein Billett für die Ferne, war verschollen durch Monate und tauchte dann auf nach traumesgleicher Wanderung als ein Soldat unter Soldaten in Afrika, im Bereich einer Gemeinschaft, mit der unsere Phantasie alle Schrecken romantischer Despotie und legendärer Menschentragik verbindet. Ein Stück menschlichen Unheils, von der Hand der Geschehnisse geschrieben, wie es grauser kein E.T.A. Hoffmann, kein Callot, kein Edgar Poe ergrübeln konnte. Da fragte die Welt uns Ärzte, die wir nun einmal deuten müssen, was Sphinx und Pythia murmeln, um Auskunft. Wie soll man diese Dinge verstehen, was ging hier vor? »Dämmerzustände« heißt das Wort, das sich zur rechten Zeit einstellt, die Formel, mit der sich der Laie einlullen läßt, nicht ohne mit dem verständnislosesten: »Ach so!« den Empfang der Erkenntnis zu quittieren. Wie so oft gibt hier der Priester ein Symbol, weil er die Wahrheit selbst nicht weiß. Gut ist das Wortsymbol gewählt – es stammt vom alten Arndt in Greifswald, der auch die »Neurasthenie« geprägt hat als eine Münze, die einen Wert bedeutet, ohne ihn zu haben. Es entstehen, so sagt die Wissenschaft, erworbene oder angeborene Zustände im Gehirn, die unter dem plötzlichen Schwunde des Bewußtseins Seele und Leib, Denken und Bewegung einhüllen in einen schattenhaften Nebel geistigen Dämmerns, wolkenhaften Geschobenseins des Leibes, wellenhaften Gleitens oder brandenden Aufspringens eines menschlich-unmenschlichen Wesens, das in den Extremen des idiotischen Hinbrütens, bis zur Raserei hyänenhafter Vernichtungswut, eine unbewußte Existenz eine Zeit hindurch repräsentiert, von der in anfallsfreier Zeit der Unglückliche auch keinen Schatten einer Ahnung besitzt. Das ist der »Andere«, der »Horla« Maupassants, das Neben-Ich, Schlemihls ihm ins Gehirn gesprungener Schatten! Mit Schaudern nur denkt jeder sich hinein in dieses grausame Spiel der Natur, das schreckhafter ist als der veritable Tod: denn hier ist Tod des Ichs und seine fühllos lebende Maske beieinander, nicht Sein oder Nichtsein, sondern Sein und doch Nichtsein! Versuchen wir einmal ganz kalt mit dem Lämpchen unseres Wissens diesem Dämmerschein in sein fahles Gewirr zu leuchten.

Man bezeichnet solche Zustände der erkrankten Seele als »epileptische«. Mit Recht, denn sie teilen mit der echten Epilepsie das Plötzliche, das Periodische, das Bewußtlose, das Vorübergehende, das Anfallsweise der krankhaften Erscheinungen; aber was sie von jener scheinbar trennt, ist eben das Fehlen der völligen Bewußtlosigkeit. Scheinbar: denn auch beim Epileptischen im Krampf arbeiten ja noch in zuckenden Bewegungsstößen alle jene Hirnteile, die eben die Muskelgruppen schlagartig spannen und entspannen. Die auftretende zweite, dahindämmernde Persönlichkeit dieser verwandelten Wesen ist ebenso die Bewegung im Seelischen wie der Muskelkrampf der Epileptiker im Motorischen. Der Dämmerzustand ist das Analogon (das Entsprechende, vergleichsweise Parallelgehende) zu dem tollen Muskelspiel der echten Epileptiker.

Was mag, ganz abgesehen von allem dämonischen Beigeschmack, von Romantik und Mysterium, rein materiell im Gehirn solcher Unglücklichen vorgehen? Das ist hier die Frage. Statt all der vielen Theorien, die darüber aufgestellt sind – das Mysterium aufzulösen in mechanisches Geschehen ist ja die schwere, trübe Pflicht der ärztlichen Denker –, will ich nur eine anführen, um diese Dinge dem Begreifen des Laien näherzurücken, eine Anschauung, die für den Leser nur den einzigen Nachteil hat, daß sie von mir stammt, sonst aber wohl geeignet ist, die Erscheinungen unter einem einfachen Gesichtspunkt zu vereinigen. Im Gehirn arbeiten Blut-, Lymphsäfte und Nervenelemente nebeneinander. Die Nervenganglien tragen die Reizströme für Bewegung und Empfindung, zu denen auch das Bewußtsein gehört, die Säfte geben die pulsenden Isolatoren, die Hemmungsapparate für diese elektrischen Ströme ab. Ja, von dem ungestörten Walten dieser Hemmungssäfte hängt der reguläre Ablauf des seelisch bewegten Innen- und Außenlebens ab. Gesteigerter, gehemmter Blutdruck, Blutlosigkeit, Veränderungen des Blutsaftes durch giftige Beimischungen und abnorme Stoffwechselinnenprodukte (innere Sekretion) lassen die feine Maschinerie des Gehirns in unzähligen Formen falsch und zweckwidrig laufen. Ohnmacht, Raserei, Schlaf, Traum, Wahn, Ruhe, Seligkeit – sie alle sind gebunden an das harmonische oder unharmonische Spiel zwischen Ganglienstrom und Säfteregulation. Nun denke man sich einmal die hin- und herflutende Saftmasse des Gehirns, deren Schleusenspiel ja eben den Nervenzuckungen Weg, Bahn, Damm und Durchlaß gewährt, zeitweise und plötzlich erstarrt. Sagen wir einmal kühn: geronnen. Dann sind alle nervösen Partien des Gehirns im Bereich der Gerinnung der Säfte gesperrt, gehemmt, außer Funktion gesetzt, und der Strom der Außenreize vom Lichtstrahl bis zum Windeswehen kann an diesen Stellen nicht passieren, er staut sich und überflutet freie, nicht durch solche Saftgerinnung gehemmte Bahnen. Die Folge ist eine ungeheure Überströmung intakter Hirngebiete mit elektrischen Reizwellen, und sie erzeugt im zentralen Bewegungsgebiet: Krämpfe! im seelischen: Wahn!

Epilepsie hat also danach ihren Grund in Hirnhemmungen dergestalt, daß das nicht betroffene Gebiet der zentralen Muskelaktion in kolossale Erregungszustände versetzt wird, weil im Moment der Gelatinisierung der Lymphe alle sonst im Seelischen ausgeglichenen Reizwellen gewaltsam in die Muskelmotoren einbrechen und alle Kurbeln, Translatoren und Außenleitungen in ein furioses Tempo jagen. Wahnsinn hat anderseits darin seinen letzten mechanischen Grund, daß durch Gerinnungen des größten Teiles der Neuroglia in einzelnen freien Partien die überschüssigen Reizströme mit unhemmbarer Gewalt auf die übrigbleibenden einbrechen und seelische Epilepsie verursachen: Verwirrung, Wahn, fixe Idee, Exaltation, Raserei, Wut oder Melancholie ist die Folge. Man beachte, daß danach die sogenannte fixe Idee ihren Sitz hat in den restierenden, noch gesunden Bezirken der Hirnmaschinerie; der Sitz der Krankheit, die Gerinnung der Isolatoren, muß an einer anderen Stelle gelegen sein. Wenn jemand glaubt, Jesus, Napoleon, die Jungfrau Maria zu sein, so muß er es glauben, weil nur diese Stellen, an denen auch dem Gesunden eine phantasievolle Identifizierung seiner Persönlichkeit mit den genannten Geistern möglich ist, noch funktionieren, und alle anderen Vorstellungen, auch die von seinem wirklichen Ich, eingedämmt, sagen wir ruhig »eingedämmert«, sind. Nun kommen wir der Sache näher.

Der Bürgermeister, der schon einmal plötzlich als ein anderer nach Berlin verschwand, hat periodische Anfälle von Gelatinisierung seiner Hirnlymphe, seiner Hirnstromregulation in der Neuroglia. Gerinnung kann plötzlich in wenig Sekunden einsetzen, wie das Experiment lehrt. Bei Hämophilen, d.h. Blutern, deren Blut die Möglichkeit der Gerinnung völlig fehlt, hat niemand noch jemals Epilepsie oder Dämmerzustände beobachtet. Auch weiß ich nichts von Manien, Paralysen, Dementien bei solchen Blutern. Leute, deren Säfte nicht gerinnen können, können auch nicht geisteskrank werden in obigem Sinn. Das ist nicht ausgeklügelt, es ist absolute Tatsache.

Tritt aber diese partielle Saftgerinnung im Gehirn ein, so ist die Störung da, denn wieviel feiner ist das Gehirn gebaut als die Gewebe, in denen wir sonst Gerinnung kennen! Die Vorstellung vom Ich kann schwinden, eine andre dunkle Persönlichkeitsempfindung tritt auf, unklar und nur halb bewußt sich selbst, weil ja die Orientierung für die Umwelt stark erschwert ist, und die intakte Automatie des Willens und der Bewegungen arbeitet, gehorsam diesem neuen, nur halbbewußten vorgespiegelten Schatten eines Ichs. So löst der Unorientierte, vor Welt und Gott Versunkene automatisch sein Billett; Stimme, Gang, Handlung folgt dem dunklen Drang des Unterbewußten, das ja intakt ist, und dieses führt ihn ziellos, planlos, einen Ahasver dunkler, halbbewußter Schuld, in alle Winde, dem französischen Werber in die Arme, nach Frankreich, übers Meer, nach Algier! Wohl möglich, daß ein Nichtarzt dem Flüchtling seine Schattenexistenz glaubt und ihn zwar für ein bißchen übergeschnappt, aber noch leidlich brauchbar hält. Nun löst sich die Gerinnung, wie so oft, periodisch wieder auf, und eines Morgens ist die Orientierung wieder da – aber alles ist vergessen, was zwischen Usedom und Algier liegt– denn Gedächtnis hat nur das Ich, das alles auch wirklich erlebt hat als Ich. Wie »der Andere« nichts vom Ich weiß, so weiß auch das erwachte »Ich« nichts mehr vom »Anderen«.

In dieses grause Bild fällt ein Hoffnungsstrahl von Hilfe. Man kennt ein »Krotalin« benanntes Präparat, ein Schlangengift, das schon in kleinsten Dosen das Blut gerinnungsunfähig machen soll. Turner in England, Spengler in Amerika, Fackenheim in Kassel haben es ziemlich gleichzeitig gefunden und – das ist das Aussichtsreiche – es mit einigem Erfolg gegen Epilepsie angewendet. Die damit behandelten zahlreichen Personen verloren ihre Anfälle, weil ihr Blut gerinnungsunfähig geworden war. So bestätigt die Erfahrung glänzend die Anschauung von der Ursache epileptischer Anfälle als periodische Gerinnungsvorgänge der Hirnsäfte der Neuroglia.

Gibt das nicht einen Ausblick auf neue Wege gegen alles, was man periodischen Wahnsinn nennt?

Der alte Spruch des Paracelsus erhält neuen Glanz: Im Gift kann Segen sein!

Nicht immer nun sind wie im eben erzählten und besprochenen Falle die Perversionen des Ichs bedingt durch solche extremen Grade der Abblendung der Gehirnoberfläche, wie es durch Gelatinisierung der Neurogliaausschwitzungen geschieht. Schon leichte Durchlässigkeit für Hemmungssäfte in ihren Maschen, ja extreme Erweiterung und Überdehnung ihres elastischen Muskelgefüges genügt schon, wie in der Hypnose, eine Abblendung höherer Ganglienkolumnen zu erzwingen. Schreiben wir uns noch einmal die Skala auf, welche im Narkoseexperiment die Wirkung der narkotischen Substanzen von der Höhe der Ganglienpyramiden bis zur Tiefe durchläuft, so stellt sie sich folgendermaßen dar:

Zeit und Raum, Kausalität, Phantasie, Logik, Tastgefühl, Hören, Sehen, Geruch, Geschmack, (Ichzone), Schmerz, Muskelbewegungen, Automatie, Instinkte, Reflexe, Eingeweidebewegungen, Atmungs-, Herztätigkeit.

Das ist eine Kolumne von Apparataktionen des Gehirns, nach welchen man das Alter der einzelnen Geburtsstätten der Zellager direkt ablesen kann. Die Narkose geht wie ein Peiler, ein Senkblei von oben nach unten in die Tiefe des Gehirns.

In der Hypnose wird nun durch Reflex von der Stirnhaut, den Augen oder den Brauen, dem Blick her Raum- und Zeitgefühl und die Fähigkeit der Kausalität und tiefer über Phantasie und Logik usw. abgeblendet, so daß das Ichgefühl, die Zone des aufblitzenden Gegenwartsregistrators, bloßliegt für den Willen des Hypnotiseurs, der sich dieser Tastatur wie ein Virtuose bedienen kann. Damit ist die Suggestibilität des betreffenden Hypnotisierten naturgemäß erklärt. Aber nicht nur Streicheln, Anglotzen, blitzende Gegenstände erzeugen diese Abblendung der höchsten Bewußtseinszonen, auch innere Sekretionsstoffe, Gifte usw. können diesen Mechanismus erzwingen. Es gibt sicher Suggestionsgifte, und ich weiß nicht, ob nicht die Fakire mit solchen Dingen bisweilen arbeiten, mit unbekannten Düften, Speisen, welche dem Blut beigemengt, eine Illusionsfähigkeit erzeugen, so daß, was von der Phantasie durch Worte des Experimentators gefordert wird, für die Sinne auch schon Wahrnehmung ist. Die Illusion nimmt Gestalt an. Das wissen wir bestimmt vom Morphium, vom Haschisch und einigen inneren Sekretionsstoffen, ja von Krankheitsgiften der Tuberkulose und des Krebses, die das Bewußtsein bis zur Form des Gnadentodes (die Gnadennarkose der Natur!) abzublenden vermögen. So erklärt sich auch am einfachsten die verschiedene Hypnotisierbarkeit der einzelnen Personen, da die Überdehnungsfähigkeit des Neurogliaapparats naturgemäß bei den verschiedenen Personen eine verschiedene Größe bedeutet. Sie werden um so leichter hypnotisierbar sein, je schlapper die Arterien der Neuroglia sind, als Energielose, Neurastheniker, Hysteriker usw. Das meiste der faszinierenden, hypnotisierenden Persönlichkeit liegt also oft, seine Dämonie, seine Gewalt über die Menschen, nicht an einer besonderen unheimlichen Begabung, sondern an einer mehr oder weniger ausgeprägten Gefäß-Dehnbarkeit des Objekts der Hypnose. Freilich gibt es auch Rattenfängernaturen, die für sehr viele Menschen einen blendenden, oft mit Schauder gemengten Zauber ausströmen, der alles beherrschende Formen annehmen kann und wie Basiliskenblick, Schlangenaugenglotzen und Anschleichen des Verhängnisses nicht nur auf Kaninchen wirkt. Das führt uns direkt auf das Don-Juan-Problem, das wir besser unter den Dämonien der Liebestriebe berühren wollen.

Geht nun die Blendung durch Selbst- oder Fremdgifte, durch noch tiefer greifende Reflexe bis über die Ichzone hinaus, so entsteht eben jener somnambule Zustand des Individuums, bei dem die Muskelaktion bei völlig abgeblendetem Ich-, Phantasie- und Logikgefühl, nebst Umnebelung von Raum und Zeit und Kausalität, so freiliegt wie im hypnotischen Zustand das Ich, so frei wie ein Muskel unter dem Messer, nachdem man Haut und Faszien durchschnitten hat. Dann spielt der Wind auf den Harfensaiten der Muskelaktion, ein Mondstrahl, ein Wehen der Gardine, ein leises Geräusch, die Helle der Nacht lassen den somnambulen Schläfer sich erheben und seine dahinschweifenden Kletter- oder ziellosen Wanderbewegungen antreten. Das ist schon ein halber Dämmerungszustand, ein epileptiformer Anfall, auch ohne daß materielle Alterationen im Neurogliaapparat erforderlich sind. Der Somnambulismus ist die Symptomenkette einer leicht lähmbaren Neurogliamuskulatur. Hierher gehören schon jene eigentümlichen Unsicherheiten des Denkapparats, jene Unfähigkeit, die Gedanken zu fixieren und die unwillkürliche Ohnmacht, den Handlungen und Worten eine energische Richtung und Nachdruck geben zu können, welche das Wesen der Neurasthenie ausmachen. Der Strom der Gedanken und des Willens flackert hin und her wie die Laune einer elektrischen Lampe, nichts haftet, an die Stelle einer harmonischen Geistestätigkeit tritt ein Schweben, ein Schwanken, ein Fluten der Gedanken, welche das Ichgefühl schwer beunruhigen und dessen Ursache ich in einer Aktionsschwäche der Hirnmuskulatur (Bendasche Muskel und Gefäßmuskeln der Neuroglia) aufgedeckt zu haben glaube. Da tritt dann ein Zustand anfallsweise auf, den ein Dichter mit den Worten bezeichnet:

Manchmal werden mir alle Dinge so fremd,
Als hätt' ich alle Namen vergessen
Und stünde, verschüchtert wie ein Kind im Hemd,
Und kann nichts Sicheres ermessen.

Das sind jene Zustände einer uns plötzlich überfallenden Lebensangst, ein Verblüfftsein über das Wunder des Ichgefühls, ein Innewerden aller Rätsel der Welt, die uns überfluten wie mit dämonischem Scheinwerferlicht, weil eben unser Gegenwartsgefühl, das Zucken aller Augenblicksflämmchen unter der Dehnung der Neuroglia stockt und aussetzend hin- und herzittert. Übrigens werden diese Gefühlsabnormitäten der Nervosität und Neurasthenie viel häufiger durch eine Überdehnung des Herzens bedingt, als sie ihrerseits eine Herzerweiterung durch Aufregung erzwingen,Siehe C. L. Schleich, Aus Asklepios' Werkstatt. Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt »Neurasthenie«. gegen die wir therapeutisch nicht machtlos sind. Hier setzen zur Beherrschung der Affekte und der Muskelschwankungen der Neuroglia jene Übungen à la Ignatius von Loyala ein, die ich zu einem therapeutischen System gesteigert habe und die wie gymnastische Hirnmuskeldressuren, Gedächtnisschwäche, Willensmangel, Angstzustände, Neurosen bis zu Platzangst und Halluzinationen weit sicherer bessern und aufheben, als eine sogenannte Freundsche Psychoanalyse, für welche in meiner mechanischen Auffassung der Hirnaktion überhaupt kein Platz ist.

Jeder, der sich den Mechanismus der Neurogliafunktion einmal ganz klar gemacht hat, wird es nunmehr leicht verstehen, wie sämtliche Perversionen des Ichs elektromechanisch Zustandekommen, durch allgemeine oder herdweise Abblendung der verschiedensten Zellager der Hirnrinde. So hat es für uns keinerlei Schwierigkeit, zu begreifen, warum bei der Paralyse, bei der herannahenden Idiotie, bei der Dementia ganz allmählich eine Wandlung des Ichs in seinem Betragen, Behagen und äußerer Individualität einsetzt, warum der Charakter sich ändert, aus einem Geizhals ein Verschwender, aus einem Fabius Cunctator ein Draufgänger und Spekulant, aus einem gutmütigen Temperament ein Nörgler und Querulant wird, eben weil die Verleimung und die Saftausschwitzung der Neuroglia – der extreme Grund ihrer Erweiterungsschwäche – die verschiedensten Störungen der Ichzone erzwingt und Anschlüsse und Absperrungen von Instinktbahnen erheischt, welche dem gewöhnlichen Ablauf individueller Handlungsfolgen direkt widersprechen. An die Stelle von ruhiger Überlegung, Aussprache oder vernunftgemäßer Handlung tritt durch Neurogliahemmung an entscheidenden Stellen eine Leitungsumstellung, ein Schaltwechsel ein, der kurzschlußartige Überflutungen und Explosionen veranlaßt, so daß nicht mehr der Wille, die Absicht, der Plan unser Handeln beherrscht, sondern der Affekt die Situation durchhaut wie ein Blitz aus heiterm Himmel!

Dieses Neurogliaversagen, ihre Falschmeldungen und Einschaltversehen, die falschen Telephonanschlüsse in der elektrischen Zentrale können natürlich ebenso die logische wie die Phantasiezone der Gehirnmechanismen erreichen, also Denkmonstrositäten, Phantasiefatamorganen, Albernheitsgelüste, ja unnatürliche Humorstimmungen auslösen, alles unter dem Bilde falscher Anschlüsse, Umleitungen, Kurzschlüsse. Ja, eine völlige Perversion des Ichgefühls kann stattfinden, wie in der Manie und dem periodischen Wahnsinn: die Ichzone wird verlegt, versetzt, konzentriert auf einen Smerdis- oder Demetriusherd im Phantasiegebiet, und das Ich wird Christus, Gott, ein Kaiser oder die Jungfrau Maria, genau so, wie man bei der Schlafblendung ein Gegenstand, eine Bürste, ein Regenschirm träumend werden kann!

In schweren Formen der periodischen und akuten oder chronischen Manie glaube ich bestimmt, daß das ganze Gehirn schwer oder leichter abgeblendet ist durch Verleimung oder Stase (venöser Blutstillstand) in den Neurogliaapparaten, und daß der gesamte Reservestrom der restierenden Hirnwege immer in eine Funktionszone, z. B. das Flammenbündel der Erinnerung, welches »Napoleon« bedeutet, einströmt und alles Ichgefühl demnach verschmilzt mit der Vorstellung: Ich bin nicht ich, sondern Napoleon, Bismarck, Goethe! Es ist eben die Zone der fixen Idee, die noch restierende Gruppe leidlich normal funktionierender Zellen, die Krankheit sitzt nicht in der Sphäre des prätendierten neuen Persönlichkeitsbegriffes, sondern sie ist erzeugt durch eine allgemeine Erkrankung, eine Gelatinisierung, Ödemisierung und Parese aller Gehirnmuskeln. Daher sind alle diese Zustände mehr funktionell als materiell pathologisch, was auch zureichend erklärt, daß bei Geisteskranken so selten die anatomische, mikroskopische Untersuchung etwas Positives ergibt. Welche Perspektive erhellt auch hier mit Hoffnung die Trostlosigkeit die therapeutischen Öde der Psychiatrie. Sollte man nicht durch Antigene, ja durch Hirndurchspülungen der Neuroglia auf chirurgischem Wege mit warmen, gelatinelösenden Kochsalzflüssigkeiten die Neuroglia durchspülen und so das Gehirn von seinen Stockungen, Verleimungsdrucken, falschen Kontakten befreien können?

Nicht immer ist es nötig, daß direkte Ausschwitzungen der Neuroglia, die nun schon oft geschilderten Umleitungen, Verbarrikadierungen, Abschließungen bestimmter Ganglienkomplexe den Reservestrom in ungewohnte Bahnen zwingen, so daß der Charakter, das Temperament, ja die Persönlichkeit wie gewandelt erscheint, oft genügt ein ungeheurer Seelenschock, ein wilder, unverwindbarer Schmerz, ein haarsträubendes Erlebnis, der Zusammenbruch schöner Hoffnungen, die Knickung schönsten und edelsten Willens – genug, die Glut der bittersten Enttäuschung, selbst den Charakterstahl eines verhämmerten Herzens zu schmelzen und seinen Aggregatzustand gleichsam in Weißglut zu wandeln. Das ist die Macht des dämonischen Erlebnisses, das fortzeugend Dämonien weckt, unter denen Lämmer zu Löwen, Weiber zu Hyänen, eben noch Liebende zu Furien werden können. Völlig schuldlos nicht, denn auch das furchtbare Leid ist nichts, wie eine Belastungsprobe des Herzens, wieweit die Seele ein heiliges »Und trotzdem« im Herzenswappen trägt, was vielleicht von entscheidender Bedeutung ist für den Richterspruch eines jüngsten Tages, wie unser Christenglaube sagt, für die Verwertbarkeit der Menschenharfe zu noch höheren Orgeln, wie Aldebaran in meinem »Es läuten die Glocken« sagen würde. Um den Mechanismus dieser Transformation, dieser Blendung und dämonischen Behextheit des Charakters durch elementare und überwältigende Verhängnisse bloßzulegen, brauchen wir uns nur an die Grundlagen unsrer Betrachtung über die Individualität zu erinnern, bei denen wir fanden, daß jegliche Zelle im Chromosomenschaltwerk die Rhythmen sichtbar trägt, welche den Ablauf eben der Charakterfunktionen, den Petschaftsdruck der Persönlichkeit, die Stromweise der individuellen Eingestelltheit unsrer regulären, harmonischen Handlungsweise trägt. Ein furchtbares Erlebnis oder ein dauernder Anprall widerwärtiger Ereignisse kann eben dieses Schaltwerk, diese mikroskopische Strudelmacht unsres eigentlichen »Wesens« umstellen, so daß Strombahnen durch geänderte Einschaltung ins Sprach- und Muskellager resultieren, die für die Umgebung und den Ärmsten selbst eben den schrecklichen Charakterwechsel in Erscheinung treten lassen. Wir empfinden dann und geben es zur Verblüffung selbst den geliebtesten Menschen kund, daß wir »ganz anders« geworden sind, weil wir im flammendsten Gegensatz zu unseren aus Erfahrung wahrscheinlichen Handlungsweisen auf Erlebnisse so unbegreiflich fremdartig reagieren, daß es erscheint, als sei der Teufel in uns gefahren. Uns hat eben die Kralle der Dämonie erwischt, ein Dämon hat uns gepackt, die Raserei der Gedanken, hervorgesprudelte Beschimpfungen und ein Schwall von Haß und Wut, oder auch die Ekstase fremder Stimmen ist in uns entloht, eine Feuersbrunst der Motive brennt das Herz aus und läßt die Milde, die Nachsicht, das Verständnis und die versöhnende Phantasie verkohlen und veraschen. Alles das, weil ein schwergetroffener Ganglienkomplex den Gesamtstrom aller Reizspannungen, den Innenwelt und Umwelt sekundlich in uns emporzündet, seine konzentrierte Glut in sich einsaugt, als ein furioser Prätendent auf den Thron unsres Seelenwesens springt und von hier aus den Herrn unsres Ichs knebelt und peitscht. Das ist der Mechanismus des katastrophalen Erlebnisses, der natürlich in langsamerer Gangart auch bei weniger rasantem Einbruch die Basis zum Verständnis abgibt, warum unser Wesen, und wurzele es, wie wir noch sehen werden, als ein hunderttausendjähriger Instinkt in uns, gewandelt, permutiert, variiert werden kann. Denn wir wissen von der Hysterie her, daß die Vorstellung auf dem Wege der rückläufigen Sympathikusströme Macht auch über Formen und Körpergebilde erhält, wodurch in einfacher Weise ein Schleier von dem Urgeheimnis der Variation der Arten im Darwinschen Sinne gerissen sein dürfte. Ereignisse wirken also auf die Formen gestaltend, wie auch die veränderten Formbedingungen auf die Ereignisse unsres Ichbestandes im Innern wirken können. Wir müssen uns gemäß unsrer Hirnlagerskala nur immer vor Augen halten, daß die Phantasiezone oberhalb der Ich- und Muskelaktionslager im Gehirn eingeschaltet ist, und daß die Sympathikusurmacht ihre Zauberhände und Kupplerfinger jedem Winkel motorischer Alteration hinreicht und jeden Anprall weitergibt.

Für die eudämonischen Formen der Wesensund Aktionswandlung unsres inneren Ichs möchte ich an dieser Stelle noch nachholen, daß ähnliches Beherrschtsein unsres Vorstellungs- und Wahrnehmungsvermögens auch zum mindesten zur Blendung unsres Ichs führen kann. Sagt doch ein Goethe, daß er schlafwandle, wenn er dichte, daß also auch der harmonische Einklang unsrer Rhythmen mit dem immer schöpferischen Strom des Alls ohne unser Zutun die Aktion beherrscht und jene Produktionen veranlassen in künstlerisch-konstruktivem Bereich, welche eben die staunenswerten »Einfälle« des Genies gleichsam ganz automatisch hervorquellen lassen wie den Mosesquell aus der Stirn des Felsens. Das ist der Sinn des Selbststaunens sogar, wenn sich das Genie in Demut beugt vor seinem eigenen Werke, sogar im Gefühl davon, daß es sich selbst nur Harfe fühlt, auf der ein höherer Andrer spielt, das ist die Allmacht des zu seinem Wunderwerk Begnadeten, weil hier auf Elfenzauberhörnern das Lied des Ewigen sein Echo fand im Tale seelischer Gelände. Das ist die Himmelstaube, die sich auf des Johannes Haupt herniederließ, wobei die Stimme der Höhe rief: das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; so wird ein Mensch ein Gottesspiegel.

Aber auch im Gefilde der reproduktiven Kunst gibt es Blendungen des Ichs in eudämonischer Form, bei denen der Strom der Rezitation, die Zündkraft der Darstellung einer gedichteten Persönlichkeit, die hinreißende Brandung hochstürmender Ideen der Meistergenies den Betreffenden völlig automatisch den Wunderfilm einer Kunstschöpfung abrollen läßt im ebenbürtigen Apparat, fast ohne Beteiligung des Ichs des Reproduzenten, wenngleich nicht zu vergessen ist, daß z. B. bei der höchsten Schauspielkunst der Fall eintritt, daß die eine Hälfte des Gehirns somnambulisch königliche Rhythmen automatisch reproduziert, während die andere einer Darstellung ganz kalt und real, dem ekstatischen Treiben seiner Zwiespältigkeit, seines farbigbunten Seelenschattens, seinem Schmetterlingsfluge in azurschöner Luft oft selbst erstaunt zuschaut.

Halten wir nur immer fest, daß geistige Überspannung und Neurogliaveränderung, durch Überblutung, Überenge, durch Durchlässigkeit ihrer Handschuhmaschen ganz umschriebenen Gruppen oder Ganglien die Herrschaft über den Reservestrom akkumulierter Hirnenergie übermitteln können, welche sonst die Gesamtzone des Ichs reguliert. Es ist die Entthronung des Ichs, seine Substitution durch Anmaßung, Betrug und Schwindel seitens vielumgrenzter und beschränkter Ganglienprovinzen, welche die Schmugglerschiebung an den Grenzen des Unerforschlichen übernehmen und die das Wesen der Dämonie ausmachen.

Jetzt endlich gelangen wir in die eigentliche Domäne der Dämonien, in die an sich schon so dunklen Zonen der Triebe und Instinkte, also in die nebelumhüllten Nachtgebiete des unterbewußten, von den Sternen des Ganglienhimmels nicht mehr erhellten Gebiete geistigen Geschehens. Wird es auch hier gelingen, mit den Blendlaternen der wissenschaftlichen Analyse einzudringen?

Es muß gelingen; denn hier brodelt der Strom der Tiefe, der Glutenschwall der Vulkane, hier ist die Hexenküche der verblüffendsten und schaudermachenden Dämonie. Hier brodeln die Elementargewalten, deren Eruptionen so verheerend, Gemeinschaften, Staat und Einzelexistenz gleicherweise erschüttern und zum Beben bringen. Hier sind die Höhlen und Spelunken alles bösen Geschehens, der Verirrungen und Verfehlungen, der Verbrechen und schaudervollen Wanderungen des ahasverischen Fluchbeladenen, denen nur die furchtbare Einkapselung unsrer eisenfensterumgitterten Irrenhäuser zu jenem tränenüberströmten Menschheitsjammer ein ausschaltendes Asyl gewähren.

Es ist das Wesen aller Triebe und Instinkte, daß ihre Bahn definitiv geregelt ist, so daß Anreize der Innen- oder Außenwelt stets die gleiche Bahn der Auslösung in allen drei Hirnrückenmarkregistern befahren. Ein Lidschlag auf Berührung des Augapfels, eine Saugbewegung nach Einführung eines Schnullerchens über die rosigen Lippen eines Säuglings, ein Knieschleudern nach Schlag auf das Sehnenende unterhalb der Kniescheibe mit der Kante der Hand – sie alle können normalerweise nicht gehemmt werden, weil die Bahn der Reizwelle für gewöhnlich immer denselben Weg zu den angepaßten Muskelbewegungszentren nimmt. Hormone leiten das harmonische Ineinandergreifen der Instinkte und Reflexe oder haben sie wenigstens erzeugt, Dyshormone, gestörte Saftbildung und pathologische innere Sekretion vermögen auch diese erhaltungsgemäßen, oft ureingewurzelten Triebe und Instinkte zu pervertieren, und zwar auf dem Wege von Außenwirkungen, welche die eingeschleiften Bahnen für die Entgleisung vorbereiten, ob es nun Erlebnisse geistiger oder materieller Natur sind. Zu letzteren gehört natürlich die ganze Reihe der Gifte, auch die Invasion von Bakterien. Allen Reizstörungen dieser Art ist die Sympathikusattacke gemeinsam, der seinerseits erst wieder der Produzent der abnormen Saftquellen wird. So ist also Ethik und Verbrechen eine Sympathikusangelegenheit, der nicht attackierte Sympathikus erhält die Ordnung, seine Belastung enthält die Vernichtung.

Daß hier Veranlagung und Vererbung, z. B. bei den Süchten des Alkohols, des Morphiums, des Kokain usw. zugrunde liegt, möge hier nur kurz erwähnt werden. Diese Formen des Vernichtungswillens, also die Perversion des Erhaltungstriebes, ist allen gemeinsam, so daß schon eine disponierende Erkrankung vorangehen muß, ehe der gelegentliche Genuß der Segnungen dieser Gifte zur Sucht führt. Es sind Intolerante, die ihnen erliegen.

Es gibt eine Überempfindlichkeit gegen Gifte, die teils angeboren, teils erworben sein kann, ihr steht die sehr viel merkwürdigere langsame Gewöhnung des Leibes an bestimmte Giftreize gegenüber, der gesteigerten Intoleranz eine abnorme Toleranz. Während dort eine geheimnisvolle Verwandlung gemeinhin ganz harmloser Nährstoffe (Erdbeeren, Krebse usw.) in lebenfeindliche Eindringlinge statthat, wird bei der erworbenen Toleranz einem echten Giftkörper Schwert und Wehr entrissen durch einen schwerverständlichen Umbildungsprozeß. Wir alle kennen die Mär von König Mithridates, der sich in wahrscheinlich sehr mühevollem Training gegen jegliches Giftattentat durch Gewöhnung an alle damals gangbaren Gifte gefeit hatte. Ist es auch ein Märchen, so liegt ihm doch ein guter Kern zugrunde. Wir wissen alle aus den Jahren unseres Kampfes für die Ehre, »als ein Erwachsener« estimiert zu werden, wie nötig es ist, Bier, Branntwein und Tabak gegenüber von diesen Schutzmechanismen der Natur Gebrauch zu machen, und wie schnell sich etwas zum Genuß wandelt, was eben noch Ekel erregte. Aber auch hier stehen wir dem Verständnis des Vorganges in unserem Innern noch ziemlich ratlos gegenüber und sind auf Vermutungen angewiesen. Ein chemisch und organisch durchaus nicht harmloser Körper wird anfangs durchaus ohne Genuß, ja oft mit Widerstreben, sei es durch Suggestion der Mode und des allgemeinen Mißbrauchs oder durch den Machtbefehl eines Arztes, von einem Neuling genommen, und dieser Vorgang wiederholt sich. Dann wandelt sich allmählich die Wirkung: die Unlust wird zur Lust, die stimmungsherabdrückende Beklemmung wird zur lebensgefühlsteigernden Befreiung der Seele, an Stelle der Ohnmacht tritt der Rausch mit himmelstürmendem Tatendrang. Doch die Genußgifte sind wie Teufel, sie fordern durch Pakt und Siegel Leib und Seele. Denn mit ihren Gewährungen von gesteigertem Lust-, Lebens- und Ichgefühl schlagen sie die Tyrannenkrallen immer tiefer in unseren Willen. Mit der Häufigkeit der Genüsse hält die Abhängigkeit von ihnen gleichen Schritt. Genußmittel werden also von Mal zu Mal bis zu einer bestimmten Grenze leichter vertragen, aber halten sich schadlos an dem Raub der freien Selbstbestimmung. Sie hinterlassen dämonische Erinnerungen, die anfangs locken, später gebieterisch befehlen und schließlich gleich Furien und Erinnyen in der Seele toben und nach dem geliebten Teufelsfraß und -trank wie nach Höllenfutter brüllen. Wo Zwang oder heroischer Wille die Gitter wirksam sperrt, ist oft Delirium, Wahnsinn, Zusammenbruch und völlige Erschöpfung die Folge.

Wie haben wir uns diese Erscheinungen vorzustellen, deren rhythmischer Ablauf fast stets der wesensgleiche ist, ob es sich nun um unsere gewissermaßen salonfähigen Genußmittel Bier, Wein, Nikotin, Kaffee oder um die noch geheimeren Gelüste auf Kokain, Morphium, Opium, Haschisch usw. handelt? Ich will dabei vorweg bemerken, daß ich keineswegs den sogenannten »harmloseren« Genußmitteln ihren Wert absprechen will, soweit sie innerhalb der Grenzen der Erhöhung der Daseinsfreude genommen werden, unter Ausschluß der Auslösung allerhand sozialfeindlicher Hemmungslosigkeiten. Wer diese Grenze bei sich nicht zu respektieren weiß, wird es immer einmal bitter zu bereuen haben, Bier- oder Weingenuß für harmlos zu erklären. Die Frage der Abstinenz ist nicht generell zu lösen. Es gibt Naturen, für die der Alkohol ein ganz schweres Gift ist. Für andere ist er ein schlechterdings unentbehrlicher Genuß. Aber wir wollen hier von der mehr physiologischen Seite der Aufnahme und Wechselwirkung der Gifte sprechen. Es wäre schön, wenn die Theorie von der Bildung von Gegengiften im Blutserum sich realisieren ließe. Wir würden dem Säufer, dem Morphinisten, dem Ätherfritzen nur alkohol-, morphin-, ätherbindende »Komplemente« einzuspritzen brauchen, und er würde in den Zustand des Ekels vor dem Genußgift zurückversetzt werden, wie er ihn im Stadium des ersten Rauchversuchs durchgekostet hat. Diese Versuche sind tatsächlich gemacht, sogenannte Antialkoholsera von künstlich alkoholisierten Tieren zu gewinnen – mit völlig negativem Resultat. Daraus folgt die Notwendigkeit, für diese Art Gifte einen anderen Vorgang als den der Erzeugung von Gegengiftkörpern im Leibe zu vermuten. Denn unsere heutige Giftlehre sagt, alle organischen Gifte, Toxine, Alkaloide, Ptomaine, erzeugen im Serum Antikörper, welche die Giftmoleküle binden und so zu harmlosen und abbaubaren Verbindungen umgruppieren, wobei unter Abbau immer die letzte Auflösung in Wasser, Harn und Kohlensäure zu verstehen ist. Alkohol, Morphium, Nikotin, Koffein sind aber alles Gifte, die ebenfalls von lebenden Wesen stammen. Diese Gifte erzeugen aber kaum, wie z. B. das Schlangengift wahrscheinlich, Antigifte, sondern ihre Bindungsweise ist eine ganz andere, die das Geheimnis aufhellt, warum erstens man sich an Gifte gewöhnt, zweitens warum man immer größere Dosen gebraucht, um die verlangte Wirkung zu erzielen, drittens warum ein Bedürfnis nach gewohnheitsmäßig eingenommenen Giften entsteht.

Da die Gewöhnung eine bestimmte Frist erfordert zu ihrer Ausbildung, so geht man wohl nicht fehl mit der Annahme, daß diese Frist auf ein organisches Wachstum hinweist. Es wird etwas gesiedet, gebraut, gebildet, dessen Aufkeimen den Schutz verleiht. Die Einführung eines Giftstoffes, d. h. eines zum Stoffwechsel nicht im Anpassungsverhältnis stehenden Naturprodukts, ganz gleich, ob es durch den Magen oder durch die Haut ins Getriebe des Leibes gelangt, muß einen Reizzustand hervorrufen. Reize werden außer der augenblicklichen Auslösung erhöhter Nerven- und Blutgefäßtätigkeit durch plastische Reaktionen der Gewebe beantwortet. Die Stelle des Eintritts des Giftreizes wird zur Stätte eines erhöhten Widerstandes, erschwerter Passage, einer Stau-Dammbildung. Dazu hat die Natur nur das Mittel der Gewebeverdichtung. Wo Gifte eindringen, werden die aufsaugenden Filter fester, dichter, engmaschiger auf dem Wege der Entzündung. Die Maschen der Lymphdrüsen, dieser Fangschleusen der schwimmenden, bohrenden Eindringlinge ins Blut, werden schließlich unter wiederholtem Anprall der Giftmoleküle so eng, daß diese aufgehalten, verbarrikadiert, vom Blutstrom abgeschnitten werden. So kommt es, daß zwar die ersten Dosen frei zum Gehirn- und zum Nervenapparat gelangen, daß aber von den folgenden immer nur ein kleiner Bruchteil in die Zirkulation gelangt. Die wiederholten Anspannungen der feinen Nervensaiten, zu extremen Klängen völlig neuer Empfindungen, lassen in der Erinnerung der Nervenzentren etwas zurück wie nach Tatendurst und zitternder Begier. Für alles einmal exzessiv Bewegte gilt der Satz des Verlangens nach einer Wiederholung. Es ist fast, als kennte die von einer Künstlerhand einst gespielte, liegengelassene Geige eine Art Sehnsucht nach der Hand, die sie gestreichelt, die verstummte Glocke sehnt sich nach den metallischen Erweckern ihrer ehernen Schreie, alles einmal schön Geschwungene oder Erregte stampft nach Aufschwung und Rhythmenrausch, nicht weniger wie ein Renner bei allzulanger Ruhe. Das ist wohl das Nachzittern aufgepeitschter Chromosome. Ich glaube an eine Art Gedächtnis selbst der Materie – schon alte Geigen, alte Orgeln legen diesen Glauben nah –, wieviel mehr sollte nicht die Ganglienzelle Gedächtnis und damit Sehnsucht besitzen! Die zitternde Wallung, die ein rhythmensteigerndes Gift ihr beigebracht, läßt auch das Verlangen nachklingen, immer wogender, immer tiefer bebend sich zu betätigen. Alles zum Leben Bestimmte zittert nach Funktion und bebt der Erreichung ihres höchsten Auftriebes unaufhaltsam entgegen. So steigert jede neue Gifterregung das Verlangen nach einem Mehr- und Höhergepeitschtwerden, dessen seelischen Zusammenhang die dämonische Gier auslöst. Giftverlangen ist Chromosomenhunger.

Wenn nun eben die gleichen Dosen zum Teil in dem Maschenwerk der Stauwerke des Magens oder der Haut abgefangen werden, so erklärt sich leicht, daß immer größere Dosen gegeben werden müssen, nicht weil das Gehirn, die Zellen, sich an die Steigerung gewöhnt haben, sondern weil immer weniger durch die dichten Schwemmporen der gereizten Lymphfilter hindurchgelassen wird, so daß die sehnsuchtnachzitternden Ganglien immer höhere Dosen verlangen, um in die erhoffte rhythmische Steigerung zu geraten.

Ich selbst habe durch Tierexperiniente feststellen können, daß ein Tier, dem man Gift unter die Haut spritzt, das anfangs schwere Erscheinungen hervorruft (Hunde mit Alkohol, Nikotin, Morphin), leicht an immer höher gesteigerte Dosen gewöhnt werden kann. Es tritt wie bei König Mithridates schließlich eine Art Immunität ein. Diese Immunität bezieht sich aber nur auf den Hautlymphfilter. Denn legt man den »geschützten« Tieren die Hirnhaut frei, so wirkt wieder, wie im Anfang, die kleinste Dosis unter dieselbe gespritzt, also ein direkter Kontakt mit der Hirnmasse giftig. Mein Vater gab einem notorischen Spritzmorphinisten im Vertrauen auf seine Gewöhnung ein ziemlich kräftiges Morphiumzäpfchen. Siehe da! Der Patient war nur von der Haut, nicht vom Darm aus immunisiert: er bekam einen schweren Kollaps. Von Pasteur durch die Haut immunisierte Hammel waren in der Tat von der Haut her immun, als Koch aber bei denselben Tieren Milzbranddosen verfütterte, wurden sie alle milzbrandkrank. Was beweist das? Es beweist, daß es neben der allgemeinen Immunität unbedingt auch so etwas wie eine lokale Giftfestigkeit geben muß, die niemals den ganzen Körper, sondern nur bestimmte Systeme schützt.

Wir haben soeben die Tatsache gestreift, daß ein den Körper und unsere Sinnesorgane treffender Reiz etwas wie eine Sehnsucht nach Reizwiederholung und, da die Wiederholung eine Gewöhnung schafft, nach Reizerhöhung erzeugt. Es ist das Grundgesetz des Genießens, ja für temperamentvolle Gemüter seine Tragik, daß dieser erwachte Hunger nach dem anfangs passiven und leicht beherrschten Genußmittel aus dem Sklaven einen Tyrannen macht. Der Naive wird zum Kenner, der Liebhaber zum Hörigen. Der freie Wille zum Genuß wandelt sich zum Zwang, das Verlangen zur Zwangsvorstellung.

Um Genüsse unschädlich bleiben zu lassen, bedarf es von dem einen Male zum nächsten eines Zwischenraumes, welcher den aufgepeitschten Wellen der Erregung Zeit zu ihrer völligen ebbenden Beruhigung, zum Abklingen, zur Gleichgewichtseinstellung läßt. Genüsse sind eine Musik, kann man sagen, bei der die Hauptsache die Pausen sind.

Und zwar müssen diese Pausen lang genug sein, um die völlige Auflösung der Reizwellen in den physiologischen Gleichtakt zu ermöglichen. Das zu wissen, ist für unsere beinahe kulturell gewordenen, erlaubten, weil allgemein gefälligen beiden Matadoren der Genußgifte, Alkohol und Nikotin, von großer Wichtigkeit, es findet aber auch reichlich praktische Betätigungsfelder bei schweren pathologischen Genußformen, wie Morphium, Kokain, Äther, und dem Heere der mißbrauchten Schlaf- und Beruhigungsmittel. Das Gefährlichste ist hier die Regelmäßigkeit des Genießens und eben der Fortfall von möglichst langen Pausen der Abstinenz. Wir wollen der eminent wichtigen Bedeutung dieser Fragen wegen einmal etwas näher auf den Alkohol- und Nikotingenuß eingehen und dann später auch einige Streiflichter auf die dämonischen Süchte anderer Art werfen. Zunächst sei bemerkt, daß nach meiner Meinung ein allgemeines Verbot von Alkohol- und Nikotingenuß eine an Fanatismus grenzende Verkennung der Sachlage bedeuten würde. Denn es ist nicht wahr, daß für jeden Menschen, der mäßig raucht oder trinkt, in diesen Genüssen eine Dämonie schlummert. Denn durchaus nicht ist jeder Mensch in Gefahr, ein Säufer oder Kettenraucher zu werden, ebensowenig, wie jeder Mensch ohne Ausnahme Anlage zum Morphinismus oder zum Ätherrausch hat. Was diese Dinge unter Umständen so eminent lebens- und glücksgefährlich macht, ist eine freilich nicht allzu seltene naturgegebene, manchmal wohl auch erworbene Disposition für eine Sklavenschaft diesen Reizmitteln gegenüber. Ebensowenig wie ein geschmackvoller Zecher edle Weine allein wegen des Alkoholgehaltes preist, ebensowenig giert ein graziöser Raucher nach dem Nikotin allein, das eine Cabañas enthält. Es ist ein undefinierbares Etwas, was edle Genüsse dieser Art begleitet; die Ruhe, die traumhafte Stille der Ausspannung und Erholung, das Schweben zwischen Dämmern und Wachsein, die Aufsuggerierung einer phantasievollen Innerlichkeit durch Duft- und Nebelwellen, der Zauber eines edlen Glases, gepaart mit dem Bewußtsein eines geheimen Kräftewaltens im altgelagerten Saft der ästhetisch wundervollen Traube, Assoziationen an alte Griechen- und Römerkulturen, an Ritter- und Sängersitten einerseits und die Romantik des Wolkenspieles und der steigenden Nebel über Hütte und Höhen andererseits – solche seelischen Ober- und Untertöne sind es, die eine unbestreitbare Poesie des einsamen Trinkers und Paffers ausmachen. Und in der Geselligkeit, in dem gemeinsamen Austausch solcher Stimmungen, in dem gleichzeitigen Ausruhen von dem Kampf des Tages, dem Auswechseln von Erlebnis und Erfahrung, wobei Geist, Witz, Behaglichkeit und Weltanschauung von höherer, friedlicher Warte eine vom Lärm der Streitigkeiten geschützte Freistätte gewinnen, liegt eine durchaus geisthygienische Lockung, eine sinnvolle und vielleicht sogar weise, lebenfördernde Kultur.

Wer hätte den Mut, diese Poesie und diese Gunst schöner Stunden aus dem Leben eines Volkes zu streichen? Doch nur diejenigen, welche das ausnahmsweise Versinken weniger Schwächlinge, unglücklich organisierter Naturen bedeutsamer einschätzen als die frohen Augenblicke unzähliger widerstandsfähiger, des Adels der Freude würdiger Persönlichkeiten. Keineswegs soll den Vorkämpfern für absolute Abstinenz in bezug auf Alkohol, welche diese Angelegenheit zu einer Kulturfrage ersten Ranges erhoben haben, bestritten werden, daß ihre Bestrebungen unendlichen Segen verheißen erstens, wo es sich um die breite Volksmasse handelt, deren Lebensführung leider keine edlere Form des Genusses als Branntwein gestattet, zweitens, wo es sich um sogenannte naturgegebene oder erworbene Intoleranz Einzelner handelt.

Ich habe nicht das geringste gegen ein Gesetz, welches den Schnaps in jeder Form als Genußmittel des breiten Volkes verbietet und dafür Bier und Wein unendlich viel billiger liefern würde, und ich glaube, daß das Verbot des Alkoholgenusses bei erfahrungsgemäßen Rauschtrinkern mit gar nicht streng genug zu formulierenden Mitteln rigoros durchgesetzt werden müßte. Wer ist nun intolerant in dem Sinn, daß Ärzte, Behörden, Familien und Genossenschaften gemeinsam die Hebel ansetzen müßten, um ihn von jeder Form des Alkoholgenusses ein für allemal fernzuhalten? Intoleranz heißt in diesem Sinn Überempfänglichkeit und seelisch unhemmbare Maßlosigkeit, die teils chronisch, teils anfallsweise wie eine echte Geisteskrankheit aufzufassen ist. Intolerant ist jeder, in dem eine Zwangsvorstellung am Werke ist, als könne er seine Dosis nicht entbehren, eine Art Autosuggestion durch den Alkohol, die ihn sklavisch an Ort, Stunde, Art und Maß des Genusses fesselt. Der Intolerante trinkt nicht, um alle jene aufgezählten geistigen Romantismen gelegentlich zu genießen, wobei ein Ausfall der gehofften Freuden keine besondere Verstimmung bringt und leicht andere Motive und noch geistigere Genüsse freiwillig Verzicht leisten lassen, sondern der Intolerante trinkt, weil er den physisch-psychischen Wahnsinn hat, er könne nicht leben, ohne dabei zu sein und sein Quantum Alkohol in sich aufzunehmen.

Alle jene Zauber der Begleitumstände des Genusses, die einzig seine Kulturberechtigung ausmachen, sind ihm höchstens eine vorgespiegelte Gelegenheit, recta via zum Kern seiner unbesiegbaren Lüste, zu soundso viel gleichsam nacktem Alkohol zu gelangen. Da gibt es keine Schranke, keine Hemmung, keine soziale Rücksicht, keine Stimme des Gewissens oder der Vernunft – der Intolerante gleicht ganz einem Verbrecher, er muß zum Diamanten, zum gleißenden Golde seiner Wahnvorstellungen, ob es ihm oder anderen dabei an Kopf und Kragen geht. Geradeso, wie niemand durch ein paar Dosen Morphium morphiumsüchtig wird, der nicht schwere Gleichgewichtsstörungen seines Charakters schon vorher gehabt oder erworben hat, so wird auch niemand Säufer, der nicht von vornherein die Stigmata einer geistigen Erkrankung besitzt. Der Intolerante ist ein Geisteskranker. Umsonst alle Moral und Logik, alle Vorsätze und Einsichten – die Stunde kommt, und es ist ums Glück geschehen.

Geisteskranke aber, die sich selbst und ihrer Umgebung eine Gefahr sind, sind zu isolieren. Zum Glück kann jeder Intolerante diese Isolierung vom Schauplatz seiner Taten selbst vornehmen und sich mit Hilfe der Belehrung und Aufklärung selbst eine Art Zwangsjacke umlegen: die absolute Enthaltsamkeit.

Da gibt es keinen Kompromiß, keine Entschuldigung, kein Maßempfehlen, keine Grenznormierung, bis zu welchem Grade solchen Intoleranten der Genuß gestattet sein soll – es gibt nur ein imperatorisches Nichts! Kein Tropfen Alkohol darf die Lippen eines solchen Unglücklichen, von den schönsten Freuden des Lebens Ausgeschlossenen berühren – selbst alkoholische Suppen, Speisen, Zahnwässer und Parfüms können gefährlich werden, weil jeder Tropfen zu einem Meer von Sehnsucht und Leidenschaften werden kann. Man lasse solche Kranke, denn das sind sie, jede Gelegenheit meiden, welche ihnen selbst nur Phantasieerregungen nach dieser Richtung erwecken, man halte sie fern von Gesellschaften, in denen getrunken wird, und man schließe ihnen die Kneipen. Erst wenn sie durch jahrelange absolute Abstinenz selbst an sich den Segen ihrer oft wehmütigen Askese in sich walten gefühlt haben, sind sie als relativ geheilt zu betrachten; ganz gesund und vor Rückfällen gesichert ist kein Intoleranter.

Andere Formen des Vernichtungstriebes bilden die Gelüste abnormer Ernährung, die Abblendung des Erhaltungstriebes bis zur Aufhebung der Lust, zu speisen und zu trinken, die Erstickung des Appetits, die dämonische Nahrungsverweigerung bis zum Eintritt des Todes. Diese Dämonie beruht sicherlich auf einer Einstellung gewisser Saftproduktion, vielleicht einer Veränderung in den Funktionen des Pankreas, der Galle, der Magendrüsen usw. Wenn schwere Blutveränderungen, vielleicht durch Bakterieninvasion, die Ursache der Störungen des Ernährungstriebes sind, so tauchen oft sonderbare Gelüste des Geschmacks empor aus den Tiefen der Drüsenquellen. So haben Bleichsüchtige den sonderbaren Trieb, Kalk, Kreide, Schieferstücke oder Bleistiftgraphit, Farben oder Schmirgel zu kauen, und die mit dem Blutwurm (Distomum haematobium) behafteten südamerikanischen Indianer kauen Erde. Auch das Sand- und Grasfressen der Hunde mag solchen Infektionen oder Intoxikationen zugrunde liegen, wobei zu bedenken ist, daß auch Reflexspannungen solche abnormen Triebe der Nahrungsaufnahme erzeugen können. Ob hierher nicht manche Abirrung des Nahrungstriebes von Tier und Mensch beim Herannahen von Gewitter, Regen oder Orkanen gehören? Dann dürften dabei die rein physikalischen Spannungen der Luft (Elektrizität, Atmosphärendruck, Temperaturen) die auslösende Rolle am Sympathikus spielen. Bei ausgebrochenem Wahnsinn, d. h. bei schwerer Belastung der Neuroglia durch Gelatinisierung oder Ödembildung (Blutwasserausschwitzung) kann diese Umstellung des Triebes auf unappetitliche Nahrung so weit gehen,daß gerade die ekelerregendsten Exkremente und Schmutzmengen aller Art durch Umschaltung in den Nukleinrhythmen der die Instinkte leitenden Zellen Anreiz zum Verschlingen erzeugen und jene gräßlich-schmierigen Gelüste erzeugen, deren Schilderung in die Bücher der Psychiatrie gehört.

Halten wir nur immer fest, auch für die Durchleuchtung des Folgenden, daß einst für alle diese vielstrahligen Abweichungen vom normalen Triebleben irgendein Saft, ein Bakteriengift oder ein inneres Ferment, ein Sekret der inneren Drüsen oder eine Alteration des Blutes in seiner Zusammensetzung angeschuldigt und gewiß einst gefunden werden muß. Hier spielt der Dämon die ganze Skala von der Freßsucht bis zum freiwilligen Hungertode mit wilden Krallen ab.

Kann doch der mächtige Trieb zur Erhaltung der Individualität selbst auf solche Weise die merkwürdigsten Veränderungen erfahren. Nicht nur, daß ganz grobe Perversionen des Ichs auftreten (man ist Napoleon, die Jungfrau Maria usw.), auch die Sucht, sich reich, sich geehrt, angebetet, ja auch verfolgt von Mißgeschick und Menschenbosheit zu sehen, kann dämonische Formen annehmen, der Größenwahnsinn, wobei im Geistigen so etwas wie im Knochen Wachstum zu Riesendimensionen (Akromegalie) auf Grund von Abweichungen der Sekretion der Zirbeldrüse stattfindet, kann durch anderweitige Blutsaftmischungen und Verunreinigungen sehr wohl bedingt werden; ist es doch durchaus denkbar, daß eine Überproduktion von Hormonen jene eigentümlichen Formen von Optimismus und Hochfeuerung der Persönlichkeit erzeugen, die wir als eine Gnadennarkose bei schweren Leiden vor dem Tode bezeichnet haben. Umgekehrt kann der Kleinheitswahn, die ewige Stöhnsucht über die Winzigkeit des Ichs durchaus durch Hormonausfall und die Querulantensucht durch beunruhigende Beimengungen zum Blut bedingt werden. Wie bei dem Morbus Basedow und der Neurasthenie sicherlich oft der Überschuß an Schilddrüsensaft die quälende Unruhe, die zitternde Angst vor Dämonen erzeugt, so kann auch der komplette Ausfall dieses jodhaltigen Saftes das größte Phlegma, die höchste Form des Stumpfsinns und der Idiotie hervorbringen.

Immer deutlicher taucht die Beziehung der Saftbildung zur Ethik und Dämonie empor aus dem Meer der Erscheinungen abnormen Geisteslebens, und mich ergreift ein tiefer Kummer, daß ich die volle Bestätigung dieser Lehre durch immer neue Entdeckungen auf dem Gebiet der Blutkrankheiten und die Erscheinungen der inneren Sekretion nicht mehr erleben werde. Kommen wird die Zeit sicherlich, in der man alles Dämonisch-Böse entstanden sehen wird aus den Spatenstichen des Lebens und seiner Maulwurfsarbeit am Fundament des einzelnen Seelenbestandes, wo man erkennen wird, daß der Mensch gut, im Strom des allgütigen Äthers, von der Schöpfernatur des Alls gedacht ist, daß erst das Erlebnis, der Kampf, die Vererbung, also die Umwelt in allen ihren Attacken gegen seine Bestimmung zur Höchststeigerung des Bösen wird. Abstellbar aber werden diese Saftverunreinigungen des heiligen Blutes wiederum durch die Arbeit des Sympathikus, indem ein durch Erziehung und Beispiel immer kräftiger gefestigter Muskelapparat (der Bendasche) durch Rückströme auf der Bahn des Sympathikus die Bluttoxine eindämmt, die Antigene braut und die Hormone ihren Segen strömen lassen. Wäre dies unmöglich und nicht erreichbar durch eine systematische Gymnastik dieser Kleinmuskelwesen, so wäre jede Erziehung zum Guten, jedes Beispiel, jede Bindung an ethische Ziele ein kindischer Menschenwahn.

Mir hat die Neurogliatheorie den Weg gezeigt, ärztlich nicht nur den funktionellen Störungen, den Dämonien aus Muskelschwäche im Gehirn beizukommen durch systematische Übungen im Sinn des Ignatius von Loyala (s. Schaltwerk der Gedanken), sondern ich habe auch für die schweren materiellen Ausschwitzungen im Hemmungsapparat des Gehirns Wege beschritten, die völlig den Schematismus der Irrenanstalten umstoßen könnten, diesen armen Zuchthäusern für Menschenverbrechen ohne jede Schuld, die ebensogut schaden wie nützen können und nur eine provisorische Art der Schutzhilfe des Staates für seine anderen nicht gerichtsnotorisch gefährlichen Mitbürger bedeuten können. Reform der Irrenheilkunde! Dringende Reform! Studium der Antigene, Durchspülungen der Neurogliakanäle auf dem Blutwege von Karotis zu Karotis, von Vene jugularis zu Jugularis – das wird das deutlich vorschwebende Ziel sein, dessen Erreichung die junge Generation der Ärzte einleiten muß. Doch das gehört vor das Forum der Medizin!

Haben wir so das Wesen der Dämonie als eine Umschleierung der Zonen des Gehirns, als eine Abblendung der Ganglienlager, in dem Vernunft, Verstand, Orientierungsbewußtsein und Logik aufgehoben erscheint durch Affektionen, welche den aktiven Hemmungsapparat der Neuroglia treffen, auf dem Wege der Saftveränderung definiert, so sind der Somnambulismus und die Epilepsie die eigentlichen Paradigmen für die meisten Formen der Dämonie, weil einerseits beim Somnambulismus nach Abstellung der höheren Ganglienfunktionen tiefere Zellager des Hirngraus und der Hirnknollen den Außenweltreizungen bloß- und freiliegen wie ein durch den Schnitt des Chirurgen freigelegtes Organ unter der Haut. Dann kommen die Perversionen des Ichs, der Bruder Martin (E. T. A. Hoffmann), der Horla (Maupassant), Schlemihls Schatten (Chamisso) sitzt uns im Genick, d. h. ein fremdes Ich reitet dem früheren und dazwischen aufblitzenden Ich auf dem Nacken. Bei der geistigen Epilepsie solcher Blendungsanfälle tritt die Vernichtungsdämonie besonders hinzu, weil bei ihr rasante Ströme die Situation beherrschen und dem Pseudo-Ich alle Bindungen der Kultur zerreißen, so daß ein antisoziales Wesen, das verbrecherische in Erscheinung tritt. Dieses Herabsinken der Persönlichkeit in tiefere Zonen des menschlichen Aufstiegs finden wir nun in klassischer Weise in den Dämonien der Liebe, welche uns nunmehr beschäftigen sollen. Die Liebe ist das Opfer des Ichs für ein anderes Wesen, dem man diese Fähigkeit zur Selbstentäußerung (Stirb und Werde) anträgt, wie die höchste Bindung an den Sinn der Welt: Steigerung der Menschheit durch Neuerzeugung von Individuen auf die höchste Geistigkeit und Einklangsharmonie mit dem Rhythmus des Alls. Unstreitig ist die dämonische Gewalt des Don Juans oder der Ninon begründet in einer ahnbaren, ungewöhnlichen Wertigkeit einer Persönlichkeit. Es ist eine Anhäufung von höchsten Lebensfähigkeiten, von Eudämonien, Hormoneträgern, von Vorwärtsstrebungen im Auserwählten, ein König und eine Königin der Liebe vorhanden. Ein Material höchster Entwicklungsmöglichkeiten. Diese Priester und Priesterinnen der Liebe sind neben einem unbezwingbaren Triebe zu Vervielfältigungen (d. h. einem unersättlichen Drange zum Lebensgenuß) Genies. In diese zwei Komponenten zerfällt der Trieb der Liebe: in Genuß und in Sehnsucht nach Hochsteigerung von neuen Lebewesen, in denen die Eigenschaften des Geliebten zum höchsten Blühen angetrieben werden sollen. Die meisten Frauen sind dem genialen Don Juan deshalb so dämonisch-instinktiv verfallen, weil sie sich marconiplattenartig von seinem hohen Wesen innerlich hochgespannt zutrauen, daß nur mit diesem Symbol leuchtenden Mannestums ihr Schoß der Welt die höchsten Blüten der Menschheit schenken könne, und zweitens, weil sie ahnen, daß dieser große Liebeskünstler ihnen Wonnen und Ekstasen geben kann aus intuitiver Einfühlung und aus Verständnis ihres Liebesmechanismus, wie kein anderer. Sie ahnen in ihm den Wisser ihrer geheimsten Quellen der Liebesekstase und des Orgiasmus. Schon die Abspaltung des Fortpflanzungstriebes, schon die Erstickung des Schreis nach dem Kinde, die Abbiendung des heiligen Triebes zur Mutter- oder Vaterschaft ist Liebesdämonie. Die Liebeslust verdeckt das Liebesziel, genau wie das Schlemmen in Nahrungsfülle und Gaumenkitzeln den Erhaltungstrieb verschleiert und vergessen hat. Eine hohe Kultur, eine Vertiefung der Sittlichkeit sollte doch gerade umgekehrt den Förderungstrieb der Menschenzahl und ihre Höherzüchtung als den tiefsten, willkommensten Sinn der Liebe in sich entwickeln und immer mehr die List der Natur, diesem Zwecke die Maske höchster Wonnen zu leihen, auf ein gesundes Maß herabdrücken; aber die Kulturniederung, die wir zu durchkosten haben, hat gerade das Gegenteil gezeigt: der Liebesegoismus des Genusses hat den Liebesaltruismus des Menschheitsaufstiegs im rein geborenen und empfangenen Kinde fast erstickt. Liebe ist purer Trieb geworden ohne Einschlag der Sehnsucht nach Vervielfältigung der eigenen positiven, erworbenen, erkämpften Menschheitswürde, und sie ist damit herabgesunken in die Zone der tierischen Gelüste, in die Niederungen gewesener und nur scheinbar überwundener Existenz. Was das Tier aus Witterung und Reflex an Liebesakten vollbringt, den Antrieb der Hormone der Generationsdrüsen, sollte der liebende Mensch bei seiner Prüfung, sich zu binden, nicht allein in sich walten lassen, er sollte auch der Sehnsucht und der hohen Würde eingedenk sein, Menschen zu formen nach seinem im ethischen Feuergefecht für seine Person hochgesteigerten und voll entwickelten Ebenbilde. Das ist gewiß eine fast unerfüllbare Idealforderung, aber doch sollte sie mehr betont werden, als bisher geschah. Für unsere Zwecke hier dient diese degenerative Abspaltung des Genußtriebes der Liebe von ihrem Reproduktionsinstinkt persönlicher Werte vollen Menschentums nur zur Basis für das Begreifen allerhand Liebesperversionen, zum Verständnis der Dämonien des Liebestriebs. Der Dämon der Lust reißt zeitweise und anfallsweise genau nach dem Schema der epileptischen Umdämmerung des Bewußtseins die Persönlichkeit in tiefe Perioden menschlichen Aufstiegs, in Urzeitniederungen herab. So nur verstehe ich den Sadismus, die Wollust unter Qualen des Opfers der Lüste, weil die dämonisch-epileptiforme Blendung der Sexualsäfte den Menschen hinabpreßt in Daseinsperioden des Menschenaufstiegs, in denen noch die Wildheit herrschte und sich kein Weib dem Feinde und der Gemeinschaft der Lüste des Mannes gab, als unter Löwentatzenhieben des Stärkeren oder der Machthaberei eines durchaus auch heute noch nicht gänzlich verschollenen Matrimonismus, der Tyrannei des Königtums des Weibes, der physischpsychischen Urmacht der Amazone. Masochismus ist die Rückführung der Liebesekstase unter die Formen einstiger Bindung und Fesselung durch Stricke und Baststreifen, die Liebe unter Fußstößen und Sohlentritten, Lust unter dem Fetischismus des Frauenstiefels, der Weiberwäsche, der Taschentücher und Strümpfe, die rührende Heiligkeit erfahren kann in der Anbetung des Duftes der Geliebten. Beim Weibe äußert sich diese Dämonie in der zwanghaften Gewalt der rohen Körperkraft des Mannes, seiner Behaartheit, seiner tierischen Augenglut, seiner Negerhaftigkeit der Wollustlippen und dem Löwenschrei seiner Wollustrufe. Das alles schafft die Liebeshypnose, kraft welcher der Widerpart des Genusses hinsinkt wie schmelzendes Glas, wie ein zusammenstürzendes Kartenhaus, wie das Kaninchen vor dem Schlangenbiß. Die furchtbarste Dämonie der Liebe ist aber diejenige, bei welcher der Gipfelpunkt der Lust nur erzwungen werden kann durch Verquickung der Zärtlichkeit mit Verletzungen, wo die Liebe Blut fließen läßt, jene fürchterlichen Leidenschaften, welche den Menschen tief in den tierischen Zonenbereich eines einstigen Aufstiegs hinabstoßen zu Zeiten, in denen von Feindesfrauen nur mit Gewalt die Lust zu fordern war, wo Züchtigung, Stiche, Verletzungen, vielleicht ja erst das schwindende Bewußtsein, des Todes Nähe das Opfer der Sinnengier des Eroberers willig wurde. Kaum anders kann wohl die Dämonie der sexuellen Leichenschändung erklärt werden, als ein durch wilde Säfte aus den Urschächten der Lüste herauflodernder Glutstrom, der das Großhirn abblendet im Dämmerzustand, der tatsächlich an die Stelle eines menschlichen Wesens die Bestie allein rasen und wüten läßt. Ist doch der Fall der Hirschbrunst, bei der auch erst Blut fließen, der Gegner vernichtet sein muß, ehe die geschlechtliche Vereinigung erfolgt, im Tierreich nicht selten und taucht in Eifersuchtsmorden und Duellen wie ein Rückschlag, als ein Testament der Vergangenheit, auch im Gefüge der Kultur hier und da wieder einmal in die Höhe.

Die Kultur hat es ja fertig gebracht, überall durch einen Bund der Sympathikusfunktionen mit dem Schaltwerk der Phantasie und ihrer Kuppelung an das Mitleid, eine Mischung zu ersinnen, welche eben das Wunder der Vernunft als eine Summenaktion verschiedenster Apparateinrichtungen vollbringt, immer mehr die Testamente der Vergangenheit in der Versenkung verschwinden läßt und sie mit festen Hemmungszäunen umgibt, aber bisweilen wetterleuchten doch Urtriebe am klaren Himmel auch der besten Einsicht, und bei manchen Unglücklichen wühlen sie sich empor wie Urtiere, Walrosse und Seeschlangen, Drachen und Ungeheuer aus dem Flutschwamm der Vergangenheiten und grinsen mit medusenhaft verzerrten Zügen durch die Fensterscheiben unserer sozialen, gutbürgerlichen Behaglichkeit. Ja, kein Mensch ist ganz frei von den Dämonen; ein Doppel-, Tripel- und Quadrupelwesen steckt in jedem, und nur auf dem Wege einer unendlich mühsamen Selbstdressur, auf den Bahnen des von heiligstem Wollen durchströmten Sympathikus, kann es gelingen, die bösen Säfte, die flüssigen Geistigkeiten der Vernichtungstriebe versiegen zu lassen, wodurch allerdings dann jenes königliche Vollmenschentum in jedem von uns emporblühen kann, dessen Leben ein Vorbild, dessen Betrachtung wie ein hohes Kunstwerk, wie ein Gedicht erscheint. Ich schließe mit den Worten eines solchen Großen, der es fertiggebracht hat, dieses gottebenbildliche hohe Lied seiner Persönlichkeit zu Ende zu gestalten, Goethe, der in folgenden Versen die Rettung von den Dämonien mustergültig in unser aller Herzen gesenkt hat:

Selig, wer sich vor der Welt
Ohne Haß verschließt,
Einen Freund am Busen hält
Und mit dem genießt,
Was von Menschen nicht gewußt
Oder nicht bedacht,
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht.


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