Carl Ludwig Schleich
Das Ich und die Dämonien
Carl Ludwig Schleich

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Die Geburt des Weltallsnerven (Sympathikus)

»Also, Herr! Nach diesem Flehen
Segne mich zu deinem Kinde,
Oder eines laß erstehen,
Das auch mich mit dir verbinde!«

So heißt es im Schlußvers des Pariagebetes bei Goethe, worauf eine unbekannte Stimme, gleichsam ein indischer mystischer Priestervater, die Legende von der Rajagattin erzählt, die schwertgerichtet wegen einer Gedankensünde ihre Reinheit und ihr Leben einbüßt. Das abgeschlagene Haupt der Armen soll durch den Sohn schnell dem Leichnam unter Schwertsegen wieder zugefügt werden, damit das Leben der Schuldlosen wiederkehrt. Aber in der Hast seines Rettungsversuches der teuren Mutter und im Anblick eines inzwischen gefallenen zweiten Opfers der Gerechtigkeit, einer wirklichen Verbrecherin, fügt er das Haupt seiner Mutter auf den falschen Leib. Und nun entsteht ein Riesendoppelwesen, eine Art dämonischen Überweibes, das halb Göttin, halb Paria, das Doppelseelentum alles Menschentums auf das gedankentiefste symbolisiert. In der Tat, bei jedem von uns ist Gott und Dämon, Lichtsehnsucht und Schattenfron, Auftrieb und Erdenschwere in der Brust verankert und geistert, wirkt und wandelt bei Nacht und Tag in ihren Labyrinthen. Das gilt nicht nur vom »Ich«, bei dem wir ja die Quelle dieser Verdopplung in Faust und Mephisto, Baldur und Loki, Achill und Thersites schon in der Doppelgestaltung des Gehirns und seiner gegensätzlichen Funktion entdeckt hatten, es gilt auch von dem, was man gemeinhin unsere menschliche Seele nennt. Obwohl dieser Begriff der Menschenseele, wie wir sehen werden, ein falscher ist, möge er zuvörderst einmal beibehalten werden, zumal er, wie jeder Irrtum, nicht nur in Romanen und Theaterstücken, in Lyrik und Epos fast durchgehends weit verbreitet ist. Man würde überall fast, wo man von Seele spricht, im gewöhnlichen Sinne weit besser Gemüt, Herz, inneres Gefühl sagen können. Denn der vulgäre Ausdruck Seele trifft nicht den vollen Begriff dessen, was wir als eine Kombination von Verstand, Bewußtsein, Ich mit Grundstimmungen des Gemüts bezeichnen. Funktionell, nach unserer Methode der physiologischen Analyse der Gehirnbegebnisse, erhält beim »Seelischen« das Tastenspiel der Ganglienklaviatur etwas wie einen Pendeleinschlag, der also hier nicht im Forte oder Piano zum Ausdruck kommt, sondern dem rein geistigen Mechanismus eine Durchtränkung mit Gemütsmotiven, freudiger und wehmütiger Natur, zuteil werden läßt. Während wir ja wissen, daß alles Verstandesgemäße innerhalb der Elfenbeinschale des Schädels sich abspielt, tritt nun schon beim Vernunftgemäßen eine Verbindung mit dem All auf (»Eines laß entstehen, was auch mich mit dir, o Gott, verbinde!«), indem alles egoistische Denken des Vorderhirns mehr oder weniger getönt und rhythmisiert werden kann durch Rhythmus und Richtung, Willen und Ziel des Weltalls, eben dem Allgeist der Natur, dem weder Wunsch noch Abkehr irgendeines Lebewesens sich ganz entziehen kann. Die ständig wechselnde Bindung des Verstandes an die Vernunft, sowie die Schlinge, welche das Gemüt, die innere Stimme, schließlich das Gewissen, das Ethos in uns um die im rein egoistischen Denken überbildeten, geradezu geschwulstartig aufgeblähten Vorderhirnlappen in jedem Augenblick werfen kann und stets werfen sollte, wie kommen sie zustande? Wie können wir mit dem Herzen denken? – eine herrliche Begabung jedes Vollmenschen, von dem leider die Mehrzahl der armen Erdgewächse, die nur nach Nahrung und Besitz streben, freilich nur sehr kümmerlichen Gebrauch macht.

Wo sitzt aber dieses Herz? Denn das Pumpwerk in der Brust kann es doch nicht sein, obwohl offenbar sein Schlag oder Nichtschlag eng mit »seelischen« Phasen veralgamiert, verquickt ist. Es sitzt auch nicht in irgendwelcher Drüse, obwohl deren Säfte, wie wir sehen werden, einen enormen Einfluß auf Stimmungen und Strebungen unseres Ichs erhalten können. Vor allem aber sitzt es nicht im Gehirn, denn wir haben in diesem Kriege die aufeinander gehetzten Menschen im Namen eines Menschheitsdämons allzuviel ruchlose Experimentalpathologie der Hirnverletzung treiben gesehen, um zu wissen: an keiner Stelle des Gehirns oder des Rückenmarks ist ein Tempel des Gefühls, ein Krondach des Gemüts! Die Bindung also (Religion der »Seele«, von religere) des Verstandesgemäßen an das Gefühlsgemäße muß woanders gegeben sein, wenn wir nicht annehmen wollen, daß es, wie unser Weltallsleben, unsre Seele im wahren Sinn, die uns gebildet, geformt hat und in Steuerung erhält, gleichfalls metaphysischen Ursprungs ist. Nun, wir wollen es gleich sagen, es ist die Weltall-Marconi-Platte des Sympathikus und seiner Wurzel unter dem Zwerchfell im Sonnengeflecht hinter dem Magen und Pankreas (Bauchspeicheldrüse) um die Nebennieren herum, welche der Träger ist, der Beauftragte, der Geschäftsführer der kosmischen und zum Teil auch der irdischen, himmelgeborenen Mandate an ein menschlich Wesen. Die Griechen hatten also nicht so unrecht, wenn sie die Seele unter das Zwerchfell verlegten, obwohl sie dort in Wirklichkeit ebensowenig thront wie auf dem kleinen Türkensessel an der Basis des Gehirns, in der Zirbeldrüse, wo die Vorstellung der Inder sie eingemietet hatte. Aus welchen Gründen und mit welchem Rechte werden wir noch erfahren. Was ist nun eigentlich dieses Wundergebilde des Nervus sympathicus, von dem wir schon wissen, daß es seine Zwergenfinger überall hier im Leibe, auch um die Neurogliagespinste der Ganglienzellen, filigranartig eingekrallt hat (s. »Von der Seele« und »Vom Schaltwerk der Gedanken«)?

Um dies zu ergründen, müssen wir einen weiten biologischen Weg machen, an dessen Ende wir aber zu einer kostbaren Erkenntnis gelangen werden, welche unseren Überblick über alles Geist- und Gemütgeschehen erheblich vertiefen wird.

Der Kernbegriff, welcher das Lebendige von dem Unbelebten mit freilich nicht allzu scharfem Schnitte trennt, ist die Reizbarkeit. Heutzutage wissen wir, daß freilich auch der Kristall an dieser wie an anderen Lebensäußerungen des organisierten Eiweißes teilnimmt; die Reizbarkeit scheint also keine absolute Scheidung zwischen Belebtem und Unbelebtem zu bedingen. Der Kristall zeigt Heilungsvorgänge, Stoffwechsel, hat einen Nœud vital, eine Art Lebenszentrum, dessen Vernichtung das sogenannte Leben des Kristalls sofort abbricht. Für unsere Darstellung mag es genügen, für das organisierte Eiweiß als Hauptkriterium die Reizbarkeit und ein gewisses Maß von Wahlvermögen beizubehalten. Dieses Wahlvermögen, auf Erlebnisse (Reizungen) hin etwas zu tun oder zu lassen, ist nun der einfachsten belebten Zelle, z. B. einer Amöbe, schon zu eigen. Es unterscheidet sie zwingend von einem Apparat, einer maschinellen Einrichtung. Denn diese arbeitet automatisch, die Zelle aber individualisiert. Sie hat teil an der großen Künstlersehnsucht der Schöpfungsmacht, die bestrebt ist, durch immer neue Formen den Widerstand gegen ihr Vorwärtsdringen zur Höhe zu überwinden. Wenn ein Körnchen Seesand sich einer Amöbe, einem kleinen belebten Bröckelchen, entgegenstellt, so kann die Amöbe seine Einverleibung in ihren Körper (ihren Protoplasmaleib) versuchen, sie kann aber diesen Versuch auch unterlassen. Im Falle der Aufnahme in das Protoplasma, ein Vorgang, der dem Absuchen des mikroskopischen Sandblockes nach Nahrungsstäubchen, z. B. Bakterien-Nukleinen, sehr ähnlich sieht, wird derselbe nach einer individuell verschieden langen Zeit wieder ausgeschieden, d. h. durch phasische, kontraktile Stöße des Protoplasmas aus dem kleinen Molekularteig wieder entlassen. Hat dieser kleine Sandgast keine Nahrungsmittel bei sich, so macht die Amöbe entweder einen Umweg, wieder individualisierend um dieselbe, oder sie überkriecht ihn einfach und schleppt ihr gelatinöses Leibchen über den kleinen Berg kletternd hinweg. Hier ersetzt die allgemeine Zusammenziehbarkeit des protoplasmatischen Leibes die Muskeltätigkeit der Gehirnlebewesen, bei denen also die Hindurchschiebung des Fremdkörpers durch Muskelorganisation geleistet wird. Auch die Motivierung, die innere Fragestellung gleichsam, welche sich die Amöbe vorlegen muß, genau so, wie ein allgewaltiger Bankier auf der Börse: »Soll ich oder soll ich nicht!«, wird von dieser zusammenziehbaren Substanz des Zelleibes, eben Protoplasma genannt, geleistet. Hier handelt es sich aber schon um etwas mehr als um Muskelaktion, hier im Gebiet der Wahl steckt schon ein nervöses Problem: eine Reizbarkeit ohne Nerven. Die molekulare Substanz der Amöbe muß also eine Konstitution haben, welche sie ohne erkennbare nervöse Organe befähigt, Erwägungen anzustellen. Das ist, wenn wir nicht ein rein metaphysisches Vermögen annehmen wollen, nur denkbar, indem wir dieser merkwürdigen Organisation des Eiweißes ein Tastvermögen über sich hinaus in ihr Milieu und in den Kosmos zuerkennen. Sie wird gesteuert nicht durch bewußte Orientierungsorgane, sondern von den Rhythmen des Alls und den Radgetrieben der Umwelt. Sie wird also getragen von den letzten Wellen des Weltgeschehens, sie schwebt auf den Hüterfittichen des gesamten Daseins, sie ahnt ohne Organe, sie pulst und schwebt mit dem Herz der Welt. Sie hat ein Allgefühl, um so mehr, als sie eines Detailgefühls entraten muß. Sie ist ganz irgendein »Es«, aber kein »Ich«. Dieses »Es«, die gesamte Rotationsorgie ihrer gegebenen Rhythmen, determiniert noch völlig ihr Leben, sie ist eingespannt in den Rahmen des Kosmischen ganz und gar, mit Hülle, Protoplasma und Kern. Es scheint wie ein biologisches Grundgesetz, daß dieses Allgefühl keinem Lebewesen versagt ist, und daß es bis in die hochentwickelten Stufen seine allverkettende Macht behält, aber in demselben Maße, als es aus dem steigenden Bewußtseinsgehalt höherer nervöser Leistungen ausgeschieden wird, setzen sich andere bewußtere Funktionen an seine Stelle. Es wird also durch die gesamte Kette der Lebewesen an dieser Zweiteilung der Orientierungsbetätigung von der Natur festgehalten, auch beim Menschen. Wie bilden sich nun von der einfachen Amöbe aus diese Orientierungsapparate als Sinnentaster für Milieu und All aus? Nun, sie entwickeln sich, indem die ursprüngliche »nackte Reizbarkeit« sich in Nervensubstanz organisiert. Das Protoplasmagebiet gebiert die Nervensubstanz. Wie das geschieht, soll uns hier nicht eingehend beschäftigen, wir wollen nur andeuten, daß es die Infektiosität der Rhythmen in den aufgespeicherten Nukleinen anderer, schon höher organisierter, aber in der Verwesung zerfallender Lebewesen ist, d. h. also solcher, die schon Nervensubstanz angebildet haben, welche im Leibe der Amöbe die Nervensubstanz durch ideoplasmatischen Kontakt, den Erstgeborenen des Geistes überhaupt, einen winzigen Ganglienknoten, erzeugt. Es wächst und kristallisiert sich aus einer Eigenschaft des gesamten Protoplasmas eine Verkettung spezifisch arbeitender Moleküle heraus, welche von da an der alleinige Träger und Überträger ganz bestimmter Reizempfindungen und Reizübertragungen werden: das gilt für die Einzeller wie für die Vielzeller. Sie schaffen in sich protoplasmatische Konglomerate, welche die ersten Drahtbahnen leitender Reizbarkeiten, besondere Konzentrationsstraßen der Erregungsfähigkeit darstellen. Treten mehrere Zellen zu einem Vielzeller zusammen, so werden diese intrazellulären Ganglien kleine mikroskopische Duodezgehirnchen, durch Nervenstränge miteinander verbunden, d. h. es wachsen die Träger der Reizbarkeit aus den Zellen hervor und sich entgegen. Damit ist die Geburt des Nervus sympathicus vollzogen. Denn es ist der erste organisierte Nervenknoten und sein der Zelle entspringendes spinngewebsfeines Fädchen die erste Andeutung für das höchst komplizierte Filigrannetz, welches auch beim Menschen alle Gewebe, auch das Gehirn durchzieht, und mit denen die Bindung auch eines hochgestellten Gliedes der Organismenreihe an den Kosmos und das Milieu garantiert ist.

Wenn man nun bedenkt, daß das gesamte Tastergewirr der Sinnesganglien auf der Haut, diesem Wachstrikot über der Faserhülle der Leibesform, zusammen mit den verbindenden Strängen aufwärts zum Rückenmarke und zum Gehirn wiederum für sich einen nach außen gestülpten Sternhimmel von rezipierenden leuchtenden, beim Anprall anderer Licht- und Kraftfeldersysteme aufsprühenden Ganglien bildet, so kann man ungezwungen sagen: wir haben jetzt schon zwei Gehirnkomplexe, den des Schädelumhüllten und den des Hauteingebetteten. Die Haut ist eben ein einheitliches mit dem Hirngrau durch Stränge (Achsenzylinder) verwachsenes psychisches Organ, das mit den ebenfalls zum Gehirn auf und ab leitenden spezifischen Sinnesganglien des Seh-, Gehörs-, Geschmacks- usw. Organes eine Einheit bildet, welche auch demselben Keimblatt, dem Horn-Sinnesblatte entstammt. Zwischen und um diese Einheit nun schiebt sich mit Millionen Zweigtastern und alabasternen Netzchen die ganze Sippschaft sympathischer Herkunft, dessen Universalität noch erheblicher wird, wenn man bedenkt, daß sein Generalkommando allen leiblichen Geschehens an jede Körperzelle, an die der Drüsen nicht weniger als an die der festen Gefüge, wie Knochen und Knorpel, seinen telegraphischen Anschluß hat. Namentlich auf die Drüsen der inneren Sekretion ist sein Einfluß von erheblichster Bedeutung für die Produktion und Eindämmung, für den Überschuß und den Mangel der Säfte, welche wir oben Hormone und Autotoxine genannt haben, an die, wie gleichfalls schon betont, die Harmonie oder Raserei nervöser Tätigkeit gebunden ist. Wenn wir uns erinnern, welch wichtige Rolle die Geflechte des Sympathikus für den Haushalt der Neuroglia, als hemmungs- und stromrichtendes Prinzip (mittels Blutröhrenspiels) zu übernehmen hat, so leuchtet hier wohl zum ersten Male die Bedeutung rhythmischer Übungen der Atmung und des Muskelspiels, Musik und Tanz, für einen geordneten Ablauf der Gefäßmuskelarbeit und damit einer regulären Ganglienein- und -ausschaltung unmittelbar ein. Wir wollen nur für ein zweites Muskelsystem der Neuroglia, dem der Bendaschen glatten Muskelfasern innerhalb des Hemmungsapparates, die Ansicht streifen, daß der Bendasche Muskel mir nicht so sehr zum Spiele der Ein- und Ausschaltung der einzelnen Gangliengruppen zu dienen scheint, als vielmehr richtunggebend für die Stromkonzentration der Reservekraft, jene schwebende, blitzbereite Aufspeicherung von akkumulierter elektroider Spannung, die, wie wir sahen, vom Ich, d. h. vom Willen aus dirigiert wird. Es ist wichtig, sich klarzumachen, daß das »Ich«, die Blitzzone der phasischen Gegenwart, als ein einheitliches Band innerhalb des Hirngraues, sich gleichfalls wie jeder Willensakt hierzu eines Muskelsystems bedient, welches nicht unterbewußt wie der Sympathikus, sondern völlig seinem Träger bewußt eines der drei Orgelregister des Gehirns (das adjektivische, das substantivische, das aktiv-verbale) in Bewegung setzen kann. So bedienen also zwei Organsysteme muskulärer Natur die Ganglien, ein unterbewußtes der Gefäßmuskeln, bedient vom Sympathikus, und ein bewußtes, bedient von dem Hirn- und Rückenmarkgrau. Es ist also ein bewußter Beschluß, eine Beabsichtigung gewisser durch die Erlebnisse erregter Gangliengruppen des Vorderhirns, welche Motive zur Tat, zur Sprache, zur logischen Aussage oder zum Phantasiedurchdenken werden läßt, und zwar mit Hilfe von Hochstromkabelleitung der Hirnspannungsreserveströme, die der Bendasche Muskelapparat so oder so dirigieren kann. Die Aktionen der Ein- und Ausschaltungen der Neurogliamuskeln der Gefäße aber werden kommandiert von Meldungen, Erregungen, rhythmische Beeinflussung der Weltalls-Marconi-Platte. Diese tragen ihre Meldungen nicht bis in die Wahrnehmungszonen des Gehirns, sie sind unbewußt, aber deshalb nicht weniger mächtig und von ausschlaggebender Bedeutung. Wir sehen also hier am Großhirn genau dieselbe Steuerung von Unbewußtem und Bewußtem, die wir schon bei jeder Zelle als ein Plus- und Minussystem erkannt haben, d. h. das Großhirn insgesamt wird nicht anders in der Diagonale bewußter und unterbewußter Motive gesteuert, als jede Zelle, oder umgekehrt ausgedrückt: jede Zelle besitzt genau denselben polaren Mechanismus wie das Gehirn dessen, in dessen Betrieb sie eingestellt ist. Der Organismus der Zelle ist ein kleines Spiegelbild des Gesamtorganismus, dem sie zugehört. Daß die beiden diagonal entgegengesetzten Nervenantagonisten sich gegenseitig beeinflussen können, wird für die Begriffe von Ethik und Erziehung eine entscheidende Bedeutung erhalten. Denn da der Nervus sympathicus auch alle Drüsenzellen, sowohl die der äußeren als auch der inneren Sekretion, beherrscht und an der Heinzelmännchenstätte aller dieser kleinen chemischen Laboratorien beteiligt ist, ja sogar, ohne daß es das »Ich« weiß, die Fabrikation aller dieser Hormone, Fermente und antagonistischen flüssigen Lebewesen nach seinem kosmischen, von der echten Seele vorausbedachten Wissen entfacht und reguliert, so ist er der eigentliche Betriebsdirektor des Lebens des Individuums, wie er einst der Kondensator des nervösen Lebens einer Amöbe gewesen ist. Er beeinflußt also den Gang der hochkomplizierten Maschine ohne Zutun des Ichs, aber, und das ist das Wichtige, das Ich hat auf seine Tätigkeit einen befeuernden, antreibenden, aber auch einen dämpfenden, eindämmenden Einfluß; wenn auch der Sympathikus dauernd im Haine der bewußten Tätigkeiten geistert und webt und sich regt, so ist doch die graue Hirnrinde auch ihrerseits imstande, in den Betrieb des Sympathikus einzudringen, namentlich auf dem Wege des Phantasieregisters, wodurch sich erklärt, daß beim Vorstellen eines Sonnenaufgangs die Pupillen bei geschlossenen Augen selbst im Dunkeln enger werden, warum man mit jemandem Mitleid haben, über fremdes Leid Tränen vergießen kann, beim Examen Entleerungsbedürfnisse aller Art sich einstellen usw. Dann greift eben die Phantasie genau so an die Klingelzüge der Mitleidsnerven wie an die Heberkästen der Schleusentätigkeit vieler Systeme.

Geraten aber die beiden Bezirke des Bewußten und des Unterbewußten gegenseitig in Konflikt, prallt im Vorderhirn der Wille gewaltsam oder dauernd leise an gegen die Wehren und Schutzwälle des Unterbewußten, also gegen den Weltalls willen des sympathischen Nebengehirns, so entsteht ein fast schmerzhafter seelischer Kurzschluß. Das Unbehaglichkeitsgefühl, die Unsicherheit, die Hamlet-Stimmung bis zur Reue und zur schneidenden Gewissensqual tritt ein, genau so, wie beim Schaukeln oder Schwindel resp. der Seekrankheit, die alle mit schneidenden Empfindungen des Sympathikus im Unterleibe, d.h. aller in der Höhle (Koilom) des Leibes zum Sonnengeflecht vereinigten Geflechte einhergehen. So fein reagiert die Marconi-Platte des Sympathikus schon auf rein körperliche Störungen eines normalen Mitschwingens im Rhythmus des Alls, dem wir unsere Form, unser Wesen, unser Wohlbehagen verdanken, daß schon ungewohnte und schwankende Stellungen zur Erdachse das Gleichgewichtsgefühl der sympathischen Wasserbussolen im Gehörorgan und im Kleinhirn alterieren. Wenn trotzdem das Schaukeln, wie in dem reizenden Gedichte Richard Dehmels, dem großen Freunde meiner studentischen Jugend, »Die Schaukel«, ein Gefühl ausgelassener Lust erregen kann, so liegt das daran, daß der Mensch überhaupt es liebt, unter prometheischem Jauchzen die Fesseln zu zerbrechen, die ihn eben an den »Schlafenden da droben«, schmerzlich für seinen Freiheitsdrang, ketten. Es gehen ja auch Helden jauchzend in den Tod, es spielt ja der Mensch schon als Kind und in der Jugend gerne mit der Gefahr, ja in gewissem Sinne lernen wir alle am meisten von den Vorgängen, welche uns an den Rand des Verderbens bringen. Das schließt aber nicht aus, daß bei diesem Ansturm gegen das sympathische Gebundensein an den Weltenrhythmus erst physische und psychische Gefühle von Unbehagen, welche Warner sind, überwunden werden müssen. Rein psychisch aber entsteht dieser peinigende Kurzschluß überall da, wo der Wille und die intendierte oder vollzogene Tat mit den Existenzbedingungen des Individuums in Widerspruch gerät, und überall da, wo ein Verhalten gegen die nur dunkel gefühlte Steuerung des Sympathikus Spatenstiche gegen die Wurzeln der Persönlichkeit richtet. Das ist das große Geheimnis der Stimme des Gewissens, vor dem Emanuel Kant staunend stand wie vor dem Sternhimmel, der über uns leuchtet. Für dieses hat er in seinem großen Weltallsgedicht, dem größten, welches je ein Menschengeist ersonnen: »Von der Verfassung des Himmels«, den die Pforten des scheinbar ewigen Rätsels öffnenden Schlüssel gefunden; vor den Toren des Heiligtums des Gewissens stand er arm und kopfschüttelnd. Hier aber in dieser Mahnerstimme des Gewissens, in dem bessern »Ich« in uns, in dem guten Engel, der immer wach ist und alle unsere Schritte sorgsam überwacht, haben wir den Herold des Weltgeschehens, der ohne Sprache kündet, nur vielleicht in dem Rhythmus der Musik und anderer Künste seine Himmelsbotschaften offenbart jedem, der Resonatoren dafür besitzt, wirkend durch berauschte Luft, Linien, Form und Farben. Wer dieser Stimme der Weltallslieder zu lauschen versteht und ihr unbedingt folgt, wie dem Zaubervogel, der dem Hirtenknaben im Walde lockend vorausflog, der wird gleich ihm Zutritt erhalten zu den Wunderhallen der Zufriedenheit und eines Glücksgefühls, das nur ermessen werden kann an dem Orgiasmus der Liebe, bei dem zwei Menschen für kurze Sekunden frei von Kern und Schale ganz in dem Allrhythmus der Natur schweben und die Wonne einer ewigen Seligkeit vorausahnen, die denen nur ganz zuteil werden kann, welche gelernt haben, nicht Klugheit und Vorderhirnarbeit des Verstandes allein das Steuerrad auf dem Ozean des Lebens sein zu lassen, sondern die sich gewöhnt haben, nur das Herz, das Gefühl, das Gemüt als Kompaß gelten zu lassen. Und die einsehen, daß alles, was mit dem Herzen verankert gedacht werden kann, allein imstande ist, ein Leben zu garantieren, welches dem Aufstieg des Ganzen, d. h. aller Materie zur höchsten Herzensgeistigkeit gedient hat. Denn im Einklang zwischen Herz und Verstand nur kann ein volles Leben gedeihen, bei dem das Herz stets den Ausschlag gibt, weil es dem gütigen Willen der Natur zu Hilfe kommt und dafür auch in sich mit dem reinen Glücksempfinden belohnt wird. Denn ein Gott wohlgefälliges Leben führen heißt nicht seinetwillen gut zu sein aus Furcht vor Strafe oder Hoffnung auf Lohn, sondern um des Aufstiegs der Welt willen ohne Überhebung und in Demut sich so sauber fühlen wie ein Kind im Bade. Wehe aber, wenn dieser Konflikt zwischen Geist und Gemüt zugunsten des sogenannten Verstandes, der an sich für den einzelnen wie für das Volk immer in gefährliche Katastrophen führt, entschieden wird, wehe, wenn der Sympathikus, unterjocht von den Kraftströmen der ganzen Übermacht des Hirnweißes versagt und seine Harmoniesäfte, die Hormone, langsam versiechen müssen, dann klopft an das Tor des Elfenbeintempels von innen her der Dämon, der Wahnsinn, die rasende Schar der Harpyien und Erinnyen; denn ohne die sänftigenden Trostakkorde der Weltallsharfe des Sympathikus ist die Welt ein kreischendes Hammerwerk der Qualen, und ihr Aussehen ist ein einziges grausiges Haupt der Medusa.

Das ist es, was Goethes Genie in seiner wundervollen Legende dem armen, verzweifelnden Paria klarmachen wollte mit dem Auferstehen eines Riesenbildnisses, das sich in unsagbaren Qualen vor dem Brahma und den Parias winden muß, weil ein einziger unüberlegter Schritt des liebenden, hastenden Sohnes ein Wesen spaltete in einen Lichtgeist, der mit dem Geist im Himmel thront, und zugleich die niederziehende Gewalt der Verstoßenen dieser Erde fühlen muß. Da bleibt denn nichts anderes, als das Mitleid Gottes selbst anzuflehen und solchen grausigen Geschickes wegen es den armen Menschenbrüdern zugute kommen zu lassen.


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